DER SPIEGEL 2013

July 21, 2016 | Author: octronx | Category: Types, Magazines/Newspapers
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DER SPIEGEL 2013...

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Die Attacke. Wie der VW-Konzern die Welt überrollt

Blutbad am Nil Ägyptens Weg in die Diktatur

Hausmitteilung 19. August 2013

Betr.: Ägypten, Titel, SPIEGEL WISSEN, „Dein SPIEGEL“

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or zwölf Jahren beobachteten die SPIEGEL-Redakteure Dietmar Hawranek und Dirk Kurbjuweit den Versuch des damaligen DaimlerChrysler-Chefs Jürgen Schrempp, den Stuttgarter Autobauer in eine Welt AG zu verwandeln. Die Marken in den USA (Chrysler), Japan (Mitsubishi) und Deutschland (Mercedes-Benz) kooperierten nicht, der Chef versuchte, das Reich mit Zielgrößen und Zahlen Kurbjuweit, Hawranek zu führen – und scheiterte. Nun begleiteten die beiden SPIEGEL-Leute VW-Chef Martin Winterkorn, der VW zur Nummer eins der Autoindustrie machen will. Die zwölf Marken, von Volkswagen bis Lamborghini, arbeiten eng zusammen, der Chef kümmert sich um jede Fabrik, um jedes Modell, selbst um die Sitzhebel im neuen Passat. Hawranek und Kurbjuweit kommen zu dem Schluss, dass die Chancen für dieses Projekt größer sind als damals bei Daimler. Aber die Risiken sind nicht geringer. Winterkorn selbst warnt seine Führungskräfte: „Es wäre ein großer Fehler, jetzt draußen rumzulaufen und dicke Backen zu machen“ (Seite 58).

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JÖRG MÜLLER / AGENTUR FOCUS

SCOTT NELSON / DER SPIEGEL

ur 200 Meter von der Frontlinie zwischen Polizei und Demonstranten entfernt stand SPIEGEL-Reporter Christoph Reuter, als er sich am vergangenen Freitag per Handy aus Kairo meldete. Nach wenigen Minuten hörte Reuter Gewehrsalven. Er brach das Gespräch ab, weil er sich in Sicherheit bringen musste. Er sei gegen Mursi und gegen das Militär, hatte ihm zuvor ein junger Demonstrant zugerufen: „Es geht Reuter am vergangenen Freitag in Kairo um die Freiheit Ägyptens.“ Gemeinsam mit den SPIEGEL-Redakteuren Juliane von Mittelstaedt, Erich Follath, Dieter Bednarz und Daniel Steinvorth beschreibt Reuter das Dilemma, vor das sich die Demokratien des Westens durch die Krise in Ägypten gestellt sehen. Einerseits sind sie für freie Wahlen, andererseits befürworten sie stabile politische Verhältnisse, vor allem in den Ländern des Nahen Ostens. Wohin Ägypten steuert, weiß zurzeit niemand. „Dieses Land ist so verrückt“, sagt Reuter, „alles Mögliche kann passieren“ (Seite 80).

leich zwei neue Hefte aus der SPIEGEL-Familie kommen an diesem Dienstag an den Kiosk. SPIEGEL WISSEN beschreibt Chancen und Grenzen der Selbstoptimierung: das „Projekt Ich“. Und „Dein SPIEGEL“, das Nachrichten-Magazin für Kinder, trägt zusammen, was sie zur Bundestagswahl im September wissen sollten. In einem Gespräch stellt sich Peer Steinbrück den Fragen von Tony, 12, und Marina, 10. Zur Bundestagswahl 2009 war „Dein SPIEGEL“ zum ersten Mal erschienen, es war ein Experiment: Lassen sich aktuelle Politik, Wirtschaft und Wissenschaft kindgerecht erklären? Und: Werden sich Kinder überhaupt dafür interessieren? Der Versuch ist geglückt. „Dein SPIEGEL“ erreicht jeden Monat etwa 200 000 Kinder zwischen 8 und 13 Jahren. Im Internet: www.spiegel.de

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Pofalla, Merkel

In diesem Heft Titel Mit harter Hand will VW-Chef Martin Winterkorn Volkswagen zum größten Autokonzern der Welt machen ...................... 58

OLE SPATA / PICTURE ALLIANCE / DPA

Deutschland Panorama: SPD rückt von Steuererhöhungen ab / Deutschland spart 40 Milliarden durch Euro-Krise / Middelhoff verlangte 300 Millionen Euro Provision ......................... 10 Geheimdienste: Die Bundesregierung verlässt sich in der Snowden-Affäre auf fragwürdige Zusagen der Amerikaner ...... 14 Finanzpolitik: Die Geldnot der Länder könnte zu einer grundlegenden Neuordnung führen ........................................ 18 Debatte: Schwarz-Grün statt Rot-Grün? ...................................................... 22 Rechtsterrorismus: Das Bundesinnenministerium wollte Passagen im Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses tilgen ........... 24 Energie: Solarunternehmer Frank Asbeck verteidigt im SPIEGEL-Gespräch die Subventionen für Sonnenstrom ................ 34 Zeitgeschichte: Neue Dokumente über die RAF-Selbstmorde im Stammheimer Gefängnis ........................... 38 Karrieren: Frauen gelangen nur selten in Spitzenpositionen an Kliniken ....................... 40 Grüne: Der Berliner Landesverband rechtfertigte in einer Streitschrift Sex mit Kindern .......................................................... 42 Asylbewerber: Der hilflose Umgang der Berliner Politiker mit Protestcamps von Flüchtlingen ...................... 44 Medizin: Eurotransplant-Chef Bruno Meiser verlangt harte Strafen für kriminelle Ärzte .... 46

Die Gesundbeter

Die Bundesregierung tut so, als wäre die NSA-Affäre ausgestanden. Tatsächlich sind sämtliche zentralen Fragen noch immer unbeantwortet. Die Opposition fühlt sich vor allem von Kanzleramtsminister Ronald Pofalla getäuscht.

Die Pannen-Bahn

Wahl-Spezial (Teil 3): Die Kandidaten im Haifischbecken des Wahlkampfs ............... 26 Warum sich Ostdeutsche und Westdeutsche fremd bleiben ................................................. 32

Gesellschaft

Ende der Kleinstaaterei?

Szene: Ein afghanischer Zirkuskünstler setzt im Auto sein Leben aufs Spiel / Weshalb sind Möpse in Mode gekommen? ..... 48 Eine Meldung und ihre Geschichte – warum Polizisten einer Frau in den USA ihr Baby wegnahmen ..................................... 49 Geheimnisse: Eine Agentur in der Nähe von Bremen organisiert Doppelleben ................... 50 Ortstermin: Ein Bademeister in Berlin fürchtet sich vor randalierenden Jugendlichen ............ 55

Seite 18

Das Verhältnis von Bund und Ländern ist zerrüttet. Deshalb soll der deutsche Föderalismus nach der Bundestagswahl grundlegend reformiert werden. Gelingt das Projekt, wird die Republik kaum wiederzuerkennen sein.

Sumo-Ringer beim Training

Wirtschaft

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Seiten 74, 76

Das Chaos am Mainzer Hauptbahnhof zeigt: Die Bahn investiert zu wenig in die Infrastruktur, sie sollte die Macht über das marode Schienennetz verlieren. Doch Verkehrsminister Ramsauer schließt eine solche Reform aus.

Serie

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Dulden und dienen Seite 124 Mit 15 Jahren können Ringer in Japan in einen Sumo-Stall eintreten, dort werden sie behandelt wie Leibeigene. Das Training erleben die Novizen als Schinderei, ihr Alltag zwischen Kämpfen und Körpermast wird bestimmt von strengen Ritualen. Viele junge Japaner haben denn auch wenig Verständnis für die Traditionssportart.

JEREMIE SOUTEYRAT / DER SPIEGEL

Trends: Gewerkschaft will Burger King verklagen / Für eine Entwarnung in der Euro-Krise ist es zu früh / Fracking-Boom gefährdet Klimapolitik ................................... 56 Manager: SPIEGEL-Gespräch mit ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger über den Überlebenskampf des Traditionskonzerns ........................................ 69 Schwellenländer: Mit Attacken auf die Finanzindustrie verunsichert die türkische Regierung ausländische Investoren ................ 72 Verkehr: Um möglichst viel Gewinn auszuweisen, vernachlässigt die Bahn ihr Schienennetz ............................................ 74 Minister Ramsauer über die Konsequenzen des Debakels in Mainz ................................... 76 BayernLB: Die Landesbank betreibt einen exklusiven Sportclub für ihre Mitarbeiter ....... 77

Seite 14

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Ausland Panorama: Die neue Strategie der Qaida / Regierungskrise in Finnland ........................... 78 Ägypten: Grausame Machtprobe am Nil ........ 80 Außenminister Nabil Fahmy über die Motive der Militärs ..................................................... 82 Der islamistische Parteiführer Abu al-Futuh über das Blutbad nach dem Putsch ................ 85 China: Milliarden für die Energiewende ......... 86 Indien: Der Prozess um die Vergewaltigung, die das Land erschütterte ............................... 88 Brasilien: Ureinwohner rebellieren gegen Rancher und Regierung .................................. 90 Global Village: Was 4000 Philosophen bei ihrem Weltkongress in Athen besprachen ...... 92

Kultur

Das Drama von Kairo

SCOTT NELSON / DER SPIEGEL

Seiten 80, 82, 85

Nach dem Massaker an Hunderten Muslimbrüdern verspricht Ägyptens Außenminister im SPIEGEL-Interview eine Rückkehr zur Demokratie. Doch vorerst regiert Armeechef Sisi, der neue starke Mann, mit eiserner Faust.

Indien: Ein Fanal für die Welt

Seite 88

Ihr Fall veränderte Indien, entsetzte die Welt: Im Dezember vergewaltigten mehrere Männer die Studentin Jyoti Singh Pandey bestialisch. Nun droht vier Angeklagten die Todesstrafe, einer wurde schon erhängt in seiner Zelle gefunden.

Tauwetter am Nordpol

Seite 114

Die globale Erwärmung eröffnet einen kürzeren Seeweg zwischen Asien und Europa. Vor allem Russland forciert die Nutzung der Nordostpassage. In diesem Sommer fahren bereits Hunderte Frachtschiffe durchs Polarmeer.

In diesem Winter jährt sich der Geburtstag von Willy Brandt zum 100. Mal. Eine neue Biografie über den ehemaligen Bundeskanzler charakterisiert den Vater der Söhne Peter, Lars und Matthias als fern und scheu. Im SPIEGEL berichtet dagegen Lars Brandt über seine Nähe zum Vater: „Er hat mich am Tag vor seinem Rücktritt nachts um zwei angerufen.“

Wissenschaft · Technik Prisma: Jobsuche per Computerspiel / Machen Softdrinks Kinder aggressiv? ........... 112 Schifffahrt: Wie Russland den Seeweg durch das Nordpolarmeer ausbaut .......................... 114 Astronomie: Der Komet „Ison“ rast auf die Sonne zu ........................................... 117 Gesundheit: Deutsche Apotheker verkaufen vertrauliche Patienteninformationen an die Pharmaindustrie ................................. 118 Ernährung: Die teuersten Steaks der Welt – deutsche Bauern züchten das Wagyu-Rind ... 120

Sport Szene: Autorennen auf dem ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof / Sportausschuss-Vorsitzende Dagmar Freitag über die Allianz für ein Anti-Doping-Gesetz ........ 123 Kampfsport: Gehorsam und Drill – der entbehrungsreiche Alltag junger Ringer in den japanischen Sumo-Ställen ...................... 124 Homosexuelle: Athleten und Aktivisten protestieren weltweit gegen das russische Anti-Schwulen-Gesetz ............. 128

Familie Brandt 1965

Der Kanzler und seine Kinder S. 96, 98

Szene: Die schottische Band Franz Ferdinand meldet sich zurück / Michael Caine spielt einen anrührenden Alten in dem Film „Mr. Morgan’s Last Love“ .............................. 94 Zeitgeschichte: Eine neue Biografie porträtiert Willy Brandt vor allem als Familienmenschen ......................................... 96 Lars Brandt über seinen Vater Willy und dessen Regierungsstil als Kunstform ....... 98 Essay: Die Schriftstellerin Monika Maron über ihr Unbehagen an der Zeitungslektüre ......... 102 Literatur: Helene Hegemanns lesenswerter Roman „Jage zwei Tiger“ ............................. 104 Gesellschaft: SPIEGEL-Gespräch mit dem Frankfurter Philosophen Rainer Forst über soziale Gerechtigkeit ............................ 106 Bestseller ..................................................... 109 Popkritik: „Another Self Portrait“ – CD-Box mit unbekannten Aufnahmen von Bob Dylan .............................................. 110

Medien

PHILIPP / DPA

Trends: MDR berichtet „live“ von der Völkerschlacht / Provinzieller Datenschutz? ........... 129 Humor: Zum zweiten Todestag von Loriot erinnert sich der Enkel Leopold von BülowQuirk an seinen Großvater ........................... 130

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Briefe ............................................................... 6 Impressum, Leserservice .............................. 134 Register ........................................................ 135 Personalien ................................................... 136 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 138 Titelbild: Illustration Jean-Pierre Kunkel für den SPIEGEL; Foto dpa

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Briefe Von der Hand am Klettergerüst bis zur verzweifelt weinenden Mutter, als mich meine Eltern vor 17 Jahren zum Studieren nach Greifswald brachten, kenne ich alles. Aber: Ich, die ängstlich überbehütete Tochter, habe mittlerweile vier Kinder und gelernt, mutig zu sein. Es verbleibt mehr Freiheit für den Einzelnen, da Mama ja noch den kleinen Bruder stillt.

„An alle Eltern: Lasst Kinder Fehler machen und manchmal auch in Niederlagen reinlaufen, aber vergesst nicht, sie danach aufzuheben und aufzubauen. Denn elementar ist die Erfahrung, bei Problemen immer Rat und Unterstützung und, wenn nötig, auch Kritik zu finden.“

DÖRTHE OTTO, SÜDERHOLZ (MECKL.-VORP.)

fragte, was das zu bedeuten habe, wollte der sich halb totlachen. Er hatte die Nacht bei seiner Freundin verbracht und war nicht nach Hause gekommen. Folglich nahm Mama an, dass die Schule auch geschwänzt würde. Deshalb meldete sie Sohnemann schon mal vorsorglich krank.

Helikopter-Eltern haben die Kinder, die sie verdienen. Und meistens nutzen diese es auch hemmungslos aus. Aber der Mensch ab einem gewissen Alter kann, darf, muss rebellieren. Vor allem, wenn die Eltern um ihre Küken schwirren. Und wenn der Heranwachsende das nicht rechtzeitig tut, bedeutet es, dass er kein echtes Vogelküken ist, sondern bloß ein niedlich bequemes Hühnchen. Nicht alle Menschen sind zum Fliegen bestimmt. Viele fühlen sich in Hühnerställen und goldenen Käfigen sauwohl.

CHRISTA LISSEY, HANNOVER

ADELINA SANTANDER, BERLIN

Als junger Vater konnte ich hier weder mich selbst noch meine Eltern wiederfinden. „Helikopter-Eltern“ sind kein neues

Als Lehrer erlebe ich es beinahe täglich, wie besonders Mütter, den Tiermüttern gleich, ihre Kinder aggressiv verteidigen, es aber nicht schaffen, sie, wie in der Tierwelt, insoweit zu verstoßen, dass sie sich zu selbständigen Individuen entwickeln können. Viele Schüler nützen dies aus, indem sie sich für ihre Faulheit und ihr Desinteresse durch das beschützende Engagement ihrer Eltern belohnen lassen und bei Ordnungsmaßnahmen mit deren Erscheinen drohen. Dagegen helfen nur ein Kollegium und eine Schulleitung, die Rückgrat zeigen und die Entscheidungen so treffen, wie es Schülern angemessen ist: ohne vorauseilenden Gehorsam gegenüber möglichen negativen Schülerelternreaktionen.

NATHALIE REPENNING, SCHENEFELD (SCHL.-HOLST.)

Nr. 33/2013, Achtung! Eltern! Sie tun alles für ihr Kind – und schaden ihm

Vogelküken oder Hühnchen Ich kann diesem Früher-war-alles-besserTenor grundsätzlich nichts abgewinnen. Toll, dass die sechsjährige Yanira in Peru Krebse fängt, kocht, Blätter sammelt und die Hütte fegt. Aber ist ein Vergleich mit heutigen amerikanischen oder mitteleuropäischen Kindern wirklich zulässig? Und die US-Journalistin ist nur so lange ein herausragendes Positivbeispiel für Erziehung zur Selbständigkeit, wie ihrem neunjährigen Kind in der New Yorker U-Bahn nichts zustößt. Ich versuche, meiner Tochter am Klettergerüst die größtmögliche Freiheit zu geben, aber wenn sie runterfällt, und ich bin nicht da, um sie aufzufangen, geht ein Aufschrei über den Spielplatz, und ich muss mich für die Vernachlässigung meiner Aufsichtspflicht rechtfertigen. Viele sind sich gar nicht bewusst, unter welch großem gesellschaftlichem Druck Eltern stehen.

ANDREAS KLAMMT / DER SPIEGEL

SPIEGEL-Titel 33/2013

LISA MANG, WIEN

Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist eben nicht besser – wie uns der Volksmund suggerieren will. PAUL KORF, HAMBURG

Letztens rief eine Mutter an und fragte, ob ihre Tochter, die gerade Abi gemacht habe, in der Pressestelle ein Praktikum machen könne. Ich war leider zu höflich, ihr direkt zu sagen, dass ihre Tochter sich überlegen solle, ob sie in dem Beruf richtig aufgehoben ist, wenn sie nicht mal ein Telefonat selbst führen mag. CHRISTIANE CONZEN, REMSECK AM NECKAR

In der Berufsschule rief neulich eine Mutter an, um mitzuteilen, dass ihr Sohn wegen einer Grippe nicht kommen könne. Der Notarzt sei auch schon da gewesen. Etwas verdutzt teilte ich ihr dann mit, dass das arme kranke Kind putzmunter im Unterricht sitze und kein bisschen fiebrig aussehe. Erschrocken legte „Mama“ den Hörer auf. Als ich den jungen Mann 6

Phänomen unserer Generation, sondern vielmehr ein kläglicher Versuch unserer Pädagogen, von der Unfähigkeit, Werte und Normen zu vermitteln, abzulenken! ALEXANDER WOZNIAK, TELTOW (BRANDENB.)

Noch nie hat man so viel über Kinder und ihre Bedürfnisse geredet, noch nie hat man sich so wenig gekümmert. MARTINA LENZEN, MÜNCHEN

JOSEF GEGENFURTNER, SCHWABMÜNCHEN

Als alleinerziehende, berufstätige Mutter mit vier Kindern kann ich Ihre Beobachtungen leider nur bestätigen. Kinder werden heutzutage teilweise entmündigt oder in jede noch so kleine Entscheidung miteinbezogen. Dagegenhalten möchte ich aber, dass in der Grundschule bereits Aufgaben übertragen werden, die unmöglich von einem Kind komplett selbständig zu bearbeiten sind. MICHAELA KHOBO, NEU-ULM

Ich bin eine Helikopter-Mom. Glück für meinen Sohn, dass wir von Berlin weggezogen sind. Das Landleben hat mich therapiert: Versuchen Sie mal, in Nordfriesland einen Kindergarten zu finden, der Englisch anbietet, oder einen Gesprächspartner, den interessiert, wann ihr Kind trocken war oder laufen konnte. Und das Hinterherschleichen, wenn mein Sohn sich außerhalb des Gartens aufhält? Ich arbeite daran.

Eine wichtige Botschaft in Ihrem Artikel: Es ist nicht die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder glücklich zu machen. Aber: Kinder wollen glückliche Eltern! Vergessen wir also nicht zwischen all der Organisation von Ballett- und Klavierstunden, Nachhilfe und Klettertraining für die lieben Kleinen: fernab der Rolle als behütende Eltern – uns selbst! Denn unglückliche Eltern sind schlechte Eltern.

KERSTIN SCHIPPMANN, HATTSTEDT (SCHL.-HOLST.)

ULLI CECERLE-UITZ, WIEN

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Briefe

Ja, der Reformunwille verbreitet sich, und er ging nicht von der Politik aus. Die Diagnose „Mehr Verlustangst als Zukunftsliebe“ (Sloterdijk) ist symptomatisch für alternde Gesellschaften. Die „Wutbürger“ kapern die politische Macht.

Ihre einseitige Sichtweise kann schon ein wenig auf die Nerven gehen. Statt der geforderten Verschärfung der Agendapolitik ist für Deutschlands Finanzen und Sozialsysteme auch eine andere Kur denkbar: Erhöhung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer wieder auf 53 Prozent, Wiedereinführung der Vermögensteuer, Ausbau der Steuerfahndung, Finanztransaktionsteuer, Einführung einer Bürgerversicherung, auch für die Pflege.

HANS-JOACHIM OTTO, FRANKFURT AM MAIN

TORSTEN LÜDECKE, HAMBURG

Nr. 32/2013, Wahl-Spezial: Politik und Bürger blockieren die notwendigen Reformen

MICHAEL KAPPELER / DPA

Hypnotiseurin Merkel

Kanzlerin Merkel im Wahlkampf

Wie sollte es auch anders sein in einer Gesellschaft, in der Politiker in erster Linie an ihre Wiederwahl denken? In der unkonventionelle Überlegungen sogleich von den auflagenorientierten Medien aufs Korn genommen werden? Und in der angedachte Änderungen von den allein ihren Geldgebern verpflichteten Interessentengruppen umgehend in der Luft zerrissen werden?

Wunderbar! Deutschland überlebt dank der Rezepte von mit Staatsknete abgesicherten ältlichen Professoren – wie Kürzungen bei der Rente, Steuererhöhungen und mehr Zuwanderung, weil sonst die Demokratie in Gefahr ist. Außerdem retten wir damit praktischerweise ganz Europa. Eine tolle Analyse.

DR. WILFRIED STOLL, MÖHNESEE (NRW)

DR. CARSTEN CARSTENSEN, HANNOVER

ROLF BÄHNK, HAMBURG

Der Artikel wird uns ganz gewiss nicht aus der diagnostizierten Lethargie reißen! Das kann nur die Hypnotiseurin Merkel allein, denn sie höchstpersönlich hat uns jahrelang eindringlich und erfolgreich suggeriert: „Meine Politik und ich sind alternativlos!“ Für ihren Machterhalt ist es bequem, uns in dem herbeigeführten schlafähnlichen Zustand verharren zu lassen. GERD LIEBCHEN, MÜNCHEN

Ich fürchte: Der Biedermeier der 2000er Jahre will’s nicht wissen, duckt sich ab und lässt sich lieber einlullen oder buntlaut ablenken. ANDREAS KUHNT, HANNOVER

Die heute von Ihnen so gelobte Regierung Schröder/Fischer wurde damals in den Medien – der SPIEGEL vorneweg – in Grund und Boden geschrieben. Den Untergang derselben hat das politische Establishment nicht vergessen. FELIX DÜRBAUM, HANNOVER

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DOLF HERMANNSTÄDTER, BREMEN TRUST VERLAG

Nr. 33/2013, Was Gustl Mollaths Ex-Ehefrau zu dessen Freilassung sagt

Nach Goldstandard Die Erzählungen der Frau Petra M., die von ihrer Tagesbiografin Beate Lakotta kolportiert werden, bringen mich zwar nicht dazu, von meiner Grundloyalität gegenüber dem SPIEGEL abzurücken. Dennoch lege ich Ihnen nahe, die Beiträge von Frau Lakotta künftig nicht mehr mit „Justiz“ zu überschreiben und damit den falschen Eindruck zu erwecken, hier handele es sich (wenn auch nur entfernt) um so etwas wie Gerichtsberichterstattung. Frau Lakotta Strate versteht von unserem Justizsystem nichts. Begriffe wie faires Verfahren oder der Inhalt der im Grundgesetz verbrieften Grundrechte sind ihr fremd. Wird gegen sie verstoßen, dann ist beim Beschuldigten halt „nicht alles nach Goldstandard gelaufen“. Für Frau Lakotta gilt hier nur: na und? DR. JUR. GERHARD STRATE, HAMBURG ANWALT VON GUSTL MOLLATH D E R

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Für Leser mit Zahlungsbereitschaft für Qualitätsjournalismus fehlen Online-Alternativen zur stetig schlechter werdenden Tageszeitung. Interessant wäre ein Vertrieb für individualisierte Digital-Abos, zum Beispiel die „Neue Zürcher Zeitung“ plus „FAZ“-Sportteil und -Feuilleton; oder: alle Artikel aus einem Pool an Zeitungen zu selbst festgelegten Schlagwörtern; und für meine Eltern auf dem Dorf die Qualität der „Süddeutschen Zeitung“ und die Lokalteile vom „Westallgäuer“ und von der „Schwäbischen Zeitung“. Es ist doch so, wie es überall ist, wenn der Markt die Leidenschaft ersetzt. Dann wird auch der Journalismus eine Ware, die auf den Kunden zugeschnitten ist, um Geld zu verdienen – langweilig. Das ist längst im Gedruckten passiert und wird auch mit Online passieren. Und es wird immer Journalismus geben, der sich nicht am Markt orientiert; und der wird immer in Nischen funktionieren.

MÜLLER-STAUFFENBERG / IMAGO

Dieser Bericht war überfällig, aber auf den Punkt. Seit mit Merkel Schwarz-Gelb regiert, ist die politische Elite komplett verschwunden. Die Ministerriege besteht aus Dilettanten, und genau ihr haben wir den Stillstand der letzten vier Jahre zu verdanken. Kurz: unglaublich untauglich.

Journalismus als Ware

ANDREAS KOHN, MÜNCHEN

DR. KARL-WILHELM PORGER, WALDFISCHBACH-BURGALBEN (RHLD.-PF.)

Um die „bequeme Republik“ aus ihrer Lethargie zu befreien, gibt es nur einen Weg: eine Große Koalition, die sich mit ihrer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat Reformen, Reformen, Reformen zum Ziel setzt. Beginnen sollte sie mit einer Verfassungsänderung, die den Föderalismus in der Bildungspolitik beseitigt.

Nr. 32/2013, Warum Tageszeitungen in Großstädten so viele Leser verlieren

Als Konsument kann ich das Gejammer über das Dahinsiechen der armen Tageszeitungen nicht mehr hören! In meiner Gegend gibt es eine unionsnahe und eine eher SPD-lastige Tageszeitung mit Regionalausgaben. Ganz offensichtlich wurden die Redaktionen bis zur Funktionsunfähigkeit geschrumpft. Immer wieder las ich Artikel, die direkt aus den Werbeabteilungen der beschriebenen Firmen stammten und unverändert übernommen worden waren. WOLFGANG SCHMIDT, LAGE (NRW)

Selbst große Tageszeitungen sind als App nicht in der Lage, die Benutzerfreundlichkeit einer Online-Hilfe zu bieten – geschweige denn automatischen Index, Glossar oder Links mit Hintergrundberichterstattung, Foren oder Bewertungen. HENDRIK LOHMANN, LANGENHAGEN (NIEDERS.)

Leider fehlt der kritische Blick auf die Verlage. Es ist der böse Leser, der die Nachrichten im Internet umsonst liest. Es ist der Leser, dem eine Eins-zu-eins-Übersetzung zum ePaper nicht genug ist. Doch welche überregionale Tageszeitung produziert denn eine plattformübergreifende ePaper-App, welche klaglos auf allen Geräten funktioniert? Richtig – keine. MATHIAS DITTRICH, DEN HAAG Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected]

Panorama B AY E R N

„Schlechter Stil“

JAKOB STUDNAR / WAZ FOTOPOOL / ACTION PRESS

Der Speyrer Verwaltungsjurist und Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim hat seine Kritik an der Abgeordnetenversorgung im Bayerischen Landtag erneuert. Der jüngste Prüfbericht des Landesrechnungshofs habe seine Bedenken „voll bestätigt“: „Wenn der Landtag bei Bewilligung und Verwendung der öffentlichen Mittel für Abgeordnete ,in eigener Sache‘ entscheidet, unterliegt er besonderen Transparenzanforderungen“, sagt Arnim. Stattdessen habe das Parlament „die öffentliche Kontrolle gezielt ausgeschaltet“. Der Rechnungshof hatte in seinem Bericht die Zahlungen an bayerische Landtagsabgeordnete als zu großzügig und intransparent gerügt sowie der Landtagsverwaltung unzureichende Kontrolle vorgeworfen; die Mitarbeiterkosten für engste Angehörige hätten zudem nach Auffassung des Rechnungshofs ab Juli 2004 nicht erstattet werden dürfen. Die Erwiderung von Landtagspräsidentin Barbara Stamm, sie habe sich darauf verlassen, dass der Rechnungshof noch im Jahr 1998 die korrekte Abrechnung der Zahlungen bestätigt habe, „grenzt an Irreführung“, so Arnim: Damals sei es nur um die buchhalterische Abwicklung gegangen; zudem sei noch gar nicht geregelt gewesen, dass die Kostenerstattung für Abgeordnetenmitarbeiter nur „gegen Nachweis“ erfolgen dürfe: „Gerade die völlige Missachtung dieser Vorschrift ist ein Hauptkritikpunkt des Rechnungshofs.“ Dass Stamm Reformen erst nach der Wahl angehen und einen Verfassungsrechtler mit einem Gegengutachten zur Auffassung des Rechnungshofs bezüglich der AltfallRegelung beauftragen wolle, kritisiert Arnim als „schlechten demokratischen Stil“.

WA H L K A M P F

Gabriel rückt von Steuererhöhungen ab

JOHANNES SIMON / SUEDDEUTSCHER VERLAG

Arnim

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Gabriel

Angesichts schlechter Umfragewerte hat SPD-Chef Sigmar Gabriel einen Kurswechsel in der Finanzpolitik angedeutet. „Die Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerdumping ist der bessere Weg zum Schuldenabbau und zu höheren Investitionen in Bildung und Infrastruktur in Deutschland als Steuererhöhungen“, sagte Gabriel. „Wir könnten in Deutschland auch wieder Steuern senken, wenn es endlich gelingt, Steuerbetrug wirksam zu bekämpfen.“ Damit rückt Gabriel offenbar von den bisherigen Beschlüssen in dem Bereich ab. Das SPD-Wahlprogramm sieht bisher unter anderem vor, den Spitzensatz der Einkommensteuer von 42 auf 49 Prozent anzuheben und die Vermögensteuer wieder einzuführen. Nach Schätzungen des Bundes der Steuerzahler beliefen sich die Mehreinnahmen auf über 30 Milliarden Euro. Insbesondere die Parteilinke D E R

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hatte lange für die Veränderungen gekämpft. Das Geld soll nun nach Gabriels Vorstellungen nicht durch Steuererhöhungen eingenommen werden, sondern durch eine harmonisierte Unternehmensbesteuerung in Europa: „Jeder Handwerksmeister und Mittelständler zahlt in Deutschland heute höhere Steuersätze als Konzerne wie Google, die sich in Europa eine Steueroase wie Irland oder die Niederlande suchen können, obwohl sie ihr Geld in Deutschland verdienen“, so Gabriel. Dadurch gehe Europa bis zu einer Billion Euro an Einnahmen verloren. Der SPD-Chef will zudem die weitere Beteiligung Deutschlands an der EuroRettung davon abhängig machen, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen auf europäischer Ebene durchgesetzt werden. „Deutschland kann nicht immer wieder europäischen Rettungspaketen zustimmen, wenn uns zeitgleich durch Steuerbetrug und Steuerdumping jährlich 160 Milliarden Euro in Bund, Ländern und Gemeinden verlorengehen.“ Auch Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hatte kürzlich angedeutet, unter bestimmten Bedingungen auf Steuererhöhungen verzichten zu wollen.

Deutschland SPD

JUSTIZ

Nahles

Neue Ermittlungen zu antijüdischem Anschlag

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles ist mit ihrem Vorhaben, ein Netzwerk parteinaher Rundfunkkontrolleure zu gründen, bislang auf wenig Gegenliebe gestoßen. Ende Juni hatte die Parteizentrale die „lieben Mitglieder von Rundfunkräten und des ZDF-Fernsehrates“ zum Wahlkampfauftakt zu einer Telefonschaltkonferenz eingeladen. „Noch vor der heißen Phase der Bundestagswahl“ wolle man darüber reden, wie man „die Kommunikation verbessern“ könne, heißt es in einer Mail aus dem Willy-Brandt-Haus. Ein Großteil der Eingeladenen witterte darin den Versuch, die Arbeit der Kontrolleure des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu beeinflussen – und hielt sich fern. An der ersten Telefonschaltkonferenz am 3. Juli nahmen

In die Ermittlungen wegen eines Brandanschlags auf ein jüdisches Altersheim im Jahr 1970 in München kommt noch einmal Bewegung. Die Bundesanwaltschaft ist angehalten, den Fall von der Staatsanwaltschaft München zu übernehmen. Bislang unbekannte Täter hatten am 13. Februar 1970 in dem Gebäude der jüdischen Gemeinde in der Münchner Reichenbachstraße Feuer gelegt. Bei dem Brand waren sieben Bewohner zu Tode gekommen. Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft gingen Spuren in verschiedene Richtungen nach, darun-

FISCHER / DAVIDS

Rundfunkräte brüskieren Nahles

nach Teilnehmerangaben nur knapp 20 Interessierte teil. Nach ihrem internen Verteiler zählt die Parteizentrale insgesamt jedoch 96 SPD-nahe Kontrolleure. Eine weitere Schaltkonferenz soll diesen Montag stattfinden. Die Fernseh- und Rundfunkräte üben die Aufsicht über die öffentlich-rechtlichen Sender aus. Sie werden von Bundes- und Landesregierungen, Parteien, Verbänden oder Kirchen benannt, sollen aber unabhängig sein.

desfinanzministeriums auf eine Anfrage des SPD-Parlamentariers Joachim Poß hervor. Danach lag der tatsächliche Zinsaufwand in jedem Jahr unter den Planzahlen (siehe Grafik). Im Durchschnitt sank das Zinsniveau für alle Neuemissionen des Bundes um fast einen Prozentpunkt, weil deutsche Staatsanleihen in der Krise besonders gefragt Mit einem zweistelligen Milliardenbe- waren. Auf den Finanzmärkten galt die trag profitiert die Bundesrepublik von Bundesrepublik wegen ihrer vergleichsder Euro-Krise. Vor allem, weil die Zin- weise soliden Staatsfinanzen als besonsen für Staatsanleihen gesunken sind, ders sicherer Gläubiger. Die Zinsersparspart Bundesfinanzminister Wolfgang nisse und unerwartet hohe SteuereinSchäuble (CDU) in den Jahren 2010 bis nahmen wegen des Konjunkturverlaufs 2014 insgesamt 40,9 Milliarden Euro. drückten auch die Neuverschuldung. Das geht aus einer Antwort des Bun- Von 2010 bis 2012 nahm Schäuble rund 73 Milliarden Euro weniger an neuen Krediten auf als vorgesehen. Dies Zinsersparnis des Bundes in Mrd. € drückte die Zinskosten um einen niedrigen einstelligen Milliardenbetrag. Der Zinslast laut Finanzplanung (Stand 2011) Finanzminister versucht, die positiven tatsächliche Zinsausgaben Auswirkungen des niedrigen Haushaltsplan/Entwurf Zinsniveaus so lange wie 48,1 e h Quelle: Bundesfinanzministerium sichtlic möglich für den Bundesvoraus parnis 40,6 Zinsernsde 2014: haushalt zu nutzen, indem bis E samt 36,8 36,4 36,1 er vermehrt lang laufende insge € Anleihen zu günstigen Kon41 Mrd. ditionen 33,1 32,8 platziert. Der Anteil 31,6 30,5 29,1 kurzfristiger Neuemissionen mit einer Laufzeit von weniger als drei Jahren sank von 2009 bis 2012 von 71 auf 51 Prozent. Den Zinsersparnissen stehen nach Angaben des Finanzministeriums Kosten durch die Euro-Krise von 2011 2012 2013 2014 2010 bisher 599 Millionen Euro gegenüber. H AU S H A LT

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CHRISTINE STRUB / KEYSTONE

Krisengewinner Deutschland

Feuer in jüdischem Altenheim 1970

ter auch in rechts- und linksradikale Milieus. Ein konkreter Verdacht ergab sich allerdings nicht. Die Münchner Staatsanwaltschaft übersandte ihre Akten nun Ende vergangenen Monats an die Bundesanwaltschaft, die angesichts der Schwere des Verbrechens die Ermittlungen übernehmen muss. Trotz eines neuen Zeugen, eines ehemaligen Linksradikalen, dürfte es auch den Karlsruher Ermittlern schwerfallen, den Fall aufzuklären. Entscheidende Asservate, die heute mittels DNAAnalyse Erkenntnisse liefern könnten, wurden bereits vor 20 Jahren entsorgt. 11

Panorama RECHTSEXTREMISTEN

Hetze per Gefängnis-PC

CARSTEN KOALL

Der Justizskandal um den einstigen RAF-Gründer und heutigen Neonazi Horst Mahler weitet sich aus. Die Leitung der Haftanstalt Brandenburg/Havel, in der Mahler eine mehrjährige Freiheitsstrafe wegen Volksverhetzung verbüßt, war offenbar bereits weitaus früher über ein rechtsextremes Buchprojekt Mahlers informiert als bislang bekannt. Wie das Potsdamer Justizministerium auf Anfrage einräumte, hatten Gefängnisbedienstete bereits im vergangenen Dezember bei einer Kontrolle festgestellt, dass Mahler auf einem privaten Computer antisemitisches Schriftgut gespeichert hatte. Trotz des Funds durfte der Häftling den

Mahler

Privat-PC weitere sieben Wochen lang nutzen – angeblich für eine Arbeit über die Entstehungsgeschichte der RAF. Erst Anfang Februar, so das Ministerium, sei der private Computer dann „wegen Bedenken hinsichtlich der Kontrollierbarkeit“ gegen einen „Anstaltsrechner“ ausgetauscht worden. Doch auch den Gefängnis-PC nutzte der Neonazi für rechte Propaganda: Am 14. März fand sich darauf das Manuskript von Mahlers antisemitischer Hetzschrift „Das Ende der Wanderschaft“ (SPIEGEL 30/2013). Das Justizministerium will erst zwei Monate später, am 17. Mai, „Kenntnis von dem Buch und dessen Veröffentlichung“ im Internet erhalten haben, und zwar nicht durch die Haftanstalt, sondern durch ein Schreiben des Verfassungsschutzes. Danach dauerte es nochmals zwei Wochen, bis die zuständige Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleitete. Am Donnerstag muss Brandenburgs Justizminister Volkmar Schöneburg (Linke) dem Rechtsausschuss des Landtags erklären, wie es zu der Verzögerung kommen konnte. Erst kürzlich hatte er gegenüber dem „Tagesspiegel“ behauptet, dass „sofort nach Bekanntwerden“ der Hetzaktivitäten Mahlers „das Nötige veranlasst worden“ sei.

RUSSLAND

Merkel gegen Olympia-Boykott Kanzlerin Angela Merkel lehnt einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Sotschi wegen der Diskriminierung Homosexueller in Russland ab. Während der Veranstaltung im kommenden Februar sei die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Situation in Russland gerichtet, hieß es im Kanzleramt. Dies könne eher Veränderungen bewirken als ein Boykott, wie sich auch beim Eurovision Song Contest im vergangenen Jahr in Aserbaidschan gezeigt habe. Leidtragende eines Boykotts seien nach Ansicht Merkels in erster Linie die Sportler. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) brachte im SPIEGEL kürzlich einen Boykott ins Gespräch. Das russische Parlament hatte im Juni ein Gesetz verabschiedet, das die „Propaganda“ für Homosexualität unter Strafe stellt (siehe auch Seite 128).

bilder vorherzusagen, versucht die Merkologie den Rücktritt Angela Merkels anhand historischer Jahrestage vorherzusagen. Für das Rücktrittsjahr 2016 spricht laut „Stern“ unter anderem, dass sich Merkels Benennung zur Frauenministerin dann zum 25. Male jährt. Anders als vielfach vermutet ist Bundeskanzlerin Im Tippspiel um den Merkel-Rückzug sind jetzt nur noch Angela Merkel in der vergangenen Woche aus ih- das Jahr 2014 und das Frühjahr 2017 frei. Für 2014 spräche, rem Urlaub zurückgekehrt. Offenbar gedenkt sie, dass Merkel exakt 30 Jahre zuvor den Quantenchemiker Joain den verbleibenden Wochen höchstpersönlich chim Sauer kennenlernte, ihren heutigen Ehemann. Mit dem am Wahlkampf teilzunehmen. Aus dem Kanzler- möchte sie bekanntlich unbedingt noch die Panamericanaamt heißt es sogar, Merkel erwäge im Falle einer Route von Alaska bis Feuerland bereisen. 2014 wäre da ein Wiederwahl, ihrer dritten Amtszeit persönlich beizuwohnen. schöner Anlass. Im Frühjahr 2017 hingegen wird Merkel den 47. Jahrestag ihrer Konfirmation in der Templiner St. MariaDas war nicht zwingend zu erwarten. Magdalenen-Kirche feiern – was als AnUnklar bleibt derweil, wie lange diese Amtszeit dauern wird. Eine halbe Führende Merkologen haben lass auch nicht zu verachten ist. Die kurzfristige Variante, dass schon Heerschar von Experten beschäftigt sich sich bislang nicht auf eine 2013 Schluss sein könnte, und zwar am mittlerweile mit dieser Frage. Allerdings Antwort einigen können. 22. September, wird derzeit von niehaben sich die führenden Merkologen mandem in Betracht gezogen – außer bislang nicht auf eine gemeinsame Antwort verständigen können. Ihre Vorhersagen divergieren. von Peer Steinbrück vielleicht, der jedoch einiges dafür tut, Während in der „Bild“-Zeitung schon vor Wochen die These dass seine Prognose sich nicht bewahrheiten wird. vertreten wurde, Merkel werde sich im Jahre 2015 zurück- Steinbrück selbst lässt in der Frage, wie lange er Kanzler ziehen, konterte der „Stern“ unlängst mit einem anderen sein möchte, übrigens weniger Raum für Analysen – auch Datum. Demnach wird Merkel erst 2016 Schluss machen. Es hier wird er seinem Ruf als Klartextredner vollauf gerecht. Als amtierender Bundeskanzler werde er auch bei der Wahl steht Aussage gegen Aussage. Man könnte nun die Frage erörtern, ob es für das Land über- im Jahre 2017 für eine volle Legislaturperiode zur Verfügung haupt einen Unterschied macht, ob Merkel 2015 oder 2016 stehen, erklärte er vorigen Donnerstag während einer Pressein den verdienten Ruhestand geht – in den vergangenen vier konferenz zur Energiepolitik. Und im Jahre 2021 dann erneut Jahren ist schließlich auch nicht viel geschehen. Interessanter für vier Jahre. Er bliebe also auf jeden Fall Kanzler bis 2025, erscheint jedoch die Methodik der Merkologen. Während dem Jahr, in dem er und Gertrud Steinbrück goldene HochMarkus Feldenkirchen die Astrologie probiert, Entwicklungen anhand der Stern- zeit feiern. KOLUMNE

Fünf Wochen noch

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Deutschland PROZESSE

Middelhoff wollte 300 Millionen Euro Provision

TIMO VOG / EST&OST / PICTURE ALLIANCE / JOKER

Bundeswehrsoldaten in der Provinz Baghlan

A F G H A N I S TA N

Taliban ermorden Isaf-Helfer

Dass Thomas Middelhoff als Bertelsmann-Manager enorm viel Geld verdiente und auch danach nicht gerade schlecht, hat er selbst oft genug erzählt. Nun aber taucht in den Akten des Schadensersatzprozesses, in dem die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz ihre bei der Konzernpleite verlorenen Millionen einklagt, eine Provisionsregelung für Middelhoff auf, die neue Maßstäbe in Sachen Gier setzt. Wenige Wochen bevor Middelhoff im Mai 2005 aus dem Aufsichtsrat auf den Vorstands-Chefposten von KarstadtQuelle wechselte, ließ er sich in einer Vereinbarung eine Provision von 300 Millio-

einem Knüppel schlug“, sagte er der türkischen Nachrichtenagentur Dogan. Dann sei er ohnmächtig geworden. In einer „Lagemeldung“ der Bundespolizei vom 11. August, ein paar Stunden nach der nächtlichen AuseinandersetEine gewalttätige Auseinandersetzung zung, stellen die Beamten den Verlauf zwischen einem Türken und einem anders dar. Demnach sei es der DuisBundespolizisten am Flughafen burger gewesen, der Köln/Bonn belastet die zuerst zuschlug. Der diplomatischen BezieVater habe den Beamhungen zwischen Berten „unvermittelt“ mit lin und Ankara. „Ich der Faust gegen die linverurteile die Polizeike Schläfe geschlagen gewalt gegen unsere und dabei dessen BrilBürger“, sagte der türle zerstört. Daraufhin kische Vizepremier habe der Polizist ihn Bekir Bozdag und formit einem Knüppel derte eine Bestrafung auf einen Oberarm gedes Beamten. Ein 51 schlagen. Schließlich Jahre alter, in Duisseien beide zu Boden burg lebender Türke gegangen, wobei sich behauptet, bei der Ausder Duisburger Türke weiskontrolle seines am Kopf verletzt Sohns unvermittelt gehaben soll. Die Staatsschlagen worden zu anwaltschaft Köln sein. „Noch während ermittelt nun gegen ich fragte: Was macht beide Beteiligte der ihr da?, sah ich, wie Schlägerei. mich der Polizist mit Bundespolizisten, verletzter Türke

FRANK LEONHARDT / DPA

In der Provinz Kunduz sind ein afghanischer Helfer der Isaf-Truppen und sein Bruder ermordet worden. Der Mann war für eine Firma im Auftrag der Nato-Truppen im Süden des Landes als Wachmann tätig. Nach Angaben von Verwandten hatte er mehrmals Drohanrufe von Taliban erhalten. Die Anrufer sollen ihn aufgefordert haben, seinen Job zu kündigen, da die Isaf-Soldaten Feinde seien. Zum Ende des Fastenmonats Ramadan war der Afghane in sein Heimatdorf nahe der Stadt Kunduz zurückgekehrt. Wie der örtliche Polizeichef mitteilte, sei eine Gruppe Bewaffneter im Geschäft des Bruders aufgetaucht und habe beide Männer getötet. In den vergangenen Monaten hatte es Warnungen gegeben, dass die Ortskräfte im Norden Afghanistans, dem Einsatzgebiet der Bundeswehr, insbesondere nach dem Abzug der Kampftruppen 2014 gefährdet sein könnten.

BUNDESPOLIZEI

Wer hat angefangen?

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Middelhoff

nen Euro zusichern. Zahlen sollten davon je 100 Millionen Schickedanz, eine Gesellschaftergruppe um das Bankhaus Oppenheim und den Troisdorfer Immobilienentwickler Josef Esch sowie ein dritter Gesellschafter, der erst noch gefunden werden musste. Gekoppelt war die exorbitante Erfolgsprämie im Fall Schickedanz an vier Bedingungen: dass es Middelhoff im Auftrag der Gesellschafter gelingt, den Konzern von der Börse zu nehmen, dass bei diesem Coup der Wert des Aktienpakets von Schickedanz um mindestens 515 Millionen Euro auf eine Milliarde Euro steigt, dass Middelhoff die Hälfte davon für mindestens 500 Millionen Euro verkaufen kann und er auch den noch unbekannten dritten Teilhaber rekrutiert. Tatsächlich floss die Provision über 300 Millionen Euro aber nie, angeblich auch, weil es Middelhoff schon nicht gelungen war, einen weiteren Gesellschafter zu finden. 13

GEHEIMDIENSTE

Der Zettel des Generals Angela Merkels Vertrauter Ronald Pofalla hat die Datenaffäre für beendet erklärt. In Wahrheit ist kaum einer der Vorwürfe wirklich widerlegt, und der Kanzleramtsminister verlässt sich auf Kronzeugen, die mehrfach gelogen haben.

D

er Montag vor zwei Wochen ist der Tag, der die Erlösung bringen soll. Am Morgen werden die vier Beamten in ihrem Hotel in Washington vom BND-Residenten an der deutschen Botschaft abgeholt. In zwei dunklen Limousinen fahren sie nach Fort Meade im US-Bundesstaat Maryland, dem Sitz des Militärgeheimdienstes NSA. Es ist eine hochrangige Delegation, die am Tag zuvor in der amerikanischen Hauptstadt gelandet ist: BND-Präsident Gerhard Schindler, sein Kollege Hans14

Georg Maaßen vom Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz, Innenstaatssekretär Klaus-Dieter Fritsche und Günter Heiß, Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt. Keith Alexander empfängt die Deutschen in einem fensterlosen, klimatisierten Konferenzraum. Leutselig begrüßt er seine Gäste, „how are you?“, wie geht’s, als wäre nie etwas vorgefallen. Das also ist der Mann, der Angela Merkels Regierung Entlastung verschaffen soll: Alexander, 61, Absolvent der legendären Militärakademie West Point, Vier-Sterne-General, VaD E R

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ter von vier Töchtern, seit acht Jahren Direktor der NSA. Und Alexander liefert. Er hat seine Leute ein Papier vorbereiten lassen. Ein Blatt, weiß, kein Briefkopf, kein Anschreiben, keine Paraphe, mit der irgendjemand verantwortlich zeichnen würde. Eine nüchterne Auflistung von Fakten, die vom Justitiar des Geheimdienstes Wort für Wort abgesegnet wurde. „Die NSA“, heißt es da, „hält sich an alle Abkommen, die mit der deutschen Bundesregierung, vertreten durch die deutschen

Deutschland

HC PLAMBECK / LAIF

Tisch“, verkündete Merkels Kanzleramts- dem Ausschuss und unter Eid „die am chef Ronald Pofalla daraufhin am vergan- wenigsten wahrheitswidrige“ Antwort gegenen Montag. „Es gibt in Deutschland geben, schwurbelte er nun. Kurz darauf keine millionenfache Grundrechtsverlet- gestand er, seine Darstellung sei „fehlerzung, wie immer fälschlich behauptet haft“ gewesen. In einer ungewöhnlichen überparteiliwird.“ Und Innenminister Hans-Peter Friedrich jubelte wenig später, die Vor- chen Initiative beschwerten sich 26 USSenatoren schriftlich bei Clapper, seine würfe hätten sich „in Luft aufgelöst“. Alles gut also? Ja, fand die „Frankfur- Äußerungen und die anderer Offizieller ter Allgemeine“ („Das deutsche Wahl- würden „die Öffentlichkeit in die Irre fühkampfkapitel ,Weltweite Präsenz ameri- ren“ und „das Vertrauen in die Regierung kanischer Nachrichtendienste‘ ist abge- unterminieren“. Auch die Glaubwürdigkeit des anderen schlossen“). Und druckte einige Seiten weiter einen Beitrag von Justizministerin Pofalla-Kronzeugen ist erschüttert. AlexSabine Leutheusser-Schnarrenberger, der ander und seine NSA stehen unter Druck, das Gegenteil feststellt. Die Debatte sei seit sie die Öffentlichkeit mehrfach nicht beendet, schreibt die FDP-Frau: täuschten. Die NSA hatte auf die „Eine ehrliche Antwort auf die Frage, wie Snowden-Enthüllungen zunächst mit eiweit wir mit der Aufklärung sind, kann ner „Aufstellung der Fakten“ reagiert. Das Papier sei „ungenau“ und „irrefühnur lauten: mittendrin.“ Und in der Tat: Seit der NSA-Whistle- rend“, kritisierten zwei einflussreiche USblower Snowden Anfang Juni die ersten Senatoren aus dem Kontrollgremium. Es geheimen Dokumente veröffentlichte, ist ging um die Frage, ob amerikanische das ganze Ausmaß der amerikanischen Staatsbürger von dem „Prism“-ÜberwaDatenüberwachung nach wie vor unklar. chungsprogramm der NSA betroffen sein Kaum einer der Vorwürfe ist bislang könnten. Mittlerweile scheint klar, dass die NSA glaubwürdig widerlegt. Auch vom KanzTelefonate und E-Mails amerikanischer leramt nicht. Unter dem Suchbegriff „#Pofallabeen- Staatsbürger, die sie gespeichert hat, dank detDinge“ sammelt sich inzwischen im eines Gesetzeszusatzes aus dem Jahr 2011 Netz der Spott über die Chuzpe des Mer- sogar ohne Beschluss ausspähen kann. kel-Vertrauten („Aus meiner Sicht ist Zudem darf der Nachrichtendienst die Schuberts 8. Sinfonie hiermit beendet“). Kommunikation von Amerikanern erfasDass eine politische Affäre von der Re- sen, wenn sie mit Menschen im Ausland gierung amtlich für erledigt erklärt wurde, geführt wird, die von der NSA zum „Ziel“ erklärt wurden. hat es schon lange nicht mehr gegeben. Wie viel von den offiziellen ErklärunDabei ruht Pofallas Verteidigungsstrategie auf einem dünnen Fundament. Die gen der Amerikaner zu halten ist, konnte Bundesregierung verlässt sich auf die Be- Pofalla zuletzt in der vergangenen Woche teuerungen der britischen und amerika- erleben – wenige Tage nachdem US-Pränischen Geheimdienste. Sie ignoriert da- sident Barack Obama öffentlich beteuert bei, dass Desinformation, Verschweigen, hatte, die NSA-Überwachung diene ausTricksen, Täuschen und Lügen zur Spio- schließlich dazu, Terroranschläge zu vernage gehören wie der Parmesan zur Bo- hindern, und die Behörde halte sich dabei lognese. Auch bei Nachrichtendiensten an Recht und Gesetz. NSA-Chef Alexander hatte sich zuvor noch weiter aus dem demokratischer Staaten. Nach ihrem Gespräch mit NSA-Gene- Fenster gelehnt und versichert, seine AufKanzleramtschef Pofalla ral Alexander in Fort Meade trafen sich sicht habe in den vergangenen Jahren die vier deutschen Beamten Anfang Au- keine Regelverstöße von NSA-Leuten gust in Washington mit James Clapper, festgestellt – „das ist Fakt“. Am vergangenen Donnerstag enthüllte Nachrichtendienste, geschlossen wurden, dem obersten Geheimdienstkoordinator und hat sich auch in der Vergangenheit der USA. Auch er versicherte den Besu- die „Washington Post“, dass die NSA chern, alles sei mit rechten Dingen zuge- jährlich tausendfach die Datenschutzstets daran gehalten.“ Der Zettel des Generals ist das, worauf gangen. Seitdem kann auch er als Kron- rechte von US-Bürgern verletze. Aus den Snowden-Unterlagen ergebe sich, dass die Deutschen seit Wochen gewartet ha- zeuge Pofallas gelten. ben. Der ersehnte Persilschein, der belegen soll, dass sich Berlin in dem Daten- Ein Blatt Papier, weiß, kein Briefkopf, skandal, den der frühere NSA-Mann Edward Snowden losgetreten hat, nichts kein Anschreiben, keine Paraphe. hat zuschulden kommen lassen – und die Ausgerechnet Clapper. Im März hatte wegen eines Programmierfehlers TelefoNSA eigentlich auch nicht. Schon eine Woche zuvor hatte sich eine zweite deut- er dem zuständigen Kontrollgremium des ne in Washington (Vorwahl: 202) abgesche Delegation in London eine ähnliche US-Senats noch treuherzig versichert, es hört wurden. Dabei sei eigentlich ÄgypErklärung des britischen Geheimdienstes gebe keine Ausspähung amerikanischer ten (Vorwahl: 20) im Visier gewesen. GCHQ abgeholt. Schlüsselsatz: „Unsere Staatsbürger durch die NSA. Wenig spä- Dass die NSA-Aufsicht davon nichts erfuhr, überrascht nicht: Aus den neuen Arbeit unterliegt jederzeit den gesetzli- ter war er der Lüge überführt. Als Snowden die ersten geheimen Unterlagen geht hervor, dass die NSA chen Vorschriften beider Länder.“ „Der Vorwurf der vermeintlichen Total- NSA-Unterlagen veröffentlichte, musste ihre Analysten anweist, ihre Berichte ans ausspähung in Deutschland ist vom Clapper eilig zurückrudern. Er habe vor Justizministerium und an die ClapperD E R

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Deutschland Behörde bloß nicht zu detailliert zu formulieren. Für die Analysten hat die gesetzeswidrige Überwachung von US-Staatsbürgern offenbar keine gravierenden Folgen. Das geht aus einem Dokument hervor, das der SPIEGEL eingesehen hat. Wenn versehentlich US-Personen in die Überwachung gerieten, müsse das zwar intern gemeldet werden, heißt es darin. Aber ansonsten müsse man sich „darüber keine Sorgen machen“. Die öffentlichen Rechtfertigungen der NSA ähneln verblüffend den Spitzfindigkeiten der deutschen Erklärungen. Man muss sie sehr genau lesen. Ein Beispiel dafür ist die bislang wohl umfassendste Presseerklärung in der Geschichte der NSA, die der Geheimdienst am Freitag vor zwei Wochen veröffentlichte. An einer farblich hervorgehobenen Stelle ihrer siebenseitigen Erklärung schreibt die NSA nebulös, sie „fasse“ pro Tag nur 1,6 Prozent des weltweiten Internetverkehrs an – ohne das in diesem Zusammenhang ungewöhnliche englische Wort „touch“ näher zu erklären. Was sich nach wenig anhören soll, ist tatsächlich eine gigantische Datenmenge. 1,6 Prozent des Netzverkehrs eines Tages bedeuten, dass die NSA etwa 29 Petabyte täglich „anfasst“ oder „erfasst“. Das wäre etwa dreimal so viel, wie das „Internet

Archive“ enthält, das unter anderem 150 Milliarden Websites gespeichert hat. Die Angabe „1,6 Prozent“ ist auch aus einem anderen Grund irreführend. Nur ein Bruchteil der weltweiten Daten ist für Nachrichtendienste interessant: Mails und Chats zum Beispiel, aber nicht Millionen von Videos, die jeden Tag im Netz verschickt oder hochgeladen werden. Im britischen „Guardian“ wies der Netzexperte Jeff Jarvis darauf hin, dass die interessanten Kommunikationsvorgänge etwa in den USA nur 2,9 Prozent des täglichen Verkehrs ausmachen. Und schon liest sich die kleine Zahl von 1,6 Prozent völlig anders. Die NSA würde demnach etwa die Hälfte der laufenden Kommunikationsvorgänge „anfassen“. Die NSA als Kronzeugen zu bemühen ist daher grob fahrlässig. Was ist schon von den Beteuerungen einer Behörde zu halten, die nachweislich die Öffentlichkeit getäuscht und belogen hat? Und von der US-Senator Wyden sagt, dort herrsche eine „Kultur der Falschinformation“? Nicht nur für die Opposition im Berliner Reichstag ist die Snowden-Affäre deshalb noch lange nicht beendet. „Wir wissen, dass Deutschland ein Ausspähziel der NSA ist, wir wissen, dass Prism und XKeyscore existieren, wir wissen, es gibt kaum rechtliche Grenzen für die Auslandsüberwachung der NSA“, sagt

RAINER JENSEN / DPA (L.); JOHANNES SIMON / GETTY IMAGES (M.)

„Die Bundesregierung betreibt eine unfaire, einseitige und selektive Informationsstreuung.“

Thomas Oppermann (SPD), Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags, das die Arbeit der deutschen Geheimdienste beaufsichtigen soll. „Was wir immer noch nicht wissen, ist, von wo und in welchem Umfang die NSA auf die Daten deutscher Bürger zugreift“, kritisiert Oppermann, „darüber sagt die NSA nichts, und darüber hat die Bundesregierung nichts in Erfahrung gebracht. Es soll nicht in Deutschland sein. Mehr wissen wir nicht.“ Es sind Fragen, die Pofalla am vergangenen Montag in einer fünfeinhalbstündigen Sitzung nicht beantwortete. Stattdessen verlas der Kanzleramtschef zunächst eine langatmige Erklärung, ohne Zwischenfragen zuzulassen. Und er verwies auf etliche Dokumente, die dem Gremium noch gar nicht vorlagen. Der Aufforderung, die Unterlagen nachzureichen, kam das Kanzleramt bis Freitagabend nicht nach. Pofalla, sagt Sozialdemokrat Oppermann, betreibe eine „unfaire, einseitige und selektive Informationsstreuung“. Der Minister agiere „wie ein zweiter Generalsekretär der CDU“. Auch bei seinem Presseauftritt nach der Gremiensitzung las Pofalla vom Blatt ab. Aus gutem Grund, denn es ging bei dieser Erklärung wieder um Nuancen. Mehrfach sprach Pofalla davon, die USBehörden hätten Vorgänge „erklärt“ und zudem „schriftlich versichert“, sich „in Deutschland“ an geltendes Recht zu halten. Die Aussage war deutlich: Offenbar verfügt die Regierung nicht über eigene Erkenntnisse und muss sich auf Zusagen ausländischer Geheimdienste verlassen.

BND-Chef Schindler, Horchposten Bad Aibling, Verfassungsschutzchef Maaßen (M.): „Die NSA hält sich an alle Abkommen, die mit der deutschen

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den nach Einschätzung der Bundesregierung von der NSA bis heute genutzt/ mit genutzt?“ Antwort: „Durch die NSA genutzte Überwachungsstationen in Deutschland sind der Bundesregierung nicht bekannt.“ Dabei hatte der SPIEGEL erst in der vergangenen Woche berichtet, dass die NSA ein kryptologisches Zentrum in Griesheim bei Darmstadt unterhält, nach NSA-Angaben die größte Analyse- und

Seit Wochen fordern die Kanzlerin und Wirtschaftsminister Philipp Rösler, als Konsequenz aus der Snowden-Affäre müssten sich Deutschland und Europa in der IT-Technik aus der Abhängigkeit von den USA lösen. So steht es jetzt auch in einem Kabinettsbeschluss. Das Berliner Innenministerium bestätigte nun gegenüber dem SPIEGEL, dass die Bundesregierung Anfang August einen Rahmenvertrag mit dem Beratungsunternehmen

Erst Anfang August vergab die Regierung einen IT-Rahmenvertrag - an Booz & Co. Produktionseinheit des Geheimdienstes in Booz & Co. abgeschlossen habe. Für einen Europa. Auch in der Mangfall-Kaserne im Auftragswert zwischen 16,5 Millionen und bayerischen Bad Aibling und in Wiesba- 19,5 Millionen Euro solle die Firma die Reden ist die NSA vertreten. Und die Bun- gierung bei „strategischen IT-Grundsatzdesregierung? Weiß angeblich von nichts. entscheidungen und deren Umsetzung in Einige Neuigkeiten zumindest enthält die Praxis unterstützen“. Der Vertrag umdie Antwort der Regierung. So erfahren fasse Leistungen zu „Datenschutz“ und aufmerksame Leser, dass beim General- „Gewährleistung von Sicherheit“. bundesanwalt in Karlsruhe bislang etwa Immerhin – die Bundesregierung hat hundert Strafanzeigen aufgrund der Profis beauftragt. Aktuell ist der BeratungsSnowden-Enthüllungen eingegangen sind. riese Accenture an einem Kauf von Booz Trotz aller öffentlichen Beschwörun- interessiert. Zu den Großkunden von gen ist die Affäre damit noch lange nicht Accenture gehörten über Jahre die USausgestanden. An diesem Montag wird Heimatschutzbehörde – und die NSA. Und Pofalla erneut vor dem Parlamentari- auch Booz ist ein Unternehmen mit Geschen Kontrollgremium aussagen müssen. schichte. 2008 spaltete sich die Gesellschaft Es wird womöglich nicht sein letzter Auf- von Booz Allen Hamilton ab. Der mittlertritt sein. Die Opposition will ihn vor dem weile prominenteste Mitarbeiter dieses Wahltermin am 22. September noch ein- NSA-Dienstleisters ist inzwischen in Russmal vorladen. land untergetaucht: Edward Snowden. Gut möglich, dass Merkels enger VerHUBERT GUDE, KONSTANTIN VON HAMMERSTEIN, MARTIN HESSE, MARCEL ROSENBACH, trauter dann noch zu einem anderen VorJÖRG SCHINDLER gang gehört wird.

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES

Pofallas Antwort sagt wenig bis nichts darüber aus, ob und welche Daten mit Deutschland-Bezug bei der NSA vorliegen. Eine rein innerdeutsche digitale Kommunikation über ausschließlich deutsche Leitungen gibt es kaum noch. Selbst E-Mails innerhalb einer Stadt oder Chats mit dem Nachbarn können über amerikanische oder britische Server laufen – und dort von Geheimdiensten, nach deren nationalem Recht ganz legal, abgegriffen werden. Das weiß die Bundesregierung. Deshalb hat das Innenministerium auf eine schriftliche Fragenliste der SPD-Bundestagsfraktion detaillierter geantwortet. Der Regierung lägen keine Hinweise vor, dass fremde Dienste Zugang zur Kommunikationsinfrastruktur „in Deutschland“ hätten, heißt es dort. Selbst bei „innerdeutscher Kommunikation“ könne allerdings „ein Zugriff auf Netze bzw. Server im Ausland, über die die Übertragung erfolgt, nicht ausgeschlossen werden“. Zugriff nicht ausgeschlossen – das klingt nicht so, als wären die Vorwürfe „vom Tisch“, wie Pofalla behauptet. Die Antworten der Bundesregierung sind etwas für Kenner politischer und juristischer Spitzfindigkeiten. Anhaltspunkte für eine „flächendeckende Überwachung“ lägen nicht vor, heißt es da. Aber was bedeutet schon flächendeckend, wenn es um globale Datenströme geht? „Personenbezogene“ Daten Deutscher würden nicht weitergegeben, beteuert die Regierung. Andere Daten schon? Verblüffend finden Abgeordnete die Antwort auf Frage 31: „Welche Überwachungsstationen in Deutschland wer-

Bundesregierung geschlossen wurden, und hat sich auch in der Vergangenheit daran gehalten“ D E R

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Minister Schäuble

olfgang Schäuble macht seit 50 Jahren Politik, doch an diesem Mittwoch Mitte Juni hilft ihm keine Erfahrung und kein Verhandlungsgeschick. Er kassiert eine der bittersten Niederlagen als Bundesfinanzminister. Der 70-Jährige hat die Ministerpräsidenten eingeladen, es soll um den Hilfsfonds für die Flutopfer gehen. Eigentlich eine Formsache. Schäuble schlägt vor, dass sich Bund und Länder die Kosten teilen, wie sie es bei früheren Katastrophen oft getan haben. Doch die Ministerpräsidenten schalten auf stur. Sie wollen am liebsten gar nicht zahlen. Schäuble merkt, dass er den Kampf nicht gewinnen kann, und stimmt schließlich zu, den Großteil der Rechnung zu übernehmen. Es ist der vorerst letzte Akt eines Trauerspiels namens Föderalismus. Die Beziehung zwischen Bund und Ländern ist zerrüttet. Der CDU-Chefhaushälter im Bundestag, Norbert Barthle, wirft den Ländern „modernes Raubrittertum“ vor. Und selbst die Profiteure des Flut-Deals gestehen ein, nicht gerade ein Meisterstück abgeliefert zu haben. „Unser Verhalten war einfach nur dreist“, sagt einer von ihnen. Die Hoffnung all jener, die auf ein Ende der Erpressungstaktik setzen, richtet sich auf einen Zeitpunkt: 2019. Dann läuft nicht nur der Länderfinanzausgleich aus. Auch der Solidarpakt, der den Ostregionen Extra-Milliarden garantiert, endet. Und 2019 ist das letzte Jahr, in dem die Länder Schulden machen dürfen. Von 2020 an sind ihnen neue Kredite verboten. Spätestens dann muss die überfällige Reform des Föderalismus in Kraft treten. So wird das Pokerspiel eines der zentralen Themen der nächsten Legislaturperiode. Zweimal haben sich Kommissionen seit der Wiedervereinigung daran versucht, das föderale Gefüge der Republik zu reformieren. Die entscheidende Frage wurde dabei allerdings ausgeklammert: Wie kann die Blockade von Bundestag und Bundesrat beendet werden? Denn in den letzten Jahren hat sich in der Politik etwas Grundsätzliches verschoben: Während sich die Kanzlerin früher halbwegs auf ihre Parteifreunde in der Länderkammer verlassen konnte, gibt es dort nun einen parteiübergreifenden Konsens. Und der lautet: Der Bund soll zahlen. Doch der größte Treiber für eine Neuordnung wird die Schuldenbremse sein. Am Ende könnte es einen historischen Deal zwischen Bund und Ländern geben. Dann würden sich nicht nur die Staatsfinanzen neu sortieren, auch das Erscheinungsbild der Republik könnte sich massiv verändern, etwa durch eine geringere Zahl von Bundesländern.

FINANZPOLITI K

Himmel, hilf!

Wie Minister zu Erpressern wurden IMAGO

In ihrer Geldnot nehmen die Länder den Bund aus, wo sie nur können. Eine Reform des Föderalismus könnte das Verhältnis kitten – und das Gesicht der Republik verändern.

Peter-Jürgen Schneider, seit kurzem niedersächsischer Finanzminister, kann erklä-

Deutschland aufnehmen. Für die Länder dagegen heißt es: Von 2020 an dürfen sie keinen Euro Miese mehr machen. In 13 der 16 Bundesländer regiert die SPD mit, sie war im Bundesrat selten so mächtig. Allein, es nützt ihr nichts. Denn in der Länderkammer kann man kaum gestalten, nur blockieren. Wenn die Regierung die Steuern senken will, kann der Bundesrat das Vorhaben torpedieren. Aber wenn die Länder mehr Geld brauchen, muss der Bundestag zustimmen. Weil Steuererhöhungen in dieser Legislaturperiode nicht durchsetzbar waren, haben die Länder eine perfide Methode entwickelt. Man könnte sie die schleichende Enteignung des Bundes nennen. Seit Jahren muss Finanzminister Schäuble immer mehr Aufgaben finanzieren, für die eigentlich Länder und Gemeinden zuständig sind. Allein von 2010 bis 2016 summieren sich die Zugeständnisse auf 51 Milliarden Euro. So beteiligt sich der Bund stärker an der Grundsicherung im Alter, leistet beim Ausbau von Krippenplätzen Beistand, erstattete den Ländern selbst für die Volkszählung 250 Millionen Euro. Das funktionierte auch, weil sich der Bundesetat fast von allein sanierte. Nun ist Schäuble nicht mehr bereit, den reichen Onkel zu spielen. „Es kann nicht sein, dass der Bund immer nur zahlt und nicht mitreden darf“, sagt er. Ob sie wollen oder nicht: Die Finanzminister der Länder müssen kürzen.

ren, wie aus einem passablen Verhältnis zwischen Bund und Ländern ein zerrüttetes wurde. Der 65-Jährige war zuletzt Personalvorstand beim Stahlhersteller Salzgitter, er verdiente 800 000 Euro pro Jahr. Schneider ist das, was man gemeinhin finanziell unabhängig nennt. Doch statt daheim herumzusitzen, will er noch einmal mitmischen, so wie vor zehn Jahren, als er die Staatskanzlei in Hannover leitete. Schließlich hat sich seitdem fast alles verändert. „Wenn die Bundesregierung früher ein Gesetz durch den Bundesrat bringen wollte, dort aber keine Mehrheit hatte, spaltete sie einfach die Länderkammer“, erzählt Schneider. Und fügt mit diebischer Freude hinzu, keiner habe diese Disziplin beherrscht wie sein Parteifreund Gerhard Schröder. Als im Sommer 2000 die rot-grüne Steuerreform im Bundesrat zu scheitern drohte, kaufte er einfach Länder aus der Abwehrfront heraus. Heute wäre ein solcher Coup kaum noch möglich, glaubt Schneider. „Einer Reform, die dauerhaft erhebliche Mindereinnahmen bringt, würde wohl kein Ministerpräsident mehr zustimmen. Überall regieren angesichts der Schuldenbremse die Finanzminister mit.“ In Berlin sieht man das genauso. „Es ist egal, welcher Partei ein Ministerpräsident angehört“, sagt ein Regierungsmitglied frustriert. „Wenn es ums Geld geht, stehen die 16 Länder geschlossen gegen uns.“ An der Länderfront ist Schäuble auch bei den Verhandlungen um den Flutfonds abgeprallt. Die blanke Not schweißt die Länder zusammen. Nichts wird von Stuttgart bis Schwerin so gefürchtet wie die Schuldenbremse des Grundgesetzes. Für den Bund greift sie bereits 2016, aber Schäuble darf danach immer noch in Maßen Kredite

Das Steuerkarussell

Warum das Sparen so schwerfällt Thomas Schäfer hat ein Problem, egal, wie die hessische Landtagswahl im September ausgeht. Verlieren CDU und FDP, muss der konservative Finanzminister sein Büro räumen. Das beherbergt jedoch

Vitrinen voller kleiner Figuren mit Hundeköpfen. Weil seine Frau die Leidenschaft für die „Doggie people“ nicht teilt, gibt es zu Hause kein Asyl. Verglichen mit dem Unheil, das Schäfer nach einem Wahlsieg droht, ist die ungelöste Standortfrage allerdings beherrschbar. In der allgemeinen Wahrnehmung ist Hessen ein reiches Land. Es beheimatet die Bankenmetropole Frankfurt am Main und gehört neben Bayern und BadenWürttemberg zu den wenigen verbliebenen Nettozahlern im Finanzausgleich. Doch in Schäfers Etat klafft eine Lücke von 1,3 Milliarden Euro, im Länder-Ranking des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung landet Hessen nur auf den hinteren Plätzen. Härtere Rosskuren stehen nur Bremen, Hamburg und dem Saarland bevor. Was die Sanierung der Länderetats so schwierig macht, sind nicht nur die hohen Zinslasten. Rund 40 Prozent der Ausgaben gehen für Personal drauf. Selbst geringe Tarifsteigerungen im Öffentlichen Dienst machen sich sofort bemerkbar. Dabei sind die Löhne und Gehälter für die aktive Generation noch das geringere Problem. In den fetten sechziger und siebziger Jahren haben die Länder nahezu jeden verbeamtet, der sich nicht wehrte. Nun treiben diese Menschen die Pensionslasten auf immer neue Höhen. Allein für Hessen betragen die Verpflichtungen 47 Milliarden Euro. Das ist mehr als die offiziell ausgewiesene Verschuldung des Landes. Was für die westdeutschen Finanzminister die Pensionslasten sind, ist für ihre ostdeutschen Kollegen die Demografie. In den neuen Ländern sinkt die Zahl der Einwohner dramatisch, so wie in Sachsen-Anhalt: Nach der Wende lebten hier

Einnahmen und ihre Aufteilung 2012, in Mrd. Euro 2%

GEMEINSCHAFTSTEUERN

* ohne Abgeltungsteuer ** vor Gewerbesteuerumlage

15 %

Anteil des Bundes

53 ,4 %

42,5 %

44,6 %

Anteil der Länder

42,5 % 50 %

Anteil der Gemeinden

12 %

50 %

44 % 44 %

Umsatzsteuer 195

Lohn- und veranlagte Einkommensteuer 186

205

Abgeltungsteuer 8

Kapitalertragsteuer *; Körperschaftsteuer 37

188

33 Gewerbesteuerumlage

Länderfinanzausgleich

Kommunaler Finanzausgleich

LÄNDER gesamt

BUND gesamt

305

202

Vertikaler Finanzausgleich: Zuweisungen des Bundes an finanzschwache Länder

100

55

LÄNDERSTEUERN 39

14 14

88

14

BUNDESSTEUERN Energiesteuer Tabaksteuer Solidaritätszuschlag Sonstige

GEMEINDEN gesamt Zuweisungen und Zuschüsse der Länder an die Gemeinden

Grunderwerbsteuer Erbschaftsteuer Sonstige

GEMEINDESTEUERN Gewerbesteuer ** Grundsteuer Sonstige 1

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JUERGEN LOESEL

einmal die wenigen Aufgaben vernünftig finanziert, die wir noch haben.“ Wie sehr die Identität der Länder zur Folklore verkommen ist, zeigt die Bildungspolitik. Für die Ministerpräsidenten war sie angeblich so wichtig, dass sie bei der ersten Föderalismusreform 2006 ein sogenanntes Kooperationsverbot durchsetzten: Die Bundesregierung sollte bei Unis, Schulen und Kitas möglichst wenig mitreden. Nur: Weil die Länder kein Geld haben, wird das Verbot umgangen, wo es nur geht. Die anstehende Reform bietet aus Nußbaums Sicht einen guten Anlass, sich endlich ehrlich zu machen. „Es ist ein AnaHochwasser in Sachsen im Juni: Der Bund übernimmt die Rechnung chronismus, dass bei uns 16 Länder ihre Kühl will die Dauerblockade von Bun- eigene Bildungspolitik machen“, sagt er. drei Millionen Menschen, 2020 werden es destag und Länderkammer beenden. Zur- Genauso sei es bei der Steuerverwaltung, noch zwei Millionen sein. Jens Bullerjahn, dienstältester Finanz- zeit kann der Bundesrat fast immer mit- ebenfalls eine der wenigen verbliebenen minister der Republik, wird deshalb Ende reden, wenn es ums Geld geht, also bei Länder-Aufgaben. Auch die mache besser des Jahrzehnts rund 500 Millionen Euro nahezu jedem Beschluss des Bundestags. der Bund. Für die Länder, die ein Schuldenberg jährlich weniger einnehmen als heute. Zu- Denn die wichtigsten Einnahmen des dem läuft bis dahin der Solidarpakt aus, Staates wie die Einkommensteuer landen von über 600 Milliarden Euro drückt, der die Ostländer päppelt. Deshalb hat erst in einem großen Bund-Länder-Topf kann sich Nußbaum einen verführerischen Kompromiss vorstellen: Der Bund Bullerjahn bereits bei seinem Amtsantritt und werden dann umständlich verteilt. Kühl will aus einem großen Topf zwei hilft ihnen, sich zu entschulden, etwa 2006 Sachsen-Anhalt eine strikte Diät verordnet. In den vergangenen Jahren sind kleinere machen, jeweils für Bund und indem er ihnen einen Teil der Kreditlast 12 000 Stellen im Öffentlichen Dienst weg- Länder. Dafür müsste der Einkommen- abnimmt. Im Gegenzug treten die Länder gefallen, die Zahl der Schulen hat sich steuertarif gesplittet werden. Vereinfacht weitere Kompetenzen an den Zentraldeutlich reduziert, statt acht Gefängnis- gesagt könnte das Modell so aussehen: staat ab. Weil sich die Existenzfrage dann Alle Bürger zahlen unabhängig von ih- noch drängender stellt, schließen sie sich sen gibt es bald nur noch drei. zu größeren Einheiten zusamEs klingt paradox, aber je mehr ein rem Verdienst eine zehnproAus 16 mach 9 men. Aus 16 Ländern könnLand bereits gekürzt hat, desto schwieri- zentige Einkommensteuer an ten so ein Dutzend oder weger wird es, die Ausgaben weiter den sin- die Länder. Alle darüber hin- Mögliche Neuordnung der Bundesländer niger werden. Das klingt kenden Einnahmen anzupassen. „Theore- ausgehenden Einnahmen flieschlüssig. Nur ist der jüngste tisch kann man immer noch mehr sparen“, ßen an den Bund, bis zum Fusionsversuch an der Bevölsagt Bullerjahn, „praktisch geht allerdings Spitzensteuersatz von 42 ProSH kerung gescheitert: 1996 in irgendwann die gesellschaftliche Akzep- zent. Wer als Single 50 000 HH MV HB Berlin und Brandenburg. tanz verloren.“ Das heißt: Wenn selbst Euro versteuern muss, zahlt BE NI Die Republik steht vor Grundschüler weit pendeln, die Polizei dann 5000 Euro in den LänST BB schwierigen Entscheidungen. weniger Streife fährt und auch der letzte der-Topf und gut 7000 Euro NW SN Entweder gelingt es in der Verein keinen Zuschuss mehr bekommt, an den Bund. TH HE Kühls Vorschlag würde die nächsten Legislaturperiode, gerät die Demokratie in Gefahr. RP SL Doppelzuständigkeit von Bundie Finanzbeziehungen zwiWas eine Reform leisten muss BY destag und Bundesrat beenschen Bund und Ländern neu BW zu ordnen, oder die Bürger Die Finanzklemme der Bundesländer ist den, die häufig zu absurden müssen sich mit dem Siechderart dramatisch, die Wirkung der Schul- Deals führt. Will der Bund die tum ihres Gemeinwesens abdenbremse so brutal, dass kosmetische Steuern senken, kann er das Korrekturen nicht mehr ausreichen. tun, wenn auch nur für seinen Anteil jen- finden: weniger Schulen, weniger Kultur, Selbst ein Mehrwertsteuer-Pünktchen seits der zehnprozentigen Länder-Steuer. weniger intakte Straßen. Der Berliner Finanzsenator hofft, dass mehr oder zusätzliche Finanzspritzen: All Sind die Länder knapp bei Kasse, können das wird kaum genügen, um die notlei- sie gemeinsam eine Erhöhung ihres An- die Not groß genug ist für durchgreifende denden Etats zu sanieren. Nötig ist eine teils beschließen. Jede staatliche Ebene Veränderungen. Vor seinem Wechsel nach grundlegende Reform, bei der die gelten- besorgt sich das Geld, das sie braucht, Berlin war er in Bremen, dort hat das Geld noch nie gereicht – und das wird es de Steuerverteilung genauso wenig tabu ohne dass die andere dazwischenfunkt. Ulrich Nußbaum glaubt, dass es längst wohl auch nie. „Die Länder haben mit sein darf wie die Frage, ob 16 Bundeslänum mehr geht als um die Frage, wohin der Schuldenbremse ihren finanzpolitider noch zeitgemäß sind. Das sehen auch immer mehr Politiker welche Milliarden fließen. „Das eigentli- schen Gestaltungsspielraum eingebüßt, so. Zu ihnen zählt Carsten Kühl. Der che Problem der Länder ist doch, dass weil sie sich nicht mehr in Kredite flüchrheinland-pfälzische SPD-Finanzminister sie in einem zusammenwachsenden ten können“, sagt Nußbaum. „Wer ab trägt an diesem schwülen Sommertag Europa Angst um ihre Existenzberechti- 2020 von seinen Einnahmen nicht leben Jeans und das Hemd über der Hose. Kühl gung haben“, sagt der Berliner Finanz- kann, wird schnell kompromissbereit.“ Nußbaums Prognose: Wenn ein Land redet ungern die Dinge schön. „Sosehr senator. Die Kommunen? Klar, die braucht sich einige Bundesländer auch anstren- man für die Aufgaben vor Ort. Den seine Lehrer und Polizisten nicht mehr gen, ohne zusätzliche Einnahmen werden Bund? Er wird zwar Kompetenzen nach bezahlen kann, haben die Bürger weniger sie die Schuldenbremse kaum einhalten Brüssel abgeben, doch nationale Regie- Probleme damit, ihren Regionalpatriotiskönnen“, sagt er. Sein eigenes Bundes- rungen wird es weiterhin geben. Aber die mus aufzugeben. Und ein bisschen Breland zählt er durchaus dazu. SVEN BÖLL Länder? Tja. „Wir bekommen doch nicht men ist fast überall. 20

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„Der Machtwechsel ist überfällig“ Nur durch ein Wunder kann Rot-Grün noch die Wahl gewinnen. Anstatt darauf zu hoffen, sollten die Grünen über Alternativen nachdenken. Von Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie

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lassen. Angela Merkel pocht auf wirtschaftliche Erfolgsbilanzen, die fraglich werden, und rettet sich mittelfristig wohl nach Brüssel – wer erwartet von SchwarzGelb da noch Impulse für dieses Land, für Europa, für den Rest der Welt? Wenn Rot-Grün keine realistische Perspektive ist und „Opposition Mist“ (Müntefering), wie ist der Machtwechsel dann noch erreichbar? Es liegt an den Grünen, die Machtfrage zu stellen und Alternativen aufzumachen: Entweder lassen SPD und Grüne die virtuelle Mehrheit der Linkswähler in Deutschland real werden und bilden mit der Linken eine Regierung. Oder die Grünen beerben als Juniorpartner die FDP und bringen in einer Koalition mit der Union das Gewicht von weit über zehn Prozent der Stimmen für grüne Themen auf die Waage: für eine entschiedene Energie- und Verkehrswende, für Geschlechtergerechtigkeit, für eine unbürokratische Bildungsoffensive. Was dagegenspricht, beruht oft weniger auf Sachfragen als auf Beziehungskisten: Die Sozis könnten auch nicht mit Lafontaines Enkeln, heißt es dann, ihr Spitzenkandidat repräsentiere kein Linksprogramm, die roten Socken in der Ex-

PDS warteten mit Maximalforderungen auf. Und die „grüne Basis“ werde gegen eine Koalition mit der aktuellen Kanzlerin meutern, in der Unionsfraktion säßen lauter Betonköpfe und Bremser, und so weiter und so fort. Daran ist mehr als nur ein Körnchen Wahrheit, aber während der Wahlkampf müde vor sich hindümpelt, hat man im Kanzleramt wie im grünen Hauptquartier die alternativen Optionen längst auf dem Schirm – und wird den Teufel tun, das den Wählern vorzeitig auf die Nase zu binden. Die einzig realistischen Wechseloptionen Linksunion und Schwarz-Grün werden damit tabuisiert, und was dann nach dem 22. September geschieht, soll in Hinterzimmern ausgehandelt und in Koalitionsausschüssen exekutiert werden. Wir fordern deshalb eine zivilgesellschaftliche Debatte über den Machtwechsel, die das Mögliche realistisch anerkennt und zugleich neue Chancen und Visionen ins Spiel bringt. Beginnen wir mit der Linksunion, die nach Lafontaines faktischem Abgang nicht mehr ganz so tabu sein dürfte. Ihre Existenzberechtigung wäre ein neuer Sozialpakt, um die in den letzten Jahrzehn-

MAURICE WEISS / OSTKREUZ

Bekanntlich herrschen in Deutschland durchgängig kleine Koalitionsregierungen. AbMehrheiten erlaubt das WAHL solute Verhältniswahlrecht nur in 2013 Ausnahmefällen, große Koalitionen werden nur als Übergangserscheinung geduldet, Allparteienregierungen bleiben dem Notstandsfall überlassen. Das ist das kleine Einmaleins des Politikbetriebs in Deutschland, das von vielen ignoriert wird: Selbst kleine Parteien wie die FDP warten mit Spitzenkandidaten auf, als könnten sie Alleinregierungen anführen. Und Wähler fühlen sich oft getäuscht, wenn vor der Wahl diese oder jene Koalition als „Projekt“ oder gar „Liebesehe“ verkauft und jede andere kategorisch ausgeschlossen wird, die Parteien sie nach der Wahl dann aber trotzdem eingehen. SPD und Grüne spielen dieses Spiel gerade wieder. Sie hoffen auf das Wunder, dass ihre Wunschkoalition Rot-Grün noch zustande kommt, für die ja auch einiges spräche, wenn die Energie- und Verkehrswende vorankommen, gerechtere Sozialund Bildungsverhältnisse einziehen und die Familien- und Geschlechterpolitik geradliniger werden sollen. Das Wunder wird aber kaum stattfinden, die Entwicklung verläuft eher in umgekehrter Richtung wie die in Hessen, wo ein demoskopischer Vorsprung von Rot-Grün von satten 19 Prozentpunkten fast auf null geschrumpft ist. Der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der allgemeine Zustand der Sozialdemokratie und deren SchröderHypothek ziehen die Grünen in den Umfragen mit herunter. Doch der Machtwechsel ist überfällig: Die Kanzlerin vertändelt die Energiewende, verspielt Europa, verhakt sich in der Sozialpolitik – sie gibt mittlerweile den Super-Kohl und hält mit ihren teuren Wahlversprechen die FDP am Leben. Zukunftsgestaltung sieht anders aus. Die Regierung gleicht einer Versammlung von Angeschlagenen, aus der nur der Finanzminister und die Justizministerin herausstechen: Die ganze Law-&-Order-Abteilung ist angezählt, Liberale und Bajuwaren sabotieren den Umweltminister, die Arbeitsministerin hat keinen Rückhalt in der Fraktion, und die Ministerin für Familie und Jugend ist de facto schon ent-

Politiker Jürgen Trittin, Sigmar Gabriel: Virtuelle Mehrheit der Linkswähler D E R

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Die Sollbruchstellen von SchwarzEin schwarz-grünes Projekt hätte sich Grün markieren unionsnahe Lobbyisten dazu übrigens schon vor 20, 30 Jahren und neoliberale Einflussgruppen, die sich im besten Sinne konservativ verhalten, gegen Klima- und Umweltschutz genauso also „die Schöpfung“ (christlich) zu beauflehnen wie gegen die reale Gleichstel- wahren versucht und „Nachhaltigkeit“ lung sexueller Minderheiten, gegen die (säkular) nicht allein beim SchuldenFrauenquote in Unternehmen und eine machen praktiziert. Was konservativ erzeitgemäße Bildungspolitik. Aber sie ver- schien, wäre in Wahrheit höchst progresfügen nicht über so viele Bataillone wie siv gewesen – es hätte mehr Zukunft die französischen oder amerikanischen ermöglicht. Ökologisch wäre eben nicht Konservativen, um einen echten Kultur- links oder rechts gewesen, sondern vorn. kampf gegen Homo-Ehe und für die Herd- Gewählt hat die Union Helmut Kohls die prämie anzuzetteln. Was heute in der Allianz mit dem Wirtschaftsliberalismus CDU/CSU als konservativ etikettiert samt der damit verbundenen Zerlegung wird, nämlich irgendetwas Gedönsartiges des Sozialstaates. mit Kernfamilie, Leitkultur und Glauben, Wenn sich die Parteien nicht erklären, ist für die aktuellen Problemlagen und muss die Machtfrage von den WählerinZukunftsaufgaben ziemlich irrelevant. nen und Wählern gestellt werden. Die Volksparteien können innovative, nicht einer Klientel verhaftete Mitglieder kaum noch an sich binden. Am ehesten gelingt das wieder den Grünen: Sie haben eine Scharnierfunktion im Parteiensystem, nicht weil sie als Opportunisten nach allen Seiten kippen, sondern weil ihre Themen – politische Ökologie und Nachhaltigkeit – vom Nischenthema zur ZentralIn der Industriepolitik stünden sicher achse moderner Politik geworden sind. harte Auseinandersetzungen bevor, an- Aus dieser Position können sie das Beste dererseits wissen aufgeklärte Kapitalisten herausverhandeln, und auch deshalb müslängst, dass sich die deutsche Exportwirt- sen sie sich aus der Fixierung auf Rotschaft neu erfinden muss. Dasselbe gilt Grün lösen, das in Nordrhein-Westfalen für die Einwanderungs- und Flüchtlings- und Baden-Württemberg nicht gerade mit politik, die vor dem Hintergrund des schon Erfolgen glänzt. Mehr Nachhaltigkeit hat in diesem akuten Mangels an Arbeitskräften noch anachronistischer geworden ist. Schwarz- Land eine Mehrheit, von den WertpräfeGrün wäre da sogar eine Hoffnung auf renzen und Grundeinstellungen her soden Ausstieg aus einem Industrialismus, wieso und oft auch als virtuelle Stimmender wirtschaftliches Wachstum mit Staats- mehrheit in den Parlamenten. Für eine schulden und Naturzerstörung bezahlt umwelt- und verbraucherfreundliche hat, deren Folgen kommenden Genera- Agrarpolitik beispielsweise reicht der tionen aufgebürdet wurden. Konsens von Anhängern der CSU bis zur Linken, nur dürfen deren Führungen mit Rücksicht auf Lagerinteressen niemals gemeinsam abstimmen. Am 22. September kommt es auf jede Stimme an, um weitere vier Jahre Stagnation zu verhindern. Neue Bewegung(en) braucht das Land. In dieser Situation zur Wahlenthaltung aufzurufen (wie Harald Welzer in SPIEGEL 22/2013) kommt uns ausgesprochen weltfremd vor. Denn eine Mehrheit von unten muss sich auch in einem neuen Regierungsbündnis ausdrücken und die Gesetzgebung bestimmen. Außerparlamentarische Netzwerke können Protagonisten einer nachhaltigen Politik aus diversen Aktionsfeldern (Energie, Mobilität, Ernährung etc.) zusammenführen, aber nur Parteien können ihre Ideen bündeln und Interessenkoalitionen auf Zeit schmieden. Die Politik ist nicht mehr allein in der Parteipolitik, aber ohne Parteien geht es nicht.

Am 22. September kommt es auf jede Stimme gegen weitere vier Jahre Stagnation an.

ARNO BURGI / DPA

ten weitgeöffnete Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Oben und Unten zu schließen und Arbeitnehmer wie Arbeitsuchende besser zu schützen. Deutschland würde kein Niedrigsteuer- und Niedriglohnland mehr sein und international Vorkehrungen treffen, den Finanzkapitalismus in seine Schranken zu weisen. Die Kehrseite einer Linksunion sind womöglich phantasie- und wirkungslose Wachstums- und Umverteilungsprogramme, die ganz auf staatliche Intervention setzen, und natürlich eine Außen- und Sicherheitspolitik, die zwar ökopazifistischen Prinzipien, aber nicht den menschen- und bürgerrechtlichen Erfordernissen rund um den Globus genügen würde. In der Europapolitik könnte die Versuchung bestehen, sich in eine euroskeptische Linksfront einzureihen. Die andere Option, Schwarz-Grün, könnte eine wesentlich im Verkehrs- und Bauwesen ansetzende Energiewende auf den Weg bringen, die nicht nur das Angebot an erneuerbaren Energien steigert, sondern vornehmlich in Energiesparen und Energieeffizienz investiert, Genossenschaften fördert und Bürgerbeteiligung nicht nur an heiklen Brennpunkten, sondern als Normalfall erlaubt. Das könnte weit mehr sein als der aus NordrheinWestfalen bekannte Kohle-und-Kümmerer-Industrialismus. Generell scheint die schwarz-grüne Konstellation noch am ehesten Bürgerautonomie und Hilfe zur Selbsthilfe zu fördern, und eine von den Grünen geprägte Europapolitik würde in Richtung Demokratisierung und Föderalisierung der EU weisen. Dazu hat Wolfgang Schäuble schon bemerkenswerte Vorstöße gemacht.

Politikerinnen Merkel, Katrin Göring-Eckardt: Schwarz-Grün als realistische Alternative D E R

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Leggewie, 63, ist Professor für Politikwissenschaft, Cohn-Bendit, 68, sitzt für die französischen Grünen im Europaparlament. 23

Deutschland genannt werden will. „Wenn nun auf den letzten Metern versucht wird, Einfluss zu RECHTSTERRORISMUS nehmen, ist das ärgerlich.“ Zwar scheinen manche Punkte der Streichliste, etwa solche, die den Quellenschutz von Informanten betreffen, nachvollziehbar. Andere dagegen wirken wie Versuche, das ramponierte Image der Der NSU-Untersuchungsausschuss legt in dieser Woche seinen Dienste aufzupolieren. So wollte Friedrichs Behörde eine mehrseitige Passage Abschlussbericht vor. Bis zuletzt drängten die Geheimüber ein kritisches „Positionspapier“ des dienste auf die Streichung von Passagen, die für sie heikel sind. Bundeskriminalamts (BKA) entfernen: 1997 hatte das BKA angeprangert, dass ie Akte des kollektiven Staats- waren, sollten gestrichen oder zumindest sich führende Neonazis, gegen die ermittelt wurde, immer wieder als V-Leute des versagens wiegt kiloschwer. Mehr weniger detailreich formuliert werden. So ließ Bundesinnenminister Hans- Verfassungsschutzes entpuppt hätten. als 2000 Seiten Papier füllen die Feststellungen des Bundestagsuntersu- Peter Friedrich (CSU), als Dienstherr des „Bestimmte Aktionen“ der rechten Szene, chungsausschusses, der sich fast 19 Mona- Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), so die Polizisten, hätten „ohne die innote lang mit der rechtsextremen Terrorzel- nicht weniger als 118 Textstellen bean- vativen Aktivitäten“ der Spitzel womögle „Nationalsozialistischer Untergrund“ standen. 47 davon sollten sogar komplett lich gar nicht erst stattfinden können. (NSU) auseinandergesetzt hat. Am Donnerstag will das Gremium seinen Abschlussbericht vorstellen. Es ist die Abrechnung mit einer beispiellosen Affäre: Wie konnten die Neonazis Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe jahrelang unbemerkt im Untergrund agieren? Warum erkannte ein hochgerüsteter Sicherheitsapparat trotz etlicher V-Leute die Mord- und Bombenserie des NSU nicht als Rechtsterrorismus? Die Erwartungen sind groß: Anders als beim Prozess gegen Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer vor dem Münchner Oberlandesgericht haben die Berliner Parlamentarier nicht über deren Schuld oder Unschuld zu entscheiden, sondern über die Verantwortung des Staates, dessen Organe es nicht vermochten, zehn Bürger vor den tödlichen Kugeln von Rechtsterroristen zu schützen. Selten hat ein Untersuchungsausschuss, über Fraktionsgrenzen hinweg, so einträchtig und so intensiv an der Aufklärung eines Skandals gearbeitet. Rund 12 000 Aktenordner haben die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter gesichtet, rund 400 Beweisbeschlüsse gefasst sowie 107 Zeugen und Sachverständige vernomDer Staat als politischer Brandstifter? gestrichen werden, wie sein Ressort am men, knapp 350 Stunden lang. In zentralen Fragen zeichnet sich unter 9. August an den Ausschuss schrieb. „In Anhand konkreter Fallbeispiele stellte das den Parlamentariern zwar Einigkeit ab: vielen Fällen“, so die Begründung, seien BKA damals zehn Thesen auf, mit denen Polizei, Verfassungsschutz und Justiz ha- „äußerst sensible Belange des Bundes- der Inlandsgeheimdienst scharf kritisiert ben massiv versagt; strukturelle und hand- wohls“ betroffen, die so nicht an die wurde. Unter anderem monierte das BKA, werkliche Fehler haben die Suche nach Öffentlichkeit dürften. Nur 110 Passagen dass der Verfassungsschutz seine Naziden Mördern erschwert und einen Fahn- wollten Friedrichs Prüfer ohne Einschrän- Spitzel oft vor Maßnahmen der Polizei warne und dass die „Mehrzahl der Quelkungen freigeben. dungserfolg verhindert. Der Untersuchungsausschuss hatte den len“ überzeugte Rechtsextremisten seien. Wo allerdings die größten SchwachstelDas fast 17 Jahre alte Geheimpapier len lagen und welche Konsequenzen sich Regierungsstellen, wie auch den Beschuldaraus ergeben, darüber herrscht Uneinig- digten im NSU-Prozess, die Möglichkeit hält das Innenministerium offenbar noch keit zwischen den Ausschussmitgliedern. eingeräumt, zu den Untersuchungsergeb- heute für brandgefährlich. Durch die „unVor ihrer letzten Sitzung prägt nun wie- nissen Stellung zu nehmen. Wie eifrig die reflektierte“ Veröffentlichung der Thesen Behörden davon Gebrauch machten, war würde das „Ansehen des Bundesamts“ der Parteipolitik die Arbeit. Beunruhigt mischte sich auch die Bun- für viele Abgeordnete überraschend. für Verfassungsschutz beschädigt. Es werdesregierung mit ihren Geheimdiensten „Das Innenministerium und Kanzlerin de „daher gebeten, die wörtliche Wiederein. Die versuchten bis zuletzt, den Ab- Merkel persönlich haben erklärt, dass sie gabe der zehn Thesen aus dem Abschlussschlussbericht des Parlaments in ihrem eine vollständige Aufklärung des NSU- bericht zu streichen“. Sinne abzuändern: Zahlreiche Passagen, Skandals wollen“, kritisiert ein Mitglied Der Versuch, die polizeiliche Geheimdie ursprünglich als vertraulich eingestuft des Gremiums, das namentlich nicht dienstkritik unter der Decke zu halten, ist

„Äußerst sensible Belange“

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BfV-Quellen („Q1 bis Q3“) geht. „Die Ausführungen“, warnte das Ministerium, seien „dazu geeignet, diese zu enttarnen und an Leib und Leben zu gefährden“. Aus Sicht des Geheimdienstes ein natürlicher Reflex – allerdings sind die drei V-Leute längst enttarnt. Es handelt sich um die Ex-Spitzel „Corelli“, „Primus“ und „Strontium“, die einst im Umfeld des NSU-Trios eingesetzt waren, jedoch keine Hinweise auf die Flüchtigen liefern konnten oder wollten. Gerungen wurde zudem um mehrere Passagen zur berüchtigten „Operation Rennsteig“, einer gemeinsamen Geheimaktion mehrerer Dienste. Ziel war seinerzeit die Werbung von Quellen im rechtsextremen „Thüringer Heimatschutz“, in dem sich Böhnhardt und Mundlos vor ihrem Abtauchen radikalisiert hatten. Die

gen jedoch wollen fast alle Fraktionen in Einzelvoten darlegen. So wirft die SPD manchen Kripo-Beamten vor, sie seien bei den Ermittlungen zur Mordserie unbewusst diskriminierend gegen „Personen mit Migrationshintergrund“ vorgegangen, statt die Täter in der Neonazi-Szene zu suchen. Schon die Namen der Sonderkommissionen „Bosporus“ und „Halbmond“ deuten aus Sicht der SPD darauf hin. Die Sicherheitskräfte seien nicht in der Lage gewesen, „sich selbstreflexiv aus den bestehenden routinisierten, teilweise rassistischen, Verdachts- und Vorurteilsstrukturen zu befreien“, sagt SPD-Obfrau Eva Högl. Als Konsequenz fordert die SPD, die Rechtsextremismusabteilung des in Köln residierenden Inlandsgeheimdienstes radikal umzubauen und nach Berlin zu verlegen.

Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses in Berlin im Februar

RAINER JENSEN / DPA

Innenminister Friedrich

Namen der beiden Neonazis tauchten auf einer Liste mit potentiellen Zielpersonen auf, die offenbar als Informanten in Betracht kamen. Endgültig geklärt werden konnte der Vorgang jedoch nicht: Unmittelbar nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 ordnete ein Referatsleiter des Bundesamts für Verfassungsschutz die Vernichtung der „Rennsteig“-Akten an; angeblich weil ihm zufällig aufgefallen sei, dass die Aufbewahrungsfrist abgelaufen war. Die Schredderaktion führte später zum Rücktritt von BfV-Chef Heinz Fromm. Auf Wunsch des Bundesinnenministeriums sollten jetzt bestimmte Details zur Operation „Rennsteig“ nicht mehr im Untersuchungsbericht auftauchen. Bis zuletzt verhandelte der Ausschuss mit den Regierungsstellen über deren

MARCO-URBAN.DE

jedoch paradox: Der SPIEGEL (45/2012) berichtete bereits im November über das Positionspapier. Insofern sei es „affig“, die Passagen streichen zu wollen, sagt der grüne Ausschussobmann Wolfgang Wieland. „Die Existenz des Positionspapiers kann ja nun niemand mehr bestreiten.“ Im Übrigen seien die BKA-Thesen nicht der einzige Hinweis auf einen fragwürdigen Umgang des Verfassungsschutzes mit Zuträgern aus dem braunen Milieu. „Wir konnten bereits an anderer Stelle feststellen“, so Wieland, „dass V-Mann-Führer ihre Quellen vor polizeilichen Maßnahmen gewarnt haben.“ Auch andere Streichwünsche des Friedrich-Ministeriums sind absurd. So bemängelten die Beamten, dass der Abschlussbericht eine Reihe von Textstellen enthalte, in denen es um Details zu drei

Auch die FDP will die Kontrolle der Streichungs- und Änderungswünsche. Sogar um einzelne Worte wurde zäh ge- Geheimdienste verschärfen und fordert feilscht. Wer sich in welchem Punkt letzt- dafür einen ständigen Sachverständigen, lich durchgesetzt hat, wird sich mit der der im Auftrag des Parlamentarischen Vorlage des Abschlussberichts in dieser Kontrollgremiums ermitteln soll. Außerdem regen Liberale und SPD an, den Woche zeigen. Differenzen in der politischen Bewer- Einsatz von V-Leuten gesetzlich neu zu tung dürften sich unterdessen nicht mehr regeln. Grüne und Linke hingegen wollen restlos beseitigen lassen. An diesem Mon- das System bezahlter Spitzel abschaffen tag wollen sich die Obleute der Fraktio- – und den Verfassungsschutz in seiner jetnen im Ausschuss über die endgültige Fas- zigen Form gleich mit. Über alle Fraktionsgrenzen hinweg sung ihres Berichts verständigen. Zwar gab es bei den „Schlussfolgerun- herrscht indes Einigkeit, dass die 19 Mogen“ bis Ende vergangener Woche in nate Kärrnerarbeit nicht reichten, um das etwa 40 Punkten Einigkeit. So sollen künf- Rätsel NSU zu lösen. Es sei deshalb gut tig bei schweren Straftaten mögliche ras- möglich, heißt es intern, dass der Aussistisch motivierte Hintergründe intensi- schuss in der nächsten Legislaturperiode ver geprüft und die Rolle des General- einen neuen Anlauf nehmen wird. bundesanwalts gestärkt werden. Ihre im MAIK BAUMGÄRTNER, HUBERT GUDE, SVEN RÖBEL, JÖRG SCHINDLER Grundsatz unterschiedlichen EinschätzunD E R

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DEUTSCHLAND, WIE GEHT’S? (III) Wahlkämpfer müssen allerlei Zumutungen über sich ergehen lassen – von den Medien, von den Konkurrenten, von ihrer eigenen Partei. Peer Steinbrück zum Beispiel führt nicht nur eine Kampagne gegen die Bundeskanzlerin, sondern auch gegen den Mangel an Zuversicht in der SPD.

Angela Merkel ihrerseits klagt nur selten über die Mühle Politik. Sie reagierte auch nicht, als Steinbrück ihr neulich ihre ostdeutsche Herkunft vorhielt. Die Wiedervereinigung liegt nun schon lange zurück, aber es scheint so zu sein, dass die Distanz zwischen Ost- und Westdeutschen wächst, anstatt abzunehmen.

Im Revier der Wölfe Politik ist brutal, Politik macht einsam – aber warum ist das eigentlich so? Im Wahlkampf zeigt sich verschärft, welchen Erwartungen Kandidaten gerecht werden sollen und welche Vorurteile ihnen entgegenschlagen. Von Dirk Kurbjuweit

SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück in Warnemünde

Die Fähre hält Kurs auf Norderney, Peer Steinbrück steht hinter dem Kapitän und auf das graue Meer WAHL schaut und den grauen Himmel und 2013 den grauen Regen, und es herrscht Stille, zum ersten Mal seit der Abfahrt in Norddeich Mole herrscht Stille an Bord, als einem Journalisten doch noch eine Frage einfällt: ob das Meer mehr Untiefen habe oder die Politik? Tja. Eine große Frage. Die Fähre brummt, an Backbord schaukelt ein Krabbenkutter, an Steuerbord taucht schemenhaft Norderney auf. Untiefen gebe es überall, sagt Steinbrück, „vielleicht sogar in Ihrer Ehe“. Politik kann hart sein, sehr hart. Manchmal gibt es dumme Fragen, manchmal gibt es allzu naheliegende Metaphern, und an schlimmen Tagen kommt beides

zusammen. Steinbrück, Kanzlerkandidat der SPD, ist nicht der Mann, der das gut erträgt, und deshalb hat er dem Journalisten diese Antwort hingeknallt. Danach herrscht wieder Stille auf dem Schiff. Steinbrück führt eine wohl einmalige Kampagne, nicht nur gegen die Bundeskanzlerin, sondern auch gegen die Umstände der Politik, die Untiefen. Er wehrt sich gegen Zumutungen von Journalisten, wo er nur kann, er schimpft und zetert, und manchmal findet er schlagfertige, aber auch etwas böse Antworten wie auf der Fähre nach Norderney. Politik gilt als Stahlbad für Politiker, als Treibhaus, als Haifischbecken. An Metaphern des Grauens mangelt es nicht. Vor allem die Bundespolitik steht im Ruf, Menschen zu verschleißen. Die CSU hatte es im März 2011 schwer, einen Bundesinnenminister zu finden, weil kaum einer bereit war, aus dem beschaulichen München ins fürchterliche Berlin zu wechseln. Die Bundespräsidenten Horst Köhler und Christian Wulff sind an den Härten der Bundespolitik gescheitert, genauso die SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck und Kurt Beck. Kämpfe und Intrigen der Politiker sollen in Berlin unerbittlich sein, die Journalisten ruchlos. Als Marina Weisband, einst Geschäftsführerin der Piratenpartei, gefragt wurde, ob sie sich eine Rückkehr in die Politik vorstellen könne, sagte sie: „Ich weiß gar nicht, ob ich für den Job gemacht bin. Kritik, Emotionen, Konflikte lassen mich nicht kalt. Ich weiß nicht, ob ich mit meiner dünnen Haut dem politischen Betrieb genüge. Oder ob ich mich langfristig ka-

der Hauptbegegnungsstätte der Berliner Republik. Sigmar Gabriel ging auf Bernd Schlömer zu und sagte mitfühlend: „Sie haben es auch nicht leicht.“ Schlömer war ein bisschen gerührt und dachte, dass es ganz schlecht um ihn bestellt sein müsse, wenn ihn der oberste Sozialdemokrat bedauere. Für Schlömer war die SPD immer ein Höllenort des Streits gewesen und eine Pest für ihre Vorsitzenden. Bei seinen Piraten war es nun genauso. Kurz darauf saß Schlömer im Einstein und wirkte wie der traurigste Politiker Deutschlands. Er sprach langsam und leise, und manchmal schaute er mit einem resignierten Blick auf sein Handy, als sei schon wieder Unflat eingetroffen. In seiner Partei herrschte damals Krieg. Schlömer wurde als Arschloch beschimpft, als Amokläufer, als Kriegstreiber. Ein Shitstorm nach dem anderen toste über ihn hinweg, aber nicht nur über ihn. Die Piraten machten sich im Netz und damit in der Öffentlichkeit gegenseitig fertig. Es war Gift und Galle pur. Da hatte man es wieder, Streit, immer nur Streit, Streit um Positionen, Streit um Posten. SPD-Chef Gabriel lästert im Verborgenen über den Kanzlerkandidaten Steinbrück und wird von diesem öffentlich dafür gerüffelt. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) übertölpelt Familienministerin Kristina Schröder (CDU) bei der Frauenquote. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) entlässt Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), weil er ihr auf die Nerven gegangen ist. So ist Politik, ein grausames Geschäft. Und warum ist Politik so? Weil das Leben mit Macht und Ruhm viele kirre macht. Weil ein unbarmherziges System die Menschen deformiert, bis sie einander zu Wölfen werden. Das ist eine landläufige Meinung. Sie ist vielleicht nicht ganz falsch, aber sie muss überdacht werden, seitdem es die Piraten gibt. In den vergangenen Jahren zogen sie in die Landesparlamente von Berlin, Nordrhein-Westfalen, SchleswigHolstein und vom Saarland ein. Zeitweise konnten sich 17 Prozent der Bürger vorstellen, die Piratenpartei zu wählen, und das konnten nicht nur IT-Spezialisten und Netzbewohner sein. Die Piraten hatten die Hoffnung geweckt, dass die Politik zu besseren Ergebnissen kommt, wenn sie von Bürgern gemacht wird und nicht von Berufspolitikern. Sie nahmen eine Stimmung auf, die sich schon vorher in Protestbewegungen entwickelt hatte, zum Beispiel gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, gegen

HANNIBAL HANSCHKE / PICTURE ALLIANCE / DPA

IST ES WIRKLICH SO SCHLIMM? IST DER POLITISCHE BETRIEB BRUTALER ALS ANDERE LEBENSWELTEN? puttmache, mein Privatleben opfere, an den Feindseligkeiten zerbrechen würde – und am Ende hat niemand etwas davon.“ Sie kehrte nicht in die Politik zurück. Aber ist es wirklich so schlimm? Ist der politische Betrieb brutaler als andere Lebenswelten? Es lohnt sich, noch einmal genau darauf zu schauen, wie Politik heute funktioniert. Es gibt ein paar Entwicklungen, die das Bild verändert haben. Es geht dabei um Dissens, Entkoppelung, Personalisierung und Reduktion.

Dünne Haut und Wölfe: Dissens Anfang Februar trafen sich der Vorsitzende der SPD und der Vorsitzende der Piratenpartei zufällig im Café Einstein, D E R

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CDU-Rivalinnen von der Leyen, Schröder

HENNING SCHACHT / ACTION PRESS (O.); DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL (U.)

Strommasten und Kraftwerke. Viele Bürger waren und sind im Totaldissens mit den Berufspolitikern: Ihr könnt es nicht. Wir machen es besser. Das war das Credo der Piraten, die als normale Bürger antraten und versprachen, dass alle mitmachen können über digitale Verfahren wie Liquid Democracy. Politik von den Bürgern für die Bürger. So ging es los, und für ein Jahr waren die Piraten wirklich eine Hoffnung. Die Piraten haben ihren großen Zuspruch inzwischen verloren, wahrscheinlich kommen sie nicht in den Bundestag. Der Bürger hat den Krieg offenbar satt. Aber es war ein Krieg von Bürgern, nicht von Profipolitikern, die der politische Betrieb in langen Jahren verdorben hat, die von ewigen Machtspielen verhärmt und brutalisiert wurden. Die Piraten sind Kurzzeitpolitiker, die höchstens Aussicht auf Macht hatten. Diese Erkenntnis muss das Urteil über Politik verändern. Nicht irgendein krudes System macht den Menschen allmählich zum Wolf, sondern offenbar kommt der Mensch schon als Wolf in die Politik, jedenfalls mit hoher Bereitschaft, Wolf zu sein. Die Politik ist nur das Revier, in dem sich wölfische Eigenschaften austoben können. Sie ist das auch, weil die Beute so verlockend ist, die Belohnung. Wer in den Umfragen gut dasteht, wird direkt gefragt, ob er sich vorstellen könne, Bundeskanzler zu werden. Das macht natürlich Gänsehaut. Auch Geschäftsführer bei den Piraten ist schon ganz schön. Die Belohnung bei alldem ist die Öffentlichkeit. Berühmt, herrlich. Und sie ist die Strafe. Jede Schmähung, jeder Absturz wird allen bekannt, und das tut dann besonders weh. Eine zweite Erkenntnis ist, dass offenbar nicht die Medien an allem schuld sind. Es heißt, dass Journalisten ständig auf der Suche nach Streit seien und alles zuspitzten und hysterisierten. Das gibt es, ohne Frage. Aber die Piraten haben eine eigene Öffentlichkeit, ohne die klassischen Medien: das Netz. Der Streit eskalierte trotzdem und erschien schriller als in den klassischen Parteien, auch weil er ungefiltert war. Die Anonymität macht zudem einigen Mut, so richtig die Sau rauszulassen. In der Demokratie entsteht Politik aus dem Dissens heraus. Die Kunst ist es, Ansichten zu versöhnen und zu bündeln, zum Kompromiss. Einen Kompromiss eingehen heißt, dass man zum Teil in den Dissens mit sich selbst gerät, dass man sich damit abfinden muss, seine eigenen Vorstellungen nicht komplett durchsetzen zu können, den Beschluss der Partei aber mitträgt. Dieser ewige Dissens mit sich

Piraten-Politikerin Weisband

selbst ist eine der wahren Härten der Politik. Die Piraten, als Neulinge, haben das nicht gut ertragen. Ihnen fehlte dafür auch die gemeinsame Idee, die klassische Parteien bislang halbwegs zusammengehalten hat. Der Dissens mit anderen ist in der Politik aber nicht weiter verbreitet als in Unternehmen, Behörden, Redaktionen oder Familien. Es spielt sich nur alles öffentlich ab, das macht den Unterschied. Und was man nicht vergessen sollte: Dass Dissens möglich ist, unterscheidet die Demokratie von der Diktatur. Die Meinungen können verschieden sein, es darf gestritten werden. Nur sollte es dabei einigermaßen zivilisiert zugehen.

Loyalität ohne Wert: Entkoppelung Familienministerin Kristina Schröder hat Politik gemacht wie früher. Sie hat versucht, die Beschlüsse ihrer Partei und die Wünsche ihrer Parteivorsitzenden Angela Merkel umzusetzen und eine freiwillige Frauenquote einzuführen. Beim Betreuungsgeld für Mütter, die ihre Kinder zu Hause erziehen, war sie wohl auch im Dissens mit sich selbst. Ihretwegen hätte es sicherlich nicht sein müssen. Aber sie ließ das Gesetz ausarbeiten, sie folgte der Koalitionsräson, also der Erpressung durch die CSU. Kristina Schröder war loyal und machte eine Politik, die im Einklang mit den Traditionen ihrer Partei steht. Aber sie ist gescheitert. Statt einer freiwilligen Quote wird es 2020 eine feste geben. In der Partei hat Schröder kaum Rückhalt, bei vielen Frauen löst sie Abneigung aus. Nach der Wahl wird sie wohl nicht mehr Ministerin sein. Die CDU und Angela Merkel werden sie nicht vermissen. Dass Loyalität nicht belohnt wird, ist relativ neu in der deutschen Politik. Es liegt daran, dass Parteitraditionen nicht mehr so viel gelten, dass sich alte Loyalitäten auflösen und neue entstanden sind. Ursula von der Leyen hat das eher verstanden als Kristina Schröder. Die Arbeitsministerin kaperte das Thema Frauenquote und setzte sich für eine Festschreibung ein, weil sie der Freiwilligkeit nicht traute. Sie erkannte, dass sie stark war, da sie einen Großteil der Frauen hinter sich hatte, auch Mitglieder oder Sympathisantinnen der CDU. Deren Loyalität zur eigenen Geschlechterrolle war größer als zur Partei. Das nahm dann auch von der Leyen für sich in Anspruch und setzte sich durch, auch weil Merkel Angst hatte, Wählerinnen zu verlieren. Für Parteipolitiker sind die Zeiten härter geworden. Der Preis für die Entkoppelung von Traditionen ist die Schutz-

losigkeit. Vor Kristina Schröder schlossen sich nicht die Reihen der CDU. Sie hörte kein Machtwort der Kanzlerin. Schutzlos war auch Christian Wulff, als er wegen umstrittener Einladungen als Bundespräsident in Schwierigkeiten geriet. Schutzlos war auch Karl-Theodor zu Guttenberg, als bekanntwurde, dass er bei seiner Doktorarbeit in großem Stil geschummelt hatte. Kaum einer sprang ihnen zur Seite. Das galt auch für die Medien. Die „FAZ“, die früher zum publizistischen Lager der CDU zählte, zeigte sich in beiden Fällen besonders kritisch. Peer Steinbrück wurde in seinem Wahlkampf zu Beginn weitgehend alleingelassen. Das hat der ehemalige Parteichef Franz Müntefering in einem Interview mit der „Zeit“ kritisiert. Und Steinbrück bezichtigt die Medien, eine Kampagne gegen ihn zu führen. Er wirkt gerade sehr allein. Ein entscheidendes Wort für Lagerdenken heißt „obwohl“. Obwohl eine andere Lösung vernünftiger wäre, folgt man der Parteiräson. Obwohl ein Politiker Fehler gemacht hat, steht das Lager zu ihm. Er wird verteidigt, von den Kollegen und den Journalisten, die seiner Partei nahestehen. Diese Haltung erodiert, und das ist ein Fortschritt. Parteiideologie und Lagerdenken haben schon oft vernünftige Lösungen verhindert. Ein freierer Diskurs tut der Politik gut. Für Politiker heißt das, dass sie sich nicht mehr in jedem Fall auf den automatischen Schutzschirm verlassen können. Deshalb häufen sich die Klagen von Politikern, sie seien Kampagnen von Medien

scheint, erntet Hass. Wer sich Hass nicht antun lassen will, passt auf seine Worte auf. Damit ist der Diskurs nicht mehr wirklich frei.

Billard und Streusel: Personalisierung Von Peer Steinbrück ist nun bekannt, dass er mit seinem Sohn Johannes Billard spielt, dass er nicht übermäßig viel im Haushalt hilft und dass er gern bei einer Partie Scrabble entspannt. Von Angela Merkel ist nun bekannt, dass sie an Männern „schöne Augen“ attraktiv findet, dass sie „eine leidenschaftliche Gärtnerin“ ist und sich ihr Mann manchmal darüber beschwert, dass auf dem Kuchen zu wenige Streusel seien. Im Wahlkampf 2013 wird heftig personalisiert. Die Kandidaten lassen reichlich Einblicke in ihr Privatleben zu, und die Medien berichten ausführlich darüber. Damit entsprechen sie einer Kritik, die weit verbreitet ist: Die Medien würden sich zu wenig um die Inhalte kümmern, zu viel um die Personen. Richtig ist, dass viele Medien stark personalisieren. Für Politiker ist das einerseits ganz schön, weil es ihrer Eitelkeit schmeichelt und nützlich sein kann, andererseits eine besondere Härte, weil es weh tut, wenn persönliche Eigenschaften kritisiert oder bloßgestellt werden oder wenn die Familie in den Fokus der Medien gerät. Öffentlichkeit ist hier in besonderer Weise Verführung und Fluch. Angela Merkel kennt jede Form persönlicher Verunglimpfung. Ihre Frisur, ihr Gesicht, ihre Kinderlosigkeit, ihre ostdeutsche Biografie, all dies wurde schon gegen sie verwendet, von Gegnern, Parteifreunden und Journalisten. Doch auch sie hält ihr privates Dasein nicht grundsätzlich unter Verschluss. Diese Ambivalenz zeigte sich, als Fotografen Angela Merkel beim Urlaub mit der ersten Familie ihres Mannes in Südtirol aufspürten. Die Kanzlerin ließ protestieren, aber nur sanft, weil es nicht schaden kann, als Familienmensch gezeigt zu werden, als Schwiegermutter und Oma. Es fügt sich zum neuen, weicheren Bild von Angela Merkel. Klagen von Politikern über die Personalisierung sind daher oft geheuchelt. Auch Steinbrück war schon so zu hören, doch nun setzte er Frau und Sohn im Wahlkampf ein, und warum nicht? Ein zeitgemäßer Blick auf die Personalisierung in Medien sieht so aus: Sie ist eine politische Notwendigkeit. Da sich Union und SPD inhaltlich nicht mehr groß voneinander unterscheiden, da die

ME DI E N ST E HEN I N KONKU R R EN Z . A B GE S P RO C HEN E K A M PAG N E N GI BT E S N I C HT. ausgesetzt. Steinbrücks Fehltritte vom Beginn des Wahlkampfs ließen sich nur bei ideologischer Verbohrtheit verteidigen. Journalisten urteilen heute weniger parteilich, mehr journalistisch. Deshalb wirkt die Meinungslage oft nahezu einhellig. Abgesprochene Kampagnen gibt es aber nicht. Medien stehen in Konkurrenz zueinander. Sie wollen sich abheben, nicht angleichen. Allerdings droht die Gefahr, dass nach dem Ende der alten Ideologien neue entstehen und damit neue Verspannungen. Kristina Schröder hat das schon erleiden müssen. Wer bei Frauenfragen, insbesondere als Frau, nicht für das eintritt, was den Lobbygruppen als fortschrittlich erD E R

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Kurze Sätze, wenig Zeit: Reduktion Als Peer Steinbrück Ende Juli in Berlin die Wahlplakate der SPD und seine Wahlkampftournee vorstellte, sagte er den Satz: „Da bin ich noch mal auf Gran Ca30

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Ehepaar Wulff in Schloss Bellevue 2012 THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK.NET (O.); SVEN HOPPE / PICTURE ALLIANCE / DPA (U.)

deutsche Demokratie immer stärker eine Kanzlerdemokratie geworden ist, da Angela Merkel und Peer Steinbrück als Kanzler wahrscheinlich eine ähnliche Politik machen würden, ist das Gemüt der Kandidaten eine wichtige Grundlage für die Wahlentscheidung. Welches Temperament soll regieren: Merkels lähmende Unaufgeregtheit oder Steinbrücks aufbrausende Unberechenbarkeit? Es gibt noch eine zweite Personalisierung, und die findet beim Wähler statt. Da er sich von den klassischen Milieus entkoppelt hat, schaut er weniger darauf, welche Politik für ein rotes oder schwarzes Kollektiv gut ist, sondern er schaut mehr auf sich: Was ist gut für mich? Der Wähler personalisiert seine Ansprüche an die Politik. Das macht es für Kandidaten noch schwerer, breite Akzeptanz zu finden. Verkörperung ist dabei ein wichtiger Begriff. Früher sollten die Kandidaten vor allem die Ansprüche einer Partei verkörpern. Das war diffus genug, um weitgehend unproblematisch zu sein. Für Gerhard Schröder reichte es, aus einer armen Familie zu stammen, um die SPD verkörpern zu können. Von seinem Ich ging ein gerader Weg zum Wir der SPD. Nun heißt der Auftrag: vom Ich des Politikers zum Ich des Wählers zu finden. Steinbrück hat Probleme, bei jungen Müttern Akzeptanz zu finden. Wenn sich die politischen Ansprüche so sehr personalisieren oder individualisieren, wird es schwierig mit der Verkörperung. Die Politiker brauchten multiple Persönlichkeiten und ein multiples Äußeres. Natürlich hat jede Frau und jeder Mann das Recht zu fordern, dass Politik für sie oder ihn gemacht wird. Aber da eine Demokratie die Bündelung von Interessen braucht, fängt eine politische Haltung erst da an, wo man von sich absehen kann, jedenfalls hin und wieder. Nur dann ist es Politikern möglich, Mehrheiten zu finden oder zu organisieren. Es wäre ein bisschen schlicht zu sagen, Steinbrück kann nichts für alleinerziehende junge Mütter tun, weil er 66 Jahre alt ist, sich aus der Erziehung seiner Kinder weitgehend rausgehalten hat und überwiegend männlich-deftig auftritt. Oder Merkel wäre nicht zumutbar für einen verheirateten, katholischen Duisburger Stahlarbeiter, weil sie Ostdeutsche und Protestantin ist, studiert hat und geschieden ist. Politiker würden zu Gefangenen ihrer Biografie und ihres Äußeren.

Hamburgs Bürgermeister Scholz

naria und lege mich auf die faule Haut.“ Kurz darauf fragte Bild.de die Leser: „Kann er sich das erlauben?“ Wer bei der Veranstaltung war, konnte hören, dass Steinbrück seinen Satz ironisch gemeint hatte. Es konnte gar keinen Zweifel daran geben. Er sagte, dass er in der fraglichen Zeit in Wahrheit in Berlin sei, um vor allem Interviews zu geben. Was war passiert? Zum einen: Ein einzelner Satz eines Politikers wurde herausgegriffen und skandalisierend verbreitet. Zum anderen: Entweder war es Böswilligkeit, dass Bild.de den Satz falsch gedeutet hat. Oder es fehlte an Zeit und Aufmerksamkeit, um Steinbrücks Aussage in Gänze verstehen zu können. Es ging also in mehrfacher Hinsicht um Reduktion: ein einzelner Satz, wenig Zeit, wenig Aufmerksamkeit. Und das ist typisch im Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit. Die Reduktion macht die Arbeit der Politiker besonders schwierig, manchmal aber auch leicht. Eine Mediendemokratie kann man sich auch als gigantisches Gewimmel von Sätzen vorstellen. Täglich werden sie millionenfach ausgestoßen, in Reden, in Interviews, in Talkshows, in Hintergrundgesprächen, per SMS, über Twitter. Nach einer idealen Vorstellung müssten die großen, grundsätzlichen Reden in Erinnerung bleiben, aber so ist es nicht. Wahrscheinlich ist Richard von Weizsäckers Rede über das Kriegsende die letzte, die noch einer größeren Zahl von Menschen gegenwärtig ist. Er hat sie 1985 gehalten. In der Regel überleben nur einzelne Sätze oder Wörter. Beispiele aus der ablaufenden Legislaturperiode: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein“ – Guido Westerwelle (FDP) über den Sozialstaat. „Wildsau“ – Daniel Bahr (FDP) über die CSU. „Gesundheitspolitische Gurkentruppe“ – Alexander Dobrindt (CSU) über die FDP. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ – Angela Merkel über die Finanzkrise. „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“ – Ronald Pofalla (CDU) über Wolfgang Bosbach (CDU). „Eine Flasche, die nur fünf Euro kostet, würde ich nicht kaufen“ – Peer Steinbrück über Pinot Grigio. Die Liste ist nicht vollständig, aber typisch. Meist überleben Sätze, die deftig sind und sich skandalisieren lassen. Manche halten sich nur für Stunden, aber das reicht schon, um Unruhe in den politischen Betrieb zu bringen. Diese Sätze treffen auf eine andere Reduktion, die von Zeit. Es sinkt vor allem

die Zeit zwischen den Schlagzeilen. Bei den Zeitungen kommen sie täglich, bei den Internetmedien ungefähr stündlich, und über Twitter kann jeder Politiker ständig kurze Sätze in die Welt schießen. Damit wirkt der gesamte politische Betrieb aufgeregt und hysterisch, wie ein Whirlpool. Viel Gewirbel, ohne dass man sich von der Stelle bewegt. Politiker müssen auf ihre Worte aufpassen, weil sie wissen, dass eine Menge Journalisten nach Sätzen jagen, die in diesem Gewirbel überleben können. Andererseits wissen viele Politiker auch, was sie sagen müssen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die überlebende Aussage der vergangenen Woche kam von Franz Müntefering, wie ja weiter oben schon zu sehen war: „Für Steinbrück gab es keine Kampagne, keine Bühne, keine Mitarbeiter, da gab es nichts.“ Für kurze Zeit herrschte Aufregung rund um die SPD, und Müntefering stand noch einmal auf der großen Bühne. Es ist schwierig, in diesem Gewirbel Politik zu machen. Eigentlich ist die deutsche Demokratie eher ein langer, träger Fluss als ein Whirlpool, aber da alle Sätze, die für Unruhe sorgen können, Karriere machen, herrscht dann auch eine Menge Unruhe. Leute sind beleidigt, werden störrisch, und schon ist die Arbeit einer Koalition oder einer Partei behindert. Gleichwohl spricht auch etwas für zugespitzte Sätze. Es ist manchmal gut, wenn etwas los ist in der Politik. Demokratie braucht Aufmerksamkeit, und kurze, herbe Sätze sorgen dafür. Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, Politik sei

Agenda 2010, also den Jahren 2002 bis 2004. Und er war der Sündenbock. Olaf Scholz weiß, was Dissens ist, er kennt Personalisierung, Reduktion und Entkoppelung aus eigenem Erleben. Er musste die Agenda in der Partei durchsetzen, und die Partei wollte die Agenda nicht. Er wurde als „Scholzomat“ geschmäht, weil er die immer selben Floskeln sagte, und beim Parteitag in Bochum 2003 strafte ihn die SPD mit knapp 53 Prozent der Stimmen ab, geradezu lachhaft wenig für einen Generalsekretär. Seit März 2011 ist Olaf Scholz Erster Bürgermeister von Hamburg. Er sitzt in seinem schlichten Büro im Rathaus und schaut ohne Groll zurück. „Zu glauben, dass alle gleich begeistert sind, wenn man eine Idee hat, ist nicht plausibel“, sagt er. „Darüber, dass so weitreichende Reformen Kontroversen, Irritationen und auch Widerstand zur Folge haben, durfte sich niemand ernstlich wundern. Ich glaube nicht, dass es eine Medienkampagne gegen die Agenda gab. Ich fand den Umgang mit mir nicht unangemessen hart.“ Er klagt nicht, und er hat auch damals nicht geklagt. Manchmal wirkte er erschöpft, in Momenten niedergeschlagen, aber er war immer loyal zu Bundeskanzler Gerhard Schröder, machte einfach weiter seine Arbeit und half mit, die Agenda durch die Fraktion zu bringen. Die Härten der Politik nahm er als das, was eben ist und womit man klarkommen muss. Er kam damit klar. Heute gilt die Agenda gemeinhin als Erfolg, als Grundlage der wirtschaftlichen Prosperität in den letzten Jahren. Vielleicht mildert das seinen Blick auf diese schwierigen Jahre. Aber er ist ohnehin nicht der Mann, der groß rummault. Scholz strahlt eine solide Gelassenheit aus, als sei er im Einklang mit sich und seinem Beruf. Da ist er das Gegenteil von Steinbrück. Von seinen Worten ist nur eines knapp in Erinnerung geblieben. Er redete 2002 von der „Lufthoheit über den Kinderbetten“, ein ziemlich blödes Wort. Aber Scholz ist gereift und regiert Hamburg mit sicherer Hand, ein bisschen unauffällig allerdings. Er ist keiner, der begeistern kann. Trotzdem wird es vielleicht noch weitergehen für ihn. Neben Hannelore Kraft gilt er als möglicher Kanzlerkandidat für 2017. Politik ist kein Idyll, auch nicht für Olaf Scholz. Es ist ein harter Beruf, aber auch ein Beruf, der Leute glücklich machen kann, zum Beispiel Olaf Scholz.

ME I ST Ü B ER L E B E N P OLI T IK ER SÄT Z E , D I E D EF TI G SI ND U N D S I C H S K A N DA L I S I E R E N L AS S E N . nur ein Schlagabtausch von Grobianen. Dafür müsste man seine Stimme nicht abgeben. Demokratie braucht daher einen Journalismus, der nicht nur auf Schlagzeilen setzt, sondern auch durch große Recherchen, durch Reportagen und Essays das ganze Bild zeigt und analysiert. Und sie braucht von ihren Bürgern eine Aufmerksamkeit für die komplexen Zusammenhänge, eine Aufmerksamkeit, die sich nicht auf die 140 Zeichen von TwitterBotschaften beschränkt.

Glücklich trotz Politik: Olaf Scholz Er hat eine Menge hinter sich. Er war Generalsekretär der SPD in den Zeiten der D E R

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ULLSTEIN BILD

Kunstaktion in Berlin am Palast der Republik 2005

Die kleinen Deutschen Die Wiedervereinigung ist lange her, aber zwischen Ost- und Westdeutschen herrscht eine große Fremdheit – die beide akzeptieren sollten. Von Alexander Osang Vor ein paar Monaten bekam ich nachts um drei in Kimball, US-Staat Nebraska, einen Anruf aus Deutschland. Ich schlief in einem namenlosen an der Interstate 80. Viel weiter weg von WAHL Motel Deutschland konnte man nicht sein, aber es holt 2013 einen doch überall ein. Am Telefon war Michel Gaißmayer, eine Art Kulturmanager, der mich in regelmäßigen Abständen in das Udo-Lindenberg-Musical „Hinterm Horizont“ einlädt, an dem er mitgearbeitet hat. Ich sagte: „Ich bin in Nebraska.“ Er sagte: „Ach so. Ich wollte dir nur mein Beileid aussprechen.“ Ich richtete mich in meinem Motelbett auf. „Wozu?“– „Dein Freund Reinhard Lakomy ist gestern gestorben“, sagte er. Reinhard Lakomy war ein Sänger aus Ost-Berlin. Er hatte lange weiße Haare, einen Schnurrbart und war zu DDR-Zeiten berühmt für eine Kinderplatte mit dem Namen „Traumzauberbaum“. Ich habe die Platte nie besessen und konnte mich nicht erinnern, jemals mit Lakomy gesprochen zu haben. Andererseits war er nun tot. „Freund ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen“, sagte ich. „Wie auch immer, tut mir sehr leid“, sagte Gaißmayer. Michel Gaißmayer ist ein alter Westdeutscher, der auch schon zu Mauerzeiten enge Verbindungen in den Osten hielt. Offenbar hat er dabei herausgefunden, dass wir Ostler uns alle kennen. Wenn jemand stirbt, weint der Rest. Ich saß im Bett und versuchte, mich angemessen zu verhalten. Aber ich spürte nichts. Daran musste ich jetzt denken, als Peer Steinbrück die Seele des ostdeutschen Wählers auslotete. Steinbrück hat Angela Merkel dafür kritisiert, dass sie keine europäische Visionärin ist und keine großen Reden halten kann. Er erklärt es mit ihrer ostdeutschen Herkunft. Ich halte das für einen nachvollziehbaren Ansatz. Wie Angela Merkel habe auch ich meine erste Lebenshälfte in der DDR verbracht und kann mich nicht daran erinnern, dort jemals eine europäische Vision entwickelt zu haben. Ich kannte auch sonst kaum jemanden mit europäischer Vision. Es gab zudem wenig Freunde 32

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großer Reden im Osten, an die ich mich erinnere. Wir hatten andere Prioritäten damals, und bestimmte Dinge lernt man später nur noch schwer. Weil aber Wahlkampf ist, gab es einen Aufschrei quer durch alle Parteien. Einige forderten Steinbrücks sofortigen Rücktritt als Kanzlerkandidat, andere wenigstens eine Entschuldigung. Steinbrück fuhr nach Halle an der Saale und machte alles nur noch schlimmer. „Ostdeutschland ist eine Region tüchtiger und zupackender Menschen, die ihre Angelegenheiten sehr tatkräftig in die Hand genommen haben“, sagte er. Das ist ein interessanter Satz. Ersetzt man Ostdeutschland durch Zentralafrika, versteht man, wie fremd Steinbrück der Osten ist. Er schaut in ein dunkles, bodenloses Loch. Tüchtig und zupackend. So beschreibt man normalerweise Rentner oder Menschen in einem Katastrophengebiet, die nicht den Mut verlieren. Man sah Fotos, die Steinbrück an der ostdeutschen Ostseeküste zeigen, wo er offenbar Kontakt zu Einheimischen suchte. Er rudert mit den Armen, lacht und trägt einen lustigen Hut, so, als näherte er sich den Bewohnern einer Südseeinsel. Die Einheimischen mustern ihn irritiert. SPD-Genosse Matthias Machnig, ein Westler, der in Thüringen Minister ist, erklärt: Steinbrück kenne sich im Osten aus. Er habe dort Verwandte. „Cousine ersten Grades“, sagt Steinbrück in einem Interview. Ersten Grades! Außerdem hat er bereits 1981 mal in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin gearbeitet. Er erinnert sich daran, dass die Stasi-Mitarbeiter immer Kunstlederjacken getragen haben. Einmal hat er mit seiner Cousine ersten Grades einen Ausflug aufs Land gemacht. Es war kalt, und es gab viel Wodka. Es klang, als wären die beiden damals bis nach Sibirien durchgereist. Es ist bald 25 Jahre her, dass die Mauer fiel. Manchmal hat man den Eindruck, Ost- und Westdeutsche werden sich immer fremder. Ich habe vor kurzem mal mit ein paar Vertretern der „dritten Generation Ost“ an einem Tisch gesessen. Sie waren bestimmt 15 Jahre jünger als ich und hatten den ernsthaften Gesichtsausdruck von Menschen, die wissen, dass sie eine lange Reise vor sich haben.

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Sie könnten sich in die Spitze ihrer Landesregierungen, in die Universitäten, Wirtschaftsunternehmen und vielleicht sogar in die erste Fußball-Bundesliga kämpfen. Es kann ja auf Dauer kein Zustand sein, dass die tüchtigen, zupackenden Ostdeutschen fast nie dort zu finden sind, wo Dinge entschieden werden. Es gibt nur eine Fernsehanstalt und ein Dax-Unternehmen, die von einem Ostdeutschen geführt werden, keine überregionale Zeitung, kein Magazin, keine Bundesligamannschaft. Der Bundesligatrainer, den die Ostdeutschen in die Einheit eingebracht haben, heißt Hans Meyer und gilt als Original. Er hat keine Meistertitel gewonnen, aber immer mal einen lustigen Spruch gemacht. Das ist im Westen gut angekommen. Inzwischen ist er in Rente. So wie Hans Meyer hätte sich der Ostdeutsche in die Geschichte verabschieden können. Ein skurriler, gutmütiger Kerl, den keiner fürchten muss. Ein Pausenclown der Wiedervereinigung. Die Ostler haben jede Menge „Unvollendete“ hervorgebracht wie den Fußballer Michael Ballack, der nie einen internationalen Titel gewann, oder Matthias Platzeck, der einen Hörsturz bekam, als er ganz nach oben sollte. Sie stellen erfolgreiche Schauspieler und Schreiber und Volksmusikanten und moderieren den ZDF-Fernsehgarten. Der beliebteste ostdeutsche Fernsehstar heißt Cindy aus Marzahn und trägt einen pinkfarbenen Trainingsanzug. Die furchtbarste deutsche Terrorbande bildeten drei Ostdeutsche. Ermordete eine Frau ihre Kinder, nannte man sie in den Nachrichten „ostdeutsche Mutter“. Aß ein Mann einen Menschen auf, hieß er „der Kannibale aus Rotenburg“. Eine DDRHerkunft erklärte jede Art von Missgriff. Das führte dazu, dass man den Osten im Westen nie richtig ernst nehmen musste. Angela Merkel hat das am Anfang ihrer Karriere genutzt. Als Frau und als Ostdeutsche. Sie ließ die Machos der CDU hinter sich und dann den Macho der SPD. Es war eine Sternstunde des deutschen Fernsehens, Gerhard Schröder nach der verlorenen Wahl 2005 dabei zu beobachten, wie unbegreiflich die Niederlage gegen diese Frau für ihn war. Angela Merkel hatte eine ostdeutsche Frisur, einen ostdeutschen Akzent, und wie bei vielen Ostdeutschen wusste man nicht, was sie eigentlich wollte. Sie hatte die Schlachten der westdeutschen Politik nicht gekämpft, sie war Mitglied in der Freien Deutschen Jugend gewesen. Sie hatte keine Netzwerke, aber auch keine alten Verbindungen, auf die sie Rücksicht nehmen musste. Sie war nicht katholisch, sie war geschieden, sie buk gern Pflaumenkuchen. Sie war ein Phänomen. Ich kenne jemanden, der, kurz nachdem sie zur Kanzlerin gewählt worden war, zu einem Essen bei ihr eingeladen war. Er brachte Wein mit, und weil sie die Kanzlerin war, suchte er lange nach dem besten deutschen Wein, den er bekommen konnte. Als er mit dem Wein in der Wohnung stand, sagte Angela Merkels Mann: „Für französischen hat’s wohl nich jereicht.“ Es ist eine wunderbare Geschichte aus Zeiten, in denen Angela Merkel immer noch beherrschbar schien, eine Art Projekt der deutschen Einheit. Mit der Zeit aber ließ die Faszination für Angela Merkel nach. Sie regelt Deutschland wie den Verkehr. Sie hat keine Visionen. Sie hält keine großen Reden. Die Dinge, die sie einst interessant gemacht haben, sprechen nun gegen sie. Vor allem ihre unaufgeregte, sture Ostmentalität, mit der sie sich an der Macht festklammert. Nannte man sie einst das Mädchen, nennt man sie jetzt Mutti.

Der Tiefpunkt war erreicht, als Deutschland von amerikanischen Geheimdiensten in seinen demokratischen Grundfesten erschüttert war, Angela Merkel aber in den Urlaub fuhr. Auch was ihr Verhältnis zu den USA angeht, war sie immer verdächtig entspannt. In diesen Tagen fasste Jakob Augstein in seiner Kolumne auf SPIEGEL ONLINE die Stimmung so zusammen: „Angela Merkel war 35 Jahre alt, als die DDR im Strudel der Wende versank. In dem Alter kann man noch lernen. Und es gab viel zu lernen für eine ostdeutsche Nachwuchspolitikerin. Heute kann man sagen: Merkel lernte das Falsche.“ Er hat ihr einen Titel gegeben, mit dem sie in die Geschichtsbücher eingehen soll: „Die kleine Kanzlerin“. Es klang, als hätte Augstein ein Kind adoptiert. Er hat ihm gegeben, was er konnte, aber am Ende brach dann doch der Charakter durch. Sie ist eben nur eine Ostdeutsche. Was soll man machen. Man kriegt es nicht raus. Wir haben noch Joachim Gauck, aber wenn er nicht bald die ganz große Rede hält, wird’s auch für ihn schwierig. Ich bin in diesem Jahr ein paar Wochen lang mit der Fußballmannschaft von Dynamo Dresden herumgereist, um herauszufinden, was eigentlich schiefläuft. Dresden war einmal der Stolz des Ostens. Als der FC Bayern im Mai die Champions League gewann, kämpfte Dynamo Dresden in Osnabrück gegen den Abstieg aus der 2. Bundesliga. Bei einem Heimspiel traf ich den neuen Geschäftsführer des Clubs auf der Ehrentribüne. Er heißt Christian Müller und kommt aus Köln. Er hat Management in Freiburg und Paris studiert, jahrelang die Lizenzabteilung beim Deutschen Ligaverband geleitet und war bereit, Dresden in die Zukunft zu führen. Müller hatte einen Plan: Er wollte das Bürgertum Dresdens an den Verein binden. Menschen, die man aus „Der Turm“ kennt. Er lud mich zur 60-jährigen Geburtstagsfeier des Clubs ins Hygiene-Museum ein. Der Saal war voll. Auf der Bühne standen ein paar Bläser, im Publikum saßen der Fernsehmoderator Gunther Emmerlich, der ehemalige Kapitän Dixie Dörner und der Vorsitzende des Kreisrats aus DDR-Zeiten. Bürgerliche sah ich nicht. Vier Stunden lang dauerte die Feier, aber sie kam nicht weiter als bis zur Wende. Man wählte fünf Ehrenspieler aller Zeiten. Der letzte war Reinhard Häfner, ein großer Fußballer der siebziger Jahre, der Dynamo Anfang 1991 als Trainer in die 1. Bundesliga führte. Bevor er dort arbeiten konnte, entließen sie ihn. Sie trauten ihm den Westen nicht zu und holten jemanden aus Hamburg. Es gab keine Tradition, mit der man etwas anfangen konnte. Es gab auch kein Bürgertum, das sich erschließen ließ. Es gab eine große Fremde. Es ist nicht einfach, die zu akzeptieren. Aber es wäre ein Anfang. Irgendwann fiel mir auf meinem Motelbett doch noch eine Zeile aus einem Lied des verstorbenen Sängers Lakomy ein: „Heute bin ich allein / ja, auch das muss ab und zu mal sein.“ Mehr wusste ich nicht; es wurde hell, und ich verließ Nebraska. Ich hatte dort nichts zu tun. Ich war nur da, weil ich den Plan verfolge, in jedem US-Bundesstaat wenigstens eine Nacht zu verbringen. Wahrscheinlich aus einem ostdeutschen Minderwertigkeitskomplex heraus, der in den Jahren wuchs, in denen ich Amerika nur in Filmen, Liedern und Büchern bereisen konnte.

DE R W E STE N HAT D E N OST E N NI E E R N ST G EN O M M EN . A N G E L A M E R K E L H AT DAS ANFA N G S G E N U T Z T.

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Im nächsten Heft: Wer regiert uns eigentlich – Angela Merkel oder doch Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank? Dazu: Was eine schwäbische Unternehmerin für konservativ hält.

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SPI EGEL-GESPRÄCH

„Was fort ist, ist fort“

Firmenchef Asbeck

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THEODOR BARTH / DER SPIEGEL

Nach der Beinahe-Pleite seines Konzerns erklärt Solarunternehmer Frank Asbeck, warum er weiter an die Zukunft seiner Industrie glaubt und wie die Energiewende in Deutschland gelingen könnte.

Deutschland SPIEGEL: Herr Asbeck, dem TV-Moderator Thomas Gottschalk haben Sie kürzlich Schloss Marienfels bei Remagen abgekauft, Ihr Zweitschloss. Sind Sie schon eingezogen? Asbeck: Das Schloss ist kein Schloss, auch wenn es von den Leuten in der Gegend so genannt wird. Es ist ein Fabrikantenwohnsitz aus dem 19. Jahrhundert. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit denkmalgeschützten Immobilien, die ich restaurieren kann. SPIEGEL: Hat Ihnen Herr Gottschalk etwa eine Bruchbude hinterlassen? Asbeck: Na ja, die Einrichtung war schon sehr skurril, hatte teilweise aber auch etwas sehr Schönes. Meine Frau kümmert sich gerade darum. SPIEGEL: Ihr Unternehmen stand kurz vor der Pleite, und Sie kaufen sich eine PromiImmobilie. Da ist es doch kein Wunder, dass viele Aktionäre verärgert sind. Asbeck: Ich hatte das Objekt viel früher gekauft. Aber die Presse hat das Thema genau dann hochgezogen, als die Solarworld AG Probleme bekam. Das Anwesen habe ich als Privatmann erworben. Ich renoviere nun einmal gern schöne alte Gebäude. Was ist daran auszusetzen? SPIEGEL: Die Insolvenz Ihres Unternehmens haben Sie knapp abgewendet, weil Aktionäre und Gläubiger auf Geld verzichten. Wie wollen Sie das Unternehmen wieder in die Gewinnzone bringen? Asbeck: Wir haben unsere Schulden reduziert und einen neuen Investor hinzugeholt. Dadurch steht das Unternehmen finanziell wieder auf gesunden Füßen. Außerdem haben wir uns ein striktes Programm auferlegt, um die Kosten zu drücken. In unserem Markt sind die Preise in den vergangenen drei Jahren um über 60 Prozent gefallen, darauf müssen wir reagieren. SPIEGEL: Die Frage war, wie Sie in Zukunft Geld verdienen wollen. Müssen Sie nicht Ihr gesamtes Geschäftsmodell ändern? Asbeck: Nein, im Gegenteil. Wir bieten unseren Kunden komplette Solarstromanlagen aus einer Hand in bester Qualität. Um das zu gewährleisten, machen wir fast alles selbst, made in Germany. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal im internationalen Wettbewerb. Wir wären dumm, wenn wir daran etwas ändern würden. SPIEGEL: Beschäftigtenzahl und Umsatz sind stark gefallen; trotzdem, so heißt es, denken Sie jetzt schon wieder über Zukäufe nach. Wie passt das zusammen? Asbeck: Gerüchte werde ich nicht kommentieren. Der Weltmarkt für Solarmodule schrumpft aber nicht, wie Sie offenbar annehmen, sondern er wächst rasant. Weltweit hat das Photovoltaik-Geschäft gerade erst begonnen. SPIEGEL: Weil es zu viele Solarfabriken gibt, sind die Preise am Boden. Können Sie mit Ihrer Produktion im Hochlohn-

land Deutschland gegen die Billigkonkurrenz bestehen? Asbeck: Unser Lohnkostenanteil liegt bei unter zehn Prozent, warum sollten wir da in ein Niedriglohnland gehen? Es gibt auch zu viele Autofabriken auf der Welt. Trotzdem stehen die deutschen Hersteller bestens da, weil sie innovativer sind und bessere Qualität bieten als die Konkurrenz. Das ist auch die richtige Strategie für uns. Unsere schärfsten Gegner sind subventionierte Billigproduzenten aus China, die nach dem Fünfjahresplan der Regierung versuchen, alle anderen Hersteller vom Markt zu verdrängen. SPIEGEL: Die EU-Kommission hat erreicht, dass Solaranlangen aus China nicht noch billiger angeboten werden dürfen. Reicht Ihnen das nicht? Asbeck: Mehr war wahrscheinlich nicht drin, nachdem der deutsche Wirtschaftsminister Philipp Rösler im vorauseilenden Gehorsam gegenüber Peking schon den Kotau gemacht hatte. Deutschland und die EU haben in China dadurch viel an Respekt verloren. SPIEGEL: Rösler wollte einen Handelskrieg mit China vermeiden, im Interesse der deutschen Industrie. Asbeck: Vielleicht hat es die deutsche Industrie noch nicht gemerkt, aber der Handelskrieg ist längst im Gange, und China hat ihn angefangen. Im Maschinenbau und in der Kommunikationselektronik passiert dasselbe wie in der Solarindustrie. Das nächste Thema wird die Elektromobilität. China bricht die Handelsregeln nach Belieben. SPIEGEL: Die Probleme der deutschen Solarbranche haben weniger mit Dumping zu tun als mit ihrer mangelnden Innovationskraft. Ihnen ist in den vergangenen Jahren nicht viel eingefallen, um die Chinesen auf Abstand zu halten. Asbeck: Das stimmt nicht. Unser technologischer Vorsprung liegt nach wie vor rund anderthalb Jahre vor den chinesischen Kopien. Solarworld hat fünf Prozent des Umsatzes in Forschung und Ent-

Frank Asbeck, 54, galt lange als grüner Vorzeigeunternehmer. Seine 1998 in Bonn gegründete Solarworld AG entwickelte sich binnen weniger Jahre zu einem milliardenschweren Weltkonzern – auch dank Asbecks Selbstvermarktungstalent. Dem Papst schenkte er eine Solaranlage für den Vatikan, dem 1. FC Köln half er beim Kauf von Fußball-Nationalspieler Lukas Podolski. 2008 wollte Asbeck sogar den angeschlagenen Autokonzern Opel übernehmen. Doch die weltweite Krise der Solarindustrie trifft ihn hart. Vorvergangene Woche gelang es Asbeck nur mit einem drastischen Schuldenschnitt, eine Insolvenz abzuwenden. D E R

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wicklung gesteckt, die Chinesen hingegen nur zwei Prozent. SPIEGEL: In guten Jahren lag Ihre Quote für Forschung und Entwicklung lediglich zwischen 1,2 und 2 Prozent des Umsatzes. Asbeck: In der Solarindustrie besteht Forschung und Entwicklung aus zwei Komponenten, der Forschung im Labor und der Anwendungstechnik. Wenn wir das zusammenzählen, kommen wir auf fünf Prozent. SPIEGEL: Und damit lägen Sie immer noch unter dem, was etwa in der Pharmabranche üblich ist. Zeigen die niedrigen Forschungsausgaben nicht, dass es sich bei Ihren Solarsystemen um Massenware handelt? Asbeck: Unsere Solarmodule müssen 30 Jahre garantiert Strom erzeugen, auf deutschen Dächern oder in der Wüste, bei Wind und Wetter. Dafür brauchen Sie eine Top-Produktion und jede Menge Know-how. Dass wir die vergangenen Jahre nicht geschlafen haben, zeigen unsere Lernkurven. Sie wissen, dass die Fördersätze für Photovoltaik-Anlagen Jahr für Jahr zusammengestrichen worden sind. Das konnten wir nur ausgleichen, weil unsere Anlagen ständig besser geworden sind. SPIEGEL: Offenbar waren die Streichungen viel zu moderat. Union, FDP und auch die SPD haben angekündigt, bei der Förderung der erneuerbaren Energien nach der Bundestagswahl stärker kürzen zu wollen. Asbeck: Das wäre ein Fehler. Die Politik vergisst, dass sie gerade erst radikal gekürzt hat. Die heutige Regelung sorgt dafür, dass die Förderung, analog zum technischen Fortschritt, automatisch weiter zurückgeht. Das können wir als Solarbranche noch verkraften. Aber mehr geht nicht, wenn wir die Energiewende nicht gefährden wollen. SPIEGEL: Wie lange sollen die Stromverbraucher denn noch für die Förderung der Photovoltaik zur Kasse gebeten werden? Asbeck: Ich verspreche Ihnen: 2017, also zum Ende der kommenden Legislaturperiode, werden unsere Solaranlagen ohne Förderung auskommen und Strom zu marktfähigen Bedingungen erzeugen. SPIEGEL: Dass der Durchbruch kurz bevorstehe, erzählt uns Ihre Branche schon seit Jahren. Ein teurer Irrtum. Allein in diesem Jahr werden die Stromkunden mit 20 Milliarden Euro Ökostromförderung belastet. Asbeck: Das ist die Förderung der Altanlagen, und die wird automatisch weniger. Die Durchschnittsvergütung für Strom aus neuen Anlagen liegt etwa auf dem Niveau eines modernen Gaskraftwerks. Aber klar, es wurden auch Fehler gemacht, vor denen ich im Übrigen bereits 2009 gewarnt habe. Ich war schon damals dafür, die Förderung stärker abzusenken 35

* Alexander Neubacher und Michael Sauga in der Bonner Solarworld-Zentrale.

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ULLSTEIN BILD

Solarworld-Fabrik in Freiberg: „Der Handelskrieg ist längst im Gange“

braucht, soll auch in Zukunft von der Umlage befreit sein. Aber das sind nur einige wenige Ausnahmen, etwa Aluminiumund Kupferhütten. SPIEGEL: Ihre Solarfabrik im sächsischen Freiberg ist auch von der Ökostromumlage befreit. Müssten Sie künftig zahlen? Asbeck: Wenn die Regierung eine entsprechende Regelung für die ganze Industrie trifft, würden auch wir in Zukunft die Ökostromumlage zahlen. Im Gegenzug würde der Bürger entlastet. SPIEGEL: Um wie viel? Asbeck: Der Haushaltsstrompreis könnte um fünf Prozent sinken. Weitere fünf Prozent wären möglich, wenn die Energieversorger gezwungen würden, den sinkenden Börsenpreis für Strom an die Verbraucher weiterzugeben. Aber die Politik geht da nicht ran. SPIEGEL: Heute subventioniert der Mieter mit seiner Stromrechnung das Solardach des Eigenheimbesitzers. Ist das gerecht? Asbeck: Ich sagte ja schon, dass der Verbraucher entlastet werden kann und muss. SPIEGEL: Dennoch bleibt es eine Umverteilung von unten nach oben. Asbeck: Ich sehe vor allem, dass die Energiewende das Geld von einigen mächti-

THEODOR BARTH / DER SPIEGEL

und eine Größenbeschränkung für Photovoltaik-Anlagen einzuführen. SPIEGEL: Wir erinnern uns. Sie warben dafür, die Förderung von großen Solarparks zu kürzen – wohlwissend, dass Sie selbst vor allem kleinere Dachanlagen herstellen und daher von Kürzungen nicht betroffen gewesen wären. Asbeck: Dazu stehe ich. Das Problem der letzten Jahre war der massive Zubau von Solaranlagen auf großen Freiflächen. Viele kleine, dezentrale Anlagen sind nun einmal besser und für das Stromnetz auch leichter verkraftbar als ein großer Solarpark. SPIEGEL: Knapp ein Drittel aller weltweiten Solaranlagen wurde in den vergangenen Jahren in Deutschland installiert, einem vergleichsweise sonnenarmen Land. Zeigt sich darin nicht, wie irrsinnig das deutsche Fördersystem ist? Asbeck: Im heutigen System kann von einer Überförderung der Solarenergie keine Rede mehr sein. Der Zubau in den letzten drei Jahren ging zu schnell, ja. Allein aus China kamen Anlagen mit rund 18 Gigawatt Gesamtleistung nach Deutschland. Aber das ist Geschichte. Der Zubau in diesem Jahr ist genau so, wie die Regierung ihn angepeilt hat. Wir reden auch nicht mehr über die Altlasten von Atomstrom und Kohlebergbau. „Was fort ist, ist fort“, sagt der Rheinländer. SPIEGEL: Die Strompreise steigen und steigen. Haben Sie nicht den Eindruck, die Belastungsgrenze für die Stromverbraucher sei erreicht? Asbeck: Die Stromrechnung für die Bürger könnte sinken, wenn die Politik die Kosten für erneuerbare Energien endlich fair verteilen würde. Die Industrie ist der große Nutznießer der erneuerbaren Energien, auch wenn sie es nicht gern zugibt. SPIEGEL: Wie bitte? Große Teile der Wirtschaft klagen genauso über steigende Strompreise wie die Bürger. Asbeck: Viele Industriebetriebe zahlen doch keine Ökostromumlage, sondern haben sich mit Hilfe der Bundesregierung befreien lassen, inzwischen rund 2000 Betriebe. Gleichzeitig kaufen sie ihren Strom an der Börse billiger als früher ein, weil die erneuerbaren Energien dort den Preis drücken. Diese Unternehmen profitieren also doppelt. Hier muss die Regierung ansetzen und das ungerechte System beenden. SPIEGEL: Industrievertreter sagen: Wenn sie in Deutschland die volle Ökostromumlage bezahlen müssten, könnten sie auf dem Weltmarkt nicht bestehen. Wollen Sie diese Betriebe aus dem Land treiben? Asbeck: Wer als Unternehmer im harten internationalen Wettbewerb steht und bei der Produktion sehr viel Energie ver-

Asbeck (M.), SPIEGEL-Redakteure*

„Ich renoviere gern alte Gebäude“ D E R

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gen Stromkonzernen auf mehr als 1,4 Millionen Solardachbesitzer umverteilt: eine sehr positive Entwicklung. SPIEGEL: Die Monopolkommission schlägt vor, den Energieversorgern künftig eine Ökostromquote vorzuschreiben, die dann Jahr für Jahr ansteigt. Ob diese Quote mit Wind, Sonne oder Biomasse erfüllt würde, bliebe den Versorgungsunternehmen überlassen. Dadurch käme die jeweils effizienteste Technologie zum Zuge. In Schweden klappt das gut. Was halten Sie von der Idee? Asbeck: Nichts. Das hieße den Bock zum Gärtner machen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien würde gebremst, und Mitnahmeeffekte der Energieversorger würden gefördert. Außerdem würden dabei gerade Energieträger wie Geothermie und Biomasse aus nachwachsenden Rohstoffen aus dem Raster fallen. Wir brauchen aber alle Erzeugungsarten. Deshalb ist es sinnvoll, die einzelnen Anlagen und Energien differenziert zu fördern. SPIEGEL: Mit der Folge, dass wir fast 4000 verschiedene Einspeisetarife haben und ausgerechnet die ineffizienteste Technologie, nämlich die Photovoltaik, jahrelang die höchste Förderung erhielt. Wäre es nicht ökologisch und ökonomisch klug, sich auf jene Öko-Energien zu konzentrieren, die in Deutschland den höchsten Ertrag bringen? Asbeck: Die teuerste und ineffizienteste Technik ist heute die Windkrafterzeugung vor der Küste, deutlich teurer als Solar. Hier sollte es sich die Politik tatsächlich überlegen, ob es klug ist, riesige Windräder ins tiefe Meer zu bauen, deren Strom über Hunderte von Kilometern transportiert werden muss. Das Potential von Sonne und Wind an Land ist größer und billiger. SPIEGEL: Herr Asbeck, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

BURGHARD HÜDIG (L.); HORST RUDEL / IMAGO (R.)

Waffe von Andreas Baader, Justizvollzugsanstalt Stammheim 1977: „Raffiniertes Vorgehen“

sah das anders. Schließlich seien die zialkräfte befreiten die Geiseln in MogaLandesbehörden für die Sicherheits- dischu. Obwohl der Krisenstab im Kanzleramt kontrollen in den Gefängnissen zuständig, erklärte ein Sprecher des Bundesjustiz- kurz nach der Entführung Schleyers eine ministeriums. Und ohne dass die Öffent- Kontaktsperre für die Stammheimer lichkeit davon erfuhr, erhob die Bundes- Häftlinge verfügt hatte, erfuhr einer von regierung schwere Vorwürfe gegen die ihnen, Raspe, wohl mit Hilfe eines einStuttgarter Landesregierung. Das geht aus geschmuggelten Transistorradios von der bislang unbekannten Dokumenten her- geglückten Befreiungsaktion und informierte seine Mitinsassen. Am Morgen des vor, die dem SPIEGEL vorliegen. Nach den RAF-Selbstmorden im So kam das Bundesjustizministerium 18. Oktober entdeckten Gefängniswärter Stammheimer Gefängnis Anfang Dezember 1977 zu einem nieder- zwei RAF-Häftlinge tot in ihren Zellen, erhob das Kabinett Schmidt schmetternden Urteil. In einer Stellung- Raspe starb kurz darauf. Noch am selben schwere Vorwürfe gegen nahme, die Justizminister Hans-Jochen Tag wurde Schleyer ermordet. die Stuttgarter Landesregierung. Wie aber sollten sich die RAF-TerroVogel (SPD) an das Bundeskanzleramt sandte, heißt es unter anderem: Die „für risten im angeblich sichersten Gefängnis ls die Terroristen drei Tage tot wa- einen sicheren Vollzug der Haft an terro- der Welt selbst getötet haben? Hatten ren, wusste Hans Filbinger bereits, ristischen Gewalttätern zu treffenden deutsche Beamte die Häftlinge hingerichwen keine Schuld traf: ihn selbst. Maßnahmen“ hätten in wesentlichen Be- tet? Sympathisanten der RAF sprachen von Justizmord. Gerüchte waberten, Auf dem Parteitag der baden-würt- reichen „nicht funktioniert“. Bestehende Sicherheitsmaßnahmen auch weil die Landesregierung eine Wotembergischen CDU war er soeben im Amt des Vorsitzenden bestätigt worden. habe die baden-württembergische Auf- che nach der Todesnacht noch immer keiDas Thema des Tages waren die Er- sichtsbehörde weder „regelmäßig kon- ne Ermittlungsergebnisse veröffentlicht eignisse vom 18. Oktober, die als Nacht trolliert“ noch „lenkend beeinflusst“. Die hatte. Kanzler Schmidt wandte sich am 24. von Stammheim in die deutsche Ge- RAF-Terroristen seien weitgehend wie geschichte eingehen sollte. Andreas Baader, wöhnliche Kriminelle behandelt worden. Oktober persönlich an Ministerpräsident Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe hat- Und auch wenn noch weitere Untersu- Filbinger: „Die im Ausland zu verzeichten sich im siebten Stock der Justizvoll- chungen anstünden, sei bereits „offen- nenden Reaktionen“ machten eine Verzugsanstalt Stuttgart-Stammheim getö- sichtlich“, dass nicht „sorgfältig genug öffentlichung der Ermittlungsergebnisse tet – und Beamte hatten in den Zellen durchsucht worden ist“, so der Befund „zwingend erforderlich“. Diese sollten „unverzüglich bekanntgegeben“ werden. der RAF-Terroristen Verstecke für Schuss- des Bundesministeriums. Am 5. September 1977 hatten Mit- Zwei Tage später veröffentlichte die Stuttwaffen, Rasierklingen und 262 Gramm glieder der Roten Armee Fraktion den garter Landesregierung einen vorläufigen Sprengstoff gefunden. Die öffentliche Kritik richtete sich Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Bericht über die staatsanwaltlichen Ervor allem gegen die Stuttgarter Landes- Schleyer entführt, um die in Stammheim mittlungen. regierung. Der Rücktritt des Justiz- einsitzenden Terroristen freizupressen. Darin heißt es unter anderem, Besuministers genügte der SPD-Landtagsfrak- Doch die Bundesregierung gab nicht cherräume mit Trennscheiben seien in tion nicht, sie forderte die Demission nach. Ein palästinensisches Terrorkom- Stammheim nicht genutzt worden, weil des Ministerpräsidenten Filbinger. Der mando entführte daraufhin die Lufthan- RAF-Anwälte dagegen protestiert hätten. sprach in seiner Rede auf dem Parteitag sa-Maschine „Landshut“; deutsche Spe- Daher habe es „nicht verhindert“ werin Offenburg von einer Kamden können, dass die Verteidipagne gegen seine Regierung: ger zahlreiche Gegenstände hinEr werde nicht zulassen, dass ein- und herausgeschmuggelt die demokratisch gewählten hätten. Organe Baden-Württembergs Die Bundesregierung über„in die Gosse“ gezogen würden. zeugte diese Erklärung nicht. InEine Mitschuld gab er der nenminister Werner Maihofer Bundesregierung: „Der, dessen schrieb an das Kanzleramt: Es Firma oben steht, hat die Versei ihm neu, dass solche Schmugantwortung.“ geleien nicht zu verhindern seiDer, dessen Firma oben stand, en. Die Praxis in Stammheim, Kanzler Helmut Schmidt (SPD), Terroristen Raspe, Ensslin, Baader 1977: 262 Gramm Sprengstoff „Verteidigergespräche in RäuZEITGESCHICHTE

Hinter der Fußleiste

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Deutschland men ohne Trennscheiben“ zu erlauben, beruhe „auf einer zumindest angreifbaren Auslegung des Rechts“. Unverständnis zeigte Maihofer vor allem dafür, dass die Trennscheiben „allein aufgrund von Bedenken aus der Anwaltschaft“ wieder entfernt worden seien. Das Bundesjustizministerium warf der Stuttgarter Landesregierung weitere schwere Versäumnisse vor: Obwohl der „fragliche Trakt der Vollzugsanstalt Stammheim“ eigens für die terroristischen Häftlinge und „hinsichtlich ihrer persönlichen Gefährlichkeit“ ausgebaut worden war, habe man „bei der Planung und Ausführung der Baumaßnahmen speziell auf terroristische Gewalttäter zugeschnittene Sicherheitsmaßnahmen nicht ergriffen“. Daher sei es auch nicht richtig, die Anlage von Verstecken „allein mit dem außerordentlich raffinierten Vorgehen der Terroristen zu erklären“, wie es die Stuttgarter Landesregierung in ihrem vorläufigen Bericht getan hatte. Der Zustand der Hafträume habe es den Häftlingen erheblich erleichtert, Gegenstände zu verstecken – etwa in den Hohlräumen der Waschbecken oder hinter den Fußleisten. Es wäre hilfreich gewesen, so das Bundesjustizministerium, wenn die Häftlinge häufiger die Zellen hätten wechseln müssen. Ein regelmäßiger Zellentausch aber fand nicht statt. Während die Landesregierung konstatierte, die Selbstmorde hätten „schwerlich konkret vorausgesehen und auch nicht verhindert“ werden können, hieß es im Bericht des Bundesjustizministeriums, die Selbstmordabsichten hätten „jedenfalls während der Schleyer-Entführung die Ausgangshypothese“ sein müssen. Nicht nur zum Schutz der Häftlinge, sondern auch zum Schutz des Entführten, als „Sicherungsmaßnahme zur Lebenserhaltung von Schleyer“. Weitere Kritikpunkte Bonns betrafen die lückenhafte Kontrolle der weiblichen Gefangenen und die mangelhafte nächtliche Beobachtung der RAF-Häftlinge. Auch der Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags, der insgesamt 19-mal tagte und 79 Zeugen und Sachverständige zur Todesnacht von Stammheim vernahm, konnte die Frage, wie die Waffen in die Zellen gelangt waren, nicht abschließend klären. Doch er deckte weitere Unzulänglichkeiten auf. So waren Durchsuchungen in Stammheim auch deshalb kaum möglich gewesen, weil die Häftlinge im Schnitt 500 Bücher in ihren Zellen horteten. Metalldetektoren seien nur lückenhaft angewandt und Sprengstoffsuchgeräte gar nicht erst angeschafft worden. Und wegen Umbauarbeiten im Frühsommer 1977 hatten im Trakt der RAF-Häftlinge wochenlang Werkzeug und Baumaterialien herFELIX BOHR umgelegen. D E R

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KARRI EREN

Verschlossene Türen 65 Prozent aller Medizinstudenten in Deutschland sind Frauen. Aber nur wenige Ärztinnen schaffen es in Spitzenpositionen – das Beispiel des Uni-Klinikums Frankfurt lässt ahnen, warum.

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ls Inka Wiegratz merkte, dass jemand das Türschloss ihres Labors ausgetauscht hatte, beschloss sie, sich zu wehren. Bis zu jenem Tag im September 2012 hatte sie mehr als 20 Jahre lang für das Universitätsklinikum in Frankfurt am Main gearbeitet, zuletzt leitete sie den Schwerpunkt Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. An einen Wechsel hatte Wiegratz – habilitierte Gynäkologin und außerplanmäßige Professorin – nie gedacht. „Das war mein Traumjob. Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal froh sein würde, hier raus zu sein.“ Die Probleme hätten mit dem Antritt des neuen Klinikdirektors im Sommer 2012 begonnen, sagt sie. Auf der Website der Klinik habe er sie eine Hierarchieebene zurückgestuft, obwohl sie weiterhin denselben Job ausübte. Als er wenige Wochen später das Krankenhausteam auf einem Info-Blatt präsentierte, wurden Wiegratz und ihr Bereich nicht erwähnt. „Ich müsse lernen, mal ein paar Kröten zu schlucken, erklärte mir der Direktor“, sagt die 49-Jährige, inhaltliche Gründe seien nicht angeführt worden. Die Oberärztin beschwerte sich beim Klinikvorstand; sie machte klar, dass sie die Degradierung nicht still hinnehmen würde, und es fiel der Satz, dass sie unter diesen Umständen nicht an der Fachklinik bleiben wolle. Daraufhin musste Wiegratz ihre Teilnahme an Fachtagungen und Vorlesungen absagen, nichts davon sei „im Interesse des Klinikums“, wie ihr ein Hausjurist schriftlich mitteilte. Die Ärztin sollte wieder Nachtdienste übernehmen – und schließlich passte der Schlüssel zu ihrem Labor nicht mehr. Ihr Chef spricht von einem „bedauerlichen Missverständnis“. Seine Entscheidungen seien auf wichtige Umstrukturierungen innerhalb der Klinik zurückzuführen, die er gleich nach seinem Amtsantritt angepackt habe. Bei der Neugestaltung der Website und der Flyer habe er allein eine Aufwertung anderer Klinikbereiche im Sinn gehabt. Von „Kröten schlucken“ habe er nie gesprochen, in dem Vieraugengespräch habe er Wiegratz nur um etwas Geduld 40

und Zeit bei der Neuausrichtung der Klinik gebeten. Nachtdienste habe ihr Vertrag nicht ausgeschlossen. Und der Austausch der Schlösser? Eine „Routinemaßnahme“, nachdem Wiegratz mit ihrer Kündigung gedroht habe. Zwei Seiten, zwei Sichtweisen – die Medizinerin und der Mediziner könnten sich wohl nur noch auf einen Punkt einigen: Am Ende sei das Vertrauensverhältnis „leider irreparabel zerstört“ gewesen, wie es der Klinikdirektor ausdrückt. Das kommt häufiger vor in der Arbeitswelt und wäre kaum berichtenswert, wenn man hinter Wiegratz’ Fall nicht System vermuten müsste: ein diskriminierendes Kliniksystem, in dem Frauen benachteiligt werden. Wiegratz, Mutter zweier Kinder, hatte sich in ihrem Fachgebiet nach oben gekämpft, es gibt nicht viele habilitierte Oberärztinnen in Frankfurt. Sie ist sich sicher zu wissen, woran sie schließlich scheiterte: an patriarchalischen Strukturen und männlichen Seilschaften im Klinikalltag. 65 Prozent der Humanmedizinstudenten und mehr als 40 Prozent der praktizierenden Ärzte in Deutschland sind Frauen. Aber in den Kliniken stellen sie nicht mal 10 Prozent der Direktoren und Lehrstuhlinhaber. Das ergab eine Zählung der Initiative „Pro Quote Medizin“, die sich für eine Frauenquote von 40 Prozent auf medizinischen Führungspositionen einsetzt. „Die Medizin ist eine der letzten Männerbastionen dieser Republik“, sagt Gabriele Kaczmarczyk, eine der Initiatorinnen, „von Chancengleichheit kann hier keine Rede sein.“ Firmen wie die Telekom haben das Potential des weiblichen Nachwuchses erkannt und sich Frauenquoten verordnet. In der Medizin hingegen sträuben sich die Halbgötter in Weiß gegen weibliche Konkurrenz und einen möglichen Wandel ihres eigenen Berufsbilds. „Die Feminisierung der Medizin sollte endlich als Chance und nicht fälschlich als Bedrohung empfunden werden“, sagt die Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbunds, Regine Rapp-Engels. Ärztinnen würden „die Medizin durch ihre hohe soziale und patientenorientierte Kompetenz bereichern und häufig bessere Therapieerfolge erzielen“. D E R

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An den Uni-Kliniken ist der Konkur- mit multiresistenten Keimen: Jeder weiß, renzdruck besonders groß. „Hier konzen- dass es sie gibt, aber kaum einer redet trieren sich Geld und Macht“, sagt die darüber. Die Gynäkologin steht inzwischen mit Pro-Quote-Aktivistin Kaczmarczyk, „wer dort etwas zu sagen hat, bestimmt in weiteren Ärztinnen in Kontakt, die das Theorie und Praxis die Medizin von Klinikum ebenfalls wütend verlassen haben – oder kurz davor sind zu kündigen, morgen.“ Mit rund 4000 Angestellten gehört das weil sie sich von ihren männlichen VorFrankfurter Klinikum zu den großen gesetzten systematisch diskriminiert fühMedizinzentren in Deutschland. Wie in len. Eine solche Kollegin, die inzwischen vielen Uni-Kliniken gibt es kaum Frauen als Chefärztin an einer anderen Klinik auf einflussreichen Positionen. Nur 2 von praktiziert, sagt: „Mein damaliger Vorge34 Klinikdirektoren sind weiblich, unter setzter erklärte mir: Man muss nur jemanden Chefärzten ist der Anteil nicht viel den zum Opfer machen, dann kann man höher. Der Vorstand des Klinikums hat ihn auch opfern.“ Sie habe schließlich schon vor Jahren einen 17-seitigen Frauen- gekündigt, auch weil der Klinikvorstand förderplan verabschiedet, darin wird eine nicht eingeschritten sei. Die männliche „gender-gerechte Personalentwicklung“ Konkurrenz habe „letzten Endes immer den besseren Draht in die wichtigen angemahnt. Doch in der Praxis wurde eine Reihe Gremien“. Für die Frauenbeauftragte des FrankÄrztinnen offenbar eher behindert als gefördert. „Die Rechtsabteilung hat zig furter Uni-Klinikums, Elke Kreiss, sind solcher Fälle auf dem Tisch liegen“, sagt diese Klagen nichts Neues. Vor zwei Moeine Frau, die bis vor wenigen Monaten naten hat Kreiss einen Fragebogen an alle als persönliche Mitarbeiterin des Klinik- Chefärzte verschickt. Diese sollen über vorstands tätig war und an vielen wichti- den Frauenanteil in ihrer Fachklinik begen Sitzungen teilnahm. Als sie kündigte, richten und über konkrete Maßnahmen, musste sie eine Verschwiegenheitsklausel wie dieser gesteigert werden könnte. unterzeichnen. Sie wolle aber nicht län- „Universitätskliniken funktionieren noch ger über die erlebten Ungerechtigkeiten nach einem sehr konservativen System“, schweigen; nur ihren Namen will sie nicht sagt Kreiss, „die älteren männlichen Chefärzte fördern am liebsten ihr junges, veröffentlicht sehen. Die promovierte Ärztin mit MBA- männliches Ebenbild.“ Ein Mentoring-Programm für junge Abschluss berichtet, sie habe wiederholt miterlebt, wie Ärztinnen im Frankfurter Fachärztinnen ist gerade gescheitert. Klinikum systematisch ausgebremst oder Kreiss aber lässt sich nicht entmutigen: in Sitzungen ignoriert worden seien. „Für „Schon aus demografischen Gründen wird es für die Zukunft des Klinikums entscheidend sein, die hochqualifizierten Frauen entsprechend einzubinden.“ Im Vorstand der Klinik sieht man allerdings keinen Handlungsbedarf. Zwar bestätigt Jürgen Schölmerich, Vorstandsvorsitzender und Ärztlicher Direktor des Klidie Frauen ergreift niemand Partei“, sagt nikums, einige „bedauerliche Einzelfälle“, sie. „Im Gegenteil: Oft wird dann hinter in denen renommierte Ärztinnen das Haus verlassen hätten. Im Detail könne ihrem Rücken noch gewitzelt.“ Sie habe dieses Vorgehen zwar mo- er sich zu den Fällen aber nicht äußern. niert, aber nur ein müdes Lächeln ge- Nur so viel: „Frau Wiegratz hat erst münderntet – und die Warnung, sich nicht für lich gekündigt und es sich dann anders die falschen Leute starkzumachen. „Die überlegt. Das war nicht gerade hilfreich.“ Schölmerich gibt allerdings zu, dass die Ärztinnen werden geduldet, aber die Macht teilen sich die grauen Herren unter- „alten Boys’ Clubs“, wie er sie nennt, in einander auf“, behauptet die ehemalige der Medizin und auch in seinem Klinikum noch immer dominierten. Von einer Mitarbeiterin. Interne Kritik und Verbesserungsvor- Quote für Chefärztinnen hält er trotzdem schläge seien nicht erwünscht. Wer diese nichts: „Ich glaube nicht, dass man da mit „militärischen Strukturen“ nicht akzep- Druck etwas erreichen kann, das ist eine tiere, werde als Störenfried weggemobbt. Sache, die sich entwickeln muss, das „Da haben sie als Frau keine Chance, braucht Zeit.“ Manch talentierte, ehrgeizige Medizidenn die Entscheider sind alle Männer.“ Die Erfahrungen von Inka Wiegratz nerin hat keine Lust, auf solche Selbstsind keine Seltenheit – ungewöhnlich ist heilungskräfte zu vertrauen. Das kennt nur, dass sie ihre Empörung öffentlich der Klinikchef aus seiner Familie. Seine macht. Mit Fällen von Diskriminierung Tochter, ebenfalls Ärztin, habe gerade wird in Kliniken gern umgegangen wie eine Stelle in Schweden angenommen. Er sagt: „Die Arbeitsbedingungen für Frauen und ihre Familien sind dort einGynäkologin Wiegratz fach besser.“ „Das war mein Traumjob“ SIMONE KAISER

TIM WEGNER / DER SPIEGEL

Jeder weiß, dass es Diskriminierung gibt, aber kaum einer redet darüber.

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Deutschland GRÜNE

Ein Herz für Sittenstrolche Mit einer Streitschrift rechtfertigten Berliner Grüne einst Sex mit Kindern. Später verschwiegen sie die peinliche Broschüre.

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MARTIN STORZ / GRAFFITI

in Mädchen, um die fünf Jahre alt, sitzt auf dem Boden. Es lächelt in die Kamera, die Schenkel sind gespreizt. Das Mädchen ist nackt. Ein paar Seiten weiter streichelt ein erwachsener Mann einen kleinen Jungen, beide sind unbekleidet. Auf einem Foto ist der Penis des Mannes zu sehen. Eine Zeichnung zeigt einen kleinen Knirps mit Limo ne- Streitschrift für Pädophilie, 1980: „Die Ursache liegt in der Mehrheit der Fälle beim Kind“ ben einem großen breiten Mann mit Bier. Auch Rezzo Schlauch erinnert sich an Die beiden sitzen an einem Tresen. In Sexualstrafrecht zugunsten Pädophiler zu der Denkblase des Jungen steht: „Wie reformieren, findet sich in den achtziger die Debatten rund um NRW. Er war von mach’ ich’s nur, daß er’s mit mir treibt?“ Jahren sowohl im Grundsatzprogramm Anfang an bei den baden-württemberDie 68 Seiten starke Broschüre mit dem der jungen Bundespartei als auch in fünf gischen Grünen, später machte er als Bundestagsabgeordneter und als Parlaroten Herz auf dem Titel birgt zahlreiche Landtagswahlprogrammen. Selbst die vergleichsweise konserva- mentarischer Staatssekretär Karriere in Illustrationen dieser Art. An einer Stelle im Text heißt es: „Wenn es zu einem ge- tiven baden-württembergischen Grünen Berlin. Schlauch bestreitet, dass sich die Grüschlechtlichen Kontakt zwischen Kind machten sich zu Anwälten der Pädophiund Erwachsenem kommt, liegt die Ur- len. Der dortige Landesvorstand verab- nen im Südwesten mit den Forderungen sache in der Mehrheit der Fälle beim schiedete im März 1985 ein Papier für den der Pädophilen gemeingemacht hätten: bevorstehenden Parteitag in Blaubeuren. „Ich erinnere mich an die Diskussionen, Kind.“ Der Parteivorstand halte eine teilweise ja. Wir haben uns an den NordrheinHerausgegeben und finanziert wurde die pädophile Streitschrift 1980 vom „Be- Entkriminalisierung des Sexualstrafrechts Westfalen gerieben, wir waren da weit, reich Schwule“ der Alternativen Liste für „dringend notwendig“, heißt es darin. ganz weit entfernt von, da bin ich mir (AL) für Demokratie und Umweltschutz Gemeint sind ausdrücklich auch die Straf- sicher.“ Archivunterlagen belegen etwas andein West-Berlin, aus der im Mai 1993 die gesetzbuchparagrafen 174 und 176, die Berliner Grünen hervorgingen. Der Titel sexuellen Missbrauch von Kindern und res. Trotz des NRW-Debakels wollten die der Broschüre: „Ein Herz für Sittenstrol- Jugendlichen unter Strafe stellen. Der Par- Grünen im Südwesten den Pädo-Aktivische“. Bis heute wird sie von Pädophilen teivorstand bemängelt unter anderem, ten entgegenkommen. Man plädiere für als herausragendes Werk gelobt und ver- dass das Strafrecht zu scharf sei und nicht Regelungen im Strafrecht, die dem zwischen „sanktionswürdigen Fällen“ Grundsatz „Im Zweifel für die Freiheit“ breitet. folgten, heißt es in der Vorlage der GrüSchriftstücke wie diese bringen die und „Bagatellsachen“ unterscheide. Das Erstaunliche an dem Papier des nenspitze für den Parteitag. Einen BeGrünen derzeit in Erklärungsnot. Seit Monaten gibt es eine Debatte über den Ein- Landesvorstands: Wenige Wochen zuvor schluss fassten die Delegierten allerdings war es in Nordrhein- nicht. Als das Thema zur Sprache kam, fluss pädophiler AktivisWestfalen zum sogenann- war der Parteitag nicht mehr beschlussten auf die damals frisch ten Kindersex-Skandal fähig. gegründete Ökopartei. gekommen. Nach der Die Grünen tun sich schwer mit ihrer Nach öffentlichem Druck öffentlichen Diskussion Vergangenheit, das zeigt auch das Beibeauftragte die Parteiüber ein Arbeitspapier, spiel des Berliner Landesverbands. Er spitze vor drei Monaten das „gewaltfreie Sexuali- machte sich schon vor drei Jahren daran, Wissenschaftler der Unität“ zwischen Erwachse- die Umtriebe Pädophiler in den eigenen versität Göttingen, „Umnen und Kindern erlau- Reihen aufzuklären. Im Abschlussbericht fang, Kontext und Ausben wollte, hatten die heißt es zwar selbstkritisch, dass die wirkungen pädophiler Grünen den Einzug in Partei pädophilen Aktivisten „aus falsch Forderungen in den Miden Düsseldorfer Land- verstandener Toleranz“ nicht konsequent lieus der Neuen Sozialen tag verpasst. Es war eine genug entgegengetreten sei. Bewegung sowie der Zäsur für die Grünen: Andererseits findet sich in dem Bericht Grünen“ zu untersuchen. Die Partei realisierte, kein Wort zu der pädophilen Streitschrift Die ersten Zwischendass sie sich unmöglich „Ein Herz für Sittenstrolche“. Dabei gab ergebnisse des Forschermacht, wenn sie die An- sich damals sogar ein Mitglied des AL-Vorteams rund um den Poliliegen von Pädophilen stands dafür her, das Vorwort für die Brotologen Franz Walter zei- Grünen-Mitglied Schlauch weiter unterstützt. schüre zu schreiben. ANN-KATRIN MÜLLER gen: Die Forderung, das „Ganz weit entfernt“ 42

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BJÖRN KIETZMANN / ACTION PRESS

Flüchtlingskinder am Berliner Oranienplatz: „Rechtswidriger Zustand“

Oranienplatz. Seit zehn Monaten demonstrieren Flüchtlinge hier in einem Zeltlager für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen in Deutschland. Der hilflose, zuweilen widersprüchliche Umgang mit den Armen und VerfolgDulden oder räumen? In Berlin ten dieser Welt ist quer durchs Land zu besichtigen. Weil die Asylbewerberzahund anderen Städten len, wie vorige Woche gemeldet, im erssuchen Politiker nach Lösungen ten Halbjahr um über 80 Prozent gestieim Umgang mit gen sind, fehlen vielerorts Unterkünfte. Protestcamps von Flüchtlingen. Vor allem aber fehlen politische Antworten auf die Forderungen der mehrls Kinder von Asylbewerbern kürz- heitlich aus Afrika, Syrien und dem Kaulich im Berliner Stadtteil Reini- kasus geflohenen Menschen. Sie beschweckendorf einen Spielplatz in der ren sich über Reise- und Arbeitsverbote Nachbarschaft besuchen wollten, kamen sowie die Unterbringung in oft abgelegesie nicht weit: Anwohner hatten Anfang nen Heimen. Protestcamps gibt es inzwischen in August um Sandkiste und Rutsche eigens Hamburg, München und über einem den vorhandenen Zaun erhöht. Sie fürchten, dass sich ihre Kinder bei Dutzend weiterer Städte. Und besonders Altersgenossen aus dem Flüchtlingsheim angespannt ist die Lage in Berlin, wo mit Windpocken infizieren könnten. CDU, SPD und Grüne seit Wochen über die Zukunft des Zeltlagers streiten: Oder mit Tuberkulose. dulden oder gewaltsam In der Hauptstadt räumen? spricht sich so was schnell Am Oranienplatz dampherum. Deshalb organi- Erstanträge auf Asyl fen große Kochtöpfe unter sierten linke Aktivisten in Deutschland freiem Himmel. Vor einer wenige Tage später einen 127937 improvisierten Küchenzei„antirassistischen Spiel- 125000 2013 le warten Männer wie der und Badetag“ – die zugeJan. bis Juni türkische Asylbewerber reisten Kinder sollten sich 43 000 Turgay Ulu auf ihre Mahlim Viertel willkommen 100000 +87% gegenüber dem zeit, Reis mit Curry, dazu fühlen. Doch diesmal Vorjahresetwas Fleisch. „Der Alltag stellten sich die örtlichen zeitraum in deutschen FlüchtlingsBehörden quer: Sie unter75000 heimen besteht aus Essen sagten das Aufstellen von und Schlafen, man hat keiHüpfburgen und Torwänne Kontakte zur Außenden vor dem Asylbewerwelt“, sagt Ulu. So habe berheim. 50000 er es in mehreren UnterAlso schickten die Akkünften erlebt, bevor er tivisten die Kleinen zum im vergangenen SeptemSpielen dorthin, wo alles 25000 ber mit anderen Asylerlaubt scheint, wo sich bewerbern in einem Proder Staat mit seinen ReQuelle: Bundesamt für testmarsch von Würzburg geln und Verordnungen Migration und Flüchtlinge 0 in die Hauptstadt gezoin die Büsche geschlagen 1995 2010 gen sei. hat: an den Kreuzberger ASYLBEWERBER

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Seither beschäftigt das Zeltlager die Phantasie der Berliner. Mal geht es um eine Rattenplage, mal um eine Messerstecherei. Türkische Anwohner beklagten sich über die neuen Migranten in ihrem Viertel, während linke Aktivisten die Flüchtlinge bei Straßenblockaden und anderen Protestaktionen unterstützten. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. „Die Situation am Oranienplatz ist weder im Interesse der Flüchtlinge noch im Interesse der Anwohner“, sagt Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU). Er sieht das Kreuzberger Zeltlager in einem „rechtswidrigen Zustand“ und würde es am liebsten kurzerhand auflösen. Die Asylbewerber müssten dann in jene Bundesländer zurückziehen, aus denen sie – gegen die Residenzpflicht verstoßend – nach Berlin gekommen sind. Doch das zuständige Bezirksamt weicht von der Senatslinie ab. „Das ist politische Willkür, was dort passiert“, sagt Henkel. Kreuzberger Lokalpolitiker dürften die Menschen am Oranienplatz nicht länger „instrumentalisieren“. Monika Herrmann (Grüne), die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, wehrt sich vehement gegen die Vorstöße des Innensenators. Sie beklagt, dass Asylbewerber in Deutschland in Lagern „eingepfercht“ leben müssten, und unterstützt deshalb die Forderungen ihrer neuen Kiezbewohner. Die Verantwortlichen auf Bundes- und Landesebene würden sich vor einer Auseinandersetzung mit den Flüchtlingen „drücken“, sagt Herrmann: „Das ist hier kein Feriencampingplatz, sondern ein politisches Mahnmal.“ Auf Bezirksebene jedoch kann Monika Herrmann das Problem nicht lösen. „Wir leisten unseren Beitrag, indem wir die Besetzung des Platzes dulden“, sagt sie. „Wir können Toiletten und Mülltonnen aufstellen, wirklich helfen können wir nicht.“ Henkel lässt in seiner Senatsbehörde unterdessen prüfen, ob er über die Bezirksaufsicht eingreifen kann. Bis Ende September soll das Ergebnis vorliegen. Dann könnte es zur Räumung des Platzes kommen. Die Flüchtlinge um Turgay Ulu wollen auch in diesem Fall nicht aufgeben. Einige Fortschritte hätten sie schließlich schon erreicht, sagt der türkische Asylbewerber: In Niedersachsen können Sachgutscheine jetzt durch Bargeldzahlungen ersetzt werden. „Und in Hessen haben wir die Residenzpflicht erfolgreich bekämpft.“ Für die Zeit nach der Bundestagswahl haben die Flüchtlinge ohnehin schon ein neues Ziel ins Auge gefasst. Sollten sie ihr Camp am Oranienplatz verlieren, wollen sie weiterziehen, knapp 800 Kilometer, nach Brüssel, wo über die europäische Flüchtlingspolitik entschieden wird. Im Mai 2014 sind Europawahlen. ÖZLEM GEZER, MARTIN NIEWENDICK, MAXIMILIAN POPP

Organtransport am Flughafen Düsseldorf: „Ärzte wägen aufmerksamer ab, wem sie ein Organ geben“

ANDREAS HUB / LAIF

SPIEGEL: Sind Sie für harte Sanktionen, MEDIZIN

„Um Leben und Tod“ Eurotransplant-Chef Bruno Meiser erklärt den Rückgang der Organspenden und fordert harte Strafen für kriminelle Ärzte. Meiser, 50, leitet das Transplantationszentrum am Universitätsklinikum München-Großhadern. Der Herzchirurg ist seit 2005 Präsident von Eurotransplant. Die Stiftung vergibt die Spenderorgane in Deutschland und sieben weiteren europäischen Ländern. SPIEGEL: Herr Meiser, allein in den deutschen Transplantationszentren gab es in den vergangenen Jahren rund 250 Regelverstöße. In den meisten Fällen ließen Mediziner ihre Patienten kränker erscheinen, um ihnen ein Spenderorgan zu sichern, das ihnen laut Warteliste nicht zustand. Ist das System der Organverteilung gescheitert? Meiser: Ich bin unheimlich enttäuscht, dass es Ärzte gegeben hat, die dieses System dermaßen missbraucht haben. Das hätte ich mir bis vor einem Jahr nicht vorstellen können. Aber dass das System funktioniert, sieht man schon daran, dass die Verstöße aufgedeckt wurden und wir sowie die Bundesärztekammer wesentlich zur Aufklärung beigetragen haben. SPIEGEL: Die Wahrheit über die Manipulationen wurde doch allenfalls scheibchenweise bekannt.

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Meiser: Mir ist auch vieles viel zu langsam gegangen. Aber die Aufklärung ist eben sehr gründlich gemacht worden. Das dauert, und ohne die Expertise der Transplantationsmediziner in den verschiedenen Gremien wären viele Dinge kaum entdeckt worden. Staatliche Stellen allein wären vollkommen überfordert gewesen. SPIEGEL: In dieser Woche beginnt vor dem Landgericht Göttingen der Prozess gegen den Transplantationsmediziner Aiman O. In 14 Fällen soll er bei der Organvergabe die Unterlagen seiner Patienten manipuliert haben, um sie auf der Warteliste nach oben zu befördern. O. bestreitet die Vorwürfe. Was erwarten Sie von dem Verfahren? Meiser: Es wird ein Musterprozess, der wahrscheinlich auch über die weiteren Ermittlungen in anderen Zentren entscheidet. Sofern Herrn O. strafrechtlich relevantes Fehlverhalten nachgewiesen werden kann, sollte er entsprechend belangt werden. Dann muss es aber auch standesrechtliche Konsequenzen bis hin zum Entzug der Approbation geben. Dieses Signal wäre wichtig, auch für die Mitarbeiter in den Kliniken. D E R

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weil die Transplantationsmediziner nach dem Bekanntwerden der Manipulationen als Clique von Kriminellen gelten? Meiser: Leider hat die Reputation der Transplantationsmediziner erheblich unter dem Fehlverhalten Einzelner gelitten. Früher ist man uns mit einer gewissen Hochachtung begegnet. Wenn man heute erzählt, was man beruflich macht, gibt es schon mal eine blöde Bemerkung wie: Na, noch nicht im Gefängnis? SPIEGEL: Selbst renommierte Transplantationsmediziner haben schon vor dem Bekanntwerden der Skandale das Vergabesystem kritisiert. Die Kriterien für die Platzierung auf der Warteliste seien ungerecht. Meiser: Diese Kollegen sollen mir erst mal ein besseres System nennen. Was mich auch wundert: Viele Kritiker waren an der Entwicklung beteiligt. Warum haben sie damals nicht ihre Bedenken geäußert? SPIEGEL: In den USA leben die Patienten nach einer Transplantation im Durchschnitt länger. Warum? Meiser: Das hat mehrere Gründe. In den USA gibt es mehr Spender, und die sind im Schnitt jünger. Darüber hinaus wird an jeder Klinik erfasst, wie lange Patienten nach einer Operation noch leben, und die Statistiken werden veröffentlicht. Dieses Register hat zu einer Selbstregulierung geführt: Weil Ärzte eine schlechte Platzierung ihrer Klinik in dem Ranking fürchten, wägen sie aufmerksamer ab, wem sie ein Organ geben – und wem nicht. Der einzelne Arzt überlegt genau, ob er einen schwerstkranken Patienten mit geringen Überlebenschancen trans-

Deutschland spielen. Vielleicht wartet ja auf der Liste gerade eine jüngere Mutter mit drei Kindern. Und wie argumentieren Sie dann? SPIEGEL: Der Göttinger Aiman O. soll – was er bestreitet – einer Mutter zweier Kinder eine Leber beschafft haben, obwohl die Frau anders als vorgeschrieben nicht seit sechs Monaten alkoholabstinent war. Eigentlich eine gute Tat, jedenfalls für diese Mutter. Meiser: Ja, aber auch ein klarer Regelverstoß. Wenn ich diese Frau rette, weiß ich nicht, ob auf der Liste gerade ein Mensch stirbt, der das Organ dringender gebraucht und dem es zugestanden hätte. Dafür gibt es unser System der Wartelisten. SPIEGEL: Sie übertreiben, der andere Wartende auf der Liste muss ja nicht gleich sterben. Meiser: Sie dürfen eines nie vergessen: Bei der Transplantation geht es nicht um Kreuzschmerzen, sondern meistens um Leben und Tod. SPIEGEL: Womöglich wäre das System besser, wenn der Staat stärker eingriffe, wie es nun einige Politiker fordern. Meiser: Ein Bundesinstitut für Transplantationen würde uns keinen Schritt weiterbringen – unter anderem weil man die dafür notwendigen Experten nicht fände. Was glauben Sie, wie viele Transplantati-

ANDREAS STEEGER / KUM

plantiert, obwohl ein nicht ganz so kranker Patient einen größeren Nutzen hätte. SPIEGEL: Warum gibt es in Deutschland ein derartiges Register nicht? Meiser: Inzwischen werden auf der Website der DSO, der Deutschen Stiftung Organtransplantation, Überlebensraten von Transplantationszentren veröffentlicht. Das ist vielleicht noch zu wenig bekannt. Und es reicht bei weitem nicht aus. Ich plädiere seit Jahren für ein Register, das Empfänger- und Spenderdaten, aber auch Informationen wie Überlebensraten und Abstoßungsreaktionen miteinander kombiniert. Diese Erkenntnisse brauchen wir für bessere Verteilungsregeln. Bisher fehlte leider der Wille. SPIEGEL: Inwiefern? Meiser: Einige Kliniken scheuen sich, Ergebnisse veröffentlicht zu sehen. Keine Klinik möchte am Pranger stehen, wenn die Überlebensraten im Vergleich schlechter sind. Inzwischen haben aber die Politiker eingesehen, dass wir ein solches Register brauchen, und ein entsprechendes Gutachten bestellt. SPIEGEL: Brauchen wir nicht auch die Diskussion, wer überhaupt ein Spenderorgan erhalten soll? Meiser: Sicherlich, die hat auch schon eingesetzt. Die Zentren sind meiner Meinung nach durch den Skandal erheblich vorsichtiger geworden, allein schon bei der Frage, wen sie auf die Liste für Transplantationen setzen sollen. Die Neuanmeldungen zur Warteliste für ein Organ sind in diesem Jahr um 24 Prozent zurückgegangen. Das hängt nicht damit zusammen, dass es weniger Kranke gäbe. Vielmehr wird in den nun vorgeschriebenen interdisziplinären Konferenzen intensiver über jeden Patienten diskutiert. Sollte dieser Patient wirklich ein neues Organ erhalten, wie viele Jahre könnte er damit noch leben? Die verantwortlichen Ärzte müssen am Ende mit ihrem Namen das Protokoll unterschreiben. Das hat eine andere Verbindlichkeit. SPIEGEL: Viele Experten kritisieren, dass Patienten ein Organ erhalten, die schon zu alt und zu krank dafür sind. Meiser: Mit der Kritik tue ich mich schwer. Ich bin nachdrücklich für die Vergabe nach rein medizinischen Kriterien. Es gibt 60-Jährige, die topfit sind, und 30-Jährige, die multimorbide sind. Und wie sollen wir beurteilen, ob ein jüngerer Mensch allein aus Altersgründen ein größeres Anrecht zu leben hat als ein älterer? Wir bewerten ja auch nicht, ob sich jemand sein Leben lang sozial engagiert hat oder mehrmals im Gefängnis saß. SPIEGEL: Wenn man potentielle Spender fragt, würden sie ihr Organ am liebsten Kindern, jungen Menschen, Müttern und Vätern geben. Meiser: Auch darauf darf es nicht ankommen. Die Tatsache, dass eine Frau Mutter von zwei Kindern ist, darf keine Rolle

Herzchirurg Meiser

„Früher ist man uns mit einer gewissen Hochachtung begegnet.“ onsmediziner ihren Job aufgeben und in eine Bundes-Oberbehörde wechseln würden? Die internationale Kooperation innerhalb von Eurotransplant bietet enorme Vorteile. Dadurch können wir zum Beispiel hochdringlichen Patienten in Deutschland viel schneller passende Organe vermitteln. SPIEGEL: Eurotransplant und DSO sind privatrechtlich organisierte Stiftungen, die Bundesärztekammer ist eine Lobbyorganisation. Warum trifft nicht der Staat so wichtige Entscheidungen? Meiser: Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass privatrechtliche Organisationen die Organspende- und vergabe organisieD E R

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ren. Soll etwa der Bundestag darüber entscheiden, wer ein Organ bekommt? Noch einmal: Nicht das System hat versagt, einige wenige Ärzte haben das System ausgenutzt. SPIEGEL: Nun müssen Sie nur noch die Bevölkerung überzeugen, Organe zu spenden. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres gab es 15 Prozent weniger Organspender im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Und das Niveau war vorher schon niedrig. Ist das eine Reaktion auf die Skandale? Meiser: Es gibt natürlich Menschen, die ihren Spenderausweis zurückgeschickt haben. Aber die Zurückhaltung der Ärzte ist viel entscheidender. SPIEGEL: Das müssen Sie uns erklären. Meiser: Jede Organspende setzt hochmotivierte Klinikärzte voraus. Die Hirntoddiagnose muss erfolgen, mit den Angehörigen ausführlich gesprochen und der Hirntote weiter intensivmedizinisch stabilisiert werden. Diese Motivation ist dahingeschmolzen, nachdem die Ärzte gesehen haben, dass Transplantationsmediziner manipuliert haben. Wir müssen das Vertrauen der Kollegen zurückgewinnen. Sonst bleibt es für sie viel einfacher, gleich den Bestatter zu rufen. SPIEGEL: Wie wollen Sie die Spenderzahlen steigern? Meiser: Es ist schwer, aber zu schaffen. Nehmen Sie das Beispiel Kroatien: Vor rund sechs Jahren standen wir vor der Frage, ob wir das Land bei Eurotransplant aufnehmen sollen. Damals hatte Kroatien zwischen 5 und 8 Organspender pro einer Million Einwohner, nun sind es 34 Spender. Deutschland liegt bei rund 12. SPIEGEL: Worin liegt das Geheimnis? Meiser: Die Kroaten haben das Spendesystem an vielen Stellen professionalisiert. Zum Beispiel: Ein deutsches Krankenhaus bekommt mit allem Drum und Dran maximal 3900 Euro für eine Multiorganentnahme. In Kroatien erhält eine Klinik 7000 Euro. In Spanien sind es übrigens 6000 Euro plus eine Stundenvergütung. SPIEGEL: Die Bundesregierung stellt in diesem Jahr erstmals sechs Millionen Euro für Transplantationsbeauftragte zur Verfügung. Sie sollen in den Kliniken für eine bessere Koordination der Organspenden sorgen. Meiser: Im Prinzip ein sehr guter Ansatz. Das Geld wird aber an die Kliniken nach der Zahl aller Toten verteilt. Krankenhäuser mit großen onkologischen Stationen und damit hohen Todesraten bekommen demnach am meisten Geld. Das aber ergibt keinen Sinn: Krebskranke sterben in aller Regel nicht am Hirntod, die Organe sind meistens nicht verwendbar. Das Geld sollte gemäß der Zahl der Hirntoten verteilt werden. Und es darf dann nicht im Klinikhaushalt verschwinden, sondern muss direkt an die Koordinatoren gehen, die die Arbeit machen. INTERVIEW: UDO LUDWIG, ANTJE WINDMANN

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Szene

Mohammed Javid, 32, Zirkuskünstler in Afghanistan, über Nervenkitzel: „Ich habe drei Jahre lang geübt, bis ich dieses Auto an der Wand halten konnte. Ich trete damit in einem Zirkus auf, mein Boss zahlt mir zehn Dollar pro Show. Länger als zehn Minuten halte ich die Fahrt nicht durch. Es ist wichtig, nicht zu langsam oder zu schnell zu fahren. Meistens fahre ich mit 40 Stundenkilometern. Ich muss aufpassen, das Auto ist ja nicht mehr so neu. Ich habe bei jeder Fahrt Angst zu sterben, aber mir ist zum Glück noch nie etwas Ernsthaftes passiert. Zu meinen Auftritten kommen jedes Mal 200 Leute. Sie fotografieren mich, sie freuen sich, dass sie ein Auto einmal nicht nur auf der Straße sehen. Ich finde, wir sollten mehr aufregende Dinge im Leben tun. Aber ich bin auch froh, dass ich nichts zahlen muss, wenn das Auto einmal kaputtgehen sollte. Der Zirkus hat es mir geliehen.“

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Warum sind Möpse in Mode gekommen, Frau Schünemann?

SPIEGEL: Frau Schünemann, weshalb laufen in deutschen Großstädten mit einem Mal so viele Möpse herum? Schünemann: Der Mops ist so etwas wie der Golden Retriever für die Stadt. Im Allgemeinen haben Deutsche am liebsten große, repräsentative Hunde. In der Stadt ist man mit einem Mops aber besser unterwegs. Er ist freundlich, hat Speckröllchen, ein Kindchengesicht. Er wirkt durch seine ausgleichende Art entschleunigend. Er passt zum Lebensgefühl vieler Menschen. SPIEGEL: Was macht dieses Gefühl aus? Schünemann: In großen Städten leben in der Regel viele Singles und Individualisten. Der Mops ist ihr idealer Begleiter. Er ist flexibel und dekorativ. Manche Menschen finden ihn auf rührende Weise hässlich, wegen seines schweineartigen Schwänzchens und seines Schnaufens. Der Mops trägt Ironie in sich. Er passt zu der weitver-

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breiteten Attitüde in der Stadt, dem Lebensgefühl der Hipster. SPIEGEL: Leidet der Mops unter seiner Besonderheit? Schünemann: Auf jeden Fall. Der Mops stellte lange Zeit etwas sehr Progressives dar, Züchter haben seine Schnauze in den letzten hundert Jahren fast zum Verschwinden gebracht. Seine Augen quellen dadurch extrem hervor. Vieles im Inneren der Mops-Nase und im Rachenraum ist aber zu groß, des-

ARIANE LOHMAR / MAURITIUS IMAGES / IMAGEBROKER

Früher wurde er belächelt, seit kurzem ist der Mops ein beliebtes Haustier. Die Hamburger Trendforscherin Antje Schünemann, 32, erklärt, warum.

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halb hat er oft Atemprobleme. Weil der Mops in Deutschland so beliebt ist, mischen inzwischen sehr viele unseriöse Züchter in dem Geschäft mit. SPIEGEL: Wie kann man dem Tier helfen, unbeschwerter zu leben? Schünemann: Durch neue Züchtungen. Der Trend führt wieder zurück zum sportlicheren Altdeutschen Mops. Er hat eine längere Schnauze, längere Beine und ist nicht so verschnauft. Auch Kreuzungen aus Mops und Beagle oder Mops und Jack Russell sind beliebt. Die heißen dann Puggle oder Rassmo. SPIEGEL: Welche Hunde kaufen sich Menschen, denen der Mops schon wieder zu etabliert ist? Schünemann: Der Dackel ist gerade wieder im Kommen. Auch Pudel und Terrier werden beliebter. Interessant ist, dass Filme oft als Impulsgeber für Hundehalter wirken. Im Film „The Artist“ war ein Jack Russell Terrier zu sehen, in „7 Psychos (und 1 Shih Tzu)“ eine tibetische Hunderasse. Gerade bei extravaganten Tieren merkt man: Ein Hund ist immer auch ein verlängertes Ich des Besitzers.

NOORULLAH SHIRZADA / AFP

Was war da los, Herr Javid?

Gesellschaft

Das Mohn-Baby Warum Polizisten einer Frau das Neugeborene wegnahmen

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ie werde nervös, sobald ein Polizei- mittag, als zwei Polizisten und zwei Mitauto in ihrer Straße auftauche, sagt arbeiter des Jugendamts vor der WohElizabeth Mort, 24, aus New Castle, nungstür standen. „Sie wurden positiv auf Opiate geteseiner Kleinstadt im Nordosten der USA. Aber sie breche nicht mehr in Tränen aus. tet“, sagte einer der Polizisten zu Elizabeth. Langsam werde es besser, sagt sie. „Was sind Opiate?“, fragte sie. Ihre Tochter hat sie gerade in den Kin„Drogen.“ dergarten gebracht: Isabella, genannt Elizabeth Mort hat keine Erfahrung mit Bella. Sie ist dreieinhalb Jahre alt, liebt Mickey Mouse und hat die dunklen Au- Drogen, und das Wort „Opiate“ erschreckgen ihres Vaters. Im Moment wolle Isabella Cheerleader werden, sagt Elizabeth Mort. Sie versucht gerade, eine gelassene Mutter zu werden, aber es ist nicht einfach. An einem Nachmittag im April vor drei Jahren fuhr Elizabeth Mort zum Krankenhaus, sie war hochschwanger mit Isabella, ihrem ersten Kind, die Geburt sollte eingeleitet werden. Elizabeth hatte zu Hause ein Kinderzimmer eingerichtet mit Gitterbett, Wickeltisch, Spielzeug. In dem Raum, in dem Elizabeth und ihr Freund Alex Mort, Rodriguez mit Tochter Isabella Rodriguez schliefen, stand ein Stubenwagen. Sie waren verlobt, wohnten aber noch bei Elizabeths Vater. Die Freundin des Vaters brachte Elizabeth Mort damals ins Krankenhaus. Sie bestand darauf, dass Elizabeth noch etwas essen müsse. Also hatte Elizabeths Vater bei Dunkin’ Donuts einen „Everything Bagel“ gekauft. Elizabeth aß den Bagel, eine Stunde später wurde sie im Aus dem „Hamburger Abendblatt“ Jameson Hospital aufgenommen. Sie gab eine Urinprobe ab, für einen Drogentest. Das sei vor Entbindungen üblich, erfuhr Eliza- te sie. Alex, ihr Verlobter, führte einen beth. Das Krankenhaus erklärte später, der Polizisten ins Schlafzimmer, das Baby man wolle vorbereitet sein auf Babys, die schlief. Die Polizisten zeigten einen Gemöglicherweise unter Entzugserscheinun- richtsbeschluss, und deshalb wagten die Eltern nicht, sich zu wehren. gen leiden. Das Kind werde in Obhut genommen, An einem Dienstag um 14.14 Uhr gebar Elizabeth Mort ein Mädchen, 3260 um es zu schützen, sagten die Leute vom Gramm. Isabella war gesund, zwei Tage Jugendamt. Sie trugen Isabella fort. Das nach der Geburt durften Mutter und Kind Baby, hatten sie gesagt, werde in eine die Klinik verlassen. Am folgenden Tag Pflegefamilie kommen, Elizabeth wahrblieben Elizabeth und ihr Verlobter mit scheinlich das Sorgerrecht verlieren. Elidem Neugeborenen zu Hause. Elizabeth zabeth Mort weinte und rief ihren Vater betrachtete das Baby, sie staunte über so an. Ein Anwalt erzählte etwas von einer viel Glück. Es hielt nur bis zum Nach- Anhörung über das Sorgerecht, aber D E R

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übers Wochenende werde sich in dieser Sache nichts tun. Am Montag, vor Gericht, erfuhr Alex, dass er Isabella vielleicht zu sich nehmen könne, unter zwei Bedingungen: Er müsse sich regelmäßigen Drogentests unterziehen – und seine Verlobte Elizabeth verlassen. Hatte er noch eine Wahl? Drogentests vor einer Entbindung seien in den USA nicht üblich, sagt Sara Rose, die Anwältin der Familie. Der Test im Krankenhaus hatte ergeben, dass Elizabeth Abbaustoffe von Opiaten im Urin hatte, 501 Nanogramm pro Milliliter. „Lächerlich wenig“, sagt die Anwältin. Bei Angestellten amerikanischer Bundesbehörden gelte ein Grenzwert von 2000 Nanogramm. Die Freundin von Elizabeths Vater fand eine Erklärung. Der Bagel, den Elizabeth gegessen hatte, bestand aus Weizenmehl, bestreut mit Sesam, Haferflocken – und Mohn. In den Samen des Schlafmohns steckt Morphin, ein Opiat – nachweisbar, aber in diesen Mengen ungefährlich. Schon während der Schwangerschaft war ihr Urin untersucht worden, bei Routinetests, ohne Nachweis von Drogen. Es gebe keine Hinweise, dass Elizabeth Mort illegale Drogen nehme, schrieb das Jugendamt schließlich dem Gericht. Das Baby durfte endlich nach Hause, da war es schon eine Woche alt. Elizabeth Mort beschloss, gegen das Krankenhaus und das Jugendamt zu klagen. Die American Civil Liberties Union, eine Bürgerrechtsorganisation, stellte die Anwälte. Am Ende verpflichtete sich das Krankenhaus, das Jugendamt nur noch zu informieren, wenn der Drogentest bei einem Baby selbst einen Verdacht ergebe. Und das Jugendamt sicherte zu, Eltern von nun an intensiv zu befragen, bevor es die Polizei rufe. Außerdem erhalten Elizabeth und Alex 143500 Dollar, als Entschädigung. Elizabeth Mort hat am College inzwischen einen Kurs in Kriminologie abgeschlossen. Sie sagt, sie wolle Anwältin werden. Sie will lernen, sich zu wehren. WIEBKE HOLLERSEN MARCO CALDERON

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE:

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Agenturchef Ulmer

JÖRG MÜLLER / AG. FOCUS / DER SPIEGEL (L.); CIRA MORO / DER SPIEGEL (R.)

Gesellschaft

Mitarbeiter Florian

GEHEIMNISSE

Die Auftragslügner

Lügenforscher Stiegnitz

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ACHIM BIENIEK / DER SPIEGEL (L.); WOLFGANG MARIA WEBER / DER SPIEGEL (R.)

Alibi-Agenturen organisieren das perfekte Doppelleben. Zu den Kunden gehören Ehemänner mit zwei Familien, die nichts voneinander wissen sollen – kleine und große Unwahrheiten, alles kann man kaufen. Von Barbara Hardinghaus

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Paartherapeutin Bräu

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ür seinen besten Kunden, sagt Patrick Ulmer, mache er sich persönlich auf den Weg und arrangiere die Lüge selbst. Er setzt sich ins Auto, fährt auf der Autobahn Richtung Süden, nach Köln, und klingelt an einer Wohnungstür. In der Tür steht dann sein Kunde, in der Wohnung ist dessen Kleidung verteilt, sein Parfüm, seine Brillenputztücher. Im Kühlschrank liegt das, was der Kunde gern isst, Schokoladenpudding, Melone. Alles sieht danach aus, als lebte dieser Kunde in der Wohnung. Aber der Eindruck täuscht. Richtig ist: Er führt ein Doppelleben, und seine Frau darf nichts merken. Der Kunde hat seiner Frau gesagt, er arbeite während der Woche auf Montage in Köln. Ab und zu will sie ihn besuchen, also mietet Ulmer die Wohnung für seinen Kunden, legt dessen Sachen aus als falsche Fährten, klingelt selbst an der Tür, gibt sich – wenn die Frau zu Besuch ist – als ein Arbeitskollege des Kunden aus. Muss Ulmer mal pinkeln, fragt er arglos nach der Toilette. Ulmer lächelt, als er diese Geschichte erzählt. Solche Geschichten machen ihm Spaß. Er sitzt in einem Café in Weyhe bei Bremen, bei „Garbs am Markt“, zündet sich einen Zigarillo an. Ulmer ist ein großer, runder Mann, 28 Jahre alt, der nicht den Eindruck erweckt, als bedrückte ihn irgendetwas an seiner Arbeit. Vielleicht gibt es dazu auch keinen Grund. Ulmer betreibt eine Agentur, in der er die Lüge als Dienstleistung anbietet. Seine Kunden können bei ihm kleine und große Lügen kaufen: SMS, die ihnen kurz aus der Patsche helfen, oder ganze Pakete, die dazu dienen, ein kompliziertes Doppelleben zu bewältigen. Ulmer sieht seine Leistungen als etwas Gewöhnliches an, als einen Service wie Taxifahren. Seine Kunden sind Männer und Frauen zu gleichen Teilen. Die meisten stammen aus Süddeutschland oder aus Österreich, eher konservativen Regionen, in denen das Bedürfnis nach Geheimnissen offenbar besonders groß ist. Wenn Ulmer die Wohnung seines Kunden in Köln wieder verlässt, verabschiedet er sich freundlich. „Die Nummer mit dem Arbeitskollegen macht die Angelegenheit immer besonders glaubwürdig“, sagt Ulmer. Sie gehört zum Lügenpaket. Der Kunde hat am Anfang des Jahres bezahlt, für zwölf Monate im Voraus, als „Flatrate-Preis“, alles inklusive. Ulmer organisiert ihm dafür ein Doppelleben. Denn in Wirklichkeit arbeitet der Kunde gar nicht in Köln. Köln ist sein Alibi. In Wahrheit arbeitet der Kunde in der Schweiz, er lebt in der Schweiz, zusammen mit jener Frau, die ihn in Köln manchmal besucht. Weil er aber noch eine zweite Frau hat und noch ein zweites Kind in einer anderen Schweizer Stadt, und weil die beiden Familien nichts von-

einander erfahren dürfen, sagt er der einen Familie, er sei auf Montage in Köln, wenn er die andere Familie besuchen möchte. Ulmer hat dem Schweizer Kunden auch eine Telefonnummer eingerichtet, mit Kölner Vorwahl. Der Kunde kann beide Frauen von diesem Anschluss anrufen, auch die Frauen erreichen ihn dort, per Internet wird der Anruf auf sein Handy geleitet. Und wenn eine der Frauen ihren Mann in Köln besuchen möchte, zieht der Kunde für ein paar Tage in die AlibiWohnung. „Der Kunde muss nur noch die Tür aufschließen, und alles ist fertig“, sagt Ulmer. Den Preis für das Alibi bestimmt er nach Aufwand, er liegt im vierstelligen EuroBereich. Für andere Leistungen, die Ulmer anbietet, gibt es Festpreise. Eine SMS kostet 9 Euro, der Adress- und Postservice für einen Monat 59 Euro, eine Urlaubs- und Ticketbuchung 89 Euro, eine Einladung ohne telefonische Erreichbarkeit 69 Euro, eine Einladung mit telefonischer Erreichbarkeit 99 Euro. Kürzlich hat er den „Pkw-Service“ ins Programm genommen: Dann jagt er Kilometer auf das Auto des Kunden. Möglich, dass einer aus Stuttgart kommt und immer behauptet, er müsse aus beruflichen Gründen ins Ruhrgebiet, aber schon in Mannheim bei seiner Geliebten anhält. Ulmer betreibt die Agentur seit fünf Jahren, doch erst seit kurzem läuft sie richtig gut: Die ARD zeigte einen „Tatort“, in dem eine Alibi-Agentur auftauchte und auch ein Mann mit zwei Familien. Frank Koopmann, einer der beiden „Tatort“-Drehbuchautoren, war 22, als er erfuhr, dass sein Vater noch eine zweite Familie hatte, mit einer Tochter. Sein Vater erzählte ihm dann von den Schwierigkeiten, seine zweite Familie geheim zu halten, beispielsweise wenn er seine Geldbörse in der Telefonzelle einer Stadt liegenließ, in der er eigentlich nichts zu tun hatte. Der „Tatort“-Autor fragte sich, wie das die Menschen heute lösen, und er googelte nach einer Firma, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. In Deutschland gibt es nur drei AlibiAgenturen, keine davon ist so professionell wie die aus dem „Tatort“. Aber seit der Krimi ausgestrahlt wurde, wissen die Zuschauer, dass es so etwas tatsächlich gibt, die käufliche Lüge. Sie kennen neue Möglichkeiten. Ulmer hat wieder die ganze Nacht durchgearbeitet, um auf die vielen Anfragen vorbereitet zu sein. Er macht alles selbst. Er ist Geschäftsführer, Webmaster, Layouter, Marketing-Chef. Er arbeitet von zu Hause aus. Er sitzt unter einer Dachschräge, unter der es im Sommer schnell heiß wird. Im „Tatort“ lag die Agentur in einem großen, hellen Büro, der Chef trug einen eleganten Anzug, arbeitete mit hübschen D E R

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Sekretärinnen und vielen anderen Angestellten zusammen. Da will Ulmer hin. Sein Vater war Gerüstbauer, seine Mutter Verkäuferin. Er bastelte meist an seinem Computer und verließ sein Zimmer sehr selten. Er machte eine Ausbildung zum Konditor, brach sie aber ab, arbeitete beim Fleischer, beim Trockenbauer, im Lager, im Callcenter. Er machte nie einen Abschluss, aber er traf im Laufe der Jahre viele Menschen, er studierte ihr Verhalten. Ulmer begriff, dass viele Leben nicht gerade verliefen. Manche Leben endeten in Sackgassen, andere in Labyrinthen. Er selbst verirrte sich in eine Ehe und traf seine zweite Frau beim Chatten im Internet. Mit ihr lebt er heute zusammen. Sie haben zwei Kinder, ein Reihenhaus, einen Garten mit Planschbecken. Vom Café in Weyhe aus blickt er lange auf den großen Parkplatz. Familien räumen Einkäufe in Autos. Ulmer sagt: „Glauben Sie mir, es gibt nichts, was es nicht gibt.“ Man müsste Ulmer nur noch einen Propeller auf den Rücken schrauben, dann sähe er aus wie Karlsson vom Dach, der kleine dicke Mann aus der Geschichte von Astrid Lindgren. Karlsson flog durch die Gegend, sah in fremde Wohnzimmer, und auch bei ihm wurde nie ganz klar, ob er die Welt nun besser machte oder schlechter. Ulmer findet, er mache sie besser. Er ist ein Auftragslügner. Die Menschen, die seinen Service buchen, sind die Lügner, nicht er selbst, so sieht es Ulmer. Er hält sich für den Regler, den Spezialisten für verknotete Leben. Lügner, sagen Wissenschaftler, seien nicht bereit, die Wirklichkeit zu akzeptieren. Zum Seitensprung neigen vor allem Menschen mit geringem Selbstbewusstsein. Oft lügen Menschen mit eher hohem Einkommen. Menschen, die sich alles leisten können, aber keine innere Sicherheit besitzen, Menschen, die es nicht aushalten, dass sich ihre Träume nicht erfüllen. Ulmer sieht es so: „Ich gebe den Menschen die Freiheit, die sie brauchen.“ Er erstellte schon Visitenkarten und Briefbogen für einen Arbeitslosen, der den Eindruck erwecken wollte, er habe noch einen Job. Ulmer schickte einem Rentner, der ohne seine Frau verreisen wollte, eine Einladung zu einem IT-Seminar. Menschen brauchen die Lüge, sagen Psychologen, weil Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Im vergangenen Jahr suchten monatlich etwa dreieinhalb Millionen Deutsche im Internet nach „erotischen Kontakten“. Beim „Casual Dating“ geht es um „die Verwirklichung intimer Phantasien. Liebe und Sex werden strikt getrennt“. Das verspricht ein Online-Vermittler. „Solange wir unsere Geheimnisse unter Kontrolle haben und sicherstellen, sie im gewünschten Rahmen einzusetzen, mag unser Leben beherrschbar sein“, sagt die amerikanische Psychologin Gail 51

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Kindern auf den Spielplatz geht. Das machen sie sonntags sonst immer zusammen. Ulmer sagt, dass ihm das Wohl der Familie am Herzen liege. In der Wiener Innenstadt trifft er die neue Mitarbeiterin. Sie bestellen Eiskaffee bei Starbucks, und Ulmer sagt: „Du musst dem Kunden immer suggerieren, dass alles möglich ist. Du musst schon im Erstgespräch eine Lösung finden. Du musst skrupellos sein.“ Seine Mitarbeiterin schweigt eine Weile. Sie hat vorher im Großhandel Lampen verkauft, sie hat drei Kinder. Sie durchlöchert mit dem Strohhalm die Sahne in ihrem Eisbecher, dann fragt sie: „Was ist mit Moral? Was ist, wenn wir Familien zerstören?“ „Wir zerstören sie nicht. Wir erhalten sie“, sagt Ulmer. Sie sitzen sich noch lange gegenüber, sie feilschen um den Preis der „Moral“. Früher hätten die Menschen ihre Geheimnisse in eine Kiste geschlossen, sagt sie. Diese Kiste ist heute das Internet. Die Menschen finden Rat darin, Freunde, Geliebte, Sex. Die Menschen brauchen niemanden mehr. Sie haben ihren Rechner, ihr iPad oder Mobiltelefon. Aber was ist moralisch vertretbar? Nicht weit von Wien entfernt, in der österreichischen Kleinstadt Bad Vöslau, betritt Peter Stiegnitz das Kurzentrum, er ist 76 Jahre alt, ein gepflegter Herr, Psychologe mit einer eigenen Praxis in Wien. Er beschäftigt sich seit 30 Jahren mit der Grenze, die vertretbare Lügen von unzulässigen Lügen unterscheidet. Er ist verheiratet, seine Frau wird im Kurzentrum von Bad Vöslau behandelt, er begleitet sie. „Schauen Sie, die Lüge ist nicht mehr als die Abwendung von der Realität“, sagt er. Und die tue manchmal gut. Er hat erforscht, warum der Mensch lügt: zu rund 40 Prozent deshalb, um sich Ärger oder Sanktionen zu ersparen, zu etwa 14 Prozent, um höflich zu sein und sein Gegenüber nicht zu beleidigen, zu 6 Prozent aus Faulheit. Vor allem Frauen in reiferen Jahren lügen auch, um geliebt zu werden. Frauen erröten beim Lügen, fixieren ihr Gegenüber, wechseln schnell das Thema. Sie lügen etwas seltener, weil sie sich mit der Wirklichkeit besser arrangieren können. Männer werden beim Lügen unruhig, schlagen die Beine übereinander, kratzen sich, schwitzen. Was würde passieren, wenn Menschen nicht mehr lögen? „Dann wäre dieser Planet menschenleer. Es gäbe hundert Kriege“, sagt Stiegnitz. „Wahrheitsfanatiker“, sagt er, „belügen sich selbst.“ Sobald sie behaupten, die Wahrheit zu kennen, entfliehen sie der Realität. Der Professor rät: „Gehen wir ehrlich mit unserer Lüge um!“ AP

Florian ist eigentlich TheaterschauSaltz. „Wenn aber die Geheimnisse uns zu kontrollieren beginnen – und allzu oft spieler, am Morgen hat er geprobt, er ist das der Fall –, dann schlägt ein spielt den Soldaten Beckmann in „Draunormales Leben um: in ein heimliches ßen vor der Tür“. Gleich wird er die ZielLeben.“ Es entwickeln sich Schuldgefüh- person anrufen und ihr einen Gruppenle, einige Menschen erkranken daran. sex-Abend vorschlagen. Florian sitzt im schwarzen T-Shirt in Typisch sind Magenprobleme, Atemder Sonne, seine Daumen sind gelb vom oder Herzbeschwerden. Vor eineinhalb Jahren brachte sich ein Rauchen. Er hatte ein Engagement am Supermarkt-Chef aus England um, als Münchner Staatstheater, bis Oktober vernach 21 Jahren bekanntwurde, dass er gangenen Jahres. Er stieß über eine 20 Autominuten entfernt noch eine zwei- Anzeige auf der Website des Auktionste Familie hatte. Ein Arzt von Long Is- dienstes Ebay auf Ulmers Agentur, er war land, New York, verunglückte mal mit zuerst nur neugierig. Er nimmt das Handy in die Hand, prüft, seinem Auto, und seine große Lüge wurde erst offenbar, als sich zwei Partnerin- ob die Anzeige der Telefonnummer unnen des Mannes in der Notaufnahme im terdrückt ist, atmet tief. Aber es meldet Krankenhaus trafen. Erst lange nach sei- sich jemand am Telefon, der nicht die nem Tod kam heraus, dass der Pilot Zielperson ist. Der Mann, den Florian erCharles Lindbergh neben seiner Familie reichen will, sei nicht da, heißt es, er sei in den USA noch eine zweite Familie, mit erst in einer Stunde zurück. Florian sagt, er habe viel darüber gedrei Kindern, in Deutschland hatte. François Mitterrand, der damalige französi- lernt, was Menschen aushalten müssten. sche Staatspräsident, hatte neben seiner Als er eine lesbische Frau zu einem Beoffiziellen Familie noch eine Geliebte und triebsfest begleiten sollte, habe er geeine heimliche Tochter, Mazarine Marie, dacht: „Mädel, warum sagst du denen die ihren Vater im Restaurant oder auf nicht einfach, dass du nicht auf Typen Ausflügen nicht „Papa“ nennen durfte. Die Lüge hat auch Vorzüge: Sie gibt dem Lügner das Gefühl, sein kompliziertes Leben selbst zu steuern. Die Lüge kann helfen, den normalen Grad an Ambivalenz, den jeder in sich trägt, nicht komplett leugnen zu müssen. So gesehen hat Ulmer recht, wenn er sagt, er tue Gutes. „Hier“, sagt Ulmer und legt ein Stück Papier auf den Tisch im Café, im Betreff des Schreibens steht: „Alibi-Auftrag“. Der Kunde ist ein Mann, der neben seiner Frau eine Freundin hatte, mit der er aber mittlerweile nicht Pilot Lindbergh 1927 mehr liiert ist. Die ehemalige Geliebte Freiheitsfreund mit Geheimnissen ist jetzt mit einem Arbeitskollegen des Kunden zusammen. Der Kunde sieht die stehst?“ Er lief mit ihr Hand in Hand zum beiden oft im Büro und erträgt den Anblick Salatbuffet, vorbei an einer Meute testosterongesteuerter Männer, und am Ende nicht, er will sie auseinanderbringen. Er glaubt, dass sein Arbeitskollege verstand er, warum die Frau sich in dieschnell eifersüchtig wird und sich nach sem Kreis nicht outete. Er hat erfahren, einer soliden Beziehung sehnt. Er glaubt dass die Lüge Menschen behüten kann. Er wählt wieder die Nummer. „Serauch, dass diese Freundin auf Abenteuer aus ist. Er hat Ulmer angerufen: Jemand vus“, sagt er, „vor kurzem habe ich die soll die ehemalige Geliebte anrufen und Martina getroffen, in einem Hotel, da ist ihr Gruppensex vorschlagen. Der Kunde mir in den Sinn gekommen, wir könnglaubt zu wissen, dass diese Frau darauf ten …“, dann bricht er ab, „Scheiße, aufsteht. Sie würden ihr, das ist der Plan, ei- gelegt.“ Am Wochenende danach steht Patrick nen Köder anbieten und damit die BezieUlmer am Hamburger Flughafen vor hung zum Arbeitskollegen gefährden. „Zielperson: R., gegenwärtiger Lieb- Gate C 08 und sagt, dass die Niederlage haber, noch verheiratet, ruhig, aber über- dazugehöre, wenn man in fremde Leben heblich, neigt zur Eifersucht“, steht auf eindringe. Ulmer will nach Wien, eine dem Papier. „Ziel der Aktion: Ihn aus Frau treffen, die für sein neues Büro in der Reserve locken.“ Den Auftrag schickt Österreich arbeitet. Er ist nervös, er fliegt er ein paar Stunden später nach München, selten. Im Flugzeug filmt er den Start der wo einer von Ulmers 43 freien Mitarbei- Maschine mit dem iPhone, er fotografiert tern aktiv werden soll. Noch sitzt dieser die Flugdaten, Höhe, Geschwindigkeit. Mann in einem Biergarten vor einem Rad- Mit den Bildern beruhigt er vielleicht später seine Frau, die heute allein mit den ler und wartet.

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Mann zwei an den Apparat gehen, der sie nach Hamburg begleitet. Sie sagt: „Ich bin zur Rezeption und habe darum gebeten, dass sie keine Anrufe durchstellen.“ Sie sagt, sie versuche so wenig wie möglich zu lügen, um sich nicht zu viel merken zu müssen. Sie wolle ehrlich sein, innerhalb ihrer Grenzen. Und die großen Lügen? Die übernehme die Agentur, solche, die zu viel Arbeit machen. Denn Lügen ist anstrengend. Auch bei Sarah wird nicht ganz klar, wo die Grenze verläuft, die die gute von der schlechten Lüge unterscheidet. Vielleicht verläuft sie dort, wo Liebende einander einen Schaden zufügen. Oder lieben sie schon nicht mehr, sobald sie jemandem schaden? Oder sind Menschen glücklicher, wenn sie manches nicht ahnen? Besteht Glück aus Wahrheit? Oder aus Vollständigkeit? Die Paartherapeutin Andrea Bräu spricht nicht von „Opfern“ und „Tätern“, sondern von „Aktiven“ und „Passiven“. Bei einem Doppelleben würden alle Beteiligten leiden, auch der Aktive. Irgendwann werde er niemandem mehr gerecht, am wenigsten sich selbst. Die Therapeutin weiß, dass zwei von drei Paaren eine längere Affäre nicht überstehen. Denn in der Auseinandersetzung darüber stellen sie dann fest, dass ihre Beziehung eigentlich nicht stabil ist. Oft sei es gar nicht der Seitensprung, der so verletzt, sondern das Dickicht aus Lügen, in dem das Vertrauen zugrunde geht. Unter der Dachschräge in seinem Reihenhaus sitzt Ulmer vor seinem Rechner, er hat Probleme mit seiner Website, aber er bastelt schon wieder an der nächsten Geschichte. Ein Kunde möchte ohne seine Frau für zwei Wochen auf die Philippinen, Ulmer bereitet für ihn eine Einladung für das Kursangebot „Burnout-Prophylaxe“ in Norddeutschland vor. Ulmer tippt in seinen Computer: Anreise, Abreise, Datum, Uhrzeit, eine Telefonnummer. Die Kosten würden vom Arbeitgeber übernommen. Ulmer legt einen Flyer der Klinik hinzu, die eingeweiht ist und ihre Rezeption informiert – für den Fall, dass die Frau anruft. Die Klinik, sagt Ulmer, erhalte „einen Obolus“. Draußen, im Garten, spielt seine Frau mit den Kindern mit einem Ball, danach essen sie Eis. Auf der Reise nach Wien hat er beiläufig erzählt, dass auch seine Frau einmal fremdgegangen sei. Es habe lange gedauert, bis er das verkraften konnte, eineinhalb Jahre. Und manchmal, sagt er, verfolge es ihn noch immer. RICLAFE / SIPA

Warum hat die Lüge dann so ein Helfer spielt dann Sarahs Dienstgruppenleiter, der sie, die beruflich oft unterwegs schlechtes Image? „Sie hat Grenzen“, sagt er. Nicht alle ist, kurzfristig für ein Projekt dringend beMenschen halten diese Grenze ein. „Sie nötige und entweder Mann eins oder verläuft da, wo ich mit meiner Lüge mir Mann zwei am Telefon erklärt, dass Sarah oder jemand anderem Schaden zufüge.“ schon im Flugzeug sitze. Sarah zahlt der Agentur im Jahr 2000 Euro für dieses Mit einem Seitensprung? „Ach“, seufzt er, „wenn aus dem Tref- Leben. Ihr Kleiderschrank ist geteilt, elefen keine Dauerbeziehung wird, dann ist gante Röcke und Absatzschuhe für Mann eins, Jeans und Turnschuhe für Mann zwei. das kein Grenzübertritt.“ Mit einem Doppelleben? Wer weiß Bescheid? „Die, die es führen, fühlen sich eine „Zwei Freundinnen.“ Zeitlang mächtig, sie fliegen. Aber lange Vorsichtsmaßnahmen? hält das keiner durch, kein Mensch trägt „Mein Handy hat einen Code, ich nehzwei Leben in sich.“ me es zum Duschen mit ins Bad.“ Mit einer Alibi-Agentur? Mit wem haben Sie mehr Spaß? „Na ja, sie sagt etwas aus über unseren „Mit Mann zwei.“ Zustand“, sagt der Psychologe, „solange Bei wem liegen Sie lieber im Arm? wir in einer hierarchischen Gesellschaft „Bei Mann eins.“ lebten, mit Familie, Kirche, Beruf, hatten Sex? wir zwar weniger Freiheit, aber wir muss„Mit beiden wenig.“ ten auch nicht lernen, mit ihr umzugehen. Schlechtes Gewissen? Jetzt finden wir unsere Position nicht „Verdränge ich.“ mehr. Und was tun wir? Wir flüchten imWarum tun Sie das überhaupt? mer weiter in die Freiheit.“ „Weil ich so glücklich bin. Ich liebe Am Ende gibt Professor Stiegnitz Mann eins, und der liebt an mir, dass ich noch einen Rat, der die Menschen be- frei bin.“ schützen soll: „Lieben Sie niemals zu sehr!“ Ist es wirklich auch nur das, was die Kunden aus Ulmers Kartei tun? Schützen sie sich? Was muss man von jener Kundin halten, die auch seit ein paar Jahren eine Art Doppelleben führt? Jener Frau, die, sagen wir, aus Bielefeld stammt und die, sagen wir, Sarah heißt. Sie ist für das Gespräch nach Hamburg gereist. Das war ihr lieber. Sie kommt durch die Tür eines Lokals, das „Schönes Leben“ heißt. Es ist nichts Besonderes an ihr, Mitte vierzig, herber Typ, Rehaugen. Sie beant- Uneheliche Mitterrand-Tochter Mazarine* wortet alle Fragen, aber nicht alle Sie durfte ihn nicht „Papa“ nennen Antworten sollen gedruckt werden. Zu viele Informationen. Ihr Doppelleben Keine Angst, Mann eins zu verlieren? laufe gerade so reibungslos. „Doch. Ich habe Angst, dass mir etwas zuMann eins ist Manager, aus Süddeutsch- stößt, wenn ich mit Mann zwei unterwegs land, geschieden, Haus, Kinder, freiheits- bin und ins Krankenhaus muss. Dort würliebend, ein Genussmensch. Mann zwei den mich sicher beide gern besuchen.“ ist Polizist, bodenständig, ganz lustig, er Aufhören? isst gern Butterbrote und wartet an die„Denke ich manchmal dran und mache sem Tag im Hotel darauf, dass Sarah zu- weiter.“ rückkehrt. Mann eins schickte ihr am VorSarah spricht ruhig, sie ist in diesem tag Blumen und wünschte ihr auf einer Leben angekommen. Sie lacht zwischenKarte viel Spaß bei ihrem „kleinen Aus- durch, sie fühlt sich unabhängig, begehrt. flug“. Mit ihm führt sie eine Fernbezie- Sie hat sich daran gewöhnt, beiden Mänhung, Mann zwei lebt ganz in ihrer Nähe. nern lange in die Augen zu sehen, mit Sie ist ein paar Tage bei dem einen beiden morgens aufzustehen, beiden zu Mann, ein paar Tage bei dem anderen, ihre sagen: „Ich vermisse dich.“ Vorhin im Hotel, sagt sie, habe Mann Urlaube verbringt sie meist mit Freundinnen oder mit Mann eins, weil Mann zwei eins geschrieben: „Schönes Hotel?“, nicht gern fliegt. Sie feiert ihre Geburtstage „Riverside“, antwortete sie. Im Fahrstuhl mit Freundinnen, Heiligabend ist sie bei fiel ihr auf, dass das nicht klug war. Mögihrer Mutter. Wenn es mal eng wird, weil licherweise versucht Mann eins, sie auf Mann eins sie sehen will, Mann zwei aber dem Handy zu erreichen, vielleicht auch auch, entscheidet sie sich spontan und bit- auf dem Zimmer, dann darf keinesfalls tet Patrick Ulmer, den jeweils anderen Mann anzurufen. Ulmer oder einer seiner * 1998 vor einem Foto ihres Vaters.

Video: Wie eine Frau das Doppelleben ihres Freundes aufdeckte spiegel.de/app342013doppelleben oder in der App DER SPIEGEL

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Gesellschaft

BERLIN

Trillerpfeife bringt nüscht ORTSTERMIN: Ein Berliner Bademeister will den sommerlichen Frieden vor randalierenden Jugendgruppen retten.

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lichen Hauptaufgabe nach. Und die wäre? „Uffs Wasser kiekn“, sagt Czaya. „Wegen der Sicherheit.“ Er kümmert sich aber auch um die Liegewiese. Er schlichtet Streit, gibt Schwimmunterricht, fischt „Würstchen“ aus dem Becken, prüft die Wasserqualität und kontrolliert die Badekleidung. Das ist bei muslimischen Frauen oft problematisch. „Ein Burkini ist erlaubt“, sagt Czaya. „Aber viele rennen mit langen Jeans oder Kleidern ins Becken. Ditt iss unhygienisch. Da muss ick dann einschreiten.“ Wahrscheinlich ist das Freibad einer der letzten Orte, an dem sich die deutsche Gesellschaft wirklich mischt. Rentner, Kinder, Pubertierende, Christen, Muslime, Türken aus dem Wedding, Ostler aus Pankow, Arbeitslose, Besserverdienende – für ein paar Stunden hocken hier alle zusammen; Handtuch an Handtuch, Körper an Körper. Jeden Tag aufs Neue beginnt ein kleines soziales Experiment, ein Feldversuch der Toleranz. Wenn es gut läuft, beginnt das Freibad zu summen. Dann hört man Kinderstimmen, Arschbombenklatschen, Rentnergemaule, Mutti-Rufe, dann hört man Türkisch, Arabisch, Deutsch. Die Luft riecht nach Chlor und Pommes, und René Czaya ruft: „Nicht vom Seitenrand springen!“ Das ist dann Sommer. Läuft es nicht gut, dann bricht dieser Mikrokosmos zusammen, und die Polizei rückt an. René Czaya glaubt, die Toleranz habe abgenommen. Er versuche, jeden Badegast als Persönlichkeit anzusprechen. Nicht als Störenfried. Aber in manchen Momenten sind die Aggressionen der Gäste so groß, dass sich Czaya nicht wie ein Schwimmmeister fühlt, eher wie ein Sozialarbeiter mit Trillerpfeife. Czaya blinzelt in die matte Augustsonne. Der deutsche Supersommer liegt in den letzten Zügen. Ein paar Tage noch. Am 2. September schließt das Freibad. Schade, dann muss er wieder ins Hallenbad, sagt Czaya. JOCHEN-MARTIN GUTSCH THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

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Czaya sieht sich als Dienstleister, jeorgens spuckt einem niemand ins Gesicht, sagt René Czaya, mor- mand, der dafür garantiert, dass andere gens ist noch Friede im Freibad. eine gute Zeit haben für 4,50 Euro Eintritt, Er steht am Rand des 50-Meter-Beckens ermäßigt 2,80. Leider passt Berlin nicht und schaut ins Wasser, wo gerade eine immer zu Czayas Vorstellungen. Im Maschine den Beckenboden saugt. Manch- Strandbad Lübars ertrank ein Mädchen. mal, sagt Czaya, liegt ein Tampon im Im Strandbad Plötzensee wurde ein Becken oder ein Ring oder eine Zahnpro- Mann niedergestochen. Alles an den heithese. Manchmal findet er Bierflaschen ßen Tagen Anfang August. Seitdem stein der Rinne der Freibadrutsche oder ge- hen die Freibäder unter Beobachtung, brauchte Kondome, und dann stellt sich auch politisch. Czaya die Frage, warum jemand in einer Freibadrutsche Sex haben möchte. „Für mich wär ditt nüscht.“ Czaya ist 43 Jahre alt. Ein kleiner Mann mit muskulösem Oberkörper und leicht gebräunter Haut. Seit 20 Jahren arbeitet er als Bademeister, seit zehn Jahren hier im Freibad Pankow, im Osten Berlins. Korrekterweise, sagt er, muss es „Schwimmmeister“ heißen. Trotzdem sagen viele Leute zu ihm „Bademeister“. Denn viele Leute sind nicht so korrekt wie Czaya. Das ist sicher ein Teil des Problems. Schwimmmeister Czaya: Feldversuch der Toleranz Der andere Teil ist der deutsche Supersommer. An manchen Tagen hocken im Das Berliner Abgeordnetenhaus will Freibad bis zu 5000 Leute aufeinander, die Hitze knallt auf die Köpfe. Dann kann sich mit den Vorfällen beschäftigen und es zu „diesen unschönen Vorfällen“ kom- mit der Pankower Einlasspolitik am „Familientag“. Muss ein staatliches Freibad men, sagt Czaya. Das Freibad Pankow ist in den vergan- nicht ein echtes Volksbad sein? Offen für genen Wochen in die Schlagzeilen gera- alle und jeden? Tja. Es gibt die Freibadten. Ende Juli gab es Tumulte im Ein- philosophie. Und die Realität. René gangsbereich, die Polizei musste eingrei- Czaya und seine Kollegen versuchen, beifen. Anfang August rückte die Polizei des in Einklang zu bringen. Czaya setzt sich auf einen Plastikstuhl dann wieder an. Diesmal räumte sie das ganze Freibad. Rund 70 Jugendliche, sagt in der Mitte des Bades, neben dem Czaya, stürmten plötzlich den Sprung- Schwimmmeisterhäuschen. Auf dem turm. Ein Schwimmmeister wurde be- Häuschen weht eine Deutschland-Fahne, droht und angespuckt. Tische und Stühle das sieht sehr amtlich aus, so nach: mein flogen ins Wasser. „In so einer Situation Regierungsbezirk. Und irgendwie passt muss man sich zurückziehen. Trillerpfeife das ja auch. Ein deutscher Schwimmmeister ist traditionell eine Art Polizist bringt da nüscht“, sagt Czaya. An den nächsten beiden Tagen, einem in Badehose. Ein Beckenrand-Cop. Vor Wochenende, war das Freibad nur für allem aber hat er im Sommer den wichFamilien geöffnet. Gruppen von Jugend- tigsten Job. Vielleicht sogar noch wichtilichen wurden abgewiesen. Der Wach- ger als der der Bundeskanzlerin. „Ick bin zuallererst für die Sicherheit schutz wurde verstärkt. „Da war erst mal Ruhe“, sagt Czaya. Aber es war eben verantwortlich“, sagt Czaya. Er sitzt auf dem Stuhl und sagt, er gehe seiner berufauch eine Niederlage.

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Trends GASTRONOMIE

Im Streit zwischen Burger King und der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) sollen jetzt Gerichte urteilen. Die Gewerkschaft will die Burger-Kette sowohl wegen Verstoßes gegen das Betriebsverfassungsgesetz als auch im Auftrag ihrer Mitglieder wegen arbeitsrechtlicher Verstöße verklagen. Hintergrund ist der Verkauf der Burger King GmbH an die beiden Unternehmer Ergün Yildiz aus Stade sowie den Russen Alexander Kobolov. Burger King betrieb bis Mai dieses Jahres noch 91 seiner knapp 700 Filialen selbst, der Rest war an Franchise-Nehmer verpachtet, die für die Nutzung der Marke Lizenzgebühren zahlen. Inzwischen hat Burger King auch diese 91 Filialen abgestoßen – an Kobolov und Yildiz, der bis dahin FranchiseNehmer von lediglich zwei Filialen war. Kobolov hat viele Burger-KingRestaurants in Russland aufgebaut. Seit der Übernahme, klagen Mitarbeiter, würden tarifliche Nacht- und

FOTIS PLEGAS G. / DPA

Gewerkschaft will Burger King verklagen

Demonstrantin vor dem griechischen Parlament in Athen EURO-KRISE

GUIDO MENTZ / ACTION PRESS

Verfrühte Entwarnung Burger-King-Filiale in Berlin

Mehrarbeitszuschläge nicht mehr bezahlt. Das Urlaubsgeld sei nicht ausgezahlt, Löhne seien zu spät überwiesen worden. Zudem werde Betriebsratsarbeit behindert, insgesamt habe das neue Unternehmen in den vergangenen Wochen 15 Kündigungsverfahren gegen Betriebsräte eingeleitet. Burger King ist Mitglied im Bundesverband der Systemgastronomie und damit an Tarifverträge gebunden. Yildiz kann wegen vertraglicher Verpflichtungen nicht aus dem Verband austreten, spekuliert aber möglicherweise, durch seine Wildwestmethoden ausgeschlossen zu werden. Er war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. 56

Führende Brüsseler Ökonomen sehen trotz der jüngsten Wachstumszahlen noch kein Ende der Euro-Krise. „Die Krise ist keineswegs überwunden, es wird noch allerhand passieren“, sagt Guntram Wolff, Direktor beim ThinkTank Bruegel. Nur in einigen Ländern wie Deutschland, Frankreich und Portugal wachse die Wirtschaft, in Griechenland etwa sehe es weiterhin düster aus. Zum Teil sei das Wachstum nur auf Nachholeffekte nach dem kalten Winter zurückzuführen. In der Euro-Zone insgesamt war das Bruttoinlandsprodukt von April bis Juni im Vergleich zum Auftaktquartal erstmals seit 2011 um 0,3 Prozent gestiegen. „Das Wachstum reicht keinesfalls aus, um die hohen Staatsschulden und die Arbeitslosigkeit abzubauen“, fürchtet Wolff. Vorsichtig optimistisch ist Daniel Gros, Direktor am Centre for European Policy Studies. „Eine Sparpolitik, wie sie die Euro-Staaten in den vergangenen Jahren betrieben haben, bringt immer zunächst eine D E R

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Rezession mit sich, diese läuft jetzt langsam aus.“ Zwar sei die akute Finanzkrise überwunden, meint Gros, warnt jedoch, die Anpassung der Realwirtschaft dauere sehr viel länger. „Da sind wir kurz hinter der Kuppe.“ Ohne weitere Reformen, etwa im Dienstleistungssektor, werde die Euro-Zone zudem nur langsam wachsen. Sein Kollege Wolff hat grundsätzlichere Zweifel: „Soziale und politische Instabilität in den südeuropäischen Staaten gefährden weiterhin die Überwindung der Krise.“ Die Euro-Zone müsse ihre neue Architektur vervollständigen. „Sie muss die Bankenunion umsetzen, sich stärker in Richtung Fiskalunion bewegen und die Altlasten der Banken abbauen“, fordert der Ökonom. Außerdem solle Deutschland mehr dafür tun, „zur Wachstumslokomotive der Euro-Zone zu werden“. Das würde auch Spanien und Portugal helfen, die zuletzt die Ausfuhren steigerten, aber nur über eine kleine Exportindustrie verfügen.

Wirtschaft C O R P O R AT E G O V E R N A N C E

SCHWELLENLÄNDER

Aktionärsschützer kritisieren Interessenkonflikt

Schwache Rupie bedroht Exporte

Das neue Finanzierungsmodell der Regierungskommission Corporate Governance stößt bereits auf Kritik. Die Kommission, die im Auftrag der Bundesregierung Regeln für gute Unternehmensführung aufstellt, soll künftig nicht mehr nur von dem Unternehmen finanziert werden, das den Chef stellt. Neuer Träger der Kommission soll das Deutsche Aktieninstitut DAI werden, eine Vertretung von rund 200 börsennotierten Firmen. „Es ist zwar eine gute Idee, die Finanzierung der Kommission über das DAI auf eine breitere Basis in der Industrie zu stellen“, sagt Aktionärsschützer Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen

Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Aber das Deutsche Aktieninstitut müsse dann seine Tätigkeit grundlegend verändern: „Das DAI nimmt oft Stellung zu Fragen der Corporate Governance, und es bietet bezahlte Seminare für Aufsichtsräte über dieses Thema an. Damit muss künftig Schluss sein“, mahnt Tüngler. „Das Institut muss die Kommission unabhängig arbeiten lassen und sollte nicht an deren Arbeit verdienen.“ Am 17. September werden die Mitglieder des Aktieninstituts über die geplante Finanzierung abstimmen. Die Kosten für das Projekt beziffern sich laut DAI auf mindestens 800 000 Euro im Jahr.

Der dramatische Wechselkursverfall der Indischen Rupie verdüstert die Aussichten für deutsche Exporteure in dem Land. „Diese Entwicklung könnte das eine oder andere Geschäft mit Indien in Frage stellen“, warnt Guido Christ von der Deutsch-Indischen Handelskammer in Neu-Delhi. Zwar hätten viele Firmen ihre Aufträge durch langfristige Verträge gesichert, aber für die aktuelle Stimmung sei der Rupie-Verfall schlecht. Um die Währung der drittgrößten asiatischen Industriemacht zu stabilisieren, hat die indische

ENERGIE

Fracking-Boom gefährdet Klimapolitik „policy brief“. Die Kieler Wissenschaftler fürchten zudem, dass das neue, billige Energieangebot eine Einigung der Staatengemeinschaft über einen effektiven Klimaschutz drastisch erschweren könnte. Der klimaschützende Effekt, den die steigenden Preise hatten, wäre dahin, ebenso wie der Anreiz für Innovationen in erneuerbare Energien und sparsame Technologien. „Die Vorreiterrolle der EU im Klimaschutz wird gesamtwirtschaftlich zunehmend teurer, und die Anreize für andere Länder, unserem Beispiel zu folgen, werden zurückgehen“, befürchten die Kieler Experten.

GETTY IMAGES

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) warnt, dass das besonders in den USA angewandte Gas- und Ölförderverfahren Fracking negative Auswirkungen für die europäische Wirtschaft haben könnte. Die neuen Erschließungen führen in den USA schon jetzt zu sinkenden Energiepreisen. Im europäischen System des Emissionshandels jedoch gehen sinkende Energiepreise mit steigenden Kosten für Emissionsrechte einher. „Die Konsequenz wird sein, dass sich die Schere zwischen den Energiepreisen in der EU gegenüber dem Ausland weiter vergrößern wird“, so das IfW in seinem jüngsten

Kaufhaus in Mumbai, Indien

BRENNAN LINSLEY / AP / DPA

Fracking in Colorado, USA

Regierung zwar die Bestimmungen für die Ausfuhr von Kapital verschärft; zuvor hatte sie bereits die Einfuhr von Gold mit Hilfe erhöhter Zölle deutlich erschwert. Gleichwohl setzte die Rupie am Freitag ihre Talfahrt fort; in den vergangenen zwei Jahren verlor sie gegenüber dem Euro rund ein Fünftel ihres Wertes, gegenüber dem Dollar verbilligte sie sich um ein Viertel. Viele Anleger fliehen aus der indischen Währung, weil sie nicht mehr damit rechnen, dass Neu-Delhi vor der Parlamentswahl 2014 noch nötige Reformen wagt, um Investitionen ausländischer Firmen im Land zu erleichtern. Überdies sorgen die Spekulationen über ein bevorstehendes Ende der lockeren Kreditpolitik in den USA dafür, dass Anleger ihr Geld aus Schwellenländern wie Indien abziehen. 57

HERMANN BREDEHORST / POLARIS / LAIF

VW-Aufseher Piëch, -Chef Winterkorn

VW-Exportfahrzeuge in Emden

Titel

Wolfsburger Weltreich Martin Winterkorn will Volkswagen zum größten Autokonzern der Welt machen. Er regiert mit harter Hand. Doch das schnelle Wachstum droht Konzern und Mitarbeiter zu überfordern. Von Dietmar Hawranek und Dirk Kurbjuweit

PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF

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as soll ein Volkswagen sein? Ein alles aufschreibt, was Winterkorn bemänGolf GTI? Martin Winterkorn gelt. Es ist Mitte Juli, dies ist eine sogekann es kaum glauben. Er streicht nannte Konzernabnahmefahrt. Die Fühüber das Armaturenbrett und zeigt auf rung von Volkswagen und rund hundert Flecken in der schwarzen Haut, schmud- Techniker testen im Straßenverkehr Vordelig sehe das aus. Und hier, der helle serienmodelle. Was Winterkorn kritisiert, Stoff, mit dem die Säulen verkleidet sind: muss verbessert werden, bis die Modelle „Ausgefranst, so ein Mist“, schnaubt der auf den Markt kommen. Sie fahren in Chef von Volkswagen. Er startet den Mo- einer Kolonne von 30 Autos. Wer abreißen lässt, muss 50 Dollar tor, lauscht nach dem Gezahlen. Winterkorn plauräusch, tritt auf das Gasdert über einen Verpedal, noch einmal, tritt Fahrzeugauslieferungen gleich von Kölsch und kräftiger, noch kräftiger, weltweit*, in Millionen Alt und verpasst eine der Motor jault; so höre Toyota 9,6 Ausfahrt. Hinten wird sich doch kein GTI an, so gekichert, 50 Dollar Straflach, sagt Winterkorn. 9,4 fe für den Chef. Zum Kotzen sei das. Er GM 9,3 Manchmal nennen sie legt den ersten Gang ein, ihn Wiko, aber nur, löst die Handbremse und VW 9,1 wenn er nicht dabei ist. fährt flott los, durch New Er ist mehr als ein Chef, York, dann über den er ist ein Herrscher. MarFluss nach New Jersey. tin Winterkorn, 66, beGrüne Hügel, Holzherrscht Volkswagen, häuser mit Veranda, Deutschlands größtes Schaukelstühle, Hitze, Unternehmen. Und er Wolkenungeheuer. Wintreibt es an. Bis 2018 soll terkorn reißt das Lenkder Konzern der größte rad nach links, lässt es Autohersteller der Welt los und sieht zu, wie es sein, bislang ist das Toyosich in seine zentrale Pota mit 9,6 Millionen Ausition zurückdreht. „So tos im Jahr, vor General muss es sein“, sagt er. Motors mit 9,3. VolksDritter Gang, vierter wagen steht auf Platz Gang, aber was war das drei mit 9,1 Millionen für ein Geräusch? Er Autos. „Ein toughes schaltet runter, klick, Ziel“, sagt Winterkorn, schaltet rauf, klick, er der auch bei der Zufriehaut gegen das Lenkrad. denheit der Kunden und Was soll dieses Klicken? der Mitarbeiter und bei „Das darf nicht sein, no6,2 der Rendite Nummer tier das“, grollt er. eins werden will. Auf der Rückbank *Pkw und leichte Nutzfahrzeuge In keiner bedeutenden sitzt ein Mann von der Branche steht ein deutQualitätssicherung, der 2007 2012 D E R

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Titel

RAYMOND MCCREA JONES / REDUX / DER SPIEGEL

In der Kantine: Hamburger, aber auch sches Unternehmen an der Weltspitze, hat ihn erfunden, Aufsichtsratschef Fernun soll dies in der Autoindustrie gelin- dinand Piëch war skeptisch. Bis vor zwei Currywurst. Es gibt ein Problem mit der Qualität gen. Zwölf Fahnen wehen vor der Zen- Jahren wurden jährlich zwischen 10 000 trale in Wolfsburg, für die zwölf Marken und 40 000 Passat aus Deutschland in die der Autos. Das Marktforschungsunternehdes Konzerns: VW, Audi, Škoda, Seat, USA verkauft. Sie waren zu teuer, zu men J. D. Power stuft Volkswagen nur auf Lamborghini, Bentley, Bugatti, Porsche, klein. Winterkorn ließ das Auto um zehn Platz 23 ein. Manche Bedienhebel sitzen Volkswagen Nutzfahrzeuge, MAN, Sca- Zentimeter strecken und in den USA bau- beim Passat nicht da, wo es Amerikaner nia und Ducati. 550 000 Menschen ar- en, was billiger ist. Eine Milliarde Dollar gewöhnt sind. Das kostet Punkte. Man beiten in diesem Reich, das die ganze investierte er für ein Werk in Chattanoo- hätte es wissen können. Manchmal hilft Welt umspannt. In 27 Ländern lässt der ga, Tennessee. 2012 wurden 117 000 Passat nicht das duale Ausbildungssystem, sondern das intensive Befassen mit einer Konzern Autos, Lastwagen und Motor- in Nordamerika verkauft, ein Erfolg. fremden Autokultur. räder bauen. Sie werden in 153 Länder USA: Probleme mit der Qualität Jim Ellis aus Atlanta kennt die Deutverkauft. Wachstum, Wachstum, Wachstum. Das Das Werk liegt im Grünen, etwas außer- schen gut. Sein Vater war schon in den war die Losung der vergangenen Jahre, halb von Chattanooga, wo Biber fleißig siebziger Jahren Händler von Volkswagen, und sie ist es für die Zukunft. Und das in Dämme bauen. Volkswagen hat hier eine als der Käfer und der Bus cool waren in einer Zeit, in der das Privatauto mit Ver- seiner Standardfabriken errichtet, die das den USA, die Autos der Hippies, „Flowerbrennungsmotor so angefochten ist wie Unternehmen überall auf der Welt gleich- Power-Autos“, wie Ellis sagt. Er ist in die Firma seines Vaters eingestiegen und hat noch nie: Klimawandel, der Trend zum sam im Schlaf baut. Car-Sharing, verstopfte Straßen, die KonIlker Subasi, 28, leitet hier das Ausbil- immer an ihr festgehalten, auch in den kurrenz von Elektroantrieben. dungszentrum, das nach deutschem Prin- späten siebziger und achtziger Jahren, als Winterkorn kümmert das nicht. Er will zip organisiert ist, Berufsschule plus prak- VW den Golf in Westmoreland, Pennsyldie Welt mit Verbrennungsmotoren er- tische Ausbildung. Subasi kommt aus vania, bauen ließ, was ein Desaster war. Ellis sagt, die Deutschen seien „wunobern. Bei den neuen Trends ist Volks- Wolfsburg und überrascht die Amerikawagen nicht vorn dabei, anders als BMW, ner, die bei ihm lernen, mit Sätzen wie: dervolle Ingenieure“, aber ihre Flexibiliweder beim Elektromotor noch beim Car- „Der Fußboden ist eure Visitenkarte.“ tät sei nicht so überragend. Die AmeriSharing. Mit dem Gestern ins Morgen, so Der im Ausbildungszentrum wäre sogar kaner wollten alle zwei Jahre etwas Neumacht das Winterkorn. als Spiegel geeignet, für eine grobe Rasur es, und die Konkurrenz habe schon auf den amerikanischen Passat reagiert und Kann das gelingen, mit einem so selt- dürfte es reichen. samen Gebilde, wie Volkswagen es ist, Das Ausbildungszentrum ist luxuriös die Qualität und Ausstattung ihrer Autos dominiert von den Enkeln von Ferdinand ausgestattet, teuerste Maschinen, aber verbessert. Ellis wartet. Ellis wartet, dass auch Volkswagen etPorsche, der 1938 den ersten Volkswagen kaum Menschen. Es gibt nur 58 Auszukonstruiert hat, beeinflusst von der Poli- bildende, von den 20 des ersten Jahrgangs was Neues macht, beispielsweise das tik und von einem starken Betriebsrat? haben 8 aufgegeben. Für die Zeit der Be- Design überarbeitet. Amerikaner wollen, Vor allem drei Aspekte sind dabei in- rufsschule bekommen sie kein Geld, und sagt er, dass ihr Auto auffalle, wenn sie teressant: Wie geht es zu, wenn Deutsche da pfeifen manche auf die duale Ausbil- am Drive-in vorfahren, sie wollen es die Welt erobern? Wie ist es möglich, ein dung. Es ist nicht so leicht, deutsches schick, auch ein bisschen gewagt. Der Passat sei da eher, na ja, er sucht ein riesiges Reich zusammenzuhalten? Was Wesen zu exportieren. Wort, „verbesserungswürdig“, sagt er. geschieht, wenn ein Mensch so viel Und dann: „Die Deutschen vergessen Macht hat wie Martin Winterkorn? manchmal, was wir wollen. Sie sagen: Er hat ungewöhnlich viel Macht. ,Wir bauen das Auto, wie wir es wollen, In einer Zeit, in der sich fast alle und euch muss es gefallen.‘“ Lebensbereiche demokratisiert haEs hat die Entwickler in Wolfsburg ben, ist er einer der letzten Diktaschon viel Überwindung gekostet, den toren, und er hat zugelassen, dass Passat so weit an den Geschmack der ihm der SPIEGEL dabei zusieht, amerikanischen Kundschaft anzupassen. wie er sein Reich regiert. Kunstleder statt Leder, die Sitzverstellung Konzernabnahmefahrt, die Kolonmit einem Hebel statt mit einem Elektrone hält auf dem Parkplatz vom Bear motor, damit das Auto billiger wurde. Das Mountain Inn, ein schnelles Mittag„erforderte schon eine gewisse Leidensessen, dann inspiziert Winterkorn fähigkeit“, sagt Konzernentwickler Ulrich den amerikanischen VW Passat. Er Hackenberg. Gewiss auch bei Winterkorn, setzt sich hinein, ruckelt an allem der die Autos bis dahin nie einfacher und herum, ruckelt einmal am Hebel der billiger machte, sondern immer besser Sitzverstellung, ruckelt zweimal. und feiner. „Das ist vielleicht labberig“, sagt Konzernabnahmefahrt, nach dem Bear Winterkorn. „Wer macht denn so Mountain Inn testet Winterkorn den was?“ Die Techniker denken, dies Beetle, und er ist zufrieden; Lob für die sei eine rhetorische Frage, aber das Mexikaner, die den Beetle bauen. Dann ist es nicht. Winterkorn fragt noch schaut er sich das Auto von außen an, er einmal. Bleiche Gesichter unter Baseschaut und schaut, die Nase dicht über ballkappen. Er wartet. Dann sagt eidem heißen Metall, und was ist das? Am ner, nein, flüstert einer vier Wörter. Rand der Motorhaube ist der silberne „Der Soundso war es.“ Petze hätte Lack dicker als sonst. Winterkorn sucht man auf dem Schulhof gerufen. Der mit den Augen seinen Assistenten und Soundso ist nicht da. Glück gehabt. gibt ihm einen Wink. Der Assistent holt Der amerikanische Passat ist eieinen schwarzen Aktenkoffer mit einem nes der wichtigsten Autos für Win- VW-Ausbilder Subasi braunen Ledergriff. Er trägt ihn mit heiterkorns Wachstumsstrategie. Er „Der Fußboden ist eure Visitenkarte“ 60

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Autohändler Ellis

liger Miene vor seiner Brust zu Winterkorn, als wäre es die Bundeslade. „O Gott, der ,Erste-Hilfe-Koffer‘“, stöhnt einer der Techniker. Bange Blicke. Winterkorn öffnet den Koffer und zieht einen schmalen Stift heraus. „Der Lackmessstift“, flüstert der Techniker. Winterkorn drückt ihn gegen die Motorhaube und schaut auf die Anzeige. Atemlosigkeit auf einem Parkplatz in New Jersey, Vögel, ein Flugzeug kratzt am Himmel. „180 Mü“, verkündet Winterkorn. Oje, oje. Ein µ, ausgesprochen: Mü, ist ein Tausendstelmillimeter. 120 µ reichen für eine Autokarosserie. Trägt man den Lack dicker auf, kann es solche „Rotznasen“ geben, wie Winterkorn sagt. Außerdem ist es Verschwendung, kostet Geld. Der Mann von der Qualitätssicherung macht sich eine Notiz. Die Kolonne zieht weiter. Winterkorn denkt in µ, und sein Maß ist das Spaltmaß. Das ist der Abstand, den die Außenteile zueinander haben. Zwischen Tür und Karosserie dürfen es bei Volkswagen 3,5 Millimeter sein. Es gibt ein sogenanntes Fugenrad, mit dem Winterkorn und alle Qualitätsprüfer die Spaltmaße testen, und wehe, sie stimmen nicht. Er sagt, dass die Autos steifer seien mit kleinen Abständen, und sie sähen besser aus, nach Qualität. Winterkorn ist ein Qualitätsfanatiker, ein Qualitätshysteriker. Er hat nicht eine große Vision vom Auto, er hat eine extreme Aufmerksamkeit fürs Detail. Er führt seinen Weltkonzern gleichsam von unten, vom Kleinteil her.

PHOTOSHOT

RAYMOND MCCREA JONES / REDUX / DER SPIEGEL

Sein Vater war schon in den siebziger Jahren Händler von Volkswagen, als der Käfer und der Bus cool waren in den USA, die Autos der Hippies, „Flower-Power-Autos“.

VW-Bus

Seine Eltern wurden 1945 als Donauschwaben aus Ungarn vertrieben und ließen sich in Münchingen bei Stuttgart nieder. Der Vater arbeitete in einer Dachpappenfabrik. Die Familie hielt Hühner, ein Schwein und baute Kartoffeln an. „Ich vergesse nicht, wo ich herkomme“, sagt Winterkorn. Er studierte Metallkunde und Metallphysik, und 1981 machte ihn Ferdinand Piëch, damals Technikchef von Audi, zu seinem Assistenten für Qualitätssicherung. Im Prinzip ist er das geblieben. Er führt einen Weltkonzern, aber ihm fehlt die Weltgewandtheit. Er schwäbelt, er nuschelt, er schweigt eine Menge. In seinem Blick mischen sich Bube und Diktator. Da ist eine Verspieltheit, die bei Matchbox begann und nie aufgehört hat. Da ist ein aggressives Blitzen. Wenn er so kalt schaut und schweigt, dann droht Fürchterliches, dann mutiert Winterkorn von dem ewigen Autojungen, der eben noch mit den anderen Autojungs gefrotzelt hat, zu einem Herrscher, der auf seine Herausgehobenheit Wert legt und davon ausgeht, dass er sich beinahe alles rausnehmen kann. Reden liest er vom Papier ab, ohne Betonung, ohne Regung, ohne Freude. Es ist ihm Pflicht, auf Englisch unangenehme Pflicht. „Bei uns zählt der beste Fachmann und nicht der, der sich am besten präsentiert oder das geschliffenste Englisch spricht“, sagt Winterkorn. Als er einmal im New Yorker Museum of Modern Art vor Menschen wie Madonna, Yoko D E R

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Ono, Lou Reed oder Patti Smith auftreten musste, verließ er die Veranstaltung früh. Er müsse jetzt noch den neuen Passat in Manhattan testfahren, sagte er. Mit Autos und Technikern fühlt er sich wohler. Frage an einen Verkäufer bei einem großen VW-Händler in Mainz: Hat je ein Kunde nach dem Spaltmaß gefragt? Nie. Winterkorn, damit konfrontiert, ficht das nicht an. Aus Umfragen weiß er, dass Kunden die Qualität für eines der wichtigsten Kaufmerkmale halten. Und ob ein Auto hochwertig sei, ergebe sich aus unzähligen Details. Das ist seine Philosophie: Kümmert euch um das Kleine, dann kommt Großes dabei raus. Qualität ist das Wort, mit dem er sein Weltreich zusammenhält. „Wir fordern höhere Preise als die Konkurrenz, und das wird nur akzeptiert, wenn wir besser sind“, sagt er.

Wolfsburg: Der Tanz ums Auto Volkswagen führt und denkt er von Wolfsburg aus, diesem Hauptstädtchen eines Weltreichs, dieser Autofabrik plus Schlafstätten plus Nachkriegsfußgängerzone. Aber wehe, man vergisst zu sagen, dass es einen Museumsbau der weltberühmten Architektin Zaha Hadid gibt. Gibt es. Sieht gut aus. Francesco Lo Presti, 53, aus Wolfsburg hat genau verstanden, was Winterkorn will. Von morgens bis abends kümmert er sich um Qualität. Schon sein Vater, ein Sizilianer, war bei VW, und der Sohn ging auch hin „wegen des guten Gehalts und 61

Titel der Sozialleistungen“. Nun stellt er auf dem Werksgelände „Volkswagen Originalteile“ her, 18 000 Stück am Tag. Dazu braucht Lo Presti Schweinebacke, Schweinespeck, Schweineschulter, er braucht Pökelsalz mit Jod und eine Gewürzmischung. Seine Maschinen sind die Feinmühle und ein Kühlschrank mit Dusche, um die Originalteile von 80 auf 7 Grad runterzukühlen. Sie schreiben das wirklich auf die Verpackung: „Volkswagen Originalteil“. Drinnen sind Currywürste, Krakauer, Fleischwürste. Lo Presti ist ein agiler Mann, der sagt, dass er seine Würste „prozessorientiert“ herstellt. Er habe das gelernt, als er noch Autos zusammenschraubte. Prozessorientierung und natürlich Ordnung, Sauberkeit, Händewaschen, immer wieder Händewaschen. Sonst gibt’s keine Qualitätswurst. Volkswagen ist ein sehr deutscher Weltkonzern. Lo Presti exportiert seine Rezepte in die Fabriken in aller Welt. Der Herr der Zentrale, unterhalb von Winterkorn natürlich, ist Siegfried Fiebig, 58, Werksleiter, Rundschädel, Kompaktmensch, Bulle mit weicher Seite. Er wurde lange vom Produktionschef gedeckelt, es gab Tränen. Zum Gespräch hat er ein gutes Dutzend Unterchefs mitgebracht, weil er zeigen wolle, sagt Fiebig, dass er das hier nicht allein mache. Aber dann redet fast nur er, mit viel

Selbstgenuss, und die anderen sitzen da litäts- und Perfektionsdrang. Kurz vor als Bestätigung für Fiebigs Alleinstellung. dem Produktionsstart des Golf ließ er das Eine Frau ist dabei, zuständig für, klar, Design ändern, was über hundert MilKommunikation. „Dreck, Schmiere und lionen Euro gekostet hat. Bei anderen Öl, da gibt es wenig Frauen“, sagt Fiebig. Autokonzernen gibt es einen „Design Freeze“, der solche Aktionen verhindert. Alte Welt. Fiebig, der alte Produktionshirsch, finIn den Werkshallen gibt es Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg. Die det ohnehin, dass F&E, also Forschung Backsteinbauten wurden 1938 errichtet, und Entwicklung, für „Freizeit und Erhodamit Hitlers Volk Auto fahren konnte. lung“ stehen. Für ihn ist Autobauen das Später montierten Zwangsarbeiter Rüs- Edle, aber Wolfsburg steht dafür nicht mehr, wie er knurrend registrieren muss. tungsgüter. Heute ist Wolfsburg vor allem die Hei- Nur noch die Hälfte der 54 000 Mitarbeimat des Golf, des Kernfahrzeugs von ter sind in der Produktion beschäftigt. Das wahre Zentrum ist nun „die WalVolkswagen. Eigentlich ist das Gelände zu groß, zu unpraktisch, um vernünftig halla“, ein Raum von der Größe einer Autos bauen zu können. Wolfsburg wird Turnhalle, flacher aber und ohne Fenster. auch belächelt, und Fiebig tut das weh, Grauer Teppichfilz, viele Lichtstrahler, denn China mag die nächste Zukunft sein Spiegel. Drei Autos stehen auf Drehscheiund Indien die übernächste, aber für ihn ben, von weißen Laken verhüllt. Hier werden die neuen Autos präsentiert. schlägt das Herz seiner Firma hier. Er kämpft. „Wir haben unsere Gegner“, „Hier kriegt man Ruhm, oder man kriegt sagt Fiebig. Das sind andere, moderne keinen“, sagt Klaus Bischoff, der DesignWerke im Konzern. Schneller, schneller, chef der Marke Volkswagen. Die Tür geht auf, Winterkorn kommt das ist der Kampfruf von Fiebig. 2007 haben seine Leute 26 Stunden für einen herein. Das Auto rechts wird enthüllt, ein Golf gebraucht. Jetzt sind sie bei 18,6 neuer Passat. Winterkorn drückt auf eine Stunden. Aber das reicht nicht für gute Fernbedienung, der Passat dreht sich. Er Gewinne. In den ersten sechs Monaten tritt heran, und nun beginnt etwas, das von 2013 hat die Marke Volkswagen nur man ein Ballett mit Auto nennen könnte, 1,5 Milliarden Euro verdient, mit 2,4 Mil- oder einfach Liebestanz. Winterkorn umlionen Autos. Porsche schaffte mit 78 000 schleicht den Passat, streichelt die Karosserie und säuselt: „Das Lichtspiel, hier Autos 1,3 Milliarden Euro. VW produziert in Europa immer noch hell, hier Schatten, hier hell, die Betoteuer. Das liegt auch an Winterkorns Qua- nung des Muskels hier“, er geht leicht in

Winterkorns Welt EUROPA

Volkswagen-Werke* nach Ländern und Auslieferungen von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen 2012, in tausend

und übrige Märkte

4053

Auslieferungen:

NORDAMERIKA

Deutschland 28

842

Russland

1

restliches Europa 38

Werke: USA

1

13

China

6 weitere geplant bis 2018

Mexiko

Indien

3

4 Brasilien

3

Argentinien

3 62

ASIEN/PAZIFIK

davon CHINA

6 Südafrika

* einschließlich Audi, Seat, Škoda, Porsche etc.

1

3170

SÜDAMERIKA

1010

Thailand

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Shanghai: Wachstumsmenschen Es ist Ende Mai, ein heißer Tag geht zu Ende, wieder ein Tag, an dem die Stadt nicht komplett verstaut war, an dem der Verkehr zügig über die Stadtautobahn rollte, vorbei an gigantischen Hochhausblöcken in endloser Reihe, aber mit freien Parkplätzen. Hier kann man noch eine Menge Autos hinstellen. Es war auch ein Tag, an dem sich einer Chinesin im VW-Werk von Anting nahe Shanghai ein interkulturelles Problem stellte. Zur Mittagszeit lud sie sich einen heimischen Eintopf auf ihr Tablett und dazu einen Teller mit einem gekrümmten Ding unter einer roten Sauce. Es war eine Currywurst nach Wolfsburger Rezept. Die Chinesin griff zu ihren Stäbchen und schaute ratlos, bis sie jemand darauf hinwies, dass es hier auch Messer und Gabel gibt. Und es war ein Tag, an dem der deutsche Werksleiter Christian Vollmer, 44, stolz die Fabrik von Anting präsentierte, ein modernes Werk mit nicht ganz so vielen Robotern wie in Wolfsburg. Die Chinesen verdienen viel weniger als die Deutschen, sie arbeiten zehn Stunden an sechs Tagen in der Woche, weshalb sie

VW-Fleischerei-Leiter Lo Presti

Sie schreiben das wirklich auf die Verpackung: „Volkswagen Originalteil“. Drinnen sind Currywürste, Krakauer, Fleischwürste. gut gegen die Roboter bestehen können. Vollmer ist einer dieser Männer, die für Volkswagen die Welt erobern, ein Frontschwein, um einmal den militärischen Duktus aus Wolfsburg aufzunehmen. Er geht dahin, wo man ihn hinschickt. Er war fünf Jahre in Bratislava, jetzt ist er in Anting. Familie immer dabei, Frau, vier Kinder. „Wir sind eine VW-Familie“, sagt Vollmer. Großes Lächeln, breite Schultern, kräftige Stimme. Er ist stolz, dass ihm sein chinesischer Partner nach sechs Wochen das Du angeboten hat. Sie sind gleichrangig. „Mein Partner und ich haben entschieden ...“ beginnt er viele seiner Sätze, aber er gibt seinem Kollegen auch hin und wieder einen Klaps auf die Schulter, freundlich, anerkennend, aber auch paternalistisch. Die Gleichrangigkeit ist ein bisschen Fiktion. Am Abend dieses Tages sitzen Jörn Hasenfuß und Thomas Ulbrich im Restaurant des Hyatt, Menschen, wie es sie in Deutschland kaum gibt, Wachstumsmenschen. Sie strotzen, sie strahlen, in ihnen brennt ein seltenes Licht, das von großen Zahlen genährt wird. Sie sind zwei der vier Chefs von Shanghai Volkswagen Automotive, dem Joint Venture von VW. D E R

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MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

die Knie und hebt die Oberarme, als wollte er die Muskeln des Autos nachahmen. In diesem Fall dürfte es Ruhm geben für Bischoff. Und der Wolfsburger Tanz zeigt, dass es beim Auto weiterhin um Eros geht, weshalb es einer vernünftigen Betrachtung noch lange entzogen bleiben wird, jedenfalls bei vielen Männern. Von Wolfsburg aus tragen Winterkorns Leute diese erotische Idee, die vor allem eine deutsche Idee ist, in alle Welt. Sie wollen nette Eroberer sein, weshalb sie in der „Abteilung für interkulturelles Training“ lernen, dass viele US-Amerikaner sehr, sehr freundlich seien, aber keine Verbindlichkeit wollen; dass man „Chinesen nicht offen kritisiert, damit sie das Gesicht wahren können“. Gleichwohl zieht der Gedanke mit, dass es am besten ist, wie Deutsche es machen. Das Weltbild des Oberwolfsburgers Fiebig sieht ungefähr so aus: Die Amerikaner – müssen Qualität erst lernen. Die Russen – null Ahnung von Ökonomie. Die Chinesen – so anders, dass es undenkbar ist, einer von denen könne es in den nächsten zehn Jahren in den Vorstand schaffen. Dann brechen sie auf in die Welt, mit ihrem Jargon, in dem alles „ein Thema“ ist. Wir haben gerade das Thema Bremsen. Das Thema Kundenzufriedenheit. Das Thema vegetarische Wurst. Es ist ein Jargon, der auch militärisch geprägt ist, immer noch. Die oberste Heeresführung. Ab an die Front. Das MG ist immer besetzt. Sie packen die Oberhemden mit den kurzen Ärmeln ein, für die heißen Länder, und dann sind sie eines Tages dort, in Shanghai beispielsweise.

Hasenfuß, 52, Betriebswirt, lange Hemdsärmel, sitzt links, Ulbrich 47, Ingenieur, kurze Ärmel, rechts. Die Zahlen, die sie so gute Laune haben lassen: 2,8 Millionen Autos, die VW in China verkauft, 21 Prozent Marktanteil, 3,7 Milliarden Euro Gewinn. 2012 stieg der Absatz um 25, der Gewinn um 41 Prozent. Und das ist nicht das Ende. Im vergangenen Jahr wurden in China 13,2 Millionen Autos verkauft, 2020 sollen es über 20 Millionen sein. Hasenfuß strahlt, Ulbrich strahlt. Und jetzt eine Frage gegen die Begeisterung: Ist es sinnvoll, so viele neue Autos auf die Straße zu bringen? Peking leidet bereits unter einer irren Feinstaublast. Selbst VW-Manager haben eine App für die aktuellen Messwerte. Hasenfuß, unbeeindruckt: „Man kriegt den Verkehr in den Großstädten langsam in den Griff, und auf dem Land ist noch eine Menge Platz. Warum sollten wir das Geschäft anderen überlassen?“ Der Sinn oder Unsinn automobiler Expansion ist gerade nicht Thema bei Volkswagen. Ohne China könnte Winterkorn seine Strategie 2018 vergessen. VW lebt inzwischen zu einem Drittel von den Chi63

Titel

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Führungsprinzip: Bier und Baukästen

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

Genf, im März, Auto-Salon. Volkswagen hat in einer Halle die neuen Autos der Marken vorgestellt, Lichtshow, Musik, Trockeneisnebel. Danach steht Winterkorn an einem Tisch und erzählt Geschichten von kleinen Erfolgen. Wie er einen Blumenlieferanten dazu gebracht hat, nicht mehr mit einem Fiat auf das Werksgelände von Audi zu fahren, sondern mit einem Konzernprodukt. Wie er einem Russen spontan einen Lamborghini vertickt hat. Manchmal zieht er Mitarbeiter herbei, die seine Geschichten ausschmücken sol-

XU XIAOLIN / LAIF / DER SPIEGEL

Fiebig

Vollmer

XU XIAOLIN / LAIF / DER SPIEGEL

nesen, sechs neue Fabriken sind in Planung, eine siebte wurde am vergangenen Freitag eröffnet. Wachstumsfuror. Winterkorn hat das zum Teil selbst ausgehandelt. Er flog im konzerneigenen Jet nach China. Nach dem Start zog er sich kurz zurück, kam dann wieder, Trainingsanzug, Schlappen. Er setzte sich in einen der Sessel, trank einen Rotwein und genoss eine Zigarre. „Na, wie ist denn Merkel so?“, fragte er. Das erzählt einer, der mitgeflogen ist und der die Bundeskanzlerin gut kennt. Bei den Gesprächen in China wurde dann eine Menge Schnaps getrunken, aber Winterkorn kippte das meiste heimlich weg. Womöglich wäre er sonst mit zwölf Fabriken aufgewacht. In China ist alles politisch. Winterkorn bekam die gewünschten Fabriken im Osten des Landes nur, weil er auch ein Werk im unterentwickelten Westen baut. Seine wichtigsten Unternehmen in China sind Joint Ventures, bei denen Volkswagen maximal 50 Prozent hält. Die Führungspositionen sind paritätisch besetzt, alles muss ausgehandelt werden. Hasenfuß und Ulbrich erzählen, dass ihre beiden chinesischen Partner im Vorstand gern üppig ausgestattete Autos hätten, weil viele Chinesen Chrom lieben, und die Deutschen dann sagen, dass es zu teuer wird. „Wir einigen uns immer“, sagt Hasenfuß, aber oft ist es mühsam. Sieben neue Fabriken. Sie glauben, dass sie das hinkriegen, sie sind Wachstumseuphoriker, und es gibt ja die Volkswagen-Standardfabrik. Kein Problem. Aber Ulbrich sagt auch: „Eine Fabrik ist nur eine leere Hülle. Autos werden von Menschen gebaut.“ Das ist schon ein Problem. Im Westen, in Ürümqi, sind die Leute Bauern oder Metzger, aber nicht Mechatroniker mit einem Abschluss des dualen Ausbildungssystems wie in Deutschland. Volkswagen muss jedem Einzelnen das Autobauen beibringen, und das ist keine Kleinigkeit mehr, da die Autos so komplex geworden sind. In Anting läuft schon einer mit, der den chinesischen Werksleiter ersetzen muss, weil der in eine der neuen Fabriken wechseln soll. So kannibalisiert sich Volkswagen langsam selbst. Das ist das Risiko der Wachstumsexplosion. Wolfsburger sehen auch aus einem anderen Grund manchmal bange nach China. Es läge nahe, von dort Volkswagen in andere Länder zu exportieren, da sie billiger sind als die deutschen. Bislang saugt der chinesische Markt alle dort produzierten Fahrzeuge auf. Aber China will selbst eine Automacht werden, will von den Deutschen lernen, um irgendwann Europa und Nordamerika zu erobern. Das wird womöglich die Zeit sein, in der chinesische Automanager ihren deutschen Kollegen herzhaft auf die Schulter klopfen.

VW-Manager

Das MG ist immer besetzt D E R

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len. Er duzt diese Leute, er legt ihnen seinen Arm schwer auf die Schulter, eine Geste kumpelhafter Beherrschung, und er sagt diesen Leuten, was noch zu sagen ist. Sie werden durch seine Gegenwart zu kleinen Leuten, die hochachtungsvoll dem „Herrn Doktor Winterkorn“ beflissene Mitarbeiter sind. Winterkorn ist ein Herrscher, und er hat einen Hof. Das ist ein knappes Dutzend Leute, die er zumeist von Audi mitgebracht hat, wo er von 2002 bis 2006 Chef war. Einige duzt er, ohne dass sie ihn duzen. Er spricht sie mit Nach- oder Spitznamen an, Grühsem oder Hacki, und wenn sie miteinander feiern, dann sieht das so aus: Einer aus Düsseldorf behauptet, nichts sei besser als Alt, und einer aus Köln sagt, lächerlich, nur Kölsch könne man trinken, und dann machen sie eine Vergleichsparty, bei der auch entschieden wird, ob ein Gasgrill besser ist oder ein Holzkohlengrill. 30 zu 10 für Kölsch, 32 zu 8 für Gas. Darüber hinaus verbindet sie, dass sie car guys sind, wie sie selbst sagen, Autofanatiker, die über nichts lieber reden als über das Fahrverhalten eines Lamborghini Gallardo jenseits der 300, oder über 20-Zoll-Räder für den VW Beetle. Höchstens Fußball kommt da noch ran, Fußball ist wichtig für diesen Konzern. Winterkorn sitzt im Aufsichtsrat von Bayern München und hält sich einen Bundesligisten, den VfL Wolfsburg, zu dessen Heimspielen er Händler einlädt, um mit ihnen in der Halbzeit über Autos zu quatschen, beim Bier. Bier. Autos. Fußball. Grillen. Frauen gehören nicht zum engeren Führungszirkel von Volkswagen. Formal wird der Konzern über die Baukästen gesteuert. Davon gibt es fünf, den Baukasten für Kleinwagen, den für längs eingebaute Motoren, den für quer eingebaute Motoren, den sogenannten Standard-Baukasten sowie den für Sportwagen. Jede Baukastengruppe wird von einem Mitglied aus Winterkorns Kreis geführt. So kann er seinen Konzern bis ins letzte Detail steuern. Die Marken müssen jedes geplante Auto mit dem jeweiligen Baukastensteuerkreischef besprechen. Der hat auch die anderen Marken im Blick und achtet darauf, dass ein Kleinwagen von Škoda und ein Kleinwagen von Seat oder VW möglichst viele identische Komponenten haben, sogenannte Gleichteile. Je mehr Gleichteile, desto geringer die Kosten. Einigt man sich nicht, entscheidet Winterkorn. Er beschreibt dieses Prinzip so: „Es ist wie zu Hause. Zu Mama geht man, zu Papa geht man erst, wenn es gar nicht mehr anders geht.“ Gemeint ist: Wer zu Winterkorn geht, bekommt auf jeden Fall eine Entscheidung, ob sie einem passt oder nicht. Die Marke Volkswagen wollte den neuen Touareg nicht aus Aluminium bauen, weil das zu teuer würde. Es gab

VW-Werk und Autostadt in Wolfsburg

H. & D. ZIELSKE / LOOK-FOTO

„Volkswagen wird von Wolfsburg aus gedacht, diesem Hauptstädtchen eines Weltreichs, dieser Autofabrik plus Schlafstätten plus Nachkriegsfußgängerzone.“

keine Einigung, man ging zu Winterkorn. Volkswagen wurde zu Aluminium verdonnert.„Ich muss das alles ausbalancieren“, sagt er. Das System funktioniert mäßig gut. Alle Marken wollen möglichst edle Autos bauen. Die Folge ist, dass ein Škoda Octavia mittlerweile so gut ist wie ein VW Passat, der aber einige tausend Euro mehr kostet. „Wir haben da nicht aufgepasst“, sagt Winterkorn. Jetzt wird Škoda gedeckelt. Von Demokratie als Führungsprinzip hält Winterkorn nichts. „Es gibt viele, auf die ich höre. Es gibt auch viele, auf die ich nicht höre. Am Ende des Tages muss ich entscheiden, ob der Spiegel auf der Tür sitzt oder nicht. Das können Sie nicht demokratisieren. Und nach mehr als 30 Jahren in der Autoindustrie nehme ich schon für mich in Anspruch, dass ich ganz gut beurteilen kann, ob ein Auto gut ist oder schlecht.“ Sein schönster Satz zu seiner Herrschaftsform: „Im VW-Konzern wächst dort das Gras, wo der VW-Chef hinschaut.“ Aber das verlangt ihm auch eine Menge ab. Winterkorn ist ständig unterwegs, um überall hinschauen zu können. Konzernabnahmefahrt, ein Parkplatz: Winterkorn lässt sich von einem US-Mitarbeiter die Autos der Konkurrenz vorstellen und hört, dass Ford nun ein Plugin-Hybrid habe. Die Sonne brennt, er nimmt die Brille ab und wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Jetzt hat er diesen Blick, der

Fürchterliches ankündigt, die Techniker wissen das und werden ganz still. Nur der Amerika-Mann redet noch und sagt, dass die Konkurrenz Erfolg habe mit zwei neuen Farben und ob VW diese Farben auch haben dürfe. Das ist der Moment, in dem Martin Winterkorn explodiert. Warum sie so spät kämen mit den neuen Farben? Er schreit. Und warum er erst jetzt von Fords Plugin-Modell erfahre? Eine Milliarde habe er in Amerika investiert, und seine Leute hier würden alles verschlafen. Er schreit eine ganze Weile, und niemand widerspricht. Im Weggehen brummt Winterkorn, das seien doch alles Lullis. Im Auto sagt er, dass er genug habe von diesem Mitarbeiter und dass er ihn abziehen wolle. Er hat doch schon genug Ärger, zum Beispiel mit Audi, mit Porsche und deren Eifersüchteleien und Eitelkeiten. Das ist ein Thema, das der Macht von Winterkorn die Grenzen zeigt. Ein Ausdruck dessen ist das Werk in Bratislava. Auf den ersten Blick wirkt der Konzern hier in Harmonie mit sich selbst. An einem der beiden Bänder folgt ein VW Touareg einem Porsche Cayenne und der einem Audi Q7. Nun gleitet wieder ein Cayenne heran, ein Touareg, noch ein Touareg. Es ist egal, die stillen Monteure und die seufzenden Roboter schrauben zusammen, was kommt. Aber dann wird es albern. Am Ende des Bandes sind die Karosserien von Audi und VW mit Motoren und Rädern ausgeD E R

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stattet, die Porsches aber nicht. Sie werden nach Leipzig transportiert und bekommen dort die fehlenden Teile angeschraubt, obwohl das die Monteure und Roboter in Bratislava auch könnten. Aber sie dürfen nicht. Ein Porsche ist porschiger, wenn ihm Motoren und Räder bei Porsche verpasst werden, glauben die Leute von Porsche. Ihre größte Angst ist, dass die Kunden einen Porsche für einen Volkswagen halten könnten. Es geht um Synergien und um Gleichteile. Ein Konzern mit vielen Marken kann die Kosten niedrig halten, wenn er viel gemeinsam macht. Die Zentrale will viele Gleichteile. Die Marken dagegen wollen eigenständig und unterscheidbar bleiben und wehren sich gegen den Zentralismus, mit Gemurre, mit Obstruktion, manchmal mit Albernheiten und Kämpfen gegeneinander. Für Audi war Porsche lange ein Konkurrent. Doch seit vier Jahren gehört Porsche zu Volkswagen, nachdem der Versuch gescheitert ist, Volkswagen zu übernehmen. Es kam dann umgekehrt. Nun muss sich Audi mit Porsche arrangieren, will das aber nicht. Der StandardBaukasten, bei dem Porsche die Führung obliegt, taugt für Modelle von Porsche und Bentley, aber auch für den Audi A8 und den VW Phaeton. Audi bestand jedoch darauf, diese neuen Modelle selbst zu entwickeln. Auch beim Baukasten für den Sportwagen zieht Audi nicht mit. Anstatt den Modellwechsel beim Audi R8 und beim Lamborghini Gallardo zu ver65

Titel schieben, entwickeln die Ingenieure in Ingolstadt noch rasch die neuen Autos. „Wir haben wenig Verständnis dafür, dass man uns nicht machen lässt“, sagt ein Manager von Audi. Die Tochter liefert die höchsten Gewinne ab und will dafür mit Freiheiten belohnt werden. Dem Konzern entgehen durch solche Eitelkeiten Einsparungen in Milliardenhöhe. „Vielleicht geht es uns noch zu gut“, sagt Matthias Müller, der als Chef von Porsche eine gewisse Unabhängigkeit braucht. Darauf achtet schon ein Mann, der Wolfgang Porsche heißt und dessen Büro nur ein paar Schritte entfernt liegt von dem Müllers. Er ist ganz zufrieden mit ihm. „Der Müller versteht die Marke“, sagt Porsche, Enkel des Firmengründers Ferdinand Porsche. „Wir müssen die Unverwechselbarkeit der Marke bewahren“, sagt folgerichtig Müller. Porsche bekommt nun Gleichteile von anderen Marken, schraubt und fräst aber so lange daran rum, bis man sagen kann: ist besser, ist echt Porsche. „Es menschelt“, sagt Müller. Und das ist eine kleine Überraschung: dass dieser Konzern gar nicht so rational geführt wird, wie man meinen könnte. Ein Auto steht dafür ganz besonders.

Bugatti: Spinnerei von Weltformat Am Anfang ist es ein Volkswagen, milde, unaufgeregt, mit 50 PS schnurrt er dahin. Links am Armaturenbrett ist eine kleine Uhr angebracht, die anzeigt, wie viele Pferdestärken gerade abgerufen werden, und jetzt, hier, vor dieser elsässischen Autobahnauffahrt, sind es knapp 50. Kein Problem. Aber am Ende der Skala steht die Zahl 1200, und das ist nun doch etwas beängstigend. 1200 PS. Nun rollt das Auto auf die Autobahn, und es wäre doch schön zu wissen, was sich auf der Uhr tut, wenn man auf das Gaspedal tritt. Also dann. 300. 600. 700. Der Motor brüllt, der Körper wird leichter und leichter, schwebt, fliegt, kommt abhanden, bis da nur noch die Sinne sind, zugleich alarmiert und euphorisch, die Straße wird enger und enger, und das Auto da vorn scheint zu stehen, so schnell wird es größer und größer, also voll in die Eisen, der Körper kehrt schlagartig zurück, Schwere, machtvolle Zügelung, und dann rollt der Volkswagen, der eben ein Bugatti Veyron

Die VW-Familie

Grand Sport Vitesse war, sanft und harmDie Techniker versammeln sich in eilos und leise über die Autobahn. Huh. nem Saal zur Abschlussbesprechung. Sie Es war Ferdinand Piëch, der den Inge- sitzen in langen Reihen und schauen zum nieuren von Volkswagen den Auftrag Podium, wo Winterkorn mit fünf Leuten gab, ein kultiviertes Auto mit über 1000 von der Qualitätssicherung sitzt. Sie traPS zu entwickeln. Das ist nach vielen gen vor, welche Mängel bei der ProbeSchwierigkeiten und Investitionen von fahrt aufgefallen sind. Winterkorn sitzt 800 Millionen Euro gelungen. Trotz des still und müde da, fährt sich mit einer Preises von mehr als zwei Millionen Euro Hand durchs Gesicht. Rund um eine wird das Auto dieses Geld nie hereinspie- Tankklappe ist der Spalt zu eng, ein Auto len. Es ist nicht dafür da. „springt wie ein Geißbock“. Dieses Auto ist ein Exzess, ein WahnPlötzlich ist Winterkorn wach, und die sinn. Kein Roboter darf es berühren, ein Sitzung wird zum Tribunal. Er poltert Band gibt es nicht in der Fabrik im elsäs- seine Techniker an, schimpft und motzt sischen Molsheim, und die Fabrik wird und bügelt Widerspruch nieder. Einige feintuerisch Atelier genannt. Die Kunden stehen auf, wenn sie sich rechtfertigen, sind Spinner von Weltformat, einer ließ stehen wackelig da, und Sturm bläst sich die Fußabdrücke seines neugebore- ihnen ins Gesicht. „Eure Sitze sind furchtnen Sohnes ins Cockpit dengeln. Geld? bar“, fährt Winterkorn einen WerksleiKein Thema. Rund 12 000 Euro kostet ter an. eine Inspektion. Na und? Es gibt hier einen Standardspruch der Klar, Winterkorn kann erklären, wie Unterwerfung: „Ich nehme das mit“, sasinnvoll das alles ist, welche Technologien gen die Gemaßregelten, wenn es vorbei später auch in biederen Autos Verwen- ist. Einer muss dringend weg, muss zum dung finden. Aber in Wahrheit ist Bugatti Flughafen, aber Winterkorn ist noch nicht der Gipfel der automobilen Sinnlosigkeit, fertig. Ein letzter Sturm, dann darf er geeine elegante Frechheit gegenüber einer hen. „Ich nehme das jetzt mit“, sagt der Welt der verstauten Straßen, verstaubten Mann, der selbst ein Chef ist, und dann Städte und des Klimawandels. Es gibt Bu- geht er, und sein Rollkoffer folgt ihm wie gatti nur, weil Leute wie Piëch und Win- ein treuer Hund, ein letzter Freund. Das ist Nordkorea minus Arbeitslager. terkorn schnelle Autos geil finden, und am geilsten ist es natürlich, das schnellste Auch Angst hält diesen Konzern zusamAuto der Welt zu haben. Der Veyron hält men. Winterkorn selbst erzählt die Geden Weltrekord, 431 Stundenkilometer. Es schichte von einer Feier zu seinem 65. macht keinen Sinn, in einem Konzern fünf Geburtstag. Er war in Wolfsburg, und aus Marken zu halten, die superschnelle Sport- seiner Konzernwelt wurden ihm via Telewagen bauen, Porsche, Lamborghini, Bu- schaltung Lieder gesungen, aus China, gatti, Audi, Bentley. Es macht gewissen aus Brasilien. Er hat sich bedankt und geHerren vielleicht Spaß, okay, aber Sinn sagt, dass er bald mal wieder anreisen werde. Seine Frau stand neben ihm, und macht es nicht. Es menschelt auch hier. Es ist Abend geworden in New Jersey. sie sah die Angst der Leute, für die ein Die Kolonne hält vor dem Hotel „The Besuch von Winterkorn eine Drohung ist. Westin“ in Jersey City. Die Kasse mit den Sag mal, Schatz, was treibst du denn hier, Strafgeldern ist gut gefüllt. Weil dauernd habe ihn seine Frau hinterher gefragt, einer abreißen ließ, weil sich ständig einer sagt Winterkorn. Er glaubt, dass das so sein muss. Er verfuhr, und dann mussten die anderen warten, und manchmal wurde ein Such- glaubt, dass die Größe des Konzerns diese kommando losgeschickt, und in der Zeit Härte nötig macht. Und es gibt bei VW standen der Chef von Porsche und der sehr viele Leute, die das auch glauben, Chef von Audi und der Chef von Volks- obwohl sie manchmal darunter leiden. wagen etwas dumm rum und aßen eine Die Diktatur des Martin Winterkorn ist der Bananen, die im Kofferraum mitge- bei Volkswagen akzeptiert, weil er ein führt wurden, oder ein Snickers. Winter- guter Techniker ist und gute Zahlen liekorn: „Hier ist die Intelligenz des Unter- fert. Unter seiner Führung wurde Volksnehmens versammelt, aber Kolonne fah- wagen einer der erfolgreichsten Autokonzerne der Welt. ren können wir nicht.“

2012

*seit Übernahme durch den VW-Konzern am 19.7.

NUTZFAHRZEUGE

GEWINNE/VERLUSTE, in Millionen Euro

3640

5380

712

–156

946

100

7,5

k.A.

421

808

930

k.A.

727000

429000

62000

9186

2083

31

437000

134000

67000

16786 *

FAHRZEUGABSATZ 4850 000 1 299 000 66

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Dieses Auto ist ein Exzess, ein Wahnsinn. Kein Roboter darf es berühren.

Chattanooga deutschen Boden berühren. Da nun aber auch die Exporte von Passats aus Emden in die USA entfallen, verlangte Osterloh eine Kompensation, und die sieht so aus: 120 000 Golf Variant werden nicht mehr in Mexiko, sondern im sächsischen Zwickau gebaut, und dafür gibt Zwickau Passats nach Emden ab. So hat Deutschland keinen Schaden. Hier wird auf Deutsch globalisiert. Bei den Gehältern ist Osterloh nicht so hart, wie er sein könnte. „Was nützt es, wenn wir bessere Tarifabschlüsse erreichen als unsere Konkurrenten, unsere Autos aber dadurch teurer werden und sich vielleicht schlechter verkaufen?“, fragt Bernd Osterloh und hält Frieden mit Winterkorn, über den er sagt: „Das ist ein exzellenter Techniker, der etwas vom Auto versteht. Und er ist ein Mensch, mit dem man reden kann.“ Ohne Osterloh hätte Winterkorn nie einen Chefvertrag bekommen, was für alle Vorstandsmitglieder gilt. Die Macht des Betriebsrats ist auch politisch fundiert, da das Bundesland Niedersachsen 20 Prozent der Stammaktien hält und es sich die Politik nicht leisten kann, gegen die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat zu stimmen.

Bugatti Veyron

Winterkorn glaubt, dass seine Jovialität seine Härte ein bisschen ausgleicht: „Natürlich gibt es manchmal Krach, keine Frage. Aber wenn ich dann merke, dass der andere zu sehr betroffen ist, dann nehme ich ihn in den Arm und sage: ,War nicht persönlich gemeint.‘“ In Jersey City fiel das aus. Winterkorn nahm niemanden in den Arm, er musste schnell weg, ein weiterer Termin. Kein Diktator kann uneingeschränkt regieren, auch Martin Winterkorn nicht. Neben der Obstruktion begrenzen zwei Männer seine Macht. Der eine ist Bernd Osterloh, 56, der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats. „Herr Osterloh ist ein sehr enger Vertrauter von uns“, sagt Winterkorn, „auch weil er fast so autoverrückt ist wie wir.“ Osterloh ist auch ein car guy, kann mitreden über den Bereich

jenseits der 300, weil er eine Rennlizenz hat und sich für ein Wochenende einen Lamborghini Gallardo gegönnt hat, zum Testen. Er spielt brav das Großer-HäuptlingSpiel mit, lässt sich von Winterkorn als „Osterloh“ anpflaumen und duzen, während er „Herr Winterkorn“ sagt, manchmal aber auch, „wenn ich ihn ärgern will, Herr Professor Winterkorn“. Darauf sage Winterkorn: „Was willst du denn jetzt schon wieder?“ Die Macht des Osterloh ist die Satzung, die festschreibt, dass der Aufsichtsrat über den Bau neuer Werke nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln entscheiden kann, also werden die Stimmen der Arbeitnehmer gebraucht. Es sind deutsche Betriebsräte, sie vertreten deutsche Interessen, und deshalb darf kein Passat aus D E R

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ARTVERTISE

Piëch: Der Mann im Hintergrund Der zweite Mann, der Winterkorns Macht beschränkt, ist Ferdinand Piëch, einer der Enkel von Ferdinand Porsche, einst Chef von Volkswagen, nun Vorsitzender des Aufsichtsrats. Winterkorn nennt ihn „Herr Piëch“ oder „Chef“. Wenn Piëch in Genf über den AutoSalon geht, ist er von einem magischen Kreis umgeben, den niemand übertreten mag, aus Furcht, aus Respekt. Selbst Menschen, die ihn schon länger kennen, sprechen ihn erst an, nachdem Ehefrau Ursula sie mit einem Lachen dazu eingeladen hat. Nun öffnet sich der unsichtbare Kreis, man tritt heran, und Piëch ist dann überraschend charmant und witzig. Er hat dieses Weltreich geschmiedet, hat sechs der zwölf Marken in den Konzern geholt, und Alfa Romeo hätte er gern auch noch. Piëch hat eine ähnliche Autorität wie Winterkorn, sie kommt aus dem technischen Verständnis und wird ergänzt durch manchmal brutale Härte. Winterkorn sagt über Piëch, mit dem er seit 32 Jahren zusammenarbeitet: „Wir haben dieselben Augen, wir haben dasselbe Gefühl. Ich bin sicher derjenige, der auf Details und Karosserie achtet, er ist mehr der Fahrdynamiker.“ Piëch sagte über Winterkorn: „Winterkorn und ich denken in technischen Belangen so ähnlich, dass man vieles überhaupt nicht besprechen muss. Er handelt so, wie ich handeln würde.“ Porsche-Chef Müller sagt über beide: „Winterkorn ist kein besonders struktu67

VW-Chef Winterkorn (2. v. r.) auf der Hannover Messe

JENS WOLF / DPA

„Hier ist die Intelligenz des Unternehmens versammelt, aber Kolonne fahren können wir nicht.“

rierter Mensch, eher bauchorientiert. Im Grunde ist er eine Kopie von Piëch.“ Ferdinand Piëch ist der starke Mann im Hintergrund, aber die Arbeit macht Winterkorn. Zuletzt hat er sich mit der Frage beschäftigt, ob Luiz Gustavo von Bayern München zum VfL Wolfsburg wechseln kann. Die großen Reiche sind auch an Überdehnung gescheitert, Rom, Napoleons Frankreich, Hitlers Deutschland. Winterkorns Reich spannt sich von der Currywurst bis zum Bugatti Veyron, von Wolfsburg bis Shanghai; und alles muss wachsen, wachsen, wachsen, um die Nummer eins zu werden. Nicht erst 2015, wie ursprünglich geplant, sondern schon 2014 will der Konzern zehn Millionen Autos produzieren. Ein Weltreich, aber auch ein disparates Gebilde, das nicht von einer inneren Logik zusammengehalten wird, sondern von 68

zwei Menschen, Piëch und Winterkorn, zwei Großautoritäten. Aber Winterkorn ist 66, Piëch 76. Es stimmt, was Winterkorn gesagt hat: Bei VW wächst dort Gras, wo er hinschaut. Aber er kann nicht überall hinschauen. Seat hat Verluste von über einer Milliarde Euro angehäuft. Die Rendite der Marke Volkswagen ist kümmerlich. Audi hat Probleme, innerhalb eines Jahres wurde zweimal der Entwicklungschef ausgetauscht. Winterkorn sagt, dass er zu wenig Zeit hatte, um sich um Audi zu kümmern. Als er seinen Wutausbruch wegen VW Nordamerika hatte, sagte er hinterher im Auto, dass er sich über sich selbst ärgere. Er habe sich nicht genug kümmern können. Winterkorn hat ein übermenschliches Programm. Künftig wolle er sich noch mehr mit den Nutzfahrzeugen des Konzerns befasD E R

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sen, hat er dem Betriebsrat Osterloh gesagt. Der hat ihn nur gefragt: „Wollen Sie für sich die 80-Stunden-Woche einführen?“ Womöglich hat er die schon, da er sich um jeden Sitzhebel Gedanken macht. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in die Toyota-Falle laufen“, sagt Winterkorn. Die Nummer eins der Autowelt wuchs und wuchs – und hatte plötzlich ein Qualitätsproblem. Auch Volkswagen hat ein Warnsignal bekommen, ausgerechnet in China. Klagen von Kunden über das sogenannte DSG-Getriebe drangen nicht bis zu Winterkorn vor, er schaute nicht hin, und nun gibt es eine teure Rückrufaktion für insgesamt über eine halbe Million Fahrzeuge, weil das Getriebe bei Hitze und Luftfeuchtigkeit nicht richtig arbeitet. „Wir müssen aufpassen, dass uns die menschlichen Ressourcen nicht ausgehen“, sagt Winterkorn. Aber an diesem Punkt ist man schon: an der Spitze. Es wird schwer für VW, weiterzuwachsen, weil Winterkorn nicht weiterwachsen kann. Mehr ist nicht möglich. Und in wenigen Jahren geht er in den Ruhestand. Es ist niemand in Sicht, der ein Herrscher sein könnte so wie er. Es ist schwer, unter seiner Wucht zu wachsen. Womöglich wird der Konzern nach ihm in mehrere Gruppen zerfallen, mit einer schwachen Zentrale. Das ist oft das Problem von Diktaturen, sie hängen an einzelnen Leuten und sind daher nicht von Dauer. Demokratien sind nachhaltiger. Und die Konkurrenz schläft natürlich nicht. Bei der Konzernabnahmefahrt steigt Winterkorn auch in einen Kia Forte, der als Vergleichsfahrzeug mitfährt. Er stellt den Fahrersitz auf seine Länge ein und ist beeindruckt. Der Hebel geht leicht. Winterkorn streicht über das Armaturenbrett, „völlig ohne Flecken, alles seidenmatter Glanz“, wie es sein muss. Seine Miene wird nachdenklich. Er fährt los, es regnet auf die grünen Hügel von New Jersey. Winterkorn reißt das Lenkrad nach links, lässt es los und sieht mit Genugtuung, dass es sich nicht spontan zentriert. Das können die Koreaner also nicht. Ein heftiger Tritt aufs Gaspedal, der Kia zieht nur träge an, und jetzt ist Winterkorn einigermaßen versöhnt. Aber dann redet er doch viel darüber, wie ernst man die Koreaner nehmen müsse und dass Volkswagen nicht nachlassen dürfe. Sonst sei der Konzern Hyundai/Kia irgendwann die Nummer eins. Als die Kolonne hält, ruft er ein paar Techniker herbei, und die sollen doch, bitte schön, mal an dem Sitzhebel ziehen, der bei diesem Kia leichter geht als bei einem Volkswagen: „Wie kann das denn sein?“ Video: Recherche hinter dem Lenkrad spiegel.de/app342013vw oder in der App DER SPIEGEL

Wirtschaft

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Wir lassen uns nicht treiben“ Vorstandschef Heinrich Hiesinger treibt den Umbau von ThyssenKrupp voran. Er setzt weiter auf den Verkauf der Verlustbringer in Amerika, eine Zerschlagung des Konzerns aber will er mit aller Macht verhindern. zweieinhalb Jahren ThyssenKrupp-Chef. Wann haben Sie realisiert, auf welches Himmelfahrtskommando Sie sich eingelassen haben? Hiesinger: Dass es schwierig wird, wusste ich von Anfang an. ThyssenKrupp hatte sich zum ersten Mal entschieden, einen Unternehmenschef von außen zu holen. Das macht man ja nicht, wenn alles gut läuft. Was ich aber nicht ansatzweise erwartet habe und was mir auch nicht so beschrieben wurde, war, dass unsere neuen Stahlwerke in Amerika nicht so funktionieren werden, wie es geplant war. SPIEGEL: Als Sie antraten, glaubten Sie, den Konzern in seiner Struktur erhalten zu können. Ist das noch so? Hiesinger: Ja, das ist unser Ziel, trotz aller Risiken. Wir sind auf einem guten Weg und haben bisher eingehalten, was wir versprochen haben. Wir haben den Konzern effizienter aufgestellt und unsere Ertragskraft erhöht. Dass der Verkauf der Werke in Amerika sich länger hinzieht, liegt daran, dass wir sorgfältig vorgehen. Und da lassen wir uns auch nicht von den Erwartungen der Öffentlichkeit treiben. SPIEGEL: Sie werden doch nicht von der Öffentlichkeit getrieben, sondern vom Zustand Ihres Konzerns: Das Eigenkapital schrumpft und schrumpft, es liegt auf dem niedrigsten Stand aller Dax-Konzerne. So kann es nicht lange weitergehen. Hiesinger: Dass wir das Eigenkapital extrem belasten werden, war klar, nachdem wir die Dimension der Aufräumarbeiten gesehen haben. Der Verlust von 1,2 Milliarden Euro, den wir gerade bekanntgegeben haben, ist ausschließlich die Folge von Altlasten. Das müssen wir ertragen, und daran kann die Mannschaft, die heute hart und erfolgreich arbeitet, nichts ändern. Aber wir hatten unsere Investoren auf diese Einschnitte vorbereitet. SPIEGEL: Ihre Investoren hatten in der vergangenen Woche fest damit gerechnet, dass Ihnen der Befreiungsschlag gelingt, die verlustreichen Werke in Brasilien und in den USA abzustoßen. Sie sind erneut enttäuscht worden. Warum zieht sich der Verkauf so lange hin? Hiesinger: Das hat mehrere Gründe. Zunächst: Ein Hochofen in Brasilien läuft

CATRIN MORITZ / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Herr Hiesinger, Sie sind seit

Heinrich Hiesinger wurde 1960 als ältestes von sechs Kindern einer Bauernfamilie in Württemberg geboren. Nach Studium und Promotion ging der Ingenieur direkt zu Siemens, 2007 – mitten in der Korruptionsaffäre – stieg er dort in den Vorstand auf. Gerhard Cromme, damals Chefkontrolleur bei Siemens und ThyssenKrupp, holte Hiesinger gegen massive Widerstände im Jahr 2010 nach Essen. Seit seinem Amtsantritt als ThyssenKrupp-Chef im Januar 2011 kämpft Hiesinger um das Überleben des schwer angeschlagenen Traditionskonzerns.

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WAZ FOTOPOOL / ACTION PRESS

Hiesinger: Das sehe ich anders. Wir haben

Manager Cromme, Stiftungsvorsitzender Beitz 2012: „Vorauseilender Gehorsam“

noch nicht komplett. Niemand will einsteigen, wenn er nicht sieht, dass alles in Ordnung ist. Zum anderen sitzen bei den Verhandlungen in Brasilien mehrere Parteien am Tisch. Und drittens wurden in der Vergangenheit langfristige Verpflichtungen eingegangen, die im Zuge des Verkaufs neu geregelt werden müssen. SPIEGEL: Dazu war über ein halbes Jahr Zeit. Glauben Sie ernsthaft, die Werke noch zu einem angemessenen Preis verkaufen zu können? Hiesinger: Wir verhandeln intensiv mit einem führenden Bieter. Und so lange wir bei der Klärung der strittigen Punkte weiterkommen, machen die Verhandlungen auch Sinn. SPIEGEL: Die beiden Werke haben ThyssenKrupp schon mehr als zehn Milliarden Euro gekostet. Wie konnte es zu so einer gigantischen Fehlinvestition kommen? Hiesinger: Natürlich sind bei der Planung und beim Bau der Werke Fehler gemacht worden. Die wären jedoch heilbar gewesen. Entscheidend ist, dass sich seit dem Zeitpunkt der Entscheidung das gesamte Umfeld radikal verändert hat – und zwar so schnell, wie es früher nicht üblich war. Keiner konnte voraussehen, wie dramatisch sich die Preise für Eisenerz erhöhen würden. Damit waren die gesamten Geschäftspläne nicht mehr zu halten. SPIEGEL: Also war die Grundentscheidung zum Bau der Werke damals richtig? Hiesinger: Ich sage nicht, dass die Entscheidung richtig war. Möglicherweise hätte ein anderer Vorstand entschieden, nicht so viel Geld in Stahl und mehr in andere Geschäfte zu investieren. Was ich sage, ist, dass hier nicht absehbar falsch oder vorsätzlich gehandelt worden ist. SPIEGEL: Hätte der alte Vorstand noch irgendwann die Reißleine ziehen können? Hiesinger: Ich schaue nicht zurück, dafür habe ich keine Zeit. Wir müssen das Unternehmen strategisch weiterentwickeln, so, wie wir es uns vorgenommen haben. 70

In dem Teil, den unsere Mannschaft beeinflussen kann, gibt es große Fortschritte. Im Anlagenbau und im Geschäft mit Aufzügen etwa haben wir acht Prozent Wachstum, das ist bei anderen Unternehmen im derzeitigen konjunkturellen Umfeld nicht üblich. Darauf sind wir stolz. SPIEGEL: Ihren Optimismus in Ehren, aber der Konzern hat 20 Milliarden Euro Schulden. Wie wollen Sie die jemals abbauen? Hiesinger: Die Zahl ist zu hoch gegriffen, knapp acht Milliarden davon sind langfristige Pensionsverpflichtungen, die kann man ja kurzfristig nicht ändern. Bei den Nettoschulden haben wir Fortschritte gemacht und sie im laufenden Geschäftsjahr um 500 Millionen Euro reduziert. Mit dem Verkauf des amerikanischen Stahlgeschäfts werden wir einen weiteren Schritt machen. Wir sind 2011 mit einem Programm angetreten, das eine Neuausrichtung des Konzerns und den Verkauf von einem Viertel des Unternehmens vorsah. Das haben wir abgearbeitet. Wenn wir das nicht gemacht hätten, sähe die Lage heute ganz anders aus. SPIEGEL: Dennoch wird im Umfeld des Konzerns seit Wochen über eine Zerschlagung und den Verkauf des Stahlgeschäfts spekuliert. Was ist dran? Hiesinger: Das ist völliger Unsinn. Es gibt keine Überlegungen und keine Gespräche zu diesem Thema. Wir sind angetreten, das Unternehmen umzubauen, und nicht, um es zu zerschlagen. Was wir machen, ist der größte Umbau des Unternehmens seit der Fusion von Thyssen und Krupp im Jahr 1999. Wir sehen in allen Bereichen des Unternehmens enormes Potential … SPIEGEL: … was offenbar in der Vergangenheit verschüttet wurde. Hiesinger: Jedenfalls befinden wir uns mitten in einer gewaltigen Aufholjagd. Vieles hatte bei uns noch kein Industrieniveau. SPIEGEL: Um die neuen Zukunftsgeschäftsfelder auszubauen, brauchen Sie Geld, das Sie nicht haben. D E R

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in fast allen Zukunftsbereichen mehr investiert und mehr für Forschung und Entwicklung ausgegeben als in den Jahren zuvor. Unsere Automobilsparte etwa baut vier Fabriken in China und eine in Indien. Wir bauen Altlasten ab, investieren gleichzeitig in die Zukunft und scheuen keine harten Entscheidungen. 70 Prozent der ersten Führungsebene wurde ersetzt, unser Kostensenkungsprogramm spart zwei Milliarden Euro. SPIEGEL: Dann brauchen Sie die Kapitalerhöhung, über die derzeit so viel geredet wird, gar nicht? Hiesinger: Das habe ich nicht gesagt. Eine Kapitalerhöhung ist für uns eine mögliche Option. Sie ist sicher leichter, wenn wir zeitnah auch unser Amerika-Problem lösen können. SPIEGEL: Sie glauben, Investoren wären dann bereit, in den Konzern zu investieren? Woher rührt der Optimismus? Hiesinger: Bei uns haben sich eine ganze Reihe von Interessenten gemeldet, die gern dabei wären. Aber es gibt bisher keinen Beschluss des Vorstands zu diesem Thema. SPIEGEL: In der Vergangenheit war die mit rund 25 Prozent an ThyssenKrupp beteiligte Krupp-Stiftung ein Hemmschuh, wenn es um Kapitalerhöhungen ging. Glauben Sie, solche Maßnahmen leichter durchsetzen zu können, nachdem der langjährige Stiftungsvorsitzende Berthold Beitz vor drei Wochen verstorben ist? Hiesinger: Das ist so nicht richtig. Herr Beitz – und das ist mir sehr wichtig – hat uns noch zu Lebzeiten die Tür für einen solchen Schritt aufgemacht. Er hat im März in einem Interview gesagt, dass er sich einer Kapitalerhöhung nicht widersetzen würde, wenn die Firma triftige Gründe hat. Das war eine klare Willenserklärung. Es gab keine Blockade. SPIEGEL: Beitz und seine Stiftung hatten in der Vergangenheit maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung im Konzern. Wie soll das Vakuum gefüllt werden? Hiesinger: Ich kenne all diese Geschichten. Aber die Rolle von Herrn Beitz als jemand, der aktiv in das Tagesgeschäft eingegriffen hätte, stimmt nicht. Bis zu seinem Tode habe ich von ihm keinen einzigen Brief oder Anruf zu einem geschäftlichen Thema bekommen. Er hat als Ehren-Aufsichtsratsvorsitzender an den Sitzungen der Gremien teilgenommen, er hat aber nur zugehört. Ihm lag das Unternehmen am Herzen. SPIEGEL: Sie wollen sagen, der große Patriarch war gar nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen? Hiesinger: Doch, aber anders als es dargestellt wird. Als wir etwa den milliardenschweren Verkauf der Edelstahlsparte beschlossen hatten, sind wir zu ihm gefahren und haben ihm erläutert, warum

Wirtschaft SPIEGEL: Das heißt, Sie tun alles, damit die Stiftung 25 Prozent behält? Hiesinger: Nein, das habe ich nicht gesagt. Gründung der Sparte Nur dieser Mythos der 25 Prozent muss „Steel Americas“ einmal geradegerückt werden. SPIEGEL: Inwiefern? Hiesinger: Es geht letztlich nicht darum, 927 wie viel Prozent die Stiftung hält, sondern um ihr Entsenderecht in den Aufsichtsrat und wie man dort Mehrheiten bekommt und ungewollte Entscheidun2011/12 gen verhindern kann. Dafür braucht man 2007/08 nicht unbedingt drei Aufsichtsräte und 2009/10 auch nicht 25 Prozent. Dafür reicht auch weniger, etwa 20 Prozent. SPIEGEL: Das heißt: Die Kapitalerhöhung wird so gestaltet, dass die 2012/13 Stiftung nicht unter diese kriti(9 Monate) sche Marke rutscht? –1205* Hiesinger: (lacht) Da wir bislang ja keine Kapitalerhöhung beschlossen haben, will ich mich an solchen Spekulationen auch lieber nicht beteiligen. SPIEGEL: Ihre Vorgänger Ekkehard Schulz und Gerhard SPIEGEL: Der Chef der RAG-Stiftung, WerCromme haben sich an so ner Müller, drängt sich als Retter auf. Er hat Kredite aus seiner Stiftung in Aussicht heikle Themen nicht getraut. gestellt. Haben Sie darum gebeten? Warum? Hiesinger: Das kann ich nicht Hiesinger: Nein, das haben wir nicht. Wir beantworten. Herr Cromme haben Erfolge vorzuweisen, eine überhat mich geholt und damit zeugende Story und Perspektiven. Wenn die Veränderung eingeleitet. die RAG-Stiftung daran glaubt, kann sie Ich glaube, dass ich zu Herrn – 5067 unsere Aktien am freien Markt kaufen. Beitz schnell ein sehr gutes SPIEGEL: Aber intern warnen Sie doch Verhältnis aufbauen konnte, selbst vor einem Kollaps. Ihren Führungsweil er gemerkt hatte, dass ich unabhängig kräften haben Sie gesagt, dass der Kondenke und handele. So konnte ich – mit zern die Aufdeckung eines weiteren Kardem ihm gebührenden Respekt – auch tells wohl nicht mehr verkraften würde. heikle Themen ansprechen und klären. Hiesinger: Ja, das gehört zu der neuen KulSPIEGEL: Sie sprechen von den Jagdrevie- tur, Risiken und Herausforderungen anren, die ThyssenKrupp auch für Beitz un- zusprechen. Ich habe das getan, als das terhielt und der Nutzung des Firmenjets. Kartellamt aufgrund eines anonymen HinHiesinger: Auch hier gab es überhaupt weises Ermittlungen aufgenommen hatte. keine Probleme. SPIEGEL: Es geht um den Verdacht von SPIEGEL: Nun ist die Stiftung aufgrund ih- Preisabsprachen in der Stahlproduktion. res 25-Prozent-Anteils mit Privilegien Hiesinger: Richtig. Aus dem Amnestieproausgestattet. Sie darf etwa drei Aufsichts- gramm für aussagewillige Mitarbeiter haräte entsenden und stellt so ein Bollwerk ben sich keine Hinweise ergeben. Doch gegen feindliche Angreifer dar. Diese die Ermittlungen stehen am Anfang. Falls Schutzfunktion würde mit einer Kapital- man etwas finden sollte, ginge es um geerhöhung kippen, weil der Anteil der Stif- waltige Größenordnungen. Das habe ich tung kleiner würde. Ist Ihnen das egal? den Führungskräften so gesagt. Jedem Hiesinger: Nein, im Gegenteil: Es ist ganz muss klar sein, dass Compliance-Verstöße wichtig, dass wir einen verlässlichen alle Erfolge zunichtemachen können. Ankeraktionär haben und auch erhalten. SPIEGEL: Es wäre nicht das erste KartellDas tut uns gut. Und ohne diese Stütze verfahren. ThyssenKrupp kommt wegen illegaler Absprachen und Selbstbediewäre der Umbau viel riskanter. nung von Managern nicht aus den Schlagzeilen. Wie erklären Sie das? Hiesinger: Das entsteht, wenn Verantwortliche Fehlverhalten nicht rigoros unterbinden. SPIEGEL: Und das war hier der Fall? Hiesinger: Ich kann nur sagen, jetzt gibt es das nicht mehr. Wir haben null Toleranz, und wir akzeptieren lieber den Rückgang des Geschäfts als irgendwelche illegalen Machenschaften. Manager Hiesinger (M.), SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Herr Hiesinger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. „Überzeugende Story und Perspektiven“

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2005/06

Harte Zeiten Gewinn/Verlust von ThyssenKrupp in Millionen Euro * Periodenfehlbetrag

wir es für notwendig erachteten, die Traditionssparte abzugeben. SPIEGEL: Wie hat er reagiert? Hiesinger: Er hat gesagt: „Herr Hiesinger, mich interessiert nur eins, stellen Sie das Unternehmen zukunftsfähig auf. Ich finde es gut, dass Sie mir die Sache erläutern, weil ich Herzblut im Edelstahlgeschäft habe, aber Sie müssen mit dem Vorstand und Aufsichtsrat den richtigen Weg für das Unternehmen finden. Dabei werde ich Sie unterstützen.“ SPIEGEL: Vor Ihnen haben sich Manager oft auf das Votum von Berthold Beitz berufen. Gab es so etwas wie vorauseilenden Gehorsam? Hiesinger: Nach meinem Eindruck: ja. Auch mir wurde zum Amtsantritt gesagt, dass man bestimmte Sachen im Unternehmen nicht durchsetzen kann, weil die Stiftung das nicht will. Als wir Anfang 2011 im Vorstand beschlossen hatten, fast 25 Prozent von ThyssenKrupp zu verkaufen, um die Zukunft zu sichern, war das genauso. Sofort hieß es: „Das wird Beitz nicht mitmachen.“ Tatsächlich hatte ihn wohl bis dahin niemand dazu befragt. SPIEGEL: Und das war kein Einzelfall? Hiesinger: Nein, auch bei dem heiklen Thema der Dividendenzahlungen … SPIEGEL: … aus denen sich die Stiftung finanziert … Hiesinger: … war das so. Als wir im vergangenen Jahr nach dem Rekordverlust beschlossen hatten, keine Dividende zu zahlen, wurde mir gesagt, das wird schwierig, Beitz werde das kaum akzeptieren. Wir sind dann zu ihm gefahren, und ich habe ihm beim Mittagessen gesagt: „Herr Beitz, Sie kennen die Situation, wir haben diese enorme Abschreibung, der Vorstand kann auf dieser Basis keine Dividende zahlen.“ Beitz hat nur gesagt: „Das habe ich mir schon gedacht, aber wir haben in der Stiftung vorgesorgt und können damit ganz gut umgehen.“ * Frank Dohmen und Armin Mahler in der ThyssenKrupp-Zentrale in Essen.

CATRIN MORITZ / DER SPIEGEL

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SEDATMEHDER.COM / DER SPIEGEL (L.); EREN AYTUĞ / DER SPIEGEL (R.)

Skyline der Metropole Istanbul, Familie Kiraz: „Früher haben wir nur etwas gekauft, wenn wir das Geld hatten, jetzt kaufen wir immer“

SCHWELLENLÄNDER

Hexenjagd am Bosporus Nach den regierungskritischen Protesten sucht Premier Erdogan in der Finanzindustrie nach Schuldigen: Banken werden kontrolliert, Großindustrielle eingeschüchtert. Dieser Furor verschreckt ausländische Investoren.

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ie Sonne ist längst untergegangen, doch in den Straßenschluchten des Istanbuler Börsenviertels Levent staut sich die Hitze. Auf den Plakatwänden räkeln sich Unterwäsche-Models. Schwarze Limousinen schieben sich Stoßstange an Stoßstange über die vierspurige Büyükdere Caddesi.  In einem Café abseits der Bürotürme nimmt Umut Keles, türkischer Analyst einer amerikanischen Investmentbank, den Akku aus seinem Handy, er fürchtet, von der türkischen Regierung abgehört zu werden. Er hat für das Gespräch zwei Bedingungen gestellt: Sein echter Name und der seines Arbeitgebers sollen nicht genannt werden. Der Investmentbanker glaubt, die Regierung werde sonst gegen ihn vorgehen. „Hier geschieht gerade eine Hexenjagd“, sagt er. Levent ist das Geldhaus der Türkei: Banken wie HSBC oder die Deutsche Bank und etliche Konzerne unterhalten hier Dependancen. Sie haben den türkischen Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre mitfinanziert. Doch nun werden sie von der Regierung verdächtigt, Putschisten und Terroristen zu unterstützen. „Wir haben alle Angst“, sagt Keles. Kollegen denken darüber nach auszuwandern. 72

Seit gut zwei Monaten gehen die Men- Deutschen Bank, der Credit Suisse und schen in der Türkei gegen die Regierung der Citigroup. Die Kommunikation der von Ministerpräsident Recep Tayyip Er- Banken mit ihren ausländischen Kunden dogan auf die Straße. Die Polizei hat den seit Beginn der Proteste in der Türkei wird Protest, der als Kampagne gegen die Ab- nun geprüft, Konten werden gesichtet. holzung des Gezi-Parks in Istanbul begon- Die Kontrolleure suchen nach einem Benen hatte, brutal niedergeschlagen. Min- leg dafür, dass Regierungsgegner die destens fünf Menschen starben bislang bei Märkte manipulierten, um den Aufstand den Demonstrationen, rund 8000 wurden gegen Erdogan zu befeuern. Keles sagt, verletzt. Erdogan sieht die Verantwortung er wage es nicht mehr, Klienten zu raten, für den Gewaltexzess jedoch nicht bei sei- türkische Papiere zu verkaufen, aus Angst, ner Regierung oder den Sicherheitskräften. als Staatsfeind verhaftet zu werden. „Bei der Suche nach einem SündenDie Unruhen, behauptet er, gingen von inländischen Provokateuren und ihren aus- bock scheint jede Rationalität verlorengegangen zu sein“, sagt Timothy Ash, ländischen Kollaborateuren aus.  Bei der Jagd nach Schuldigen gerät Chefvolkswirt für Schwellenmärkte bei eine Gruppe zunehmend ins Visier der der Standard Bank in London. Oppositionspolitiker, Anwälte, Journatürkischen Regierung: die Finanzindustrie. Erdogan hetzte bereits in den ersten listen sind in der Türkei seit Jahren ReWochen der Revolte gegen die auslän- pressionen durch den Staat ausgesetzt. dische „Zinslobby“ und kündigte an, Doch nun richtet sich Erdogans Aggression Spekulanten zu „erdrosseln“. Sein Stell- erstmals auch gegen die Eliten der Wirtvertreter, Beşir Atalay, vermutet die „jü- schaft. Der Premier warf der Koç Holding, dem größten Konzern des Landes, vor, dische Diaspora“ hinter den Protesten. Die Regierung leitete inzwischen Er- „mit dem Terror zu kooperieren“. Die Koçmittlungen am Aktienmarkt ein. In den Familie verfügt weltweit über mehr als vergangenen Wochen sammelten die hundert Unternehmen – darunter EnergieBehörden E-Mails, Telefonprotokolle, firmen, Werften, Lebensmittelketten – und Chat-Nachrichten verschiedener interna- beschäftigt über 80 000 Mitarbeiter. Das tionaler Finanzinstitute ein, darunter der Divan-Hotel in Istanbul, das ebenfalls zu D E R

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Wirtschaft dem Konglomerat gehört, nahm während der Gezi-Proteste Demonstranten auf, die vor der Gewalt der Polizei flohen. Ende Juli filzten Steuerfahnder in Begleitung der Polizei 77 Niederlassungen der Koç-Energiefirmen Tüpras und Aygaz, beschlagnahmten Computer und Unterlagen. Der Aktienkurs des Konzerns sackte daraufhin ab. Die Koç Holding verlor innerhalb von drei Tagen mehr als eine Milliarde Euro an Wert. Erdogans miserables Krisenmanagement verunsichert die Märkte. Anleger zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit und Stabilität des Landes. In den ersten drei Wochen der Revolte stießen Investoren türkische Anleihen und Aktien im Wert von über 1,6 Milliarden Dollar ab. Der türkische Aktienindex stürzte um fast 20 Prozent ab. Die Lira verlor deutlich an Wert. Die Turbulenzen treffen die Türkei zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Ben Bernanke, der Chef der amerikanischen Zentralbank, deutete im Mai eine strengere Liquiditätspolitik an. Bernanke will fortan weniger Geld in die Märkte pumpen. Investoren zogen daraufhin vor allem aus Schwellenländern Kapital ab.  Die Türkei aber ist in hohem Maße abhängig von jenen internationalen Geldgebern, gegen die Erdogan nun vorgeht. Ausländische Anleger haben in seiner Regierungszeit von 2003 bis 2012 rund 400 Milliarden Dollar in die türkische Wirtschaft investiert. In den 20 Jahren zuvor waren es lediglich 35 Milliarden. Der Wirtschaftsboom der Erdogan-Jahre wurde vor allem durch Euro und Dollar befeuert – nicht durch türkische Lira. Erdogans politischer Aufstieg begann in den neunziger Jahren mit einem Versprechen: Auch gläubige Muslime können Geld verdienen. Muslimische Politiker, darunter Erdogans Förderer, der frühere türkische Ministerpräsident Necmettin Erbakan, hatten die freie Marktwirtschaft lange Zeit mit dem Westen gleichgesetzt und abgelehnt. Erdogan hingegen setzte auf den Kapitalismus. 2001 hatte in der Türkei die Regierung abgewirtschaftet – und mit ihr das säkulare, militaristische Establishment. Eine Wirtschaftskrise plagte das Land. Die Arbeitslosigkeit erreichte ein Rekordniveau. Erdogan nutzte die Gelegenheit, um gemeinsam mit dem späteren Staatspräsidenten Abdullah Gül eine eigene Partei zu gründen: die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Ein Jahr später triumphierte sie überraschend bei den Parlamentswahlen.  Als Premier verfolgte Erdogan einen weitgehend neoliberalen Kurs: Er privatisierte große staatliche Unternehmen wie Türk Telekom, die Öl- und Gasindustrie, Häfen und Flughäfen, er liberalisierte den Arbeitsmarkt und bekämpfte erfolgreich die Inflation. Unter Erdogan wuchs die türkische Wirtschaft jährlich um bis zu neun Prozent, das Bruttoinlandsprodukt

stieg von 3519 Dollar pro Einwohner auf Wohlstand zu verdanken, und verteidigen den Premier auch jetzt, da sich infolge der über 10 000 Dollar. Der Erfolg täuschte lange Zeit über ein Gezi-Proteste das halbe Land über ihn strukturelles Defizit hinweg, das die AKP empört. „Die ganze Welt beneidet uns um nicht behoben, sondern im Gegenteil be- unseren Premier, sogar die Griechen“, sagt fördert hat. Die Türkei importiert, anders Kiraz. Und doch regen sich auch in ihm als Deutschland, seit Jahren deutlich erste Zweifel. Alles, was er besitzt, die mehr Güter, als sie exportiert – und häuft Wohnung, die Möbel, die Telefone, ist so Schulden an. Das Handelsbilanzdefizit durch Kredite finanziert. Selbst Lebensstieg unter Erdogan von 16 Milliarden auf mittel bezahlt er auf Raten. Kiraz hat ei84 Milliarden Dollar im Jahr 2012. Das nen Zweitjob angenommen. Er und seine türkische Wirtschaftswunder ist zumin- Frau beliefern Geschäfte mit Essen. Hamid Kiraz fährt die Lebensdest in Teilen auf Pump geBrüchiges Wunder mittel aus, Gülçin steht in baut. Hamid Kiraz, 36 Jahre Wirtschaftsleistung der Türkei, der Küche – manchmal 15 Stunden am Tag, sieben alt, Chemielaborant, ist ei- Veränderung in Prozent Tage die Woche. Wenn ner von Millionen Türken, gegenüber 2001 die von diesem Wunder +78% man die beiden nach ihren Schulden fragt, sagen sie profitiert haben. Vor kurnur: „Wir wollen es gar zem kaufte er für sich, seinicht wissen.“ Das Leben ne Frau Gülçin und die 2002: +60 sei verführerisch geworden zwei Töchter eine „Toki“- Wahlsieg durch Kreditkarten. „FrüWohnung in Kayaşehir, ei- der AKP +40 her haben wir nur etwas gener Satellitenstadt am kauft, wenn wir das Geld Rand von Istanbul. hatten“, sagt Hamid Kiraz, Die Toplu Konut Idaresi +20 „jetzt kaufen wir einfach Başkanligi, kurz Toki, ist immer.“ die staatliche WohnungsQuelle: EU-Kommission baubehörde. Die RegieFamilie Kiraz wirtschaf0 rung lässt im ganzen Land tet im Kleinen so ähnlich 2013 gigantische Hochhaussied- 2001 wie die Regierung Erdogan Prognose lungen errichten. Die Wohim Großen. Ökonomen 90 nungen werden zu ver- Türkischer warnen vor einer Überhitgleichsweise niedrigen Börsenindex zung der Wirtschaft, gerade Preisen an Bewerber ver- BIST 100 in der Bauindustrie sei eine 80 kauft. Blase entstanden. Makler in tausend Auf dem Marktplatz in klagen, es falle ihnen 70 Kayaşehir thront, anders schwer, Immobilien zu verals in türkischen Städten Juni 2013: 60 kaufen. Erdogan ignoriert üblich, keine Statue des die Bedenken. Er will den Beginn der Proteste laizistischen StaatsgrünBoom aufrechterhalten. Sei50 ders Atatürk, stattdessen ne Regierung will einen Thomson eine Toki-Statue mit Dank Quelle: „zweiten Bosporus“ errichReuters Datastream 40 an Erdogan – daneben Moten, der das Marmarameer 2012 2013 schee und Einkaufszenmit dem Schwarzen Meer trum, Symbole der Erdoverbindet. Im Norden der gan-Regierung. Vor eini- Türkische Stadt soll 2019 ein neuer Juni 2013: gen Wochen hat der Minis- Lira Flughafen eröffnet werden, Beginn der Proteste 0,44 der größte der Welt, mit terpräsident eine U-Bahn- in Euro Station in dem Viertel ersechs Landebahnen und eiöffnet. ner Kapazität für 150 Mil0,42 Kiraz brachte 10 000 lionen Passagiere jährlich. Euro für seine EigentumsFür ihre zahlreichen Inwohnung auf. Die restli0,40 vestitionen benötigt die Rechen 30 000 Euro zahlt er Quelle: Thomson gierung Kapital, das in der in Raten ab, jeden Monat Reuters Datastream türkischen Privatwirtschaft 0,38 240 Euro. Er besitzt sechs nur begrenzt vorhanden 2012 2013 Kreditkarten bei vier verist. Die Proteste gegen die schiedenen Banken, ihr LiZerstörung des Gezi-Parks mit ist regelmäßig überzogen. Für sein haben gezeigt, dass die türkische ZivilgeSmartphone von Samsung hat er 800 sellschaft nicht länger bereit ist, dem GröEuro bezahlt, seine beiden Töchter, acht ßenwahn ihrer Regierung widerspruchsund zehn Jahre alt, spielen abwechselnd los zu folgen. mit Toshiba-Laptops und Smartphones, Ausländische Geldgeber wiederum hat im Wohnzimmer steht ein Flachbildfern- Erdogan durch den Furor der vergangeseher von Panasonic, „das beste Modell“, nen Wochen verprellt. Die türkische Opsagt Kiraz. positionspolitikerin Ayşe Danişoglu hält Die Kiraz wählten bislang stets Er- Erdogans Tiraden gegen die Finanzindudogans AKP. Sie glauben, der Partei den strie für „politischen Selbstmord“. Ein D E R

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MAXIMILIAN POPP

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DIETMAR SCHERF

Großteil der internationalen Investitionen der vergangenen Jahre waren kurzfristige Engagements, sogenanntes schnelles Geld. Wenn Investoren nervös werden und Kapital abziehen, droht der Absturz. Die türkische Zentralbank versucht bereits gegenzusteuern. Sie hat Anfang Juli Devisen im Wert von 2,25 Milliarden Dollar verkauft, um die eigene Währung zu stützen. Doch der erwünschte Effekt an den Märkten blieb aus. Die Türkei ist nach Ansicht von Ökonomen gezwungen, den Leitzins weiter anzuheben. Dies würde jedoch türkischen Unternehmen das Investieren erschweren und möglicherweise die Wirtschaft abwürgen. Bereits im vergangenen Jahr wuchs die türkische Wirtschaft lediglich um 2,2 Prozent, 2011 waren es noch fast 9 Prozent. Erik Nielsen, Chefvolkswirt bei Unicredit, rechnet in diesem Jahr mit einem deutlichen Rückgang des Wachstums. Erdogan steckt in der schwersten Krise seiner Amtszeit. Sein Erfolg gründete auf dem Ruf, das Land erfolgreich zu managen. Ein Erlahmen der Wirtschaft könnte ihn wenige Monate vor Regional- und Präsidentschaftswahlen in Bedrängnis bringen. Zumal sich seine Gegner innerhalb der AKP bereits positionieren. Gremien wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfehlen Reformen, die die Produktivität der türkischen Wirtschaft erhöhen: Zu wenige Frauen sind berufstätig, zu viele Menschen arbeiten schwarz oder sind nicht ausreichend qualifiziert. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist noch immer eine der größten im gesamten OECD-Raum. Vor allem aber muss Erdogan die Korruption bekämpfen. Die Türkei liegt auf Platz 54 im Korruptionsindex der Organisation Transparency International, hinter Georgien und Ruanda. US-Diplomaten berichten in den von WikiLeaks veröffentlichten Botschaftsdepeschen von Bestechung auf allen Ebenen. Es gebe Gerüchte, der Premier selbst solle sich bei der Privatisierung einer staatlichen Ölraffinerie bereichert haben und über acht Konten in der Schweiz verfügen. Erdogan bestreitet dies. In der Türkei sei es so gut wie unmöglich, Wirtschaftsprojekte umzusetzen ohne enge Beziehungen zur Politik, kritisiert Daron Acemoglu, Ökonom am Massachusetts Institute of Technology.  Es hat nicht den Anschein, als wollte Erdogan daran etwas ändern. Sein Chefberater, Yigit Bulut, schwört die Anhänger des Premiers bereits auf einen Krieg ein. Europa sei ein Verlierer, steuere auf den Kollaps zu. Von einer Wirtschaftskrise in der Türkei will Erdogans Stratege nichts wissen. Das Land, behauptet er, sei auf dem Weg zu einer Weltmacht – und stehe bald schon auf einer Stufe mit China und den USA. ÖZLEM GEZER,

Hauptbahnhof Mainz

VERKEHR

Mainz bleibt Mainz Die Bahn will die Personalnot in ihren Stellwerken rasch beheben, doch der Fehler liegt im System. Weil sich die Politik gegen Reformen sperrt, vernachlässigt der Konzern sein Schienennetz.

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enn es brenzlig wird im großen Reich der Bahn, ist Konzernchef Rüdiger Grube gern persönlich zur Stelle: Er schüttelt Hände, klopft Schultern und legt seine Stirn in Sorgenfalten. Grubes Botschaft: Ich höre zu, ich drücke mich nicht. Am vergangenen Mittwoch war es wieder so weit: Anderthalb Stunden traf sich der Bahn-Boss mit den verbliebenen Mitarbeitern des Mainzer Stellwerks zum Krisenkaffee. Auch davor und danach gab es jede Menge Runde Tische mit Gewerkschaftern, Politikern und Verbandsfürsten, die den Ärger über eine beispiellose Bahn-Blamage dämpfen sollten. Weil in der Leitzentrale Personal fehlte, war die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt zeitweise kaum noch per Bahn zu erreichen. Tagelang belebte die peinliche Panne den müden Bundestagswahlkampf. In den Parteizentralen wurden die Krankund Urlaubsmeldungen aus Deutschlands Stellwerken genauso aufmerksam studiert wie die aktuellen Wahlumfragen, und das politische Spitzenpersonal drängD E R

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te mit forschen Forderungen an die Mikrofone. FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle verlangte, die Bahn rasch an die Börse zu bringen. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mahnte „schnelle Lösungen“ an, und Kanzlerin Angela Merkel befand schlicht: „Hier muss was unternommen werden.“ Doch die hilflosen Interventionen der Wahlkämpfer werden das Problem genauso wenig lösen wie die Kümmerer-Kampagne des Bahn-Chefs. Nicht unwillige Stellwerker oder unfähige Bahn-Manager haben das Chaos ausgelöst, der Fehler liegt im System. Seit Jahren werden die Schienenwege kaputtgespart, weil das Bahnwesen anders als sonstige Bereiche der Infrastruktur falsch organisiert ist. Für Deutschlands Straßen beispielsweise gilt ein einfaches Prinzip: Ihr Bau und Unterhalt ist Sache des Staates, den Bus- und Lkw-Verkehr dagegen organisieren private Unternehmen im Wettbewerb. Anders bei der Bahn: Dem Konzern gehört nicht nur das Schienennetz, er bestimmt auch, wann die eigenen Züge wohin fahren, und das Unterneh-

CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL

Wirtschaft

Bahn-Chef Grube

noch das Parlament seit dem gescheiter- Cash-Cow dienen. Dafür will der Konten Börsengang vor fünf Jahren wissen, zern die Trassenpreise stetig erhöhen. was sie mit dem Konzern eigentlich an- Wer einen Zug von Berlin nach Hamburg fangen sollen. Bei den Reformen der ver- schicken will, muss heute bereits rund gangenen Jahre wurde erst die Bahn in 1400 Euro für die fast 300 Kilometer lange eine Aktiengesellschaft verwandelt und Strecke zahlen. Steigen die Gebühren wie dann die Konzernstruktur geändert, vor geplant weiter, hat das für die Bahn gleich der eigentlich geplanten Trennung von mehrere angenehme Effekte: Im NahSchienen und Zügen aber schreckten die und Güterverkehr verdient sie weiter mit, Politiker zurück. Sie mochten sich nicht auch wenn sie Aufträge an Wettbewerber mit Managern und Gewerkschaftern an- verliert. Im Fernverkehr werden Konkurrenten legen, die mit dem Einheitskonzern auch abgeschreckt, und was die eigene Bilanz ihre Macht erhalten wollten. Und so hat die Bahn AG das komplexe betrifft, profitiert die Bahn vom Prinzip Netz aus über 33 000 Kilometer Schienen „linke Tasche, rechte Tasche“. Zwar muss und mehr als 5000 Bahnhöfen in den ver- die Fernverkehrstochter des Staatsuntergangenen Jahren zusehends liebgewon- nehmens ebenfalls Trassengebühren abnen: 2012 trug es mit gut 1,2 Milliarden führen, aber dafür steigen die Einnahmen Euro zum Konzernergebnis bei, immer- ihrer sogenannten Netzsparte. Es ist ein schönes Geschäft, das sich hin rund 40 Prozent des gesamten Betriebsergebnisses. Das Netz, für das im zusätzlich dadurch optimieren lässt, dass Zuge der Bahnreform nur eine schwarze die Ausgaben möglichst niedrig gehalten Null angepeilt war, soll laut Mittelfrist- werden – etwa in Stellwerken wie Mainz. planung des Konzerns auch künftig als Vor zehn Jahren gaben Bahn-Manager die Losung aus, in den knapp 3400 Leitstellen Personal abzubauen. Die DigitaliWeniger Personal – mehr Gewinn sierung des Schienennetzes und der ErGeschäftszahlen der Deutschen Bahn Netz AG, die das Schienennetz der Bahn betreibt satz der mechanischen durch computergesteuerte Anlagen werde schon bald zu Mitarbeiter Umsatz Verlust/Gewinn* 768 in Mrd. Euro in Mio. Euro 2009 einem Stellenüberhang führen, hieß es. 51918 197 Also wurden die Stellen von Fahrdienst4,5 2012 leitern, die in Rente gingen, über Jahre nicht nachbesetzt. 35249 Doch die Digitalisierung der Stellwerk3,4 technik lief schleppender als gedacht, nicht zuletzt wegen der hohen Kosten. – 260 Allein die digitale Umrüstung des Frank2005 furter Hauptbahnhofs kostete 400 Millio– 548 *operatives Ergebnis 2002 2012 2002 2012 2002 nen Euro. Insgesamt steckte die Bahn in

men beeinflusst das Angebot der Wettbewerber, etwa im Güterverkehr. Das Ergebnis ist ein heilloses Durcheinander, bei dem das öffentliche Interesse an einem gutausgebauten Schienennetz allzu oft in Konflikt gerät mit den Gewinnzielen der Bahn AG. So liegt es im Interesse der Berliner Konzernzentrale, Wettbewerbern möglichst hohe Gebühren für die Benutzung ihrer Schienentrassen abzunehmen. Wenn es aber um Reparaturen oder Neueinstellungen geht, wird oft so lange geknausert, bis der Betrieb gefährdet ist. Zugleich können die Bahn-Manager ihre Macht über das Gleisnetz nutzen, um Wettbewerber kleinzuhalten. Oder selbstherrlich gegenüber dem Bund auftreten, der zwar ihr Eigentümer und Hauptfinanzierer, aber kaum in der Lage ist, das undurchsichtige Mega-Unternehmen zu kontrollieren. Dabei machen sich die Bahner auch zunutze, dass weder der Eigentümer Bund

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Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) schließt einen Börsengang der Bahn aus und will den Konzern stärker beaufsichtigen. SPIEGEL: Herr Ramsauer, die Bahn hat ten plädieren daher dafür, das Netz weltweit rund 300 000 Mitarbeiter, vom Betrieb zu trennen. doch wenn einige wenige Fahrdienst- Ramsauer: In der Bundesregierung hat leiter Urlaub haben, kann eine Groß- eine Zerschlagung des Konzerns keistadt wie Mainz vom Verkehr abge- nen Befürworter – weder im Kanzlerschnitten werden. Was läuft da schief? amt noch im Verkehrsministerium. Ramsauer: Es ist nicht akzeptabel, dass Wir stehen zum integrierten Konzern. bei einem Weltunternehmen wie der SPIEGEL: Das heißt: Mainz kann sich Bahn ein wichtiger Großbahnhof in jederzeit woanders wiederholen. Deutschland teilweise lahmgelegt Ramsauer: Es wird Veränderungen gewird. Die Bahn darf ihr „Brot-und- ben, und zwar an drei Punkten. ErsButter-Geschäft“ nicht vernachlässigen – da bin ich mir mit dem BahnChef einig. SPIEGEL: Den Fahrgästen hilft das wenig. Sie müssen bis Ende August weiter mit Einschränkungen leben. Was haben die ganzen Krisengespräche der vergangenen Woche gebracht? Ramsauer: Die Ursachen für die Probleme lassen sich nicht von heute auf morgen abstellen. Mit dem geplanten Börsengang wurde die Bahn ausgehungert. Das ist das bislang dunkelste Kapitel in der SPD-Bahn-Politik. Politiker Ramsauer: „Die Bahn wurde ausgehungert“ Vor allem die Netzsparte wurde von SPD-Finanz- und Verkehrs- tens: Das Eisenbahnregulierungsgeministern regelrecht heruntergespart. setz, das an den SPD-Ländern geVon 54 000 Beschäftigten im Jahr 2000 scheitert ist, wird wieder eingebracht. waren 2009 noch 34 000 übrig. In mei- Zudem werden wir dafür sorgen, dass ner Amtszeit sind immerhin wieder ein größerer Teil der rund 500 Millioeinige tausend Mitarbeiter hinzuge- nen Euro Dividende, die der Konzern kommen. an den Bund zahlt, wieder ins Netz SPIEGEL: Den Börsengang hat auch die zurückfließt. Und schließlich werden Union stets gefordert. Wird der jetzt wir veranlassen, dass die Gewinne der Netz AG als Investitionen wieder ins für alle Zeiten abgesagt? Ramsauer: Mit mir als Verkehrsminis- Netz zurückfließen. Verlassen Sie sich ter wird es einen Börsengang der drauf, auch wenn es Zeit braucht. Deutschen Bahn AG oder einzelner SPIEGEL: Sie sind gegen den BörsenTeile nicht geben. Das schließe ich für gang. Aber ist es nicht die Denke des die gesamte nächste Legislaturperiode Staatsunternehmens, die verhindert, aus. Die Bahn ist kein x-beliebiges dass Personal aus dem Urlaub zurückUnternehmen. Sie kann sich nicht kommt, um in Mainz auszuhelfen? ausschließlich an kurzfristigen Ren- Ramsauer: Kaum etwas im Arbeitsditeerwartungen orientieren. Es geht recht ist komplizierter als die Frage, auch um gemeinwirtschaftliche Ziele. wann Sie jemanden aus dem Urlaub SPIEGEL: Aber darum kümmert sich die zurückholen dürfen. Aber wahr ist Bahn derzeit zu wenig. Sie will mög- auch, dass ich mir in der Personalwirtlichst hohe Gewinne erzielen, so sa- schaft der Bahn etwas mehr Flexibiligen Kritiker, und vernachlässigt des- tät gewünscht hätte. halb das Schienennetz. Viele ExperINTERVIEW: PETER MÜLLER

MARCO-URBAN.DE

„Gewinne zurück ins Netz“

den vergangenen acht Jahren nur 1,8 Milliarden Euro in neue elektronische Stellwerke. Sie regeln bis heute gerade mal ein Drittel des Schienennetzes. Der Großteil der Strecken wird noch immer konventionell gesteuert, von Fahrdienstleitern, die wegen des Personalabbaus oft am Limit arbeiten, ihren Urlaub unterbrechen oder Überstunden machen, um einen halbwegs reibungslosen Zugverkehr sicherzustellen. Der Netz-Zustandsbericht 2012 verzeichnet ein Plus bei Verspätungen und Zugausfällen durch Stellwerksprobleme von 4,5 Prozent. Das Netz zu vernachlässigen hat bei der Bahn System. Für das Unternehmen ist es im Zweifel lohnender, Weichen verkommen zu lassen, als sie zu warten. Denn sie selbst muss die Pflege bezahlen, ist die Weiche dagegen kaputt, übernimmt der Bund den Großteil der Kosten. „Es wird auf Verschleiß gefahren“, sagt der Trierer Bahn-Experte Heiner Monheim. Entsprechend sinnvoll wäre es, die beiden Aufgaben der Bahn zu trennen. Der Staat wäre als Eigentümer von Schienen, Stellwerken und Bahnhöfen dafür verantwortlich, dass ausreichend investiert und genügend Personal eingestellt wird. Die Bahn wäre ein Wettbewerber unter vielen, der mit möglichst attraktiven Angeboten um die Gunst der Kunden wirbt. Für eine solche Konstruktion plädieren seit Jahren nicht nur die Experten der Brüsseler EU-Kommission, sondern auch die Verkehrspolitiker von Grünen und FDP. „Wir fordern klare Strukturen für den Bahn-Sektor durch die Trennung von Netz und Betrieb“, sagt etwa der liberale Fachmann Oliver Luksic. Doch die Chancen stehen schlecht, gegen eine Reform stemmt sich neben der SPD auch die Union. „In der Bundesregierung“, behauptet Verkehrsminister Peter Ramsauer, CSU, „hat eine Zerschlagung keinen Befürworter“ (siehe Interview). Und so müssen sich die Deutschen wohl darauf einstellen, dass es auf absehbare Zeit bei den Engpässen im Schienennetz bleibt, in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt genauso wie in anderen Teilen der Republik. Mainz bleibt Mainz, und für die Bahn ist Mainz auch künftig fast überall. SVEN BÖLL, SIMONE KAISER, ANDREAS WASSERMANN

Animation: Die Deutsche Bahn in Zahlen spiegel.de/app342013deutschebahn oder in der App DER SPIEGEL

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Sahnestück für Privilegierte Die Landesbank betreibt für ihre Mitarbeiter einen exklusiven Sportclub am Englischen Garten. Trotz ihrer finanziellen Notlage will sie das Areal nicht verkaufen.

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er an schönen Sommertagen in München vom Haus der Kunst durch den Englischen Garten streift, fühlt sich in die Zeit von Woodstock zurückversetzt. Dichtgedrängt wie bei dem legendären US-Hippie-Festival vor gut 40 Jahren lagern die Besucher auf der Wiese. Bongo-Rhythmen und Stimmengewirr hängen über dem Gelände wie ein gigantischer Klangteppich. Deutlich leiser, luftiger und exklusiver geht es etliche hundert Meter weiter nördlich am westlichen Rand der Parkanlage zu. Das 32 000 Quadratmeter große Areal steht ebenfalls unter Landschaftsschutz, ist allerdings eingezäunt und nur zahlenden Mitgliedern zugänglich: rund 1500 Angestellten der BayernLB, ihren Familienangehörigen und 200 Gästen. Für gerade mal 30 Euro pro Jahr können die Privilegierten die Einrichtungen des hauseigenen Sportclubs nutzen, darunter ein 25-Meter-Schwimmbad, ein Beachvolleyballfeld, eine Liegewiese plus Kinderspielplatz oder einen Fußballplatz. Nur die Tennisplätze kosten extra. Für das leibliche Wohl sorgt zu zivilen Prei-

sen die Gaststätte Sportarena. Sie steht auch Besuchern offen. Die Gesundheit der Beschäftigten, rechtfertigt ein BayernLB-Sprecher die Anlage, liege dem Unternehmen eben am Herzen. Das klingt löblich, irritiert aber trotzdem ein bisschen. Schließlich ist die BayernLB keine Bank wie jede andere. Dass es sie überhaupt noch gibt, verdankt sie dem Steuerzahler, also unter anderem den Münchnern, die sich im unteren Teil des Parks auf engstem Raum drängen. Der Freistaat musste vor knapp fünf Jahren zehn Milliarden Euro an Rettungsbeihilfen aufbringen, um die Pleite des Instituts abzuwenden. Auf Druck der EU verpflichteten sich die BayernLB-Manager im Gegenzug, zahlreiche Beteiligungen im In- und Ausland abzustoßen. Ein Großteil der Auflagen ist inzwischen erfüllt. Ihren Sportclub wollen die BayernLB-Oberen allerdings behalten. Er stehe nicht auf der Verkaufsliste der Kommission, argumentiert ein Banksprecher. Außerdem sei das Gelände schwer zu verwerten, da es nicht bebaut werden dürfe. Um den Unterhalt der Anlage kümmert sich ein Dienstleister. Die laufenden Betriebskosten schlagen mit rund 150 000 Euro pro Jahr zu Buche. Dabei könnten die BayernLB-Bosse das Geld gut gebrau-

Sportclub der BayernLB: Sport, Spiel und Spaß für 30 Euro pro Jahr D E R

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chen. Schließlich müssen sie bis 2019 fünf Milliarden Euro ans Land zurückzahlen. Clubmitglieder argumentieren, auch andere Landesbanken besäßen noch immer wertvolle Immobilien, obwohl auch sie vom Steuerzahler mit Milliardenbeträgen gestützt wurden. Das stimmt. So betreibt beispielsweise die Landesbank Berlin seit vielen Jahren ein parkartiges Areal am Großen Wannsee samt Bootshalle und Fachwerkgebäuden. Der Rechtsnachfolgerin der 2012 zerschlagenen WestLB wiederum gehört nach wie vor das niederrheinische Wasserschloss Krickenbeck. In den herrschaftlichen Gemächern feierte der frühere Bankchef Friedel Neuber einst rauschende Feste. Heute werden die Anlagen fast ausschließlich zu Ausund Fortbildungszwecken genutzt und auch an Dritte vermietet. Auch im BayernLB-Sportclub in München finden regelmäßig Seminare und Veranstaltungen statt. Er dient aber vor allem Sport, Spiel und Spaß, fällt also eher unter die Rubrik Freizeitvergnügen. Dem früheren BayernLB-Chef Werner Schmidt war das schon vor Jahren ein Dorn im Auge. Kurz nachdem er 2001 bei den Münchnern angeheuert hatte, wollte er das Sahnegrundstück am Englischen Garten deshalb schon einmal verkaufen. Dazu kam es aber nicht, weil kein Baurecht zu bekommen war. Dass es auch ohne geht und selbst eingeschränkt nutzbare Freiflächen im dichtbesiedelten München begehrt sind, zeigt das Beispiel des Siemens-Sportparks im Münchner Süden. Auch er liegt im Landschaftsschutzgebiet. Noch bis vor wenigen Jahren tummelten sich auf dem 14 Hektar großen Gelände vor allem Mitarbeiter der TelekomSparte des Konzerns zur Erholung und körperlichen Ertüchtigung. Als das einstige Kerngeschäft von 2007 an sukzessive verkauft wurde, mühten sich die SiemensOberen, einen Käufer für das Kleinod mit über 300 alten Bäumen nebst Sportgebäuden und Bolzplätzen zu finden. Zunächst wollte niemand anbeißen. Deshalb bot der Konzern die Flächen der Stadt für einen symbolischen Betrag von einem Euro an – mit der Verpflichtung, sich um das Objekt zu kümmern. Doch die Stadt München ließ sich offenbar zu viel Zeit. Nun sind weitere Interessenten aufgetaucht. Ende Juli teilten die SiemensOberen der Kommune deshalb mit, dass sie ein Bieterverfahren abhalten müssten, wie es das Aktiengesetz vorschreibt. Ähnlich wie Siemens könnte auch die BayernLB bei ihrem Sportpark vorgehen. Der naheliegende Ansprechpartner wäre in ihrem Fall allerdings nicht die Stadt, sondern der Freistaat. Ihm gehört der Englische Garten. Die BayernLB wäre die Kosten los, und die Bevölkerung hätte etwas mehr Platz in ihrer Lieblingsausflugsstätte. DINAH DECKSTEIN 77

Panorama FINNLAND

Heftiger Streit um die künftige Finanzpolitik gefährdet den Fortbestand der Mitte-links-Regierung aus sechs Parteien in Helsinki. Vor allem die Sozialdemokraten um Finanzministerin Jutta Urpilainen und das Linksbündnis fordern zusätzliche Mittel zur Ankurbelung der Wirtschaft, die in diesem Jahr wohl nur um 0,3 Prozent wachsen wird. Die Ministerin verlangt Investitionen in den Schulbau sowie in das Straßen- und Verkehrsnetz. Premier Jyrki Katainen von der konservativen Sammlungspartei lehnt neue Schulden für Konjunkturmaßnahmen als „völlig unzumutbar“ ab. Er fürchtet um die Bonität seines Landes und den TripleA-Status im internationalen FinanzRanking, obwohl die Schuldenquote mit 56,2 Prozent des Bruttoinlandspro-

Beste Bonität EU-Länder mit Triple-A-Bewertung übrige EU-Länder Finnland

HAMILTON / REA / LAIF

Unzumutbare Schulden

Ministerin Vallaud-Belkacem FRANKREICH

Elite ohne Einwanderer In seltener Offenheit hat ein hoher französischer Diplomat die abgeschotteten Eliten seines Landes kritisiert. Zaïr Kédadouche, Botschafter Frankreichs in Andorra, schrieb in einem Brief an Außenminister Laurent Fabius, seine Erfahrungen seien „sehr schmerzlich“. Er sei von Vorgesetzten

wegen seiner algerischen Herkunft diskriminiert und herabgesetzt worden. Kédadouche war in der Pariser Vorstadt aufgewachsen und zunächst Profi-Sportler geworden. Später schaffte er es als Quereinsteiger in den hohen Staatsdienst. Eine Seltenheit in einem Land, in dem mehrheitlich Absolventen von Elitehochschulen Karriere machen. Zwar hat Präsident François Hollande in seine Regierung unter anderen die marokkanischstämmige Frauenministerin Najat Vallaud-Belkacem berufen – hohe Beamte mit Migrationshintergrund aber bleiben eine Ausnahme. Ihr Anteil unter den Botschaftern beträgt nur 2,39 Prozent. Kédadouche schreibt in seinem Brief, andere Einwanderungsländer bemühten sich, auch in ihrem diplomatischen Dienst der Vielfalt in der Bevölkerung Rechnung zu tragen. Dagegen wolle die Führung des Außenministeriums „jede genetische Spur auslöschen, welche die soziale Reproduktion seiner Eliten gefährden könnte“. Karrieren mit untypischer Biografie würden verhindert. Außenminister Fabius antwortete ihm inzwischen, er wolle sich gern ausführlich mit ihm unterhalten.

Schweden

Quelle: Fitch

dukts (Deutschland 81,1 Prozent) vergleichsweise niedrig ist. Seit Wochen liefern sich Konservative und Sozialdemokraten über Presse und Twitter einen heftigen Schlagabtausch, selbst Staatspräsident Sauli Niinistö schaltete sich ein und lehnte neue Schulden ab. Die Sozialdemokraten beklagen, dass ihre Finanzministerin in schwierigen Fragen „alleingelassen“ und ihr von den Konservativen „in die Seite getreten“ werde. Premier Katainen verharmlost die Koalitionskrise, weil sie für ihn zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt kommt. Der Regierungschef gilt als Langweiler und ist sogar in den eigenen Reihen stark umstritten, seine Umfragewerte sind im Keller. Er liebäugelt offenbar mit einem Wechsel nach Brüssel im Frühjahr. Ohne die 42 Sitze der Sozialdemokraten hätte die Koalition bei den Haushaltsberatungen Anfang September keine eigene Mehrheit unter den 200 Abgeordneten. 78

NORDKOREA

Planschen dank Kim Nordkoreas kommunistischer Führer Kim Jong Un liebt Überraschungen – und Luxus. So bietet ein kürzlich eröffnetes Gesundheitszentrum mit Kochschule, Schwimmbad und Wellness-Einrichtungen seinen Besuchern unter anderem auch ein Planschbecken mit Wasserfall zur Entspannung. Das Spa des Diktators gehört zum neueröffneten luxuriösen Einkaufs- und Vergnügungscenter Haedanghwa in Pjöngjang, das „alle kapi-

talistischen Tabus bricht“, so die Zeitung „Chosun Ilbo“ in Seoul. Auf sechs Stockwerken gibt es Luxusboutiquen für Produkte von Cartier, Chanel, Rolex oder italienische Mode, Restaurants, eine Sauna, Karaoke- und Billardbars. Es sei der „feste Wille“ der Arbeiterpartei, die Nordkoreaner vor dem Verhungern zu bewahren, hatte der junge Diktator dazu über die staatliche Nachrichtenagentur verbreiten lassen. Auch seine Untertanen sollten nun „den Wohlstand und Wert des Sozialismus ernten“. Ob die sich einen Besuch leisten können, ist bei einem durchschnittlichen Monatslohn von umgerechnet rund 25 Euro zweifelhaft.

Badegäste im Spa in Pjöngjang

DAVID GUTTENFELDER / AP / DPA

Dänemark Niederlande Deutschland Luxemburg Österreich

JOE PENNEY / REUTERS

Ausland

Überlebenswichtige Fässer

Etwa die Hälfte der Menschen in Mali lebt in Armut, daran wird sich wohl auch nach der Wahl des neuen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta nur wenig ändern. Viele der 16 Millionen Malier, von denen zwei Drittel jünger als 25 Jahre sind, versuchen deshalb, sich mit dem Verkauf von gebrauchten Waren oder Secondhandartikeln aus

Europa über Wasser zu halten. Der junge Mann auf dem ärmlichen Kleinmarkt in der Hauptstadt Bamako verdient sein Geld durch den Verkauf gebrauchter Metallfässer für sieben Dollar das Stück. Früher wurde in ihnen Pflanzenöl oder Benzin transportiert. Jetzt kaufen seine Kunden die Tonnen als Abfalleimer, Tierfutterbehälter oder auch, um sie als Grill zu nutzen.

TERRORISMUS

„Ein hohes Maß an Abstimmung“ Michael Waltz, Gründer der Politikberatungsagentur Askari Associates, über jüngste Befreiungsaktionen der Qaida im Nahen und Mittleren Osten SPIEGEL: Bei Gefängnisausbrüchen in Pakistan, Libyen und im Irak konnten vorigen Monat rund 1750 Häftlinge befreit werden, darunter zahlreiche Kämpfer von Qaida-Ablegern. Alles nur ein Zufall? Waltz: Nein, al-Qaida hatte kurz zuvor eine neue Taktik zur Befreiung von Gefangenen angekündigt, die sie „breaking the walls“ nannte. Das Vorgehen war überall sehr ähnlich: Zu-

sammenarbeit mit Insidern, Ablenkungsmanöver, Selbstmordattentate, dann Attacken auf die Wärter. Das zeigt ein hohes Maß an Abstimmung über Ländergrenzen hinweg. SPIEGEL: US-Präsident Barack Obama sagt, die Macht von al-Qaida sei reduziert, der Krieg gegen den Terror gehe zu Ende. Ist das zu voreilig? Waltz: Ich glaube, ja, und dahinter steckt ein Motiv. Die Regierung hat eine Agenda: den Rückzug der Truppen aus Afghanistan und aus dem Irak. Und dazu passend hat sie sich ein Erklärungsmuster zurechtgelegt – das der geschwächten Qaida. D E R

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SPIEGEL: Wenn al-Qaida die Gefängnisausbrüche wirklich so effektiv geplant haben sollte, was sagt das über die Stärke der Terrorgruppe aus? Waltz: Al-Qaida ist zwar durch Drohnenangriffe und die Anti-Terror-Strategie dezimiert worden. Dennoch würde ich nicht unterschätzen, welcher Aufwand an Vorbereitungen für die Ausbrüche aus diesen schwerbewachten Einrichtungen notwendig war. Außerdem konnte al-Qaida durch die Aktion kurzfristig ihre mittlere und obere Führungsebene stärken. SPIEGEL: Mit neuen, hochmotivierten Kämpfern? Waltz: Viele dieser Gefängnisse sind aufgrund der Haftbedingungen geradezu Brutstätten von Radikalismus. Was das betrifft, ist noch vieles zu verbessern.

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Verwundete Mursi-Unterstützer in einem provisorischen Lazarett: „Die Sicherheitskräfte haben auf alles geschossen, stundenlang“

ÄGYPTEN

Der Bruderkrieg Mit dem Massaker an den Islamisten hat eine neue Phase der Repression begonnen – es droht eine Rückkehr zur Militärdiktatur. Scheitert der demokratische Aufbruch am Nil, könnte das auch das Ende des Arabischen Frühlings werden. 80

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SCOTT NELSON / DER SPIEGEL

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ie Sanitäter vor dem zentralen Kairoer Leichenschauhaus in Sainhum bitten, flehen, brüllen, keine weiteren Toten mehr herzubringen. Die Kühlkammern, die Räume, der Hof – alles sei voller Leichen. Selbst die Straße davor: eine über hundert Meter lange gespenstische Warteschlange, in Dreierreihen liegen sie, gehüllt in weiße Tücher oder schwarze Leichensäcke, andere gebettet in offene Särge. Jede Viertelstunde rücken die Toten einen halben Meter vorwärts, gezogen und geschoben von ihren Angehörigen. Es sind 34 Grad im Schatten, aber die Toten liegen nicht im Schatten, sondern mit-

Das Militär ist gerade dabei, die Fehler ten auf der Straße. Über ihnen brummen der Muslimbrüder zu wiederholen: Es bedie Fliegen. Der Sportlehrer Mohammed Riad hat ruft sich voller Arroganz auf ein angebseinen Cousin hierhergebracht, Kopf- liches „Volksmandat“ und will einen schuss, der Cousin war ein Unterstützer schnellen Sieg statt eines Kompromisses. der Muslimbrüder, die auf dem Platz Ra- Doch die Armee kann die rund 30 Prozent baa al-Adawija ihr Lager aufgeschlagen der Ägypter aus dem islamistischen Lager hatten, das am vergangenen Mittwoch, nicht unterdrücken, ohne die Freiheit für diesem wohl blutigsten Tag der jüngeren alle einzuschränken. Hält sie an ihrem ägyptischen Geschichte, von Polizei und Kurs fest, droht eine Militärdiktatur. Vielleicht, so sieht es nun aus nach dem Armee geräumt wurde. Aber Zeit zum Trauern bleibt den Angehörigen kaum, Putsch vom 3. Juli und der Tragödie vom 14. August, waren die Militärs nie wirklich die hier anstehen. Und das ist Absicht. Jeder Beerdigungszug ist eine Demon- abgetreten seit dem Sturz von Husni Mustration, daher tut die kafkaeske Büro- barak vor zweieinhalb Jahren. Dann wäre kratie alles, um die Freigabe der Leich- die Demokratie gescheitert, und was das name zu verzögern. Schneller gehe es für die arabische Welt hieße, machte die nur, wenn man als Todesursache „Selbst- jemenitische Friedensnobelpreisträgerin mord“ angebe, erzählen sich die Leute, Tawakkul Karman deutlich: „Die Zerstödie vor dem Leichenschauhaus anstehen. rung der ägyptischen Revolution bedeutet Tatsächlich gibt es am Freitag wenige den Tod des Arabischen Frühlings.“ Die Schwärmerei vom Aufbruch in Beerdigungen. Protestiert wird trotzdem, diesmal auf dem Ramses-Platz in Kairo, eine demokratische Zukunft ist verflogen Zehntausende Anhänger der Muslimbrü- – nicht nur in Ägypten. Zwar ist es noch der sind gekommen. Wieder schießen die zu früh für einen Abgesang, zwar hat Sicherheitskräfte auf die Demonstranten, auch die Demokratie im Westen Jahrhunschon am Nachmittag sterben die ersten. derte gebraucht, um Fuß zu fassen, aber Bis Samstagmorgen waren es mehr als 80 man muss wohl feststellen: Das demokraTote. Nachdem das Staatsfernsehen einen tische Experiment ist in höchster Gefahr. Tunesien, die Keimzelle des ErwaAufruf ausgestrahlt hat, sich zu Bürgerwehren zusammenzutun, stehen in vielen chens, droht nach zwei politischen MorVierteln Schlägertrupps, ausgerüstet mit den im Chaos zu versinken, auch hier steKnüppeln und Macheten, und lauern An- hen sich Islamisten und Säkulare unversöhnlich gegenüber. In Libyen regieren hängern der Muslimbrüder auf. Niemand versucht, die Eskalation zu trotz Wahlen weiterhin Clanführer und beenden, nicht die Muslimbrüder, die zu Warlords. Dazu kommen Bombenatteneinem „Freitag des Zorns“ aufgerufen ha- tate und die Tatsache, dass Libyen das ben, nicht die Sicherheitskräfte, die wei- größte frei zugängliche Waffenarsenal der ter mit scharfer Munition schießen. Es Welt ist. Syrien ist im Krieg versunken, sieht in diesen Tagen so aus, als befinde mit bisher 100 000 Toten und Millionen sich Ägypten im Anfangsstadium eines Flüchtlingen. Und auch Irak und Libanon Bürgerkriegs, der mit dem Blutbad vom stehen an der Schwelle eines Bürgerkriegs 14. August begann. Mehr als 600 Demon- entlang religiöser Bruchlinien. In den bisher eher liberalen Golfstaastranten sollen laut offiziellen Angaben dabei gestorben sein, darunter 43 Sicher- ten, in denen es keinen Umsturz gab, hat heitskräfte. Die Muslimbrüder sprechen die Unterdrückung zugenommen. Es ist von über 2000 Toten, die meisten gestor- zudem kein Zufall, dass es undemokratiben durch Schüsse in Kopf und Brust. Ver- sche Staaten wie Saudi-Arabien, Kuwait mutlich liegen die wahren Zahlen dazwi- und die Vereinigten Arabischen Emirate waren, die Ägypten nach dem Juli-Putsch schen. 4200 Menschen wurden verletzt. Die Reaktion folgte sofort: Dutzende Kredite in Höhe von zwölf Milliarden Kirchen und christliche Einrichtungen Dollar zusagten: eine Prämie für die Wiewurden von Islamisten angezündet und derherstellung der alten Verhältnisse. Die einjährige Amtszeit von Mohamverwüstet, mehrere Polizisten gelyncht. Ägypten ist seit vergangenen Mittwoch med Mursi wirkt wie ein Betriebsunfall ein zutiefst gespaltenes Land. Wo Versöh- der Geschichte. Er war der einzige zivile nung bis dahin zwar schwierig, aber mög- Präsident seit dem Sturz des Königs 1952. lich schien, stehen sich nun zwei Lager Zwar ist da nun Übergangspräsident Adli unversöhnlich gegenüber: die Armee und Mansur, Oberster Richter des Verfassungsihre säkularen Unterstützer auf der einen gerichts, der aber hat nicht viel zu sagen. Der starke Mann im Land ist wieder ein Seite, die Muslimbrüder und ihre Anhänger auf der anderen Seite. Die jungen Ak- Militär: General Abd al-Fattah al-Sisi, ein tivisten und Liberalen spielen keine Rolle Mann von 58 Jahren, glattrasiert, mit Sonmehr. Einer ihrer Repräsentanten, Moha- nenbrille und Paradeuniform. Womit er med ElBaradei, trat noch am Mittwoch- an Muammar al-Gaddafi erinnert. Er ist abend aus Protest von seinem Amt als Armeechef, Verteidigungsminister und ViVizepremier zurück. „Gewalt gebiert zepremier. Ein konservativer, gläubiger neue Gewalt“, schrieb er. Und dass man Bürokrat, ein Mann des alten Regimes. Er sich an seine Worte noch erinnern werde. war es, der die „Jungfräulichkeitstests“ an D E R

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„Ich vertraue dem Militär“ Außenminister Nabil Fahmy, 62, über Ursachen der Gewalt und den Druck des Westens

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Fahmy: Nein, mit ihnen. Sie haben ihre

Partei. Wer nicht gegen Gesetze verstoßen hat, nicht kriminell geworden ist, kann am politischen Prozess teilhaben – im Rahmen der neuen Verfassung, an der wir arbeiten. SPIEGEL: Aber selbst gemäßigte Islamisten wollen General Sisi und den für die Polizei zuständigen Innenminister vor Gericht sehen. Fahmy: Auf so eine Diskussion lasse ich mich nicht ein. Ich bin zuständig für die Außenpolitik. SPIEGEL: Auch von Ihren Kollegen in Europa hören Sie scharfe Kritik, Sie sind oft gewarnt worden vor den Konsequenzen einer Eskalation. Können Sie es sich leisten, die Ratschläge Ihrer Freunde zu ignorieren? Fahmy: Zur Freundschaft gehört auch, dass wir deutlich machen, wie ernst die Sicherheitsprobleme sind. Ich versichere, dass wir den Fahrplan Richtung Demokratie einhalten wollen. Wer immer uns vorwirft, unverhältnismäßig hart vorzugehen, dem rate ich, sein Urteil nicht aufgrund von Momentaufnahmen zu fällen, sondern sich ein umfassendes Bild zu machen. SPIEGEL: Und das reicht Ihrem Kollegen Guido Westerwelle? Fahmy: Ich kann keinen Gegensatz zwischen mir und meinen westlichen Kollegen erkennen. Alle Bedenken, die ich von ihnen höre, haben wir selbst lange erwogen, ihre Aufforderungen zur Mäßigung. Enttäuscht bin ich darüber, dass die Gewalt der anderen Seite vom Westen nicht deutlicher gesehen und verurteilt wird. SPIEGEL: Was erwarten Sie von Berlin? Fahmy: Dass unsere Freunde Verständnis für uns haben. Dass sie erkennen, dies ist ein ägyptisches Problem, das von uns Ägyptern gelöst werden muss. Wir erwarten eine entschlossene internationale Haltung gegen Gewalttäter. SPIEGEL: Wenn das Blutvergießen weitergeht, könnte die US-Regierung Ägypten Finanzhilfen streichen. Fahmy: Mich beunruhigt einzig die gegenwärtige Lage in Ägypten, nicht die Haltung eines anderen Landes. HASSAN AMMAR / AP / DPA

SPIEGEL: Herr Außenminister, Vizeprä- den brennenden Kirchen, an den Ansident ElBaradei ist am Mittwoch aus griffen auf Polizeistationen. Trotzdem Protest gegen die gewaltsame Räu- suchen wir den Dialog. mung der islamistischen Dauercamps SPIEGEL: Ist Ägypten nicht vielmehr auf zurückgetreten. Verstehen Sie ihn? dem Weg in eine Militärdiktatur? Fahmy: Das war seine persönliche Ent- Fahmy: Sobald wieder Ruhe und Ordscheidung, und er hat sie begründet. nung eingekehrt sind, beginnen wir Es steht mir nicht an, das zu beurteilen einen Dialog aller gesellschaftlichen und zu kommentieren. Kräfte. Wir werden über die Rolle der SPIEGEL: ElBaradei begründet diesen Religion in der Politik verhandeln und Schritt damit, dass noch nicht alle ernsthafte Gespräche führen, welche Möglichkeiten zu einer friedlichen Lö- Position der Armee in einem neuen sung ausgeschöpft waren. Und dass er Ägypten zukommt. Ich vertraue dem das absehbare Blutvergießen nicht ver- Militär, ich bin sicher, dass es den Offizieren nicht um die Macht geht. antworten wollte. Fahmy: Es geht hier nicht um die An- Sie bleiben in den Kasernen. sicht eines Einzelnen, es geht um Grö- SPIEGEL: Geben Sie der nationalen Ausßeres. Um Ägypten, um die Zukunft söhnung tatsächlich eine Chance? des Landes. Und um die Sicherheit seiner Bürger. SPIEGEL: Sie gelten als das liberale Aushängeschild der Übergangsregierung. Wie konnten Sie die Entscheidung zur brachialen Räumung mittragen, trifft Sie keine Mitschuld? Fahmy: Sie tun so, als gäbe es keine Gewalt von der anderen Seite. Wir haben den Muslimbrüdern lange genug Zeit gegeben, einzulenken. Durch die Räumung ist offensichtlich ge- Minister Fahmy: „Fahrplan zur Demokratie“ worden, dass sie daran kein Interesse hatten. Wir fanden Waffen- Fahmy: Beide Seiten haben Tote zu belager und Munition. Die Muslimbrüder klagen, auch die Sicherheitskräfte. Wir suchten die Konfrontation. müssen die Gewalt stoppen. Schauen SPIEGEL: Der massive Einsatz der Si- Sie doch, was heute, an diesem Freicherheitskräfte und der Verlust an tag, manche Demonstranten hier in Menschenleben stehen doch dazu in Kairo an Waffen mit sich führen. Das hat doch nichts mehr mit einer politikeinem Verhältnis. Fahmy: Die Protestlager waren ein gra- schen Auseinandersetzung zu tun. vierendes Sicherheitsproblem, das wir SPIEGEL: Viele sagen, die Sicherheitsim Interesse des Landes lösen muss- kräfte hätten die Eskalation bewusst ten, so sehr ich auch jedes verlorene gesucht, um die Ausrufung des AusMenschenleben bedauere. Kein Staat nahmezustands zu rechtfertigen. dieser Welt hätte diesen gesetzlosen Fahmy: Das halte ich für absurd. Der Zustand länger hingenommen. Es war jetzt verkündete Ausnahmezustand ist eine einstimmige Entscheidung unse- auf vier Wochen beschränkt. Niemand res Kabinetts … in Ägypten will zurück in die finstere SPIEGEL: … das von General Abd al- Zeit. Millionen meiner Landsleute sind Fattah al-Sisi, dem Verteidigungsmi- nicht umsonst gegen Husni Mubarak nister und Armeechef, dominiert wird. auf die Straße gegangen. Sie werden Fahmy: Hören Sie auf, Ägyptens Pro- nicht hinnehmen, dass das Land langbleme auf einzelne Personen zu redu- fristig in dem jetzt verhängten Auszieren. Welche enormen Schwierigkei- nahmezustand bleibt. Wir wollen den ten wir durch Fanatiker mit unserer Weg zur Demokratie weitergehen. Sicherheit haben, sehen Sie doch an SPIEGEL: Ohne die Muslimbrüder?

INTERVIEW: DIETER BEDNARZ, ERICH FOLLATH

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SCOTT NELSON / DER SPIEGEL

Demonstrantinnen verteidigte, mit dem seltsamen Argument, so Soldaten vor Vergewaltigungsvorwürfen zu schützen. Am Tag nach dem Blutbad zogen Armee-Unterstützer zu den Überresten des Protestlagers und skandierten: „Sisi, Sisi“. Sein harter Kurs gegen die Islamisten wird von vielen bejubelt, viele sehen ihn schon als künftigen Präsidenten. Der General hat zwar gesagt, er wolle nicht kandidieren, aber wirklich ausgeschlossen hat er es nicht. Die Verehrung erinnert an den früheren Präsidenten Gamal Abd al-Nasser – und das ist nicht unerwünscht. Eine Tochter Nassers flehte den General bereits in einem offenen Brief an zu kandidieren, 30 Millionen Ägypter wollten das so. Überall im Land hängen Plakate, die Sisi neben dem Volkstribun zeigen. Sogar über dessen Grab hängt ein Bild von Sisi. Und Militärpolizisten an der Moschee Rabaa al-Adawija: „Wächter der patriotischen Verantwortung“ ein altes Foto kursiert nun, ein Junge salutiert darauf Nasser, verbreitet wird, herrscht wird seit jenen acht Schüssen Kraft zu zerstören.“ Um das zu erreichen, der Junge sei Abd al-Fattah al-Sisi. Un- auf Nasser am 26. Oktober 1954, jenem würden sich die Generäle den Volkszorn sinn, sicherlich. Aber es zeigt das Ausmaß fehlgeschlagenen, vielleicht inszenierten zunutze machen. „Der anhaltende Aufder Verehrung, die vom Militär noch ge- Anschlagsversuch. Damals ließ Nasser ruhr wird als Rechtfertigung dienen für die Muslimbrüder verbieten und sperrte einen dauerhaften Krieg gegen die inneschürt wird. Es gibt einen Spruch, der jetzt wieder ihre Anführer ein. In den folgenden Jahr- ren und äußeren Feinde, real wie eingeöfter zitiert wird: Ägypten habe keine zehnten wurde die Furcht vor den Isla- bildet.“ Anzeichen dafür gibt es genug. Bereits Armee, sondern die Armee habe ein misten zur Rechtfertigung für die autoLand. Es gibt keine Institution, die die ritäre Herrschaft der Armee und den vor dem blutigen Mittwoch wurden DutGesellschaft derart durchdringt: 440 000 Terror der Sicherheitsdienste. Doch die zende Muslimbrüder eingesperrt, auch Mitglieder hat sie, davon die Hälfte Wehr- Militärs schufen am Ende genau das, was Ex-Präsident Mursi sitzt seit sieben Wopflichtige. Wer es in die höheren Offi- sie zu verhindern vorgaben: noch radi- chen an unbekanntem Ort fest. Noch am Tag vor dem Blutbad präsentierte die Reziersränge schafft, dem steht eine elitäre kalere Islamisten. Es ist schwer, die Parallelen zu über- gierung die Namen der neuen ProvinzParallelwelt offen: mit Yachtclubs, Vergnügungszentren und Krankenhäusern. sehen: Auch jetzt begründet die Armee gouverneure, zwei Drittel von ihnen sind Noch nie musste die Armee ihr Budget die Absetzung Mursis und die blutige Auf- Generäle. Auch die alte Staatssicherheit offenlegen, strategische Entscheidungen lösung der Mahnwachen damit, man habe ist wieder im Dienst. Und gleich nach trifft sie grundsätzlich allein. Mit ihren das Land vor dem Absturz ins Chaos be- dem Massaker verkündete die Armee den Zement- und Nudelfabriken, Hotelanla- wahren müssen. Doch der Angriff auf die Ausnahmezustand. Nur einen Monat soll gen und Tankstellen ist sie einer der größ- Islamisten schürt erst recht den Aufruhr. er gelten. Doch beim letzten Mal, als der Von den führenden Muslimbrüdern ist Notstand ausgerufen wurde, dauerte er ten Wirtschaftsakteure im Land. Wer wie General Sisi in dieser Welt keiner zu erreichen, sie sind unterge- 30 Jahre an. Willkürliche Verhaftungen, aufwächst, glaubt vielleicht wirklich, die taucht, verhaftet oder getötet worden. Ihr Schnellprozesse, all dies ist nun möglich. Die Medien sind ebenfalls in ihre alte Armee sei „Wächter der patriotischen Sprecher Gihad al-Haddad meldet sich Verantwortung“, wie er Mursi zum Amts- per Twitter aus dem Untergrund: „Wir Propagandarolle verfallen. Im Staatsrundantritt schrieb. Der General spricht gern werden nicht aufgeben, bis wir diesem funk heißt es am Donnerstagmorgen: Die von Stolz und Nationalismus, das erinnert Militärputsch ein Ende bereitet haben!“ Zeltplatz-Protestler seien alle Terroristen ebenfalls an den Oberst und Militärput- Und: „Es geht nicht mehr um Mursi. Sind und hätten sich selbst erschossen. Aber auch die Muslimbrüder verbreischisten Nasser; auch, dass er neuerdings wir bereit, eine neue Militär-Tyrannei in ten Verschwörungstheorien: 75 Prozent den Westen kritisiert. Zwar kann Sisi sein Ägypten zu akzeptieren oder nicht?“ Aber Rückkehr zur Militärdiktatur, das der Pro-Armee-Demonstranten der verIdol nicht kopieren, ihm fehlen das Geld für Sozialprogramme und der weltpoliti- heißt vielleicht nicht: Rückkehr zum Zu- gangenen Wochen seien Christen gewesche Resonanzboden. Aber er nutzt die stand vor 2011. Sondern in eine noch sen, die nur auf Geheiß des koptischen dunklere Zeit. „Unter dem Regime von Patriarchen auf die Straße gegangen seiSehnsucht nach einem Helden. Doch Nasser war nicht nur Volkstribun, Mubarak waren die Muslimbrüder unter- en. Das glaubten wohl vor allem die Islaer war auch derjenige, der die Muslim- drückt, aber nie völlig. Sie hatten einen misten in Südägypten gern, wie die zubrüder brutal unterdrückte und damit gewissen Freiraum, um zu agieren, sie nehmenden Angriffe auf Christen zeigen. Nach dem Massaker gab Innenminister eine Grundlage für den heutigen Konflikt konnten an Wahlen teilnehmen und Sitze schuf. Auch in dieser Hinsicht scheint Sisi im Parlament belegen“, schreibt der Poli- Mohammed Ibrahim nur ein dürres Statetikwissenschaftler Shadi Hamid vom US- ment ab: Die Sicherheitskräfte hätten inseinem Vorbild nachzueifern. Denn als habe es den Umsturz vom Think-Tank Brookings Institution. „Aber ternationalen Standards gemäß und mit Februar 2011 nicht gegeben, ist Ägypten die derzeitige Militärregierung ist ambi- maximaler Zurückhaltung gehandelt. wieder in diesem über 60 Jahre währen- tionierter, sie zielt darauf, die Bruder- Kein Wort der Trauer über die vielen Toden Konflikt gefangen, von dem es be- schaft zu zerschlagen und als politische ten. Das staatliche Fernsehen zeigte den

MOSAAB ELSHAMY / DPA

Zerstörtes Lager der Mursi-Anhänger: „Wir opfern unsere Seelen“

Minister später bei den Beerdigungen der eingesetzt, diese jedoch hätten Brandsätze geworfen und mit Schusswaffen gefeuert. getöteten Soldaten und Polizisten. Ganz überraschend kam die Tragödie Es bleibt die Frage: Was ist an diesem nicht. Bereits zwei blutige Übergriffe ge14. August wirklich passiert? Im „Krankenhaus der Gesundheitsver- gen die Muslimbrüder hatte es seit dem sicherung“ nahe der Moschee Rabaa al- 3. Juli gegeben, mit etwa 150 Toten. Es Adawija sitzt Sainab Mahmud neben der gab internationale Proteste, doch die verLeiche ihres Mannes. „Er kam morgens hallten bald – und in Ägypten selbst war von den Waschgelegenheiten, als die ers- es ohnehin merkwürdig ruhig geblieben. ten Schüsse fielen. Ihn traf einer neben Vielleicht glaubten die Generäle, sich ein dem Ohr, die Kugel kam im Gesicht wie- Blutbad leisten zu können. Über Wochen hatten westliche und arader heraus. Dann haben sie auf alles geschossen, stundenlang. Wir wollten nur bische Diplomaten erfolglos zwischen beiraus, kamen mit erhobenen Händen der den Seiten vermittelt. Doch hinter den Militärpolizei entgegen, aber die haben Kulissen führten die Anführer der Muslimbrüder wohl Gespräche mit den Milinicht aufgehört zu schießen.“ Nicht weit von ihr hockt Abd al-Maula, tärs. Noch einen Tag vor dem Massaker Mathematiklehrer aus Ismailija, neben erklärte ihr Sprecher Gihad al-Haddad, dem Leichnam seines Sohnes, 21, Inge- dass man „unter bestimmten Voraussetnieurstudent im sechsten Semester. „Ich zungen“ zu Verhandlungen bereit sei. Doch wollten Sisi und seine Offiziere war auf dem Weg zum Camp, plötzlich fielen Schüsse“, erzählt der Vater. „Einer da noch einen Kompromiss? Seit dem der Freunde meines Sohns rief an, dieser Putsch wusste die Armee die Ägypter sei am Hals getroffen. Sieben Stunden ha- hinter sich, noch mehr, seit Sisi sie Ende ben wir versucht, ein Krankenhaus zu fin- Juli aufgerufen hatte, mit einem Solidaden, wo sie ihn behandeln. Aber überall ritätsmarsch die Armee zu unterstützen. haben sie uns abgewimmelt. Dann war Millionen folgten dem Appell. Zudem hatten bereits im Juli die Staatsmein Sohn tot.“ Der Schwimmlehrer Samah Hussein medien verbreitet, die Muslimbrüder würholt gerade die Leiche eines Freundes ab. den sich mit Waffengewalt wehren. Of„Mohammed rief mich morgens an, er sag- fenbar bereiteten die Generäle da bereits te: Sie stürmen das Camp, was soll ich die Rechtfertigung vor, mit der sie die Protun? Ich versprach zu kommen, wir haben testlager räumen lassen würden. Am verein paarmal telefoniert. ,Ich stehe drau- gangenen Mittwoch schließlich zeigte das ßen‘, waren seine letzten Worten. Als ich Staatsfernsehen Schusswaffen und Munition, die man in den Camps konfisziert ihn fand, hatte er ein Loch im Kopf.“ Es gibt viele dieser Geschichten. Über- habe. Doch dies zu verifizieren fällt einstimmend berichten die Zeugen, dass schwer. In einem der Lager, eilig am DonScharfschützen am frühen Morgen ohne nerstag von Bulldozern niedergewalzt, finVorwarnung das Feuer von umliegenden den sich keine Patronenhülsen, die auf Dächern und dem benachbarten Militär- Schusswaffeneinsatz der Islamisten deugelände aus eröffneten. Von Seiten der ten. Zu sehen sind lediglich Steinhaufen Sicherheitskräfte heißt es, man habe zu- – und rußgeschwärzte Murmeln, die mit nächst nur Tränengas gegen die Islamisten Schleudern verschossen wurden. 84

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Jeder versucht nun, die Wahrheit für sich zu reklamieren. Die ArmeeUnterstützer sehen die Muslimbrüder als Terroristen. Und diese sehen sich als Opfer, als Märtyrer für ihren gewählten Präsidenten, ja sogar das: für die Demokratie. Mursi gab in seinen letzten Stunden im Amt den Ton vor: Er werde eher sterben als zurücktreten. „Wir opfern unsere Seelen für Mursi“, sagte der Bruderschaftsführer Mohammed Badi. Das Martyrium ist die Waffe der Unterlegenen: kein Eingeständnis einer Niederlage, sondern Verpflichtung weiterzukämpfen. Dass sie sich am politischen Prozess beteiligen, ist derzeit nicht vorstellbar. Und warum auch, fragen sich viele Muslimbrüder – wenn es bei dem Putsch doch darum ging, sie aus der Politik auszuschließen? Die Statistenrolle hatten sie schon einmal: unter Mubarak. In der Iman-Moschee in Nasr City, in der noch am Donnerstag 204 Tote liegen – gekühlt mit Eisblöcken, eingenebelt von Duftsprays gegen den Verwesungsgeruch –, sagt der Junge Hussam Nabil Abdullah, der vor der Leiche seines Vaters sitzt: „Es geht jetzt um Gerechtigkeit für all die Toten. Wir werden nicht aufgeben!“ In einem seiner seltenen Interviews sagte Sisi der „Washington Post“ kürzlich, er werde die „Demokratie wiederherstellen“. Ein faustischer Pakt ist das, ein General, der sich als Demokrat gibt. Wie Ägyptens starker Mann über Demokratie denkt, zeigt seine Abschlussarbeit am U. S. Army War College in Pennsylvania, wo er ab 2005 neun Monate lang auf Führungsaufgaben vorbereitet wurde. Als hätte er die Probleme vorausgesehen, die seine Regierung derzeit mit eiserner Faust zu lösen sucht, schreibt der General: „Einfach das politische System umzustellen von autokratisch auf demokratisch reicht nicht aus, um eine neue Demokratie aufzubauen.“ Der Wandel brauche ein „gutes Klima ebenso wie eine vernünftige Wirtschaftssituation, gebildete Menschen, ein maßvolles Verständnis von Glauben“. Vielleicht hätte Mohammed Mursi die Abschlussarbeit seines Verteidigungsministers lesen sollen, dann wäre er gewarnt gewesen. „Wenn eine Demokratie mit neuen Wählerschichten entsteht“, schreibt Sisi da, „gibt es keine Garantie, dass Polizei und Militär die neuen herrschenden Parteien unterstützen.“ DIETER BEDNARZ, JULIANE VON MITTELSTAEDT, CHRISTOPH REUTER, DANIEL STEINVORTH

Video: Christoph Reuter über die neue ägyptische Wut spiegel.de/app472012bbi oder in der App DER SPIEGEL

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„Die können nur noch töten“

Abd al-Munim Abu al-Futuh war Führungsmitglied der Muslimbruderschaft, saß jahrelang im Gefängnis, aber entzweite sich 2009 mit der Gruppe, weil er die politische Öffnung forderte. Als unabhängiger Kandidat bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2012 wurde er mit 17 Prozent der Stimmen vierter. Islamist Abu al-Futuh, 61, führt die Partei „Starkes Ägypten“, auf Twitter folgen ihm 1,1 Millionen Menschen. SPIEGEL: Herr Abu al-Futuh, sind Sie

überrascht von dem, was passiert? Abu al-Futuh: Überrascht hat mich nur

Abu al-Futuh: Wir von „Starkes Ägypten“ hatten landesweit eine Kampagne gestartet, um den Menschen zu erklären, was wir tun können: Ein Sitin – so, wie Mursis Anhänger es nun getan haben –, ziviler Protest, Generalstreik, wir hätten das Land zum Erliegen gebracht, aber eben friedlich. Das wäre der Weg gewesen. Wir hatten faire Wahlen, einen gewählten Präsidenten, ein gewähltes Parlament. Ich war gegen Mursi, aber ich respektierte dennoch die Legitimität seines Amtes. Sisi tut das nicht. Die Generäle respektieren überhaupt nichts mehr, die wollen jeden töten, der gegen sie ist. Wir fordern, dass General Sisi und Innenminister Mohammed Ibrahim sich für dieses Massaker vor Gericht verantworten müssen. Ich verurteile aber auch all jene Ägypter und ausländischen Staaten, die behaupten, sie würden Menschenrechte und Demokratie verteidigen wollen und die nun schweigen. SPIEGEL: Geben Sie dem Militär die alleinige Verantwortung?

das Ausmaß des Tötens. Es war absehbar, exakt davor hatten wir gewarnt. Der Glaube, dass die Generäle uns die Demokratie zurückbringen, ist ein Irrglaube. Die Absetzung von Präsident Mohammed Mursi am 3. Juli war ein Putsch. Jetzt ist es ein sehr blutiger Putsch geworden. Unsere momentanen Herrscher können nur noch töten, aber scheitern selbst beim Beerdigen der Leute. Die lassen sie einfach in den Straßen verrotten. SPIEGEL: Aber warum hat das Militär so exzessiv zugeschlagen? Die Macht hatte es doch schon. Abu al-Futuh: Militärchef Abd al-Fattah al-Sisi ist jetzt Ägyptens Alleinherrscher geworden und regiert mit eiserner Faust. SPIEGEL: Sie waren doch selbst massiv gegen Mursis Politik, haben zu Demonstrationen gegen ihn aufgerufen. Abu al-Futuh: Ja, ich war vehement gegen Mursi, besonders als er versuchte, die Scharia als Verfassungsfundament durchzupeitschen, sich immer mehr Sondervollmachten verlieh und große Teile des Volkes verprellte. Ich habe ihn als schwach und unfähig bezeichnet. Aber ich wollte, dass wir ihn an den Urnen besiegen. SPIEGEL: Wie wollten Sie gegen ihn vor- Armeechef Sisi gehen? „Kampf um Diktatur oder Freiheit“

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MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA

SCOTT NELSON / DER SPIEGEL

Der Islamist und Parteiführer Abu al-Futuh über das Blutbad nach dem Putsch Abu al-Futuh: Nein, Mursi hat es vorher

vermasselt. Hätte er nachgegeben am 30. Juni, noch am 3. Juli, hätte Sisi nicht putschen können. Ich habe Mursi noch Stunden vor dem Coup über einen Verwandten inständig gebeten, sich auf vorgezogene Wahlen oder ein Referendum einzulassen. Aber er hat alle Warnungen ignoriert. Seine Sturheit hat diese neue Diktatur erst möglich gemacht. Mursis Kernproblem war, dass die Muslimbruderschaft sich einfach nie hat entscheiden wollen: Sind wir eine religiöse Organisation oder eine politische Partei? Beides geht nicht zusammen. Mursi wollte die Religion als Vehikel zum Machterhalt benutzen, das musste schiefgehen. Aber darum geht es jetzt nicht mehr. SPIEGEL: Sondern? Abu al-Futuh: Dies ist jetzt ein Kampf um Diktatur oder Freiheit. Wir fordern Wahlen so früh wie möglich. Wir sind strikt dagegen, dass irgendeine Partei wegen ihrer Ansichten ausgeschlossen wird. Nur Einzelpersonen, die der Korruption angeklagt sind oder Blut an den Händen haben, sollen ausgeschlossen werden. Und das schließt General Sisi mit ein. SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Muslimbrüder noch bereit sind, sich an die Regeln des Staates zu halten? Abu al-Futuh: Ich habe Angst, dass sich Gruppen von ihnen radikalisieren. Sisi weist ihnen doch genau diesen Weg. Das ist sicher nicht seine Absicht, aber so wird er verstanden: Wenn du eine abweichende politische Meinung haben willst, musst du bewaffnet sein, sonst töten sie dich. Was wir jetzt erleben, ist der Übergang von Mursis Versuch einer Parteidiktatur hin zur Militärjunta. Beides ist falsch. SPIEGEL: Wie wird es weitergehen? Abu al-Futuh: Oberst Gamal Abd al-Nasser hat es 1952 mit anderen Offizieren vorgemacht: Man dachte, sie würden nur für sechs Monate bleiben, dann würde es Wahlen geben. Daraus wurden dann 60 Jahre Militärherrschaft. SPIEGEL: Und diesmal? Abu al-Futuh: Hoffe ich, dass die Ägypter so etwas nicht abermals hinnehmen werden. INTERVIEW: CHRISTOPH REUTER

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Prognose

2005

72 zum Vergleich USA: 105

2012

122

Zeit zum Umsteuern

101

Energieverbrauch* Chinas, in Exajoule

2020

168

Allein der zusätzliche Verbrauch 2005 bis 2020 entspricht dem Siebenfachen des deutschen Energieverbrauchs 2012.

106 *Primärenergie;

Quelle: EIA

„Die neue Richtlinie ist so bedeutend, here Regierungen vor allem in Umweltweil sie strikt wirtschaftlich argumen- rhetorik geübt, so zeichne sich jetzt eine tiert“, sagt der Umweltforscher Zou Ji neue Strategie ab. „Es geht weiterhin um vom Nationalen Zentrum für Klimastra- Wachstum“, so Ma, „doch von nun an tegie und Internationale Zusammen- um ein Wachstum, das China wirklich arbeit. Pekings Botschaft richte sich vor braucht: gesundes Wachstum.“ Keiner der Experten macht sich Illusioallem an den Unternehmergeist der Chinesen: „Umweltschutz kann euch reich nen darüber, warum Chinas Regierende gerade jetzt solche Weitsicht entwickeln. machen!“ Die im März angetretene neue Regie- „Die Wende kam im vorigen Winter“, Die Regierung will Milliardenrung von Premier Li Keqiang will das sagt Ma. Der Smog, in dem Chinas Norsummen in Öko-Technik stecken. Profitieren werden davon Land urbanisieren und Chinas Wirtschaft den über Wochen hinweg versank, habe von einer Industrie- auf eine ökologisch die städtischen Eliten verstört. Seit daauch die Deutschen. verträglichere Dienstleistungswirtschaft mals übe Peking massiven Druck auf die umstellen. „Man könnte es Liconomics Lokalregierungen aus, Emissionen zu verie Männer, die das Land regieren, nennen“, sagt Zou. Wenn er selbst Un- ringern – vor allem in der Provinz Hebei, weilten in Beidaihe, einem Bade- ternehmer wäre, dann wüsste er jetzt, wo wohin die Hauptstadt viele ihrer Kraftort am Bohai-Meer. Dorthin zie- Geld zu verdienen ist: „Erstens in der Ab- werke und Fabriken ausgelagert hat. „Was in China passiert, ist unglaublich“, hen sie sich seit Maos Tagen im August wasseraufbereitung, zweitens beim Auszurück, um in Ruhe Macht- und Per- bau des Stromnetzes, drittens beim Bau sagt Stephan Kohler, Leiter der Deutschen Energieagentur Dena. Er war vorisonalfragen zu debattieren. Die Politik, von U-Bahnen.“ ge Woche dort, um Beraterverso schien es, war auf Sommerträge zu unterschreiben – unter frische. anderem mit dem staatlichen Da veröffentlichte die Regiechinesischen Netzbetreiber darrung am vorletzten Sonntag über, wie Photovoltaik in das eine Richtlinie mit dem bescheiStromnetz integrierbar ist. denen Titel „Meinungen des Aber es geht auch um EinspaStaatsrates zur Beschleunigung rungen beim Beheizen von der Entwicklung von energieWohngebäuden für Hunderte sparenden und umweltschützenMillionen Menschen. den Industrien“. Die Regierung, „In China wird in zwei Jahsteht in dem Papier, erhebe den ren so viel neue Wohnfläche Umweltsektor in den Rang eigebaut, wie in ganz Deutschner „Schlüsselindustrie“ – ein land steht“, sagt Kohler. Und Titel, der bislang der Stahl- und die Chinesen wüssten inzwider pharmazeutischen Industrie schen, dass sie diesen Wohnsowie der Biotechnologie vorund Büroraum so energieeffibehalten war. Bis 2015 soll der zient wie möglich errichten Sektor gigantische 728 Milliarmüssen. den Dollar umsetzen. Er soll „Schon jetzt muss China Öl etwa doppelt so stark wachsen Elektro-Zweiräder in Zentralchina: Smog verstört die Eliten und Gas in immer größeren wie die Wirtschaft insgesamt. Die Energieexpertin Wang Xiaokun Mengen importieren“, erklärt Kohler. Fördern will Peking die Hersteller von energieeffizienter Kraftwerksausrüstung, von der Beratungsfirma Sublime China „Diese Abhängigkeit widerstrebt den Chideutlich erhöht wird die Zahl von flüs- Information sagt voraus, dass die in der nesen.“ Peking habe stets auf Autonomie siggasbetriebenen Autos und Bussen, Umwelttechnologie führenden Deutschen geachtet. Deshalb sei die neue Energieweiter ausgebaut die Zahl von Wind- bei der Energieoffensive mitmischen wer- initiative der Machthaber auch politisch und Solarparks sowie von Kernkraft- den. „Deutsche Unternehmen können motiviert. Als deutsches Energieunternehmen hochpreisige Produkte verkaufen und werken. Erreichen will die Regierung das alles werden günstige Importbedingungen vor- müsse man nun unbedingt nach China, durch staatliche Investitionen, Steuer- finden.“ Die neue Richtlinie sei ein Wen- so Kohler. Die Chinesen seien vor allem erleichterungen und direkte Subventio- depunkt in Chinas Umweltpolitik. „Der an moderner deutscher Regeltechnik für nen – von denen ausdrücklich auch Fir- chinesische Markt hat großes Potential.“ das Stromnetz interessiert. Und natürlich Auch er „möge“ das neue Dokument, an Maschinen, mit denen Ökostrom-Anmen mit ausländischer Beteiligung profisagt Ma Jun, einer von Chinas prominen- lagen hergestellt werden. „Im Streit um tieren sollen. Es sieht so aus, als stehe die zweitgröß- testen Umweltaktivisten. Hätten sich frü- Strafzölle gegen chinesische PhotovoltaikAnlagen ist nämlich eines untergegante Volkswirtschaft der Welt, der größte Video: Neue Energie auf gen“, so der Dena-Chef: „80 Prozent aller Klimasünder, vor einer Energiewende. Chinas Straßen Maschinen für deren Herstellung in China Und von den Milliarden könnte vor stammen aus Deutschland.“ allem auch die deutsche Industrie prospiegel.de/app342013china oder in der App DER SPIEGEL fitieren. GERALD TRAUFETTER, BERNHARD ZAND CH INA

Gesundes Wachstum

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INDIEN

Im Namen der Furchtlosen Lässt die Justiz Vergewaltiger hinrichten, weil das Volk es will? Bald wird ein Gericht entscheiden, was mit jenen Männern passieren soll, die eine Studentin so misshandelten, dass sie starb.

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er Saal 304 des Bezirksgerichts im Süden von Delhi ist ein nüchterner Ort. Die Wände sind mit Holz verschalt, von der Decke scheint Neonlicht. Der Richter sitzt, überraschend modern, zwischen zwei großen Computerbildschirmen. Doch das hier ist Indien, und deshalb hakt es immer wieder auch in diesem Fall, der weltweit für Entsetzen gesorgt hat. Diesmal ist es Ajay Prakash Singh, der das Gericht warten lässt. Der Verteidiger ist mit dem Auto im Monsunregen steckengeblieben. Ausgerechnet er hatte zuvor die Bedeutung von Pünktlichkeit bei Gericht betont. Nun lästern Richter und die anderen Verteidiger über ihn. Es ist ein seltener Moment von Heiterkeit in diesem sonst so düsteren Verfahren. Verhandelt wird die bestialische Gruppenvergewaltigung der Physiotherapiestudentin Jyoti Singh Pandey im vergangenen Dezember. Sie starb 13 Tage nach dem Martyrium, sie wurde nur 23 Jahre alt. Ermittler haben die grausigen Details des Falls zusammengetragen, an diesem Montag könnte ein erstes Urteil fallen, mit weiteren rechnen indische Juristen ab Ende des Monats. Der Fall hat das Land jetzt schon verändert. Frauen galten vielen Männern bis dahin als Freiwild, Vergewaltigungen waren normal, Polizei und Justiz haben nie sonderlich viel dagegen unternommen. Doch nach Jyotis Tod gingen Zehntausende landesweit auf die Straßen und forderten den Tod für die Täter. „Nirbhaya“, die Furchtlose, nannten sie das Opfer. Indiens aufstrebende städtische Mittelschicht erkannte sich wieder in der modernen jungen Frau, die gerade dabei war, sich durch ihr Studium aus der Armut zu befreien – und nun auf ihrem Weg brutal von Indiens traditioneller Männergesellschaft gestoppt wurde. Jyoti wurde auch zur Symbolfigur für die Wut auf Politiker und Polizisten, die sich nicht um den Schutz von Frauen scherten. Zwar erschüttern immer noch ständig neue Vergewaltigungen die indische Öffentlichkeit. Doch der Volkszorn zwang die Regierung zum Handeln: Im März verabschiedete das Parlament in Delhi ein Gesetz, das schärfere Strafen für VergeFrauen-Protest in Indien*

Der Fall hat das Land verändert 88

waltiger vorsieht, in besonders schweren Fällen droht der Strick. Überdies gelobte die Justiz, Vergewaltigungen künftig durch Schnellgerichte zu ahnden – in diesem Prozess muss sie zeigen, dass sie es ernst meint. Am Abend des 16. Dezember waren Jyoti und ihr 28-jähriger Freund nach einem Kinobesuch in einen Bus gestiegen, der kein Linienbus war. Der Fahrer und fünf Männer, die sich als Passagiere ausgaben, schlugen erst den Freund der Studentin bewusstlos. Dann zerrten sie die Frau auf die Rückbank des fahrenden Busses und fielen über sie her, einer nach dem anderen. Später warfen sie das Paar

nackt und bewusstlos an den Rand einer Schnellstraße – erst etwa 40 Minuten später wurden sie von Passanten gefunden. Richter Yogesh Khanna – er gilt als besonnen und umsichtig – ließ in sieben Monaten Prozessdauer bislang über 80 Zeugen vernehmen, er macht das alles sehr gründlich, immerhin droht den erwachsenen Angeklagten die Todesstrafe. Die Vorwürfe in den 574 Seiten der Anklageschrift wiegen schwer. Besonders erschütternd liest sich das Protokoll der Vernehmung von Jyoti, die, auf der Intensivstation eines Krankenhauses, noch aussagen konnte, bevor sie starb. Die Schwerverletzte schilderte unter anderem, wie ihre Peiniger sie bissen, sie nacheinander vergewaltigten, eine Eisenstange tief in ihren Unterleib rammten und ihr mit bloßen Händen Teile der inneren Organe herausrissen. Gegen den jüngsten Angeklagten wird gesondert vor einer Jugendkammer in Delhi verhandelt, sein Urteil dürfte als erstes fallen. Er soll besonders grausam gewesen sein. Aber zur Tatzeit war er erst 17, daher hat er höchstens drei Jahre Haft zu befürchten – obwohl die Demonstranten, von denen einige noch immer

Tatverdächtige bei einem Haftprüfungstermin*: Vorwürfe auf 574 Seiten

schloss das Gericht die Öffentlichkeit vom Prozess aus. Anwalt Singh empfängt in seinem Haus im Nordwesten von Delhi, vor der Tür parkt ein Geländewagen mit Lautsprechern und Postern. Mit ihm tourt er im Wahlkampf durch die Straßen. Doch jetzt

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nahe dem Regierungsviertel zelten, auch für ihn die Todesstrafe fordern. An einem Verkehrsschild vor ihrem Protestcamp baumelt eine Puppe. Im Prozess gegen die volljährigen Angeklagten taucht dann der verspätete Anwalt Singh doch noch auf. Er trägt keine schwarze Robe wie die meisten Juristen hier im Saal, er ist weiß gekleidet, von Kopf bis Fuß; so gehen indische Politiker gern unters Volk. Singh ist zugleich Chef der winzigen Partei Bhartiya Sampurn Krantikari – „Indiens Totale Revolution“. Die Partei verspricht, den Subkontinent von allen möglichen Übeln zu befreien – Korruption, Kastenwesen, Rassismus, Arbeitslosigkeit und natürlich Gewalt gegen Frauen. Mandate hat sie allerdings bisher nicht errungen. Singh verteidigt zwei der Angeklagten, Kritiker unterstellen ihm, er wolle damit vor allem bekannt werden und Reklame für seine Partei machen. Aber es gehörte auch Mut dazu, den Fall zu übernehmen. Die lokale Anwälte-Vereinigung hatte ihren Mitgliedern verboten, die Männer zu verteidigen. Jene Juristen, die sich daran nicht hielten, wurden angefeindet, es kam zu chaotischen Szenen, monatelang

nimmt er erst einmal hinter einem großen Schreibtisch Platz. Er bereue inzwischen die Entscheidung, die Verteidigung der Männer übernommen zu haben, sagt er. „Viele andere Mandanten haben mir gekündigt, weil ich keine Zeit mehr für sie habe.“ Denn bei diesem Verfahren müsse er fast täglich erscheinen, der Prozess mache ihn fertig, „seelisch und finanziell“. Für seine beiden Mandanten sieht es derzeit schlecht aus. Mit Hilfe der Aussagen von Verwandten und Nachbarn wollten sie beweisen, dass sie nicht im Bus mitgefahren sein konnten. Einer, so hieß es, hätte sich zur Tatzeit in einem Park ein Konzert angehört, der andere will auf einer Reise gewesen sein. Aber ein Mitbeschuldigter, Mukesh Singh, durchbrach diese Verteidigungslinie. Er sagte aus, die Angeklagten seien sehr wohl dabei gewesen. Er habe nur nicht sehen können, was sie hinten im Bus gemacht hätten. Denn er selbst habe in der abgetrennten Fahrerkabine gesessen und den Bus auf Geheiß seines Bruders, des offiziellen Busfahrers, gesteuert, weil der zu viel getrunken hatte. Irgendwann will Mukesh Singh schließlich bemerkt haben, dass etwas Merkwürdiges vor sich ging. Da habe er angehalten und sei ausgestiegen. Anwalt Singh schimpft: Erfunden habe diese Aussage der Anwalt von Mukesh – ein schmutziger Deal, um seinen Mandanten zu retten. „Der ist von der Polizei gekauft worden.“ Vor kurzem verlor Singh auch bei Gericht die Beherrschung. Er beleidigte den Kollegen und wurde handgreiflich. „Am liebsten hätte ich ihn weiter geschlagen, aber andere Leute hielten mich zurück.“ Der verhasste Anwalt heißt Vinod Kumar Anand, seine Kanzlei betreibt er in einem fensterlosen Keller in einem anderen * Links: am 24. Dezember 2012 in Ahmedabad; oben: im Dezember 2012 in Delhi.

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REUTERS

Viertel von Delhi. Dort, wo Rikschafahrer warme Gerichte verkaufen und streunende Hunde auf parkenden Autos schlafen. Anwalt Anand glaubt, dass er Mukesh die Todesstrafe ersparen kann, auch wenn er die anderen so an den Galgen ausliefert. Leicht wird das nicht, denn auf der Hose seines Mandanten sollen DNA-Spuren des Opfers nachgewiesen worden sein. „Das ist kein überzeugender Beweis“, entgegnet der Anwalt. Außerdem würden indische Gerichte DNA-Funde weniger hoch bewerten als Juristen im Westen. Anand behauptet, er hätte auch Mukeshs älteren Bruder Ram Singh retten können, den eigentlichen Fahrer des Busses. Doch der Untersuchungshäftling Ram Singh wurde im März in seiner Zelle gefunden, erhängt. Selbstmord, sagen die Behörden. Mord, sagt der Anwalt. Er breitet vier Fotos auf dem Schreibtisch aus, sie zeigen die Leiche des Busfahrers kurz vor der Einäscherung auf dem Scheiterhaufen, Details von Verletzungen sind nicht mehr zu erkennen. Ram Singhs Gesicht habe einen Einstich aufgewiesen, seine Rippen seien gebrochen gewesen, so Anwalt Anand. Und eine Metallschiene, die Ram Singh nach einem Verkehrsunfall eingesetzt worden war, habe aus seinem Arm herausgeragt. Viele in Delhi glauben, dass der Busfahrer umgebracht wurde. So habe die Obrigkeit dem nach Rache rufenden Volk zumindest ein Opfer darbringen wollen, und zwar schnell. Denn wenn die Angeklagten schuldig gesprochen werden sollten, könnten sie in Berufung gehen – bis zu einem letztinstanzlichen Urteil würden wohl Jahre vergehen. Mitte Mai sagte auch die Mutter von Jyoti vor Gericht aus. Sie trug einen rosa Sari an diesem Tag, sie weinte, sie erzählte von ihrer Tochter. Ihr Auftritt war so bewegend, dass selbst Täter-Anwalt Anand es für klüger hielt, auf eine Befragung zu verzichten. Was auch immer er gesagt hätte – bei Richter und Volk wäre es schlecht angekommen. Nun sitzt Jyotis verzweifelte Mutter in ihrer winzigen Hütte im Süden von Delhi. Die ungepflasterte Gasse davor ist zurzeit aufgerissen. Arbeiter verlegen Abwasserrohre, ein Luxus in dieser ärmlichen Nachbarschaft. Mit dieser Geste wolle der Staat Mitgefühl mit der Familie der Furchtlosen zeigen, glauben Anwohner. Sie habe es nur schwer ertragen, vor Gericht zu erscheinen, erzählt Jyotis Mutter. Sie sah die mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter – sie saßen aufgereiht an der Rückwand des Gerichtssaals. „Unser Leben ist zerstört“, sagt sie. Nur eine einzige Meldung habe ihr in den vergangenen Monaten ein wenig Erleichterung verschafft: die Nachricht vom Tod des Busfahrers Ram Singh in seiner Zelle. WIELAND WAGNER

Farm-Besetzer in Mato Grosso do Sul: Angriff im Morgengrauen

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Das Leben geraubt Mit Facebook, Pfeil und Bogen kämpfen Ureinwohner gegen weiße Rancher – es geht um das Land ihrer Vorfahren.

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ls der Hubschrauber über den Kronen der Mangobäume auftaucht, reckt Häuptling Alberto vom Stamm der Terena seine Lanze in die Luft, stimmt Kriegsgeheul an und ruft seine Männer. Rund 200 Stammesmitglieder laufen auf einer Wiese zusammen, einige zielen mit Pfeil und Bogen auf den Helikopter, andere schwingen Knüppel, spannen Katapulte. Viele tragen Federschmuck und Kriegsbemalung. „Dieses Land gehört uns!“, ruft der Häuptling. Knatternd dreht der Hubschrauber ab. Zwei- bis dreimal täglich überfliegt die Polizei die Fazenda Buriti, eine große Rinderfarm im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Vor der Einfahrt wachen mit Knüppeln bewaffnete Indigene, seit drei Monaten halten sie die Ranch besetzt. 62 Farmen haben die Indianer allein in diesem Bundesstaat inzwischen überrannt. Vom Amazonas bis in die Pampas des Südens stehen sie gegen die Regierung auf. Sie kämpfen für ihr Land, für die Grenzen ihrer Reservate, sie laufen Sturm gegen den Bau von Wasserkraftwerken auf ihrem Gebiet, protestieren gegen den Vormarsch der Agrarindustrie, die ihren Lebensraum zerstört. D E R

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Die Besetzung der Fazenda Buriti ist eine Reaktion auf Brasiliens rücksichtslosen Umgang mit den Ureinwohnern. Die 145 Quadratkilometer der Ranch hatte die Regierung eigentlich schon vor 13 Jahren den Indigenen zugesprochen. Aber der Farmer zögerte die neue Grenzziehung mit juristischen Manövern immer wieder hinaus. Bis die Ureinwohner die Geduld verloren. Per Facebook riefen sie über tausend Stammesangehörige aus der

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Besetztes Anwesen Fazenda Buriti Dourados

PA RAGUAY 200 km

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Aber nicht alle Stämme sind so kämpferisch wie die Terena. Die Guaraní etwa – sie stellen die größte indigene Bevölkerungsgruppe in Mato Grosso do Sul – wenden ihre Verzweiflung eher gegen sich selbst: Ihre Häuptlinge beklagen einen dramatischen Anstieg von Selbstmorden. 56 Guaraní brachten sich allein im vergangenen Jahr um, die meisten waren Jugendliche. Denn seit die Guaraní ihr Land an die Farmer verloren haben, müssen sie sich etwa als Tagelöhner auf Zuckerrohrplantagen verdingen. „Selbstmord gehört eigentlich nicht zu unserer Kultur“, sagt der Anwalt Wilson Matos. „Die jungen Leute töten sich, weil ihr Lebensraum zerstört ist. Wenn man einem Guaraní sein Land nimmt, raubt man ihm das Leben.“ Matos ist Sohn eines GuaraníVaters und einer Terena-Mutter, bis zu seinem 14. Lebensjahr lebte er in einem Reservat. Als erster Ureinwohner von Mato Grosso do Sul hat er dann aber eine Karriere als Jurist gemacht. Er leitete die Indianerbehörde in der Region, jetzt verteidigt er indigene Straftäter – die meisten treibe das Elend zu ihren Taten, behauptet er. Sein Stammeskollege Evaldemir Cáceres beispielsweise haust mit seiner Großfamilie neben einer vierspurigen Überlandstraße am Rand der Provinzstadt Dourados. Die Stammesmitglieder haben sich Verschläge aus Plastikplanen und Holz gezimmert, 86 Menschen fristen hier ihr Dasein. Es gibt weder Strom noch fließendes Wasser, die Kinder spielen im Dreck, die meisten können weder lesen noch schreiben. Vor 43 Jahren wurde ihnen viel Land bei Dourados zugesprochen, doch die Gründung dieses neuen Reservats wurde immer wieder verschleppt. Deshalb blieb ihnen nur der kümmerliche Platz zwischen der Straße und einer Ziegelei. Von der Regierung erhalten sie etwas Sozialhilfe, hinter den Hütten pflanzen sie Maniok an, für die Beete müssen sie Miete an einen Grundbesitzer bezahlen. Nachts kreisen weiße Pistoleiros auf Motorrädern um die Siedlung. Sie bedrohen Frauen und Kinder – um den Stamm einzuschüchtern, glauben die Indianer. Ende vergangenen Jahres wandten sich Cáceres und die anderen Häuptlinge der Guaraní mit einem Brief an die Regierung: „Schickt uns Gift, damit wir uns umbringen können!“ Auf eine Antwort warten sie bis heute. MOISES PALACIOS / FUTURA PRESS

Umgebung zusammen. Im Morgengrauen plantagen, auf dem einstigen Indianerdes 15. Mai stürmten sie die Farm, warfen land weiden Rinder. Die industrialisierte Landwirtschaft hat selbstgebastelte Böller, schwangen Holzknüppel und Lanzen. Private Wächter ihre Anbauflächen in Mato Grosso do Sul feuerten in die Luft, aber gegen die Über- in den vergangenen vier Jahren um über macht hatten sie keine Chance. Sie ver- 30 Prozent ausgeweitet, im Bundesstaat schanzten sich zusammen mit der Frau liegen einige der fruchtbarsten Böden des des Ranchers, Familienangehörigen und Landes. „Freiwillig geben wir die LändeAngestellten im Haus. Nach zähen Ver- reien nicht her“, sagt Bacha. Wie die meishandlungen durften die bisherigen Besit- ten Farmer hat er sich bewaffnet. „Ich zer abziehen. 15 Tage später rückte die Polizei mit scharfer Munition an. Ein Besetzer wurde erschossen, ein weiterer angeschossen; aber die Ureinwohner gaben nicht auf. Inzwischen haben die Terena auf dem Gelände der Fazenda Buriti ein Dorf errichtet. Sie bestellen die Felder, pflanzen Maniok und Mais, einige fahren mit den Traktoren des Farmers umher. Nachts schlafen sie in Verschlägen aus Holz und Plastikplanen. „Unsere Reservate sind zu klein“, sagt Häuptling Alberto. „Wenn wir nicht mehr Land bekommen, Angezündete Fazenda Buriti: Rinder auf Indianerland müssen meine Leute hungern.“ Als die Polizei das Anwesen zu stür- trete 300 wilden Indios nicht ohne Gemen versuchte, brannten die Besetzer wehr entgegen.“ Er heuerte einen privadas Haus des Farmers nieder. „Wir haben ten Wachdienst an, der für sein brutales nichts gegen die Farmer“, beteuert der Vorgehen berüchtigt ist. Dass manche Farmer über Leichen geHäuptling der Terena. „Wir möchten, dass sie von der Regierung entschädigt hen, ist bekannt: 564 Indigene wurden in den vergangenen zehn Jahren in Brasilien werden.“ In diesem Punkt sind sich der Farmer ermordet, 319 allein in Mato Grosso do und die Indigenen einig. „Wenn die Re- Sul. Im Februar erschossen drei Farmgierung einen anständigen Preis zahlt, wächter einen 15-Jährigen, nur weil der verkaufe ich sofort“, sagt Eigentümer auf dem Gelände fischen wollte. Die Regierung ist vor der Agrarlobby Ricardo Bacha, ein ehemaliger Abgeordneter des Landesparlaments. Jetzt ver- eingeknickt. Als Präsidentin Dilma Roushandelt er mit Beamten über eine Ent- seff im April Mato Grosso do Sul besuchte, pfiffen Farmer sie aus. Kurz darauf schädigung. Rancher Bacha sitzt im Büro des mäch- vollzog sie einen Schwenk in der Indigetigen Bauernverbands in der Provinz- nenpolitik: Die geplanten Erweiterunhauptstadt Campo Grande, einem Palast gen der Reservate hat sie eingefroren, aus Glas und Stahl. Funktionäre der Or- das Genehmigungsverfahren will sie ganisation flankieren ihn. Bacha trägt ein ändern. Bislang ist allein die Indianerbehörde kariertes Hemd und Jeans, sein Gesicht ist sonnengebräunt. Die Farm hat er von Funai für die Grenzziehung verantwortseinem Großvater geerbt, der hatte das lich, dort haben Anthropologen das Grundstück im Jahr 1927 von der Regie- Sagen. Rousseff will jetzt andere Organisationen zu Rate ziehen, darunter das rung bekommen. Ursprünglich gehörte das Land aber zu landwirtschaftliche Forschungsinstitut Paraguay, Brasilien hatte es sich 1870 nach Embrapa, das den weißen Farmern naheeinem Krieg einverleibt. Die Regierung steht. „Rousseff hat die Funai entmachtet“, zog damals die neue Grenze quer durch die ethnischen Gemeinschaften, sie ließ klagt der deutschstämmige Ex-Padre die Indigenen wie Vieh zusammentreiben Egon Heck von der kirchlichen Hilfsorund in Reservate sperren. Dann verteilte ganisation Cimi. Die Großgrundbesitzer tragen mit ihren Produkten entscheidend sie das Land an weiße Siedler. Nach dem Ende der Militärdiktatur Mit- zu Brasiliens Exporterlösen bei, die Rante der achtziger Jahre aber bekam Brasi- cher finden bei der Präsidentin immer lien eine neue, demokratische Verfassung. ein offenes Ohr. Abgeordnete der UreinDie sprach den Ureinwohnern das Recht wohner hat sie dagegen nicht ein einziges auf jene Gebiete zu, aus denen sie Jahr- Mal empfangen. „Sie besitzen keine Lobzehnte zuvor vertrieben worden waren. by“, sagt Heck. 305 Stämme gibt es in Brasilien, sie Doch wo damals Urwald wucherte, erstrecken sich heute Soja- und Zuckerrohr- sprechen 274 verschiedene Sprachen.

JENS GLÜSING

Video: Jens Glüsing über die unterdrückten Indianer Brasiliens spiegel.de/app472012bbi oder in der App DER SPIEGEL

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„Urahnen der Menschheit“ GLOBAL VILLAGE:

Was 4000 Philosophen bei ihrem Weltkongress in Athen trieben

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ie Frage, ob und wie die FichteGemeinsam mit 4000 anderen TeilnehLektüre das Denken Edmund mern aus 105 Ländern sitzt sie nun eine Husserls beeinflusst hat, interes- Woche lang in einem Athener Betonklotz, siert die Inderin Shanta Kumari nur am hier finden Vorträge und Seminare statt, Rande. Und als eine Frau in blauem Polo- etwa über die „Relevanz von Arthur shirt sich das Mikrofon greift und erläu- Schopenhauers Pessimismus für die Motert, dass zumindest Heidegger sich nie derne“ oder über den stoischen Aspekt groß darum geschert habe, was Husserl bei Spinoza.  Der Weltkongress der Philosophen ist ihn gelehrt hat, verlässt Kumari den das globale Happening professioneller – Raum. Universität Athen, Sografos-Campus, zumindest aber studierter – Denker. Alle am ersten Sonntag im August: Während fünf Jahre treffen sich Philosophen aus im vollbesetzten Hörsaal Husserls trans- der ganzen Welt, um gemeinsam den Stelzendentale Wende diskutiert wird, streift lenwert ihrer Disziplin in der Gegenwart sich draußen, auf den Stufen vor dem Gebäude, Shanta Kumari die Schlappen von den Zehen und sagt: „Ich mag keine geschlossenen Räume.“  Ein lauer Wind weht, der Campus liegt auf einer kleinen Anhöhe. Dr. Kumari, 53, Dozentin für klassische indische Philosophie an der Universität von Pondicherry in Südindien, trägt einen curryfarbenen Sari; sie ist zum ersten Mal in Athen, zum ersten Mal in Griechenland.  6249 Kilometer weit ist sie gereist, um auf dem XXIII. Weltkongress der Philosophen mit einem Irrtum aufzuräumen. Kumari Konzert beim Kongress: „Eine ganz andere Realität“ will eine Lanze brechen für die indische Philosophie, und wo könnte sie das wirkungsvoller tun als in der Heimat von zu eruieren. Sie wollen also wissen, ob Platon und Aristoteles. Dort, wo, wie noch irgendjemand sie braucht. mantraartig wiederholt wird, das abendAllein die Broschüre mit den Exzerpländische Denken seinen Ursprung hat.  ten der Aufsätze und Exposés, die die Kumari hat dafür einen Vortrag ausge- Teilnehmer vorgelegt haben, ist 818 Seiarbeitet, in dem sie darlegt, dass die indi- ten stark. Zuletzt fand der Kongress 2008 in sche Philosophie weder irrational noch esoterisch ist, sondern mit dem westlichen Seoul statt, dort wurde entschieden, dass Denken durchaus mithalten kann. Die der nächste Gastgeber die Athener Uniwestliche Zivilisation habe nicht nur versität sein wird. Stolz seien sie gewesen Fortschritt gebracht, sagt Kumari. Sie damals, sagt Konstantinos Vouroudis, der spricht ruhig und besonnen. Seit sich ihr Organisator, emeritierter Professor. Mit Land am Westen orientiere, gierten die dem Stolz ist das allerdings mittlerweile Menschen nach Geld, nach materiellen so eine Sache in Griechenland, es hat sich Dingen. Ehen würden geschieden, es vieles geändert. „Wir leben heute in einer ganz anderen gebe jetzt mehr Drogen und Alkohol in Indien. Shanta Kumari findet nicht, dass Realität“, sagt Vouroudis. Er steht auf der Westen viel Grund habe zur Über- dem Hof der philosophischen Fakultät, an der Wand hinter ihm ein Graffito: Tod heblichkeit. 92

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den Gläubigern, steht da in großen, schwarzen Buchstaben. Kurz nachdem Vouroudis und sein Team mit den Vorbereitungen begonnen hatten, war plötzlich kein Geld mehr da für das Großereignis. Wenn eine Universität das eigene Personal nicht mehr bezahlen kann, weil das ganze Land pleitegeht, dann kann sie auch keinen Weltkongress für Philosophen ausrichten. Vouroudis’ Team war auf Sponsoren angewiesen. Die Onassis-Stiftung zum Beispiel hat das Papier für die Reader bezahlt und das Honorar der Übersetzer.  Auch der Tourismusverein der Südägäis hat geholfen, dafür durfte er im Eingangsbereich Stände aufstellen und Faltblätter auslegen mit Bildern vom türkisfarbenen Meer. Konstantinos Vouroudis ist stolz darauf, dass es doch noch geklappt hat. Er hat den Teilnehmern einen enthusiastischen Brief geschrieben, in dem Sokrates, Zenon, Epikur und Diogenes, „die Urahnen der ganzen Menschheit“, die Gäste begrüßen. Selbst wenn der Staat bankrott sei, für die Philosophie gebe es in Athen immer Platz, sagt Vouroudis. „Hier steht die Wiege unserer Kultur“, und natürlich meint er wieder die ganze Menschheit.  Ein Philosoph sei wie eine Glühbirne, sagt Shanta Kumari aus Pondicherry, er erleuchte die Menschen, bringe sie zum Denken. Jede Philosophie sei eine bestimmte Sicht auf die Dinge, und es gebe eben viele Sichtweisen auf der Welt. Sie steht jetzt vor der Universitätsbuchhandlung, in der Hand einen Reiseprospekt über die Südägäis. Und was hält sie nun von Griechenland, der Wiege der abendländischen Zivilisation? „See“, sagt Dr. Shanta Kumari in singendem Englisch: „Jeder Hund hat seinen Schwanz, und jede Ära hat ihr Ende.“ Nachdem sie Bilder von Delphi und Olympia gesehen hat, möchte sie nicht mehr dorthin fahren. „Nur Ruinen“, sagt Kumari. LOUISA GOULIAMAKI / AFP

ATHEN

JULIA AMALIA HEYER

Szene

POP

Franz Ferdinand

Verdammte Mühen der Ebene! Als die schottische IndierockBand Franz Ferdinand 2004 ihr Debütalbum veröffentlichte, war das Quartett (Alex Kapranos, Nicholas McCarthy, Paul Thomson und Robert Hardy) die Hoffnung des britischen Pop. Die vier hatten einen überraschenden Namen (der auch noch deutsch ausgesprochen werden musste), und auch wenn sie schon Anfang dreißig waren, sahen sie doch super aus in ihren schmal geschnittenen Hosen. Ihre Musik hatte einen Zack, den die Band sich beim New Wave der frühen Achtzi-

ger abgeschaut hatte. Das war neu, damals. Und jetzt? „Right Thoughts, Right Words, Right Action“ heißt ihr viertes Album. Zehn flotte Songs, die sich um so schöne Themen drehen wie die Schwierigkeit, das Richtige zu tun, oder die Angst der Erdbeere vor der Fäulnis. Alles wie immer also und das Beste, was eine Band machen kann, wenn sie ihren Sound gefunden und die Freude am Weitermachen nicht verloren hat. Nur sind sie mittlerweile Anfang vierzig. Da kommen eben langsam die Fruchtfliegen.

KINO IN KÜRZE

Caine, Clémence Poésy

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SENATOR FILMVERLEIH

„Mr. Morgan’s Last Love“ erzählt von einem Witwer, der nach dem Tod seiner Frau neuen Lebensmut finden muss. Sir Michael Caine spielt diesen Mann mit so viel abgeklärter Weisheit und melancholischer Ironie, dass man ihm ewig dabei zuschauen und darüber alt werden könnte. Der britische Star ist vor wenigen Wochen 80 Jahre alt geworden, schlohweiß ist er schon lange, D E R

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er wirkt fragil und dennoch voller Kraft. Die deutsche Regisseurin Sandra Nettelbeck, 47, bereitet ihm Szene für Szene den Boden, um den Zuschauer an seiner heiteren Gelassenheit teilhaben zu lassen. Durch die schläfrig wirkenden, aber stets hellwachen Augen von Caine, die das Leben in all seinen Absurditäten durchschaut haben, verliert selbst der Tod etwas von seinem Schrecken.

ANDY KNOWLES

Die Angst der Erdbeere

Kultur ZEITGESCHICHTE

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Segen der Zerstörung

Fröhliche Barbaren

Eine dokumentarische Filmsequenz in Schwarzweiß: Der Architekt Le Corbusier steht 1931 vor einem Stadtplan von Paris und malt einen dicken Strich quer darüber, eine Achse. Er zeichnet Quadrate, schraffiert ganze Viertel weg. Modern und luftig – so war seine Vorstellung von einem neuen Paris. Was heute als Dokument des Wahnsinns gesehen wird, war unter Stadtplanern in Le Corbusiers Generation eine gängige Haltung, ob sie nun Kommunisten, Faschisten oder Demokraten waren. Die verdichtete, kleinteilige Stadt schien ihnen überholt zu sein. Welche zynischen Konsequenzen diese Haltung haben konnte, zeigt eine Ausstellung in der Freien Akademie der Künste in Hamburg (bis 29. September). Die Architekturhistoriker Jörn Düwel und Niels Gutschow präsentieren Dokumente, die belegen, dass Stadtplaner den Bombenkrieg auf Europa zwischen 1940 und 1945 geradezu ersehnt haben, weil die Bomben ihnen das abnahmen, was sie ohnehin vorhatten: die Zerstörung der historisch gewachsenen Stadt. Konstanty Gutschow, Beauftragter für eine Neugestaltung Hamburgs, schrieb 1944: „So kalt und berechnend die Feststellung auch sein mag, der Städtebauer möge es sagen dürfen, dieses Werk der

Das Genre des Britpop-Romans, für das Nick Hornbys „High Fidelity“ 1995 die Maßstäbe setzte, ist mit überraschender Heftigkeit erwachsen geworden – im neuen Buch des 50-jährigen Londoners James Meek. Der Schriftsteller Meek war früher ein hochgelobter Reporter und Top-Journalist und ist bei uns unter anderem durch den Russland-Roman „Die einsamen Schrecken der Liebe“ (2005) bekanntgeworden. Sein neues Werk „Liebe und andere Parasiten“ hat einen Mann namens Ritchie Shepherd zum Helden, der in jungen Jahren berühmt war als Sänger einer Band, die sich Lazygods nannte. Inzwischen ist dieser Ritchie ein 40-jähriger Familienvater, produziert eine erfolgreiche Fernsehshow für Teenager und hat das Problem aller Pop-Romanhelden: Er kann partout nicht erwachsen werden. Deshalb geht er mit einer 15-jährigen Showkandidatin ins Bett, was ihn in Teufels Küche bringt. Das ist die Ausgangslage in Meeks turbulentem und oft lustigem Abenteuerroman, der angelegt ist als ein geradezu tolstoisches Sittengemälde des heutigen London. Erzählt James Meek wird unter andeLiebe und anrem vom missionadere Parasiten rischen Irrsinn eiAus dem Engnes Medientycoons, lischen von Hansder an Rupert MurUlrich Möhring doch oder an Axel und Karen Nölle. Cäsar Springer erDVA, München; innert; von der Ver560 Seiten; 22,99 Euro. antwortung westlicher Mediziner für den Fortschritt in der Dritten Welt; und von den Chancen, die das Internet für Denunzianten bietet. „Liebe und andere Parasiten“ spielt in einer Großstadt voller hedonistischer Barbaren, in deren Luxuslokalen statt Kokain schon mal Edelschokolade als Glücksdroge konsumiert wird und in deren verglasten Bürotürmen tatsächlich über Fragen der menschlichen Moral diskutiert wird. Anders gesagt: Die Story um den Fernsehmacher Ritchie ist hoffnungslos überladen. Dem Vergnügen an Meeks Roman und seinen vielen durchgeknallten Episoden aber schadet das kaum.

Buchillustration zur Stadtplanung, 1944

Zerstörung wird Segen wirken.“ Konstanty Gutschow (1902 bis 1978) war der Vater von Ausstellungskurator Niels Gutschow, der für die Schau den väterlichen Nachlass auswertete und den Titel der Ausstellung wählte: „Die erwartete Katastrophe“. Welche Qualen die Opfer des Krieges durchlitten, ist hier nicht sichtbar. Das Bombardement Hamburgs, bei dem über 34 000 Bewohner starben, jährt sich in diesen Tagen zum 70. Mal.

VERLAGE

Großes Geld

Unseld-Berkéwicz

LUCAS WAHL / AGENTUR FOCUS

MARKUS C. HUREK / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Keine Woche ohne eine neue Wende im Fall Suhrkamp. Vergangenen Dienstag hatte das Frankfurter Landgericht eine einstweilige Verfügung bestätigt und die Familienstiftung von Ulla Unseld-Berkéwicz erneut verpflichtet, ihre Forderungen in Höhe von fast fünf Millionen Euro gegenüber dem Verlag bis Ende 2014 zu stunden. Ein

Barlach

Etappensieg für Hans Barlach, den Präsidenten der Medienholding, die 39 Prozent an der Verlagsgruppe hält. Der Frontverlauf in der juristischen Schlacht um den Verlag ist dadurch jedoch keineswegs klarer geworden. Die wahren Gewinner werden die Anwälte mit ihren Honoraren sein. Für Barlach arbeiten die Kanzleien Leo SchmidtHollburg Witte & Frank und SchultzSüchting. Die Suhrkamp-Seite wird vertreten durch Gleiss Lutz Rechtsanwälte und das Büro Witthohn Aschmann Schellack. Zusätzlich sind Rolf Rattunde als Sachwalter des Schutzschirmverfahrens und Frank Kebekus als Insolvenzberater beschäftigt. Sie alle betreiben juristische Forschungsarbeit, denn einen Fall wie Suhrkamp hat es in der deutschen Rechtsgeschichte noch nicht gegeben. Die beteiligten Juristen lassen sich ihre Expertise gut bezahlen. Rattunde zum Beispiel veranschlagt ein Honorar von einer Million Euro. Das geht aus seinem Insolvenzgutachten hervor. D E R

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ZEITGESCHICHTE

Der ferne Vater Eine Biografie beschreibt erstmalig das Familienleben des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt, der wohl ein scheuer und schwieriger Mann war – vor allem zu Hause.

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er war doch kein Familienmensch, hat er sich angehört, als er für eine Biografie über das Familienleben des Kanzlers Willy Brandt recherchierte. Kinderzimmer habe der selten betreten. Und außerdem: zwei Scheidungen. Affären. Depressionen. Als glücklicher Vater und Ehemann ist dieser Politiker nicht wahrgenommen worden. Andererseits: Brandts Kinder haben sich nicht öffentlich über ihn beschwert. Auch seine drei Ehefrauen nicht. Die Söhne von Ex-Kanzler Helmut Kohl schreiben Bücher darüber, wie sehr sie unter ihrem Vater gelitten haben. Diese Woche, vier Monate vor Brandts 100. Geburtstag am 18. Dezember, erscheint das Buch des Autors Torsten Körner über die Familie Brandt: ein Werk über einen Vater, der nicht präsent war und doch gemocht wurde*. Biograf Körner ist vorsichtig mit Wertungen, er breitet sein Material aus, erzählt Begegnungsgeschichten. Das Genre kann Vorsicht ganz gut gebrauchen: Warum scheitern Ehen? Auf so etwas gibt es nie nur eine Antwort. Die Spannung des Buches liegt in den Widersprüchen des Haupthelden, die sich auch in einem Beziehungsmuster äußerten: Willy Brandt (1913 bis 1992) war ein Menschenfänger, wurde dafür bewundert; * Torsten Körner: „Die Familie Willy Brandt“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 512 Seiten; 22,99 Euro.

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wenn aber jemand plötzlich mit ihm allein war, konnte er spröde, scheu, ja desinteressiert sein. Diese Disposition hatte politische Auswirkungen. Brandt stürzte 1974 als Kanzler, unter anderem weil er sich nicht genug für Warnungen interessiert hatte, sein enger Mitarbeiter Günter Guillaume sei ein DDR-Spitzel. Er war wenig beschäftigt mit den Menschen um ihn herum. Wie aber wirkte sich dieses Muster, der Widerspruch zwischen Nähe und Distanz, auf seine Nächsten aus? Dies ist eine Frage, die die Familienbiografie durchzieht. Interessant ist diese Familie sowieso. Brandt ist der einzige Kanzler, der Künstlerkinder hervorgebracht hat. Mit seiner norwegischen Ehefrau Rut hat er drei Söhne, alle sind Geschichtenerzähler: Peter, 64, ist Historiker, Lars, 62, bildender Künstler und Schriftsteller, Matthias, 51, Schauspieler. Lars Brandt schaffte es 2006 mit „Andenken“, einem großartigen literarischen Porträt seines Vaters, auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste; gerade schreibt er seinen dritten Roman. Matthias Brandt ist zu einem der anerkanntesten Darsteller Deutschlands geworden. Am 18. Dezember 1913 kommt in Lübeck Herbert Frahm zur Welt, der sich später Willy Brandt nennen wird. Die Mutter ist 19 Jahre alt. Dass er ein uneheliches Kind ist, werden seine politischen Gegner Brandt später vorhalten. D E R

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Der Junge ist viel allein. Oft zieht er sich in eine Dachstube zurück, selbst in der Kanzlervilla wird er abgeschiedene Räume bewohnen. In seiner Kindheit ist ihm niemand besonders nahe. Er wird sich immer schwer damit tun: „Politik ist die Chance, vielen Menschen nahezutreten, ohne dem einen Menschen wirklich nahezukommen“, folgert Biograf Körner. Er ist früh ein Linker, für die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) zieht er 1933 nach Oslo, kämpft von dort aus gegen die Nazis. 1940, an dem Tag, da die Wehrmacht ihren Überfall auf Norwegen beginnt, sagt ihm seine Freundin Carlota, sie sei schwanger. Ninja Frahm kommt 1940 zur Welt, ihre Eltern heiraten im Juni 1941. Der Vater bleibt seiner Tochter verbunden, auch wenn die Ehe mit ihrer Mutter bald geschieden wird. Eine Treue, die Ausschließlichkeit voraussetzt, liegt Brandt nicht. Auch nicht in seiner Ehe mit Rut, mit der er 32 Jahre lang verheiratet sein wird. Rut Brandt ist fröhlich, herzlich, optimistisch. Biograf Körner schreibt über die 1980 geschiedene Ehe: „Die emotionalen Temperamente der Eheleute passen auf lange Sicht nicht zueinander, die Strategien ihrer Selbstrettung sind verschieden, er ist der Tragiker, sie ist die Ironikerin, er wühlt in sich, sie will aus sich heraus, er verarbeitet Erlittenes durch wiederholtes inneres Erleiden, sie hält das für selbstverfassten Schmerz.“

1 Brandt mit Tochter Ninja und Ehefrau Carlota 1944 in Stockholm.

1957 wird Brandt Berliner Bürgermeister, dennoch ist es eine Karriere mit Niederlagen – Alternativlosigkeit. Er muss Politik machen. Das, was er dort spürt, Macht, Einfluss, kann er in der Familie nicht spüren, da ist er wortkarg, selten da, schwer zu fassen. Und ein Suchtmensch: Politik, Nikotin. Der Bonner Fotograf Josef Darchinger, der alle Kanzler kannte, sagte: „Helmut Schmidt pafft nur! Paffer, das sind keine Raucher, das sind Paffer! Brandt hat tief inhaliert, das war ihm eine richtige Leidenschaft, es kam hinten wieder raus.“ Die Geburten der beiden älteren Söhne sind nicht leicht, da ist Rut schwer getroffen, dass ihr Mann bei der Niederkunft des dritten Sohnes einen unwichtigen Termin in Amerika wahrnimmt. Mutter und Kind kommen fast ums Leben. Seine Frau und seine Kinder verlangen von ihm nicht, was er nicht geben kann. Sie sind großzügig, so sehr, dass Lars Brandt den Vater seinerseits als „großzügig“ lobt (siehe Interview). Der Vater ist fern und prägend und manchmal Auslöser für Wendepunkte. Der schauspielerische Durchbruch von Matthias: Als er 2003 in einer Verfilmung der Guillaume-Affäre den väterlichen Kontrahenten, den Spion spielt. Dies macht er so gut, dass es heißt, hier sei einer viel mehr als nur ein Sohn. Bei Lars Brandt ist es ähnlich: In seinem ersten Bucherfolg „Andenken“ geht es um den Vater, und doch ist schon an der Form – einer konzentrierten Reihung von Assoziationen, aus der sich ein komplexes Bild ergibt – zu erkennen, dass hier ein eigenständiger Künstler am Werk ist. Und Peter Brandt, der älteste Sohn, bekommt 2009 für seine Verdienste um die deutsche Einheit das Bundesverdienstkreuz. Halb verschwunden und doch da, so hat der Künstler Georg Meistermann Brandt 1977 gemalt. Das Bild war für die Porträtgalerie der Regierungschefs im Kanzleramt gedacht. Helmut Kohl ließ es später wegschaffen, er mochte es nicht. Willy Brandt selbst hatte es gefallen. SUSANNE BEYER

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3 Mit Söhnen Lars und Peter und Ehefrau Rut Mitte der fünfziger Jahre in Berlin. 4 Mit Ehefrau Rut 1967 in Bonn. 5 Mit Sohn Lars 1967 in Rumänien.

ULLSTEIN BILD / VG BILD-KUNST BONN, 2013

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T. HOEPKER / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS

JUPP DARCHINGER IM ADSD DER FES

2 Mit Tochter Ninja 1944 in Schweden.

Brandt-Porträt von Meistermann, 1977: Halb verschwunden und doch da D E R

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„Er war er, und ich war ich“ Der Schriftsteller Lars Brandt, 62, über das Verhältnis zu seinem Vater Willy, Regieren als Kunstform und die Legende, Willy Brandt sei depressiv gewesen SPIEGEL: Dem Buch von Torsten Körner zwei Personen, die voneinander akzeptieüber Ihre Familie ist zu entnehmen, dass ren konnten, dass sie sind, wie sie sind. Sie gezögert haben, sich mit ihm für seine SPIEGEL: Sie sagen, sie hätten von Ihrem Vater großen Freiraum bekommen. Fragen und Recherchen zu treffen. Brandt: Ich habe mich in solchen Zusam- Brandt: Ja, das war eines der größten Gemenhängen immer sehr zurückgehalten. schenke, dieser riesige Freiraum. Ich Mein Leben dreht sich um anderes als konnte immer alles selbst entscheiden. um meine Eltern, ich habe sehr früh begonnen, mich für Literatur und Kunst zu interessieren, und das geriet ins Zentrum. SPIEGEL: Sich von Ihrem Vater fernzuhalten ist nicht ganz leicht. Jetzt, im Jahr seines 100. Geburtstags, erscheinen mindestens 31 Bücher über ihn. Brandt: Oh. SPIEGEL: Sie haben vor ein paar Jahren selbst ein Buch, ein sehr gutes, über sich und Ihren Vater geschrieben: „Andenken“. Darin heißt es: Er war nicht Freund und nicht Feind, er war Natur. Was meinen Sie damit? Brandt: Die Beziehung zwischen ihm und mir ist von der Natur gegeben und definiert. Es ist ein Unterschied, ob jemand mein Freund ist oder mein Vater. Ich habe meinen Vater auch nie beim Vornamen genannt. Nicht, solange er lebte, also auch jetzt nicht. SPIEGEL: Wenn Sie sagen, Ihr Vater war nicht Ihr Freund – weisen Sie damit auf eine Distanz hin? Brandt: Nähe und Distanz schließen sich für mich nicht aus. Ich habe mich nicht unwohl gefühlt mit ihm. Er sich offenbar auch nicht in meiner Gegenwart. Er war er, ich war ich, Autor Brandt: „Pappnasen um ihn herum“

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SPIEGEL: Ihr Vater gab Ihnen den Freiraum, weil er Ihnen vertraute – oder weil er sich nicht sehr für seine Kinder interessierte? Brandt: Er fand immer, jeder müsse selbst wissen, was er mit seinem Leben anfange. Das ist etwas anderes als Desinteresse. Ich habe ja 1966 als 15-Jähriger in einem Film mitgespielt, „Katz und Maus“, zwei Jahre später bekam ich zwei Filmangebote aus Rom. Ich habe dem Regisseur gleich gesagt, dass ich das nicht machen würde, aber er überredete mich, alles in Ruhe zu besprechen. Ich flog also nach Rom. Und da haben sie mir versprochen, dass ich dort meine Schule neben den Dreharbeiten abschließen könne und so. Ich bin dann direkt aus Rom nach Norwegen geflogen, wo meine Eltern Urlaub machten, und habe denen davon erzählt, und sie haben mir überlassen, ob ich nach Rom gehe oder nicht. Ich habe dann von mir aus abgesagt, aber dieses Maß an Freiheit ist doch großzügig. SPIEGEL: Heutzutage heißt es, Eltern mischten sich zu sehr ins Leben ihrer Kinder ein, es entstünden Symbiosen, Eltern könnten nicht akzeptieren, dass ihre Kinder von ihnen getrennte Personen seien. Brandt: Aber auch Kinder sollten wissen, dass Eltern andere Personen sind und nicht von ihnen was weiß ich alles wollen. Es tut beiden Seiten gut, Verantwortung und auch Selbstbewusstsein zu haben – also ein Bewusstsein dafür, wer man selbst ist – und nicht alles von anderen zu erwarten. Eltern sind nicht dazu da, Kinder durchs Leben zu tragen. SPIEGEL: Sie sind mit Ihrem Vater gereist, haben für ihn Reden geschrieben. Es scheint, als hätten Sie sich immer einen Inhalt gesucht, oder auch: als hätten Sie nicht einfach mal so zusammen sein können. Brandt: Mein Vater war ein Arbeitsmensch. Das war eine schöne, direkte Form, mit ihm zusammen zu sein. Wir haben auch gemeinsam GUNTER GLUECKLICH / DER SPIEGEL

HORST OSSINGER

TIM WEGNER / DER SPIEGEL

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H. VON BORSTELL / ARCHIV DER SOZIALEN DEMOKRATIE DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

geangelt – und im Übrigen viel zusammen gelacht. SPIEGEL: Sie waren der einzige Sohn, der für ihn Reden schrieb? Brandt: Ja. SPIEGEL: Was hat er von Ihnen erwartet? Brandt: Ich war ja nie in der SPD und gehörte als Künstler nicht zu seinem Lager. Er erwartete eine Perspektive von außen. Wenn es um künstlerische Themen ging, hat er mich gefragt, aber auch sonst. Ich habe 1985 eine größere Rede zum 40. Jahrestag des Endes der Nazi-Herrschaft für ihn entworfen. Zu der Zeit war das noch nicht üblich, zur Kenntnis zu nehmen, dass auch den Homosexuellen im Dritten Reich Unrecht angetan wurde. Einen Hinweis dazu habe ich untergebracht, das war ihm aber zu heikel, er hat es rausgestrichen. Im selben Jahr hat Richard von Weizsäcker als Bundespräsident eine vielbeachtete Rede gehalten, da war so etwas drin. Ich habe meinen Vater darauf hingewiesen, dass auch er das im Manuskript hatte. „Ah, Scheiße“, hat er gesagt. SPIEGEL: Haben Sie Ihrem Vater eigene Standpunkte unterschieben können? Brandt: Das wäre aussichtslos und albern gewesen. Ich habe ihm gelegentlich Themen nahegebracht, von denen ich dachte, die wird kein anderer ihm nahebringen. SPIEGEL: Sie haben ihm Thomas Mann in seine Reden reingeschrieben. Brandt: Ja, das war ein Hobby. Die Essayistik von Thomas Mann ist unüberbietbar prägnant und gerade in der Auseinandersetzung mit den Nazis sehr, sehr scharf. SPIEGEL: War Ihr Vater vielleicht eine typische Mann-Figur, jemand, der gerade noch die Form wahrt, aber an der Grenze ist, nicht mehr zu können? Brandt: Wieso glauben Sie, er sei an der Grenze gewesen? SPIEGEL: Es heißt, er habe Depressionen gehabt. Brandt: Depressionen, wissen Sie, das ist ein Wort, das heute in Mode ist. Das ist doch Quatsch. Er hatte halt manchmal das Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Wenn ich mir überlege, mit welchen Leuten der immer zu tun hatte! Man muss ja

2 Mit Sohn Matthias, Frau Rut 1972 in Florida. 3 Bei einem SPDAusflug 1976 in Ostwestfalen. 4 Sohn Lars mit Frau Renate, Sohn Matthias mit Frau Sofia und Tochter Naima bei der Beerdigung von Rut Brandt 2006 in Berlin. 4

nicht nur den Oberspießer Guillaume nehmen, da waren ja auch sonst genug Pappnasen. Und wenn mein Vater da zweimal im Jahr sagt, drei Tage will ich keinen mehr sehen, habe ich das größte Verständnis. Das hat mit Depressionen nichts zu tun, sondern mit Gesundheit. SPIEGEL: Bei Auftritten konnte Willy Brandt ein steinernes Gesicht annehmen, selbst an Tagen, die freudig hätten sein müssen: als Kennedy Berlin besuchte. Keine Depressionen? Brandt: Mein Vater war jemand, der einen künstlerischen Zug hatte, auch deswegen hatten wir wohl diese Verbindung zueinander. Er war imstande, mit einer Geste etwas zum Ausdruck zu bringen, das über seine Person hinausweist. Wenn Sie sich das vorstellen: Kennedy war in Berlin, mein Vater war Bürgermeister, das Schicksal West-Berlins und der Weltfrieden hingen ab von den Amerikanern – mein Vater hat seine Rolle als Repräsentant der Berliner Bevölkerung in dem Augenblick sicher sehr ernst genommen. SPIEGEL: Bevor er 1970 vor dem Ehrenmal für das Warschauer Ghetto niederkniete, hatte er auch dieses steinerne Gesicht. Brandt: Na ja, was soll man dort sonst für ein Gesicht haben? Das ist nicht steinern, sondern da ist sich jemand seines Amtes bewusst und des Ortes. Und jetzt gibt es Leute, die sich furchtbar Gedanken darüber machen, ob der Kniefall spontan gewesen sei. Was ist denn da der große Wert von Spontaneität? Soll mir mal einer erklären. Ich habe ihn, als er zurückkam, gefragt, wie er zu diesem Entschluss gekommen sei, er sagte, er sei sich sicher gewesen, dass er etwas machen würde, er hätte nicht einfach nur einen Kranz niederlegen können, was genau er machen würde, habe er vorher nicht gewusst. SPIEGEL: Als er Kanzler war, hatte es Warnungen gegeben, sein Mitarbeiter Guillaume sei DDR-Spitzel. Ihr Vater hat sich dafür erst mal wenig interessiert. Warum? Brandt: Auch ich hatte ihm gesagt, der Guillaume sei doch furchtbar, und er hat mir recht gegeben, aber daraus keine Schlüsse gezogen. So war er eben. D E R

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1 Willy Brandt mit den Söhnen Peter und Lars 1965.

SPIEGEL: Ihr Vater gilt als jemand, der Men-

schen gut verstehen konnte, sich aber zugleich nicht so sehr für einzelne Menschen interessierte. Für seine Kinder dürfte das nicht so einfach gewesen sein. Brandt: Jeder Mensch hat in seinem Leben Schwierigkeiten zu überwinden. Bei dem einen ist der Vater zu mächtig, bei dem anderen zu schwach. Und ich bin gar nicht so sicher, ob die eine Konstellation so viel komplizierter ist, man kann immer anfangen zu jammern. Furchtbar, furchtbar, furchtbar, mein Vater war Schuhverkäufer! Es gibt Menschen, bei denen es zu Hause echte Probleme gibt, aber ich habe keinen Grund zu klagen. SPIEGEL: Sie mochten Ihren Vater? Brandt: Ja. SPIEGEL: Was mochten Sie besonders? Brandt: Wenn er im Zimmer war, war er präsent, aber es blieb Luft für andere, es waren nicht sofort, wums, alle an die Wand gedrängt. Es gibt ja Männer, die lieber an die Wand drängen. SPIEGEL: Kein einziger deutscher Kanzler außer Ihrem Vater gilt als sensibel: Adenauer, Erhard, Kiesinger, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel – alles Dickhäuter. Passt ein Sensibler überhaupt ins Kanzleramt? Brandt: Mein Vater hatte einen starken Willen und eine klare Vorstellung von seiner politischen Aufgabe. Und ihm hat das Regieren Spaß gemacht. SPIEGEL: 1974, nach der Guillaume-Affäre und innenpolitischen Misserfolgen, verlor er den Spaß und trat zurück. Hat er mit Ihnen darüber gesprochen? Brandt: Er hat mich am Tag vor seinem Rücktritt nachts um zwei angerufen und zu sich gebeten. Er zeigte mir sein eben aufgesetztes Rücktrittsschreiben, das er am nächsten Tag dem Bundespräsidenten schicken wollte. Es gelang mir nicht, ihn umzustimmen. Am nächsten Morgen hat er mit meiner Mutter darüber gesprochen, und sie, wie sie selbst öffentlich gemacht hat, sagte ihm, sie fände den Rücktritt richtig. SPIEGEL: Er hat sich zuerst mit Ihnen verständigt und dann mit seiner Frau? Brandt: Ja. INTERVIEW: SUSANNE BEYER 99

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Zeitunglesen Bin ich vielleicht verrückt geworden? Von Monika Maron

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es immer nur die von der männlichen s kommt immer öfter vor, dass Bezeichnung abgeleitete ist, immer mich beim morgendlichen Zeinur das angehängte „in“, was uns tunglesen das Gefühl überdieses literaturuntaugliche Binnen-I kommt, ich lebte in einem Irrenhaus, beschert hat und die genuschelten was so ja gar nicht mehr genannt wer„Liebe Bürgernnnnn und Bürger“-Anden darf, also: Mich überkommt das sprachen aller Politiker. Gefühl, ich lebte in einem BehinderUnd warum konnten sich die tenhaus. Wahrscheinlich darf man es Westdeutschen eigentlich kopfschütso auch schon nicht mehr nennen, telnd über die legendäre „geflügelte weil das Wort behindert inzwischen Jahresendfigur“ amüsieren, in die benutzt wird wie früher die Wörter DDR-Ideologen den Weihnachtsengel irre und blöde: „Bist du behindert umgetauft hatten, wenn im Westen oder was?“, sagt man jetzt, womit jetzt ernsthaft diskutiert wird, ob allein schon bewiesen wäre, dass es man, um der Gleichheit gleichgeüberhaupt keinen Sinn hat, Wörter schlechtlicher Paare willen, Vater und zu verbieten, weil das an den TatMutter nicht durch Elter 1 und Elter 2 sachen nichts ändert. ersetzen sollte? Und das, obwohl Neulich rief mich eine Freundin jeden Tag in der Zeitung steht, dass aufgeregt an und sagte: „Die Sinti und Kinder ein Recht auf Vater und Roma haben mir meine Handtasche Mutter haben; allerdings geht es dann geklaut.“ Ich konnte mich vor Lachen Autorin Maron fast immer um die Kinder alleinerziekaum beruhigen, natürlich nicht, weil „Man hat die Krankheit, ohne es zu bemerken“ hender Mütter. ihr die Handtasche gestohlen wurde, Solcherart Gedanken mache ich mir, wenn ich morgens die auch nicht, weil ich Antiziganistin wäre, sondern einfach nur, weil ich diesen Satz so absurd komisch fand. Aber als ich einige Zeitung lese und dann nicht mehr weiß, ob ich verrückt bin Tage später in der Zeitung las, dass an der Leipziger und Pots- oder die anderen. damer Universität Männer jetzt auch Professorin, Direktorin oder Präsidentin heißen, als würde damit der Anteil der Frauen ls wäre das nicht genug, kann ich fast jeden Tag in der in diesen Ämtern erhöht, verging mir sogar das Lachen, und Zeitung lesen, dass ich an einer gefährlichen, zudem anmich überkam das schon erwähnte Gefühl mit der Behindersteckenden, die Gesellschaft bedrohenden Krankheit leide, tenanstalt. Wahrscheinlich denken viele, wenn nicht die meis- womit weder Aids noch Tbc oder dergleichen gemeint ist, sondern ten Irren (ich nenne sie trotzdem so), die Welt sei verrückt eine Angststörung, das heißt, ich habe übermäßige Angst vor und sie selbst seien normal, und vielleicht geht es mir ebenso. etwas, wovor Menschen ohne meine Krankheit keine, auf jeden Vielleicht bin ich verrückt und verstehe nur nicht, dass es sich Fall weniger Angst haben. Eine Angststörung nennt man auch nicht um einen Sprachfrevel handelt, sondern um einen über- Phobie. Es gibt die Spinnenphobie, Klaustrophobie, Blutphobie, fälligen Akt der Gerechtigkeit gegenüber den Sinti, Roma und Canophobie und allerlei andere Phobien. In meinem Fall, steht den Frauen, obwohl klar ist, dass der Satz „Die Sinti und Roma in der Zeitung, soll es sich um die Islamophobie handeln. haben mir meine Handtasche geklaut“ entweder den Sinti oder Hätte ich es nicht wenigstens hundertmal schwarz auf weiß den Roma Unrecht tut, denn entweder haben die Sinti die gelesen, wüsste ich wahrscheinlich heute noch nichts von meiTasche geklaut oder die Roma. Und Männer unter eine weib- ner Krankheit. Weder überfällt mich ein Zittern, wenn ich an liche Bezeichnung zu zwingen ändert auch nichts daran, dass einer Moschee vorbeigehe, noch tritt mir der Angstschweiß

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auf die Stirn, wenn ich einer Frau mit Kopftuch begegne oder in einer Buchhandlung den Koran sehe und ihn sogar in die Hand nehme. Aber darauf kommt es wohl gar nicht an. Das ist eben das Gefährliche an der Krankheit: Man hat sie, ohne das Geringste zu bemerken. Darum halten es die Zeitungen auch für ihre Pflicht, Menschen wie mich darüber aufzuklären, dass sie, ohne es zu wissen, längst von dieser sich seuchenartig verbreitenden Krankheit infiziert sind. Wer wie ich an gar keinen Gott glaubt, ist besonders gefährdet, weil mir allein die Zumutung, ständig auf eine Religion Rücksicht zu nehmen, auf die Nerven geht, was den Gläubigen vielleicht beleidigen und ihn darum veranlassen könnte, von mir noch mehr Rücksicht zu fordern, was mir dann noch mehr auf die Nerven gehen würde, so dass ich dem Fordernden in Zukunft lieber aus dem Weg ginge, was der wiederum als meine Angst vor ihm verstehen könnte, und schon gehörte ich zu den Phobikern, und wenn der Gläubige, dem ich aus dem Weg gehen möchte, ein Muslim ist, bin ich eben eine Islamophobikerin.

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eit einiger Zeit habe ich den Eindruck, unter den Christen, jedenfalls unter ihrer kirchlichen Obrigkeit, breite sich ein verhohlener Neid auf die gläubigen Muslime aus, deren hochgradige Kränkbarkeit in Glaubensdingen sich als sehr erfolgreich erwiesen hat. Es könnte ja sein, dass sich die Christen jetzt fragen, warum sie all das blasphemische Gerede, Geschreibe und Gesinge ertragen müssen, warum ihr Gott beleidigt werden darf und der andere nicht. Da nach 200 Jahren aufklärerischer Erziehung selbst den Christen Herrn Mosebachs Ruf nach wirksamen Blasphemiegesetzen offenbar zu verwegen vorkam, andererseits das Vorbild einer gehorsamen und leidenschaftlich für ihren Gott kämpfenden Glaubensgemeinschaft zu verlockend ist, versuchen sie nun, auf anderen Wegen unter den Schutzschirm für muslimische Empfindlichkeiten zu flüchten. Schließlich hätten sie alle den gleichen Gott, ist zu hören (was ja möglich ist, aber voraussetzt, dass Allahs Prophet einige Mitteilungen seines Herrn missverstanden haben muss), und auch sie, die Christen, würden leiden unter mangelndem Respekt vor ihrem Glauben, was sie mit allen anderen Gläubigen eine und von Ungläubigen wie mir eben unterscheide. Ich kann mir sogar vorstellen, dass auch einige Menschen in Regierungsverantwortung manchmal bedauern, ständig mittels demoskopischer Umfragen herausfinden zu müssen, was ihre potentiellen Wähler gerade von ihnen wollen, statt ihnen, wie zum Beispiel Recep Tayyip Erdogan, im Namen Gottes klipp und klar mitzuteilen, was sie zu wollen haben. So jedenfalls versuche ich mir zu erklären, warum mich Zeitungen und Rundfunksender so auffallend oft mit religiösen Belehrungen traktieren, wobei ich mich dann allerdings frage, ob die Frömmigkeit unter den Journalisten und Schriftstellern in den letzten Jahren so zugenommen hat oder ob ihr gewachsenes Interesse an der Religion vielleicht andere Gründe hat. Der britische Literaturwissenschaftler John Carey schreibt in seinem Buch „Hass auf die Massen“, dass ein großer Teil der englischen Intellektuellen, unter ihnen Virginia Woolf, die Einführung der allgemeinen Schulpflicht ablehnten, weil sie den

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Einfluss der Unterschicht auf das Geistesleben und die Kunst fürchteten. Nach Careys These zog sich die Kunst, als die Unterschicht des Lesens und Schreibens kundig war und die ersten zaghaften und manchmal ungeschickten Schritte in die bis dahin verschlossene Geisteswelt der Oberschicht wagte, ins Unverständliche zurück. Wenn man bedenkt, dass inzwischen jeder Dussel via Internet seine Meinung in die Welt schreiben darf, könnte es ja sein, dass die neuerliche Hinwendung zum Religiösen unter einem Teil der Intellektuellen der Versuch ist, die verlorene Distanz wiederzugewinnen. Während das Volk scharenweise aus der Kirche austritt, entdecken sie, sozusagen als Alleinstellungsmerkmal, den Sinn des Glaubens wieder. Sollen die anderen die zahllosen Ratgeber zum Glück lesen, sie lesen die Bibel. Wer sich nicht nach Gott streckt, kann selbst nicht groß werden, diesen Satz habe ich so oder ähnlich gelesen oder gehört. Diesem sich nicht nach Gott streckenden Menschen, somit auch mir, fehle die Verbindung zur Transzendenz. Ich bin also nicht nur verrückt und krank, sondern leide auch noch an Transzendenzmangel, was wohl bedeuten soll, dass ich zu einer religionsfernen Unterschicht gehöre, während sich eine gläubige Oberschicht in die transzendente Unverständlichkeit zurückgezogen hat.

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ch habe schon überlegt, ob ich die Zeitung nicht ganz aufgeben und stattdessen lieber Bücher über die Blattschneiderameise, den Hirschkäfer oder den Gärtnervogel lesen sollte, um mich vom Unbegreiflichen unser aller, also auch des Gärtnervogels, Hirschkäfers und der Blattschneiderameise, Daseins durchschauern zu lassen, ohne an Gott oder etwas Ähnliches glauben zu müssen. Außer den Gottgläubigen tummeln sich in der Zeitung nämlich noch allerlei andere Sektierer, die ihren Glauben zwar Wissen nennen und ihren Göttern auch Tarnnamen gegeben haben, aber ebenso wenig an ihnen rütteln lassen wie der Papst an Marias Jungfräulichkeit. Es scheint, als fänden sich viele Menschen, denen es nicht mehr gelingt, an diesen einzigen Gott zu glauben, im Leben nicht zurecht, wenn sie nicht an etwas Gottähnliches glauben können, oder wenigstens an eine Art Teufel, der die Gentechnik, den Klimawandel, für manche sogar das Internet, das Rauchen und das Fleischessen und überhaupt die ganze Ungleichheit über die Menschen gebracht hat. Ihre Heilige Schrift besteht aus Statistiken, und Statistiken kann man nun glauben oder nicht, zumal sie nicht selten nach oben oder unten korrigiert werden. Aber wer wie ich, ehe er in diesen wichtigen Angelegenheiten ein Glaubensbekenntnis ablegt, darüber nachdenken oder sogar darüber diskutieren will, gerät in Verdacht, ein Leugner zu sein, und ein Leugner ist genauso schlimm wie ein Phobiker. Ich bin also verrückt, krank, leide an Transzendenzmangel und gehöre gelegentlich auch zu den Leugnern. Außerdem habe ich einen Hund, auch darüber steht viel Schreckliches in der Zeitung. Ich frage mich, warum sich die Zeitungen eigentlich wundern, dass immer weniger Leute sie lesen wollen. Maron, 72, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Ihr neuer Roman „Zwischenspiel“ erscheint im Oktober.

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Warum redet die so viel? Helene Hegemann wurde nach ihrem Debüt als Wunderkind gefeiert und als Plagiatorin verdammt. Nun erscheint ihr zweiter Roman: Womöglich ist sie tatsächlich eine Schriftstellerin.

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er neue Roman von Helene Hege- Drogen-, Sex- und Ausbruchsphantasien mann wird immer besser, je wei- folgt und häufig ins „Berghain“ geht. Der ter man darin liest, er ist fast Roman war passagenweise unlesbar, schon ein Schmöker geworden, und das wurde aber als wild und authentisch gewar nun wirklich nicht zu erwarten. feiert, stand bald auf der Bestsellerliste, „Jage zwei Tiger“ heißt das Buch, das auch weil sich herausstellte, dass Hegeüber 300 Seiten dick ist und 19 Kapitel mann Sätze und Absätze aus anderen umfasst, es gibt zwei Hauptfiguren, Kai Texten abgeschrieben hatte. Es folgte und Cecile, und wenigstens drei wichtige eine große Plagiatsdiskussion, in der HeNebenfiguren; die Schauplätze liegen in gemann, damals gerade 18, einen kühlen Berlin, München und einem Wald bei Kopf behielt. Gut zwei Jahre zuvor, mit Leipzig, in Zürich und Worms, Venedig 15 Jahren, hatte sie den Max-Ophülsund irgendwo am Nord-Ostsee-Kanal, es Preis gewonnen für ihren ersten Film. Sie gibt keine Clubszene darin, nur einmal schien ein Teenie mit Talent zu sein und eine Begegnung in einer kleinen Bar na- mit dem Willen, sich hervorzutun. Der mens Ubik. Der Roman unterläuft und ideale Nährboden für große Erwartunübertrifft alle Erwartungen. Die Erwartungen. Sie umgeben Helene Hegemann und scheinen sie überallhin zu begleiten, auch in ein Berliner Café an einem warmen Tag im August. Die Verabredung lautet, miteinander über das neue Buch zu reden. Und im Reden, das wird deutlich, ist Helene Hegemann wirklich geübt. Sie scheint ganz selbstverständlich davon auszugehen, allein für gen, wobei die Erwartungen, die Hegedie Unterhaltung zuständig zu sein, sie mann an sich selbst stellt, mindestens so erzählt von Bayreuth, wo sie gerade zwei groß sein dürften wie die Erwartungen Aufführungen gesehen hat, nein, nicht von außen. den „Ring“, aber „Lohengrin“ von Hans „Jage zwei Tiger“ beginnt in einem Neuenfels, ganz toll sei der gewesen, vietnamesischen Lokal, in dem zufällig Wagner zu hören bedeute ja, sich mit eine Frau namens Binky Schweiger dem Sterben zu konfrontieren, in Bay- auftaucht und die beiden anwesenden reuth sei das besonders krass, da brauche Freundinnen zu einem Girls-Dinner einman dann diesen Spießerausgleich mit lädt. Das erste Wort des Romans lautet den Hummerbratwürsten für 7,50 Euro, „Ich“. Über 200 Seiten später wird deutsonst hielte man das gar nicht aus. Hege- lich, dass mit diesem „Ich“ Helene mann redet und redet, von rusHegemann höchstpersönlich gesischen Oligarchenfrauen, Casmeint ist. Es ist aber auch programmatisch zu verstehen, die torfs Theater, stillosen Männern, alles interessant, auch lustig, Geschichte von „Jage zwei Tidoch ihr Wortschwall führt zu ger“ spielt in der Welt der selbstder Frage: Warum redet die so verliebten Egos. viel? Die Freundinnen sind „megaHelene Hegemann ist eine abgeturnt“ von Binky Schweikleine Frau mit schiefem Lägers Einladung, allerdings wird cheln und zarten Zügen, ein wediese auch gar nicht mehr stattnig unsicher, starke Raucherin; finden, denn wenige Absätze mittlerweile ist sie 21 Jahre alt, Helene später ist Binky Schweiger tot. und ihre vielen Worte wirken Erschlagen von einem Stein, der Hegemann wie ein Puffer zwischen ihr und von einer Autobahnbrücke in Jage zwei der Welt. die Windschutzscheibe ihres AuTiger tos geworfen wurde. Auf der Vor gut drei Jahren erschien Hanser Berlin VerRückbank saß ihr elfjähriger ihr erstes Buch „Axolotl Road- lag; 320 Seiten; 19,90 Euro. Sohn Kai, er wurde zwar verkill“, ein Roman über ein junges letzt, konnte sich aber aus dem Mädchen in Berlin, das seinen

Zum Glück schert sich die Autorin immer weniger darum, wie interessant ihre Sätze sind.

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Wrack retten und in einen nahen Wald flüchten. Dort entdeckt er irgendwann einen Wanderzirkus und trifft auf das 14jährige Mädchen Samantha, die – was zu diesem Zeitpunkt nur der Leser weiß – zu den Steinewerfern auf der Autobahnbrücke gehörte. Kai verliebt sich in Samantha. Dieser Auftakt, der sich in wenigen Sätzen nacherzählen lässt, liest sich allerdings wie ein etwas angestrengter Leistungsnachweis, er liefert zu viele Gedanken, Beobachtungen und Reflexionen auf zu wenig Raum, er erinnert stark an den Wortschwall der Autorin im Café. Während der verletzte Kai sich durch den Wald schleppt, trifft er nebenbei noch auf dicke, nackte Frührentner, und er erinnert sich an Kunsthallenbesuche mit seiner Mutter, eine Erinnerung, die Hegemann nutzt für ein kurzes, abschweifendes Hasspamphlet gegen Ausstellungsbesucher und ihren Möbelgeschmack. Zudem wechselt die Erzählperspektive verwirrend oft. Natürlich gehört die Abschweifung zu Hegemanns Stilmitteln, genauso wie die vielen Slang-Ausdrücke und die langen, verschachtelten Sätze. Aber in den ersten Kapiteln des Romans werden sie mit zu viel Hochdruck eingesetzt. Und es gibt eine Stelle im vierten Kapitel, die das offenbart: „So uninteressant dieser Satz auch ist: Kai war wieder in seinem Körper“, steht dort. Zum Glück schert sich die Autorin immer weniger darum, wie interessant ihre Sätze sind, und es zeigt sich: Hegemann kann erzählen. Ihr Roman kommt in Fluss, ohne dass er seine Erbarmungslosigkeiten im Houellebecq-Stil einbüßen würde. Nachdem Kai im Wohnwagen neben Samantha eingeschlafen ist, wacht er in einem Krankenhaus wieder auf, am Bett sitzt sein Vater Detlev, Kunsthändler, den er in seinem Leben kaum gesehen hat. Als Kai ihm aufs Bein spuckt, weil der in eine Zeitung vertiefte Vater auf eine Frage nicht reagiert, bekommt Detlev einen Wutanfall: „Ich kann nicht morgens um sechs aufstehen, um dir Schulbrote zu schmieren, ich kann nicht irgendein für dich geeignetes Fernsehprogramm zusammenstellen (…), und ich werde dich nicht davon abhalten können, in vier Jahren oder weiß der Teufel wann, Drogen zu nehmen. Ich will auch nicht lernen, wie so was geht, verantwortungsbewusstes Handeln, da muss ich ehrlich sein, auch zu mir selbst. Und das klingt schrecklich und asozial, weil die liebende Fürsorge von Eltern immer als natürliche Gegebenheit vorausgesetzt wird von ausnahmslos allen Parteien.“ Liebende Fürsorge kennt auch Cecile nicht, die zweite jugendliche Hauptfigur dieses Romans, ihre Eltern bewohnen ein Haus mit 120 Zimmern, und wenn Cecile zum Essen kommen soll, schickt ihre Mut-

KATHARINA POBLOTZKI / DER SPIEGEL

Nachwuchsautorin Hegemann: „Zu persönlich, zu zerstörerisch, zu stumpf“ D E R

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ter eine SMS mit detaillierter Wegbeschreibung für die neue Villa. In der langen Passage über Cecile tobt Hegemann ihr Talent zur Übertreibung aus, das sich schon bei „Axolotl Roadkill“ zeigte, das aber in der etwas zu ernsthaften Diskussion um das Buch nie richtig gewürdigt wurde. Irgendwann türmt Cecile aus der Villa ihrer Eltern, nicht ohne eine 500 000 Dollar teure Elefantenskulptur mitgehen zu lassen. Sie trifft ihre alte Schulfreundin Julia und zieht mit ihr in eine WG in einem leerstehenden Musterhaus bei Worms. Nachdem der Roman Fahrt aufgenommen hat, nach gut hundert Seiten, erzählt Hegemann in abwechselnden Kapiteln von Kai und Cecile, dabei erlaubt sie sich durchgeknallte Schlenker wie den Auftritt der als alte Frau verkleideten Madonna auf dem Markusplatz in Venedig oder den einer Philosophieprofessorin aus Wien, die aus Liebeskummer ihre Bluse anzündet. Und es gibt ergreifende Passagen, etwa wenn Kai seinem Vater davon erzählt, wie er als Kind versuchte, den Alkoholismus seiner Mutter vor seinen Schulfreunden geheim zu halten. Wobei das Buch stets fern und frei von allen Erziehungsratgeber-Weisheiten bleibt. Oberflächlich betrachtet könnte man „Jage zwei Tiger“ für einen Jugendroman halten, weil die beiden Protagonisten so jung sind. Aber letztlich ist es ein Roman über sehr unterschiedliche Mütter und Väter, die ihre Kinder verlassen haben, und über die Trauer dieser Kinder, die um etwas nur scheinbar Selbstverständliches betrogen worden sind. Im Anhang des Romans befinden sich pedantische Quellennachweise für die Songtitel, die im Buch zitiert werden, nach der Plagiatsdiskussion um „Axolotl Roadkill“ war das wohl notwendig. Doch „Jage zwei Tiger“ ist für sich genommen die beste Antwort auf alle Vorwürfe, die lauteten, Hegemann könne eben nur abschreiben. Trotzdem kann man ihr nicht begegnen, ohne sie darauf anzusprechen. „Mich hat völlig umgehauen, wie irrational das, was da passiert ist, war. Obwohl so ein Skandal leider sogar kurz Spaß macht. Aber es wurde sehr schnell zu persönlich, zu zerstörerisch, zu stumpf.“ Im Laufe des Gesprächs ist Hegemann ruhiger geworden, hin und wieder entstehen Pausen. Sie hat viel über ihre Begeisterung für amerikanische Serien gesprochen und über ihre Angst zu langweilen. Vielleicht ist das ein Grund für ihre vielen Worte: Sie will nicht langweilen. Für eine Autorin ist das jedenfalls eine gute Voraussetzung. Und wenn wir nicht in Berlin, nicht in Deutschland wären, der Stadt, dem Land des Miesmachens, dann würde Helene Hegemann als große Hoffnung gelten. CLAUDIA VOIGT 105

AKG (L.); RAMON HAINDL / DER SPIEGEL (R.)

„Allegorien der guten und schlechten Regierung“ von Ambrogio Lorenzetti, 1338/40*, Philosoph Forst: „Wer bestimmt darüber, wer welche Chancen in

SPI EGEL-GESPRÄCH

„Gerechtigkeit ist radikal“ Die Frage nach der richtigen Sozialordnung gehört zu den wichtigsten Streitpunkten zwischen den Parteien im aktuellen Wahlkampf. Der Frankfurter Philosoph Rainer Forst erklärt, warum darin so viel politischer Sprengstoff steckt. Forst, 49, ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Der Leibniz-Preisträger gilt international als der wichtigste deutsche politische Philosoph seiner Generation. Als Habermas-Schüler führt er die Tradition der Frankfurter Schule mit neuen Akzenten fort. Seine „kritische Theorie der Gerechtigkeit“ hat er in zahlreichen Büchern („Kontexte der Gerechtigkeit“, „Das Recht auf Rechtfertigung“, „Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse“; alle Suhrkamp Verlag) entwickelt. SPIEGEL: Herr Forst, leben wir in Deutsch-

land in einer gerechten Gesellschaft? Forst: Nein, ein solches Urteil geben die

Lebensverhältnisse nicht her. Und selbst wenn sie besser wären, gilt grundsätzlich, dass die gerechte Gesellschaft ein Projekt ist, von dem man nie behaupten kann, dass es abgeschlossen sei. Wir brauchen jedenfalls eine Politik, die die Frage der Gerechtigkeit ins Zentrum rückt. SPIEGEL: Tut das nicht jede Politik? Die SPD hat ihren ganzen Wahlkampf unter 106

diesen Begriff gestellt. Die Gerechtigkeit hat einen moralischen Rang, den keine Partei in Zweifel zieht. Forst: Es kommt nur darauf an, den Begriff nicht zu verkürzen. Man muss nämlich sehen, dass die Gerechtigkeit ein Grundsatz ist, der anderen Werten, etwa Freiheit oder Gleichheit, vorgeordnet ist: Sie legt fest, welche Form der Freiheitsausübung gerecht und gerechtfertigt ist. Sie gilt als die oberste, wichtigste Tugend im Staatswesen, schon seit Platon. SPIEGEL: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben“, hat Immanuel Kant auf seine sehr kategorische Art verkündet. Forst: Sehr wahr. Ähnliches findet sich an vielen Stationen der Philosophiegeschichte. Der heilige Augustinus etwa sagte, dass politische Gemeinschaften ohne Gerechtigkeit nicht besser als Räuberbanden seien. * Ausschnitte aus Freskenzyklus im Palazzo Pubblico in Siena. Das Gespräch führte der Redakteur Romain Leick. D E R

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SPIEGEL: Aber wie die Gerechtigkeit zu

verstehen ist, darüber streiten die Philosophen und die Politiker. Forst: Das verwundert nicht, denn die Gerechtigkeit ist ja die Tugend, derer man erst im Streitfall bedarf. Für die Begriffsbestimmung hilft es, auf Platon zurückzugehen, auch wenn seine Antwort heute nicht mehr überzeugt. Er verknüpft das Ideal der Gerechtigkeit mit der Vorstellung der guten Ordnung. Die verschiedenen Seelenteile des Menschen, also seine unterschiedlichen Begabungen und Fähigkeiten, sind innerhalb der Polis in ein richtiges Verhältnis gebracht, und nach dem Prinzip, das später „suum cuique“ genannt wurde, trägt jeder Bevölkerungsteil das Seinige bei und kann dementsprechend erwarten, das Seine zu erhalten. SPIEGEL: Mit dem Motto „Jedem das Seine“ ist viel Schindluder getrieben worden. Wie will man festsetzen, was jedem zusteht? Forst: Das ist der entscheidende Punkt, an dem wir über Platon hinausgehen müssen. In Platons Ständeordnung kommt diese Kompetenz den Herrschenden zu,

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Kultur

einer Gesellschaft hat?“

vorausgesetzt, die Herrschenden sind zugleich die Philosophen, die ab einem gewissen Alter, in das ich so langsam komme (lacht), über die nötige Weisheit verfügen. Zugleich weist Platon in seinem Höhlengleichnis darauf hin, dass diejenigen, die aus der Schattenwelt der Höhle getreten sind, um die Wahrheit zu erblicken, auf Unglauben stoßen, wenn sie zurückkehren, um ihre frisch gewonnene Weisheit zu verkünden. Vielleicht werden sie sogar umgebracht. SPIEGEL: Die Sehnsucht nach dem weisen und gerechten Herrscher hat sich dennoch immer wieder in neuen Formen ausgedrückt, bis hin zur Kommunistischen Partei, die angeblich immer recht hat. Forst: Wir müssen aber ohne Philosophenkönige und ihre Kopien auskommen. Mit diesem Ideal wirft Platon allerdings auch die Frage auf, ob es bei der Gerechtigkeit überhaupt um eine moralische Größe geht, die objektiv bestimmbar ist, um eine in ihrem Kern unwandelbare Idee. Oder ob jede Zeit, jede Kultur, jede Gesellschaft ihre ganz eigene Vorstellung von Gerechtigkeit hervorbringt. SPIEGEL: Hat nicht jeder Mensch in seiner moralischen Grundausstattung einen angeborenen Gerechtigkeitssinn? Eine Ungerechtigkeit ist ja meistens sofort zu erkennen, wenn man ihr Zeuge oder ihr Opfer wird. Nicht von ungefähr spricht man von einer schreienden Ungerechtigkeit, was schon das Recht auf Protest und Widerstand mitbeinhaltet. Forst: Ja, es gibt diesen Sinn. Nur, ein Einzelurteil zu fällen über eine Tat oder eine Sache, die einem als ungerecht erscheint, ist eines. Ein allgemeines Urteil zu treffen, das dann auch mit einem verallgemeinerbaren Prinzip übereinstimmt, ist etwas

anderes. Nicht jede Empörung ist im Recht. Klugerweise nähert man sich dem Kern der Sache, indem man fragt: Wogegen stehen Menschen auf, wenn sie sich auf die Gerechtigkeit berufen? Was ist eigentlich der Gegenbegriff zur Gerechtigkeit? Ich glaube, es ist im Wesentlichen die Willkür. SPIEGEL: Dann wäre die Frage der Gerechtigkeit auch immer eine Frage der Macht? Forst: In der Tat. Die Willkür ist eine Art der politischen oder sozialen Herrschaft ohne ausreichende Rechtfertigung. Unter ungerechten sozialen und politischen Verhältnissen verstehen wir solche Verhältnisse, in denen Einzelne oder Gruppen über andere herrschen oder ihnen gegenüber Vorteile haben, für die es keinen guten Grund gibt, der denen genannt werden könnte, die beherrscht werden oder die Nachteile haben. SPIEGEL: Verschiebt das die Frage nicht bloß von der Gerechtigkeit zur Rechtfertigung? Wie ist denn die angemessene Rechtfertigung zu finden? Forst: Hier ist eine reflexive Antwort nötig, kein Rückgriff auf eine metaphysische Idee: Die gerechte Grundstruktur einer Gesellschaft ist die, in der die Betroffenen selbst als Freie und Gleiche die Macht haben zu bestimmen, was für alle als gerechtfertigt gelten kann. Darin erweist sich die Radikalität der Gerechtigkeitsfrage: Es geht nicht nur darum, wer welche Chancen in einer Gesellschaft hat, sondern insbesondere darum, wer darüber bestimmt, wer welche Chancen hat. Die Gerechtigkeit fragt nicht nur nach der richtigen Zuteilung von Gütern. Sie fragt auch danach, ob die Kriterien der Zuteilung gerechtfertigt sind und wer eigentlich solche Kriterien festlegt und anwendet. Es gibt keine gerechte Teilhabe ohne gerechte Teilnahme. SPIEGEL: Das heißt, Gerechtigkeit, die von oben kommt, ist gar keine? Und Wohlstand für alle, der von oben verteilt wird, in China von der KP, in den Öl-Emiraten von der Herrscherfamilie, kann allein keine gerechte Gesellschaft begründen? Forst: So ist es. Seit der Antike stellen wir die Gerechtigkeit gerne als Göttin mit Schwert, Waage und manchmal Augenbinde dar, die unparteiische Justitia. Aber dieses Bild verführt dazu, sich eine zuteilende, übergeordnete Instanz oder Autorität vorzustellen, vor allem wenn es um distributive Gerechtigkeit geht. Beliebt ist auch das Beispiel der Mutter, die einen Kuchen verteilt. Die Kinder machen unterschiedliche Kriterien geltend: Gleichheit, Bedürfnis, Leistung und Verdienst, je nachdem. Das ist alles erhellend, aber die eigentliche Gerechtigkeitsfrage ist die „Mutterfrage“ selbst: Wer hat warum die Autorität, über diese Verteilung zu bestimmen? SPIEGEL: Die Kinder sind unmündig, deshalb weiß die Mutter es besser. Der mündige Staatsbürger dagegen … D E R

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Forst: … lässt sich nicht bevormunden.

Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, muss der Obrigkeitsstaat als verteilende Instanz hinterfragt werden. Die Autorität, darüber zu befinden, welche Güter wie verteilt werden und, davor noch, welche Güter wie produziert werden – das ist die eigentliche Gerechtigkeitsdimension. SPIEGEL: Kann es nicht doch autoritäre Herrschaftssysteme geben, die um Gerechtigkeit besorgt sind, vielleicht auch rechtsstaatliche Grundsätze respektieren? Forst: Denen würde ich immer noch ein großes Potential der Willkür unterstellen. Richtig ist, dass autoritäre, nichtdemokratische Systeme, denken wir an China, große Fortschritte bei der Verbesserung des Lebensstandards vieler ihrer Bürger erreichen können. Aber macht das diese Regime gerechter? Oder wenn ein wohlmeinender Diktator beschließt, seinen Untertanen ein angenehmeres Leben zu bescheren, weil er über große Öl-Einnahmen verfügt, aber die Betroffenen nicht mitbestimmen können, wie das geschieht, würden wir dann sagen, das ist eine gerechte Gesellschaft? SPIEGEL: Von der Empfängerseite her gedacht ist jede Gesellschaft, in der die Menschen ein Mehr an Gütern bekommen und ein besseres Leben führen, eine Steigerung der Gerechtigkeit. Forst: Da scheint mir ein falsches, halbiertes Gerechtigkeitsverständnis am Werk zu sein. Klar: Eine solche Gesellschaft ist in verschiedener Hinsicht eine bessere als die Mangelgesellschaft. Aber dass sie besser ist, bedeutet nicht, dass sie gerechter ist. Denn die Gerechtigkeitsfrage ist die Frage nach der Rechtfertigbarkeit sozialer Verhältnisse durch die Mitglieder dieser Gesellschaft selbst. SPIEGEL: Ihrem Verständnis nach entfaltet die Forderung nach Gerechtigkeit fast zwangsläufig eine revolutionäre Treibkraft. Forst: Das belegt die historische Erfahrung. Wenn ein aufgeklärter Monarch soziale Reformen in Gang gesetzt und den Lebensstandard der Massen substantiell verbessert hat, erlischt dadurch nicht das Bestreben, Subjekt statt nur Objekt der Politik zu sein. Der Impuls des Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeit ist nicht so sehr das Verlangen, mehr hiervon und mehr davon zu haben, sondern der Anspruch, als Rechtfertigungssubjekt wahrund ernst genommen zu werden. SPIEGEL: Es geht der Gerechtigkeit zwar auch um das Haben, aber mehr noch um das Sein? Forst: Um das gesellschaftliche Sein, ja. Darum, nicht nur Gegenstand der Entscheidungen anderer zu sein. Ich glaube, dass man das auch in den Rebellionen neuerer Zeit sehen kann, in der arabischen Welt, in der Türkei, vor 24 Jahren auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Bessere Lebensverhältnisse, mehr religiöse 107

Kultur Forst: Auch in einer Demokratie kann die

Gerechtigkeitsrhetorik fehlgeleitet sein. Wenn zum Beispiel soziale Unterschiede mit dem Verweis auf das Leistungsprinzip gerechtfertigt werden, so ergibt das Argument bestenfalls dann einen Sinn, wenn die Möglichkeit, etwas zu leisten, einigermaßen gleich verteilt ist. Bei ungleichen Ausgangsbedingungen lassen sich die Ergebnisse eines „Leistungswettbewerbs“ nicht rechtfertigen, weil er keiner ist. Abgesehen davon ist es notorisch schwierig, ein allgemeines Maß für Leistungen zu finden. SPIEGEL: Ist es demnach gerechtfertigt, dass Sozialdemokraten und Grüne eine schärfere, sogar empfindlich hohe Besteuerung der Reichen verlangen? Forst: In einer Gesellschaft, in der so viele ererbte Privilegien existieren wie in unserer, stellen wir den Trend zu einer „Refeudalisierung“ fest, wie ich das nennen würde, das heißt einer schichtenspezifischen Reproduktion des ökonomischen und kulturellen Kapitals. Als Gegenmaß-

JENS WOLF

Freiheiten, Freiheiten für Frauen – das alles sind zentrale Forderungen. Aber in erster Linie kommt es darauf an, nicht mehr einem Regime unterworfen zu sein, in dem man Güter oder Freiheiten bittstellend einfordert und froh ist, sie gewährt zu bekommen. SPIEGEL: Die Gerechtigkeit ist ein Kampf um Anerkennung? Forst: Ja, aber eben nicht nur um Anerkennung des Rechts auf ein materiell gutes Leben, sondern der Autonomie als eines nicht nur Normen unterworfenen, sondern auch eines Normen setzenden Wesens. Das reine, reduzierte Verteilungsdenken greift zu kurz. Sonst brauchten wir keinen Unterschied zu machen zwischen dem Opfer einer Naturkatastrophe, das in einem Erdbeben oder einer Überschwemmung alles verloren hat, und den Opfern von Ausbeutung und sozialer Exklusion, deren Armut strukturell bedingt ist. SPIEGEL: Gebietet die Gerechtigkeit nicht, beiden zu helfen?

SPD-Politiker Steinbrück: „Oberste Tugend“ Forst: Wichtig ist die Differenz, denn die

einen haben einen moralisch begründeten Anspruch auf solidarische Hilfe, die anderen einen Anspruch darauf, nicht länger struktureller Ungerechtigkeit unterworfen zu sein – an der die, die helfen können, vielleicht auf eine Weise beteiligt sind, die sie gerne ignorieren. In der gegenwärtigen Diskussion über Entwicklungsfragen werden beide Dimensionen oft vermischt. Gerechtigkeit darf man aber nicht auf Nothilfe reduzieren. Im wirklichen Leben mag beides ineinanderspielen, da ja die Ärmsten oft am meisten unter Naturkatastrophen leiden, wie 2005 bei Hurrikan „Katrina“ in New Orleans oder bei Erdrutschen, die eine Slumsiedlung begraben. Das ändert aber nichts am normativen Unterschied dieser beiden Situationen. Die Ungerechtigkeit ist menschlich erzeugt. SPIEGEL: Die demokratische Rechtfertigungsordnung allein ist allerdings noch keine Garantie für die Herstellung sozial und politisch gerechter Verhältnisse. Wie sonst könnte es zu der krassen Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der westlichen Gesellschaften kommen? Darum geht es doch den linken Parteien im Wahlkampf. 108

nahme gehört die Frage der Besteuerung von Vermögen mit auf den Tisch. Sie ist Teil einer kompensatorischen, also sozial ausgleichenden Gerechtigkeit. Fundamentaler und radikaler wäre freilich eine Gerechtigkeit, welche die Grundstruktur der Gesellschaft so organisiert, dass keine Gruppen von – oft mit anklagendem Unterton so genannten – „Schwachen“ und Ausgeschlossenen dauerhaft entstehen. SPIEGEL: Gerechte Sozialpolitik ist immer mehr als Fürsorge oder Ausdruck von Großherzigkeit? Forst: Sie muss immer demokratische Strukturpolitik sein. Wenn marginalisierte Gruppen – Arbeitslose, Alleinerziehende, Kranke, Alte – resignieren und gar nicht mehr als autonome Subjekte der Gerechtigkeit in ihren Interessen repräsentiert sind, dann laufen solche Entfremdungserscheinungen auf eine fatale Entwicklung hinaus, die eine demokratische Gesellschaft desavouiert. SPIEGEL: Wie wollen Sie dieser Politikentfremdung vorbeugen? Die SPD hat Schwierigkeiten, ihre Wähler zu mobilisieren. Zeigt das nicht die Grenzen der demokratischen Herstellung von Gerechtigkeit auf? D E R

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Forst: Hier rühren wir an ein grundsätzliches Problem unserer Zeit. Die besagte Entfremdung ist gespeist durch den Zweifel, ob es in einer globalisierten Ökonomie mit ihren vermeintlichen Gesetzlichkeiten noch möglich ist, eine Gerechtigkeit gestaltende Politik zu realisieren. Dann wird der Streit um Gerechtigkeit sinnlos, da sie keinen Ort mehr hat. Wir wären zurück in einer Welt, in der fremde Götter herrschen, „Märkte“ genannt. Das aber ist ein mythisches Weltverständnis, das wir überwinden müssen. Wer so denkt, zementiert die Wirklichkeit und produziert Ideologie. SPIEGEL: Sind die Menschenrechte ein wichtiger Bestandteil globaler Gerechtigkeit, also mehr als ein kulturelles Produkt des Westens? Forst: Die Menschenrechte sind zwar eine historische Errungenschaft in einer bestimmten Epoche. Aber das begrenzt ihre normative Kraft in keiner Weise. Sie sind nicht nur dort gültig, wo der Kampf um sie erfolgreich geführt wurde, sondern überall dort, wo sie gegen Unterdrückung und Willkür eingefordert wurden und werden. Man kann den Rest der Welt nicht normativ ausbürgern, indem man die Sprache der Emanzipation zum kulturellen Eigentum des Westens erklärt. Was für eine Anmaßung – die Sprache der Gerechtigkeit gehört nicht einer Kultur! Die Rechte der Frau zum Beispiel können nicht mit der Begründung eingeschränkt werden, mit ihnen werde der Raum der islamischen Kultur überschritten – denn was diese Kultur bedeutet, ist ja in ihr gerade umstritten. Die Gerechtigkeit greift überall, wo Verhältnisse von Unterdrückung und Beherrschung bestehen und ein Recht auf Rechtfertigung reklamiert wird. Die Formen der Willkür ändern sich wie die Versuche ihrer Bekämpfung, aber der Grundsatz der Willkürvermeidung und der Rechtfertigung bleibt. SPIEGEL: Rechtfertigt das auch militärische Interventionen im Namen der Menschenrechte? Forst: Das wäre ein Kurzschluss. Die Universalität und Nichtreduzierbarkeit der Menschenrechte sind das eine, ihre Durchsetzung durch Autoritäten von außerhalb ist etwas ganz anderes. Die Menschenrechtsrhetorik darf nicht politisch instrumentalisiert werden, schon gar nicht, um Kriege zu führen. Aber auch diese Einsicht darf nicht instrumentalisiert werden, um die Geltung der Menschenrechte zu reduzieren und sie dadurch stumpf zu machen. Haben wir das Recht, einem Dissidenten in einer asiatischen Gesellschaft zu sagen, er gebrauche fremde Begriffe, wenn er von seinem Regime gleiche Achtung einfordert? SPIEGEL: Trauen Sie sich zu, Ihre Theorie der Gerechtigkeit wie eine Schablone auf die aktuellen Wahlprogramme der politischen Parteien zu legen und nach Ihren Kriterien zu sortieren?

Forst: Wie eine Schablone sicher nicht, ich besitze auch kein Lesegerät der Gerechtigkeit. Wer philosophisch etwas über Gerechtigkeit zu sagen hat, kann daraus keine besondere politische Autorität beziehen. Im politischen Meinungsstreit gilt eine andere Währung als im philosophischen Seminar. Der Philosoph, der sich in den politischen Raum hineinbegibt, wird nicht wie bei Platon zum Idealherrscher, sondern zu einem politischen Intellektuellen. Und in dieser Rolle versucht er, bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse – und ich betrachte die Philosophie als eine Wissenschaft – mit einer politischen Stellungnahme zu verbinden. SPIEGEL: Probieren wir es mal aus. Ist die finanzielle Hilfe für Griechenland und andere hochverschuldete EU-Staaten eine Frage der Gerechtigkeit? Forst: Die Europäische Union ist eine transnationale politische Gemeinschaft, die darauf beruht, dass Vor- und Nachteile, die aus dieser Vergemeinschaftung folgen, von allen akzeptiert und geteilt werden. Wenn eine Gesellschaft wie die deutsche so stark von dem Gesamtsystem profitiert hat, folgt daraus schon nach dem Prinzip der Fairness die Verpflichtung zur Solidarität. Mir ist es sehr zuwider, dass die EU in dem Moment, in dem es eine echte Herausforderung für ein gemeinsames europäisches Gerechtigkeits- und Solidaritätsverständnis gibt, in nationales Denken zurückfällt. Es bedarf neuer Formen demokratischer europäischer Politik. Technokratische Ergebnispolitik reicht nicht aus. SPIEGEL: Nächstes Beispiel: das Betreuungsgeld für Eltern, die zu Hause erziehen. Eine kompensatorische Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, die keinen öffentlich geförderten Kita-Platz in Anspruch nehmen? Forst: Nein, hier greift die Reziprozitätsregel zu kurz, denn so zu denken verkennt den Sinn, den die Stärkung der Infrastruktur für die Allgemeinheit und gerade die sozial Schlechtergestellten hat. SPIEGEL: Die Frauenquote? Forst: Auch da macht man es sich zu einfach, wenn man die Gerechtigkeitsrhetorik bemüht, um zu argumentieren, bei der Quotenregelung handle es sich um eine unfaire Bevorzugung. Quoten sind ja im Gegenteil dazu da, eine strukturelle Ungleichheit, die aus der Vergangenheit weiter in die Gegenwart hineinwirkt, zu überwinden. Solange diese Ungerechtigkeiten in Privilegiensystemen fortwirken, hat man bestimmte Vorteile eben nicht verdient. Auch wenn wir uns in der Praxis oft mit kleinen Schritten der Gerechtigkeitspolitik begnügen müssen, dürfen wir doch im Denken nicht die Gerechtigkeit ihrer Radikalität berauben. SPIEGEL: Herr Forst, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Bestseller Belletristik 1

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(15) Joachim

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Dan Brown Inferno

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Rolf Dobelli Die Kunst des klaren Denkens

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Markus Gabriel Warum es die Welt nicht gibt

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John Grisham Das Komplott

Eben Alexander Blick in die Ewigkeit Ansata; 19,99 Euro

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Rassismus in Amerika: Ein schwarzer Anwalt verliert den Glauben an einen gerechten Staat

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10 (10) Donna Leon Tierische Profite Diogenes; 22,90 Euro 11 (11) Suzanne Collins Die Tribute von Panem – Gefährliche Liebe Oetinger; 18,95 Euro 12 (7) Dora Heldt Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen! dtv; 17,90 Euro 13 (13) Hans Pleschinski Königsallee C. H. Beck; 19,95 Euro

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Auslandsberichterstattung im Wandel der Zeit: Erinnerungen der TV-Legende

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Adeo; 17,99 Euro

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Kultur

Magische Jukebox POPKRITIK: „Self Portrait“ galt als das schlechteste Bob-Dylan-Album aller Zeiten – nun präsentiert eine CD-Box Aufnahmen aus seiner Entstehungszeit.

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INTERFOTO

er Tag, an dem Agenten des Geheimdienstes CIA Amerikas berühmtesten Protestsänger vom Motorrad schubsten, war, einer populären Verschwörungstheorie zufolge, der 29. Juli 1966. Es steht fest, dass der 25-jährige Bob Dylan an diesem Tag mit dem Motorrad verunglückte. Wie schwer er verletzt wurde, ist bis heute unklar. Zwei Jahre lang wurde er danach fast gar nicht in der Öffentlichkeit gesehen, angeblich lebte er mit seiner Familie in der Wildnis bei Woodstock. Nicht einig sind sich die Verschwörungstheoretiker, ob der alte, kämpferische Bob Dylan bloß einer Gehirnwäsche unterzogen oder gleich durch einen Doppelgänger ersetzt wurde. Einig hingegen sind sie sich darin, wo der stärkste Beweis für die CIA-Aktion zu finden ist: in der Musik, die Dylan nach seinem Motorradunfall machte – vor allem in der des Doppelalbums „Self Portrait“ aus dem Jahr 1970. „What is this shit?“, lautete die Frage, die der Kritiker Greil Marcus über seine Besprechung des Albums im Magazin „Rolling Stone“ setzte. Verwirrt, angeekelt urteilten viele Musikfans, die Dylan einst für Songs wie „Masters of War“ und „Blowin’ in the Wind“ angehimmelt hatten, über die kunterbunte Songsammlung, die bald als schlechteste aller Dylan-Platten geschmäht wurde. Der Dylan-Cover, Musiker Dylan 1969 Meister singt auf „Self Portrait“ „Ich warf alle Einfälle an die Wand“ Coverversionen von Paul Simons „The Boxer“ und dem Schmachtfetzen-Klassiker „Blue Moon“, er jault Volkslieder wie „Little Sadie“ und steuert lang unbekannte Dylan-Aufnahmen aus nur wenig Selbstgedichtetes bei. Die Mu- den Jahren 1969 bis 1971 versammelt. sik sei so entsetzlich, dass kein Mensch Wieder hat, wie schon seinerzeit für „Self es aushalte, sich mehr als eine der vier Portrait“, Bob Dylan das Cover gemalt. Plattenseiten am Stück anzuhören, be- Es zeigt einen Mann mit Kurzhaarschnitt hauptete der New Yorker Kritiker Robert und Mittelscheitel, der nie und nimmer Bob Dylan ist. Unter den 35 Liedern der Christgau. Dylan selbst deklarierte das Werk als Box finden sich einige kuriose und einige Versuch, sich zu befreien. „Die Leute hinreißende, von denen Dylans Interprewollten einen Anführer. Ich wollte keiner tation des Eric-Andersen-Songs „Thirsty sein.“ Er habe das Album fabriziert, Boots“ vermutlich das tollste ist. Was aber treibt die Dylan-Archäologen schrieb er 2004 im Erinnerungsbuch „Chronicles“, „indem ich alles, was mir bei Sony an? „Another Self Portrait“ ist einfiel, an die Wand warf – und veröf- bereits die zehnte Folge der sogenannten Bootleg Series, in der Studio-Schätze zufentlichte, was kleben blieb“. Am Freitag dieser Woche bringt Sony tage gefördert werden. Sie seien diesmal eine CD-Box mit dem Titel „Another Self „auf eine Goldgrube gestoßen“. TatsächPortrait“ heraus, die zum größten Teil bis- lich hört man auf den CDs der neuen Box 110

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viele sparsam instrumentierte Fastenkur-Versionen von Songs anderer Dylan-Platten wie „New Morning“ (1970) und „Nashville Skyline“ (1969); ergriffen aber lauscht man den Alternativ-Aufnahmen zu den beiden „Self Portrait“-Songs, mit denen Dylan einst seine Fans am heftigsten verstörte. Diese Songs heißen „Wigwam“ und „Belle Isle“ und sind auf „Self Portrait“ (1970) grandios aufgedonnert. In den neuen Versionen von „Another Self Portrait“ (2013) klingen sie ausgenüchtert und supercool. Das wirkt fast so, als wollten die Bootleg-Macher noch mal behaupten, was vor 43 Jahren praktisch alle fanden: dass das Album „Self Portrait“ eine einzige Geschmacklosigkeit war. Dabei werden die angeblich so entsetzlichen Songs von „Self Portrait“ heute weithin als kühne Heldentaten geschätzt. Dylans verachtetes Album erzählt vom Zauber und vom Witz eines Sängers, der die Musikgeschichte als eine magische Jukebox begriffen hat. Auf der Flucht vor der Rolle des ewigen Protestbarden probierte er aus, was sein manchmal kitschiges Herz begehrte. Mag sein, dass im Jahr 2013 „Another Self Portrait“ keine Songs mehr bietet, die die Welt erschüttern. Aber es sind immer noch heroische Attacken auf die Ohren und die Nerven der Zuhörer – die Abenteuer eines seltsamen Genies. Heutzutage treibt die Heiligenverehrung um „His Bobness“ wilde Blüten. In den USA hat ihm Präsident Obama die National Medal of Arts und die Presidential Medal of Freedom verliehen. In Deutschland ist Dylan, der in einigen Wochen auf Konzertbesuch kommt, seit Mai Mitglied der Berliner Akademie der Künste. In London stellt er ab dem 24. August zwölf seiner Gemälde aus, selbstverständlich in der National Portrait Gallery. Und in Stockholm wird Dylan auch in diesem Oktober wie seit Jahren als einer der Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt. Dylan ist jetzt 72. Für den Umgang mit seinen Followern und allen anderen Irren hat er eine schöne Formel gefunden: „Ich akzeptiere das Chaos. Obwohl ich mir nicht sicher bin, dass es mich akzeptiert.“ WOLFGANG HÖBEL

JEREMY DURKIN / REX FEATURES / ACTION PRESS

Prisma

Fröhlicher Fisch Der Baby-Nagelrochen aus dem Aquarium Sea Life im britischen Great Yarmouth scheint zu lächeln. Die zwei Körperöffnungen über dem Mund sehen aus wie

COMPUTER

Spielerisch zum Job Bewerbungsgespräche machen selten Spaß. Das könnte sich bald ändern: Die Software-Firma Knack aus Kalifornien bietet Computerspiele an, die es Firmen erleichtern sollen, geeignete Bewerber für freie Stellen zu finden. „Balloon Brigade“, bei dem Pflänzchen im Akkord mit Hilfe von Wasserballons bewässert werden müssen (erhältlich in Apples App-Store), sowie „Wasabi Waiter“, bei dem es darum geht, Restaurantkunden die richtigen asiatischen Gerichte zu servieren (im Internet unter knack.it), sind nicht nur unterhaltsam. Die Spiele erheben während des Daddelns auch umfangreiche Informationen über die Fertigkeiten des Spielers und speichern diese ab. „Wir messen 30 Fähigkeiten, von Kreativität über Risikobereitschaft bis hin 112

Augen. In Wirklichkeit sind es die Nasenlöcher des Tieres. Die Augen befinden sich auf der Körperoberseite. Die Rochen in dem Aquarium erleben gerade einen Babyboom.

zur sozialen und emotionalen Intelligenz“, sagt Firmenchef Guy Halfteck. Der Entwickler beurteilt klassische Jobinterviews als wenig aussagekräftig, weil sich die Bewerber verstellen und auswendig gelernte Anworten herun-

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terleiern könnten. Für „objektiver und effizienter“ hält Halfteck dagegen die computergestützte Auswertung des Spielverhaltens. Erste Unternehmen, unter ihnen der Ölkonzern Shell, testen die Bewerbungsspiele bereits.

Wissenschaft · Technik ERFINDUNGEN

TOBIAS SCHULZE / PANTERA

„Eingequetscht wie auf einer Hühnerstange“ Bernhard Schlag, 62, Verkehrspsychologe an der Technischen Universität Dresden, über den visionären Hochgeschwindigkeitszug „Hyperloop“ des US-Milliardärs Elon Musk SPIEGEL: Die Passagierkapseln des „Hyperloop“ sollen mit 1200 Stundenkilometern durch eine Röhre von Los Angeles nach San Francisco rasen. Würden Sie da einsteigen? Schlag: Ich wäre keiner der Pfadfinder, die ein solches Verkehrsmittel als Erste ausprobieren. Aber ganz absurd ist die Idee keinesfalls, auch wenn sie heute noch äußerst kreativ erscheint. SPIEGEL: Die Vorstellung, mit 27 anderen Passagieren in einer rasenden Kapsel eingeschlossen zu sein, dürfte viele abschrecken. Schlag: Dieses Erlebnis ist so neu nicht. Wenn Sie mit dem Eurostar unter dem Ärmelkanal hindurch nach London fahren, sitzen Sie auch eingequetscht wie auf einer Hühnerstange. Auch während der Fahrt durch den Kanaltunnel könnte das Gefühl der Bedrohtheit und Beengtheit aufkommen. Aber für ein paar

Stunden wird das offenbar von den Leuten toleriert. SPIEGEL: Mit seinem Magnetantrieb soll der „Hyperloop“ allerdings um ein Vielfaches schneller fahren als der Eurostar. Schlag: Ja, aber das ist dann gar nicht mehr ausschlaggebend. Wenn so ein Zug ruhig dahingleitet, ist die Geschwindigkeit kaum zu merken. Flugzeuge bewegen sich ja ähnlich schnell, ohne dass es die Passagiere stört. Außerdem können Sie die Leute mit Essen und Unterhaltung gezielt ablenken. Die Passagiere müssen sich wie im eigenen Wohnzimmer fühlen. Allerdings ist bei solchen Verkehrsmitteln die Sicherheit relevant. Was passiert im Notfall? Wie kommt man da raus? Der Mensch braucht das Gefühl, die Kontrolle zu behalten, auch wenn etwas schiefgeht. Ist dies nicht der Fall, kann so ein Projekt schnell scheitern. SPIEGEL: Lässt sich bei einem so radikalen Entwurf wie dem „Hyperloop“ das Gefühl der Sicherheit überhaupt erzeugen? Schlag: Positive Erfahrungen sind wichtig. Wenn in den ersten Monaten nichts passiert und die ersten Reisenden heil ankommen, neigt der Mensch dazu, schnell Vertrauen in neue Verkehrsmittel zu fassen und das Risiko für vertretbar zu halten. Beim Fliegen war das ja auch so. Wenn dauernd etwas passiert wäre, gäbe es heute keine Passagierflugzeuge. Aber Flugzeuge stürzen ja zum Glück relativ selten ab.

ELON MUSK / DPA

„Hyperloop“-Passagierkapsel (Konzeptzeichnung)

ERNÄH RUNG

Wütende Limo-Trinker Machen Softdrinks wie Cola Kinder aggressiv? Zu diesem Ergebnis kommen Mediziner der Columbia University, die rund 3000 Fünfjährige aus 20 US-Städten untersuchten. Kinder, die mehr als drei Softdrinks täglich trinken, prügeln sich demnach häufiger. Die Heranwachsenden sind unkonzentrierter, kapseln

sich ab und machen die Sachen anderer häufiger kaputt. „Die Aggressionsbereitschaft nahm mit jeder Limonade zu“, berichtet Studienleiter Shakira Suglia. Wie diese Wirkung, die auch bei Jugendlichen beobachtet wird, zustande kommt, ist den Forschern allerdings noch schleierhaft. „Es ist eine kühne Schlussfolgerung, dass Softdrinks irgendwelche Verhaltensänderungen bewirken“, kritisieren deshalb, wenig überraschend, die amerikanischen Hersteller nichtalkoholischer Getränke. D E R

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KOMMENTAR

Maßlose Mediziner Von Markus Grill Beim Thema Geld verlieren manche Ärzte leicht ihre Beherrschung. Als vergangene Woche bekanntwurde, dass die Einkommen niedergelassener Ärzte in vier Jahren um 17 Prozent gestiegen sind, beschwerte sich ein Dr. med. gegenüber SPIEGEL ONLINE: „Wenn ich solche Artikel lese, kann ich nur noch kotzen und sagen: Behandelt euch doch selbst.“ Im vorigen Sommer musste sich der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem, nachdem er eine gemäßigte Honorarerhöhung vorgeschlagen hatte, von Medizinern als „Kassennutte“ beschimpfen lassen und „elender Wicht, der vor den Volksgerichtshof“ gehöre. Zu diesem Zeitpunkt kamen niedergelassene Ärzte auf einen Reinertrag von 13 833 Euro pro Monat – nach Abzug aller Praxiskosten. Das ist ein Bruttoeinkommen, von dem mehr als 90 Prozent aller Deutschen nur träumen können. Mittlerweile fürchten die Ärzte selbst, als Gierschlunde wahrgenommen zu werden. Sie haben deshalb Plakate im Land aufhängen lassen, auf denen steht: „Wir reden über Geld, denn an Gesundheit spart man nicht.“ Es gäbe einen einfacheren Weg, zu einem besseren Image kommen: Die Mediziner müssten nur ihre Anführer wie etwa den HNO-Arzt Dirk Heinrich abwählen, Sprecher der sogenannten Allianz deutscher Ärzteverbände, der im vorigen Jahr „Protestaktionen bisher nicht gekannten Ausmaßes in der Bundesrepublik organisieren“ wollte; oder den Ärztepräsidenten Frank Ulrich Montgomery, der den Krankenkassen mit einem „heißen Herbst“ drohte, sollten die Honorarsteigerungen nicht hoch genug ausfallen. Dabei ist die Mehrheit der Ärzte in Deutschland eigentlich ziemlich vernünftig und mit ihrem Einkommen durchaus zufrieden. Aber die Maßlosigkeit ihrer Anführer scheint ein Leiden zu sein, bei dem alle ärztliche Kunst versagt. 113

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Wasserstraße durchs Eismeer Der Klimawandel befreit die Arktis vom Eis – und weckt Hoffnung auf einen weit kürzeren Seeweg zwischen Europa und Asien: Vor allem Russland betreibt den massiven Ausbau der legendären Nordostpassage.

Massengutfrachter „Nordic Odyssey“ im Nordpolarmeer im Juli 2012

Wissenschaft

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Es mangelt nicht nur an Rettungsstao warm wie jetzt war die Erde sel- le sind gescheitert, ertrunken oder erfroten – und so klein war sie noch nie. ren. Erst 1879 gelang einer schwedischen tionen und Reparaturwerften, es fehlt auch an genauen Seekarten und moderWer ehedem von Hamburg nach Expedition die erste Durchfahrt. Mit Hilfe ihrer mächtigen Eisbrecher nem meteorologischem Gerät. Und was Shanghai segeln wollte, der hatte keine Wahl: Er musste Afrika umrunden, frühes- nutzten die Sowjets die Route zwar schon zu tun ist, falls hier Öl ausläuft – etwa tens nach 28 000 Kilometern kam er an. ab 1932 immer wieder, etwa zum Abtrans- nach einer Schiffskollision –, weiß ebenSeit 1869 gibt es immerhin eine Abkür- port von Holz und Fellen. Aber für den falls noch niemand. Fest steht nur: Selbst die Freisetzung zung. In jenem Jahr wurde der Suezkanal internationalen Seeverkehr spielte die eröffnet, und dieses Ereignis war so epo- Strecke niemals eine Rolle. Politisch, geo- kleinster Schadstoffmengen kann im chal, dass Giuseppe Verdi gebeten wurde, grafisch und vor allem klimatisch blieb Polarraum dramatische Folgen für die Umwelt haben, ob es sich um Öl handelt zur Feier eine Hymne zu komponieren. sie zu heikel – bis jetzt. Wenn Kreml-Chef Wladimir Putin vom oder nur um Ruß der Schiffsdiesel. „Der Fortan maß die Strecke Hamburg–Shang„Nördlichen Seeweg“ spricht, wie die Rus- Effekt von Schadstoffen ist hier viel gröhai nur noch knapp 20 000 Kilometer. Jetzt ist womöglich wieder eine Hymne sen ihren Teil der Nordostpassage nen- ßer als in anderen Breiten, da sie sich nur fällig, allerdings eine russische: Wegen nen, dann schwingt bei ihm neuerdings sehr langsam abbauen“, vermutet der Eisder globalen Erwärmung taut es in der Euphorie mit. Putin will aus dieser Stre- physiker Marcel Nicolaus vom AlfredArktis rapide. Wo sich noch vor wenigen cke mit Hilfe von Milliardeninvestitionen Wegener-Institut für Polar- und MeeresJahren im August entlang der sibirischen in die Infrastruktur nichts Geringeres als forschung in Bremerhaven. Erst vier Jahre ist es her, dass zwei Küste endlos die Eispanzer türmten, da deutsche Schwergutfrachter erstmals die wogt nun grau und kalt das Nordpolarpolare Schifffahrtsroute nutzten. Die „Bemeer. luga Fraternity“ und die „Beluga ForeIn den Sommermonaten ist die Eissight“ legten Ende Juli 2009 im südkoreadecke dort verschwunden. Trotz einzelner nischen Ulsan ab und kamen in RekordSchollen ist das Gewässer schiffbar. Im zeit über Sibirien heil in Rotterdam an. Sommer 2005 verschwand das küstennahe 2010 wagten sich dann vier Schiffe Eis zum ersten Mal, seit 2007 geschieht durch die Nordostpassage, und im voridies jedes Jahr aufs Neue. Nie gab es weniger Arktiseis als Mitte September 2012 – den Suez des Nordens machen. Der See- gen Jahr waren es schon 46. Aber noch und noch nie ist es so schnell geschmolzen weg entlang der Tundra hat nach seinen immer ist die Fahrt ein großes Abenteuer, wie in der ersten Julihälfte 2013. Jeden Worten eine goldene Zukunft als „inter- denn es gibt keine sichere Fahrrinne. Die Kunst besteht darin, sich Seemeile für Tag verflüssigte sich eine Fläche, doppelt nationale Handelsader“. International wird dabei aber allenfalls Seemeile durchzukämpfen durch Eisfelso groß wie Bayern. Erstaunlich schnell verwandelt sich die die Kundschaft sein. Die Russen bestehen der und flache Meerengen. Jeder Durchfahrtgenehmigung ging bisEiswüste vor der europäischen Küste darauf, dass der gesamte Nördliche SeeRusslands und weiten Teilen Sibiriens in weg, obwohl er teilweise durch interna- lang zudem ein bürokratischer Hürdeneinen Sommerozean. Die Barentssee ist tionale Gewässer führt, von ihnen kon- lauf voraus. Dies soll sich nun radikal ändern. Im März hat eine neue Behörde in offen, auch die Karasee, selbst die Lap- trolliert wird. Als Putin kürzlich Sergej Frank eine Moskau ihren Dienst aufgenommen. Die tew- und die Tschuktschensee lassen sich zurzeit ohne Eisbrecher-Eskorte befahren Audienz gewährte, dem Chef der auf der Northern Sea Route Administration (siehe Karte). Nur noch weiter nördlich Nordostpassage engagierten Staatsreede- (NSRA) soll die Infrastruktur entlang der rei Sowkomflot, da konnte dieser seinem Strecke ausbauen und den Verkehr auf ist die Eiswelt intakt. Die Rekordschmelze in der Polarregion Dienstherrn feierlich Meldung erstatten: ihr massiv steigern. Bis Freitag voriger Woche hat die NSRA beflügelt viele Reeder, russische Politiker „Direkt vor unseren Augen erwacht die insgesamt 412 Schiffen die Genehmigung sowie Energiekonzerne wie Gazprom und neue Route zum Leben.“ Noch klingen solche Worte großspurig. für die Befahrung des Nördlichen Seewegs Novatek. Dank des Klimawandels trennt Hamburg und Shanghai nur noch ein See- Viele Polarsiedlungen aus Sowjetzeiten erteilt. Von vielen verlangt die Behörde weg von 14 000 Kilometern. Und knapp haben sich in Geisterstädte verwandelt. nicht einmal mehr eine „Eisklasse“, also auf halber Strecke, im fast menschenlee- Sollte ein Schiff hier in Not geraten, wür- einen gegen Eis verstärkten Rumpf. Seit Juli ist die Interkontinentalren, ebenfalls tauenden Permafrost von de es viele Tage dauern, bis HilfsmannSchnellstraße durchs Eismeer offen, ab Nordwestsibirien, verbirgt sich ein unwi- schaften vor Ort einträfen. Ende Oktober schließt sie sich wieder. Bis derstehlicher Schatz: eines der größten dahin werden Frachter voller Erz, Kohle, Gasvorkommen des Planeten. Dünger und Getreide zwischen Europa Über 500 Jahre hinweg haben ALASKA und Fernost pendeln, dazu SuperAbenteurer und Entdecker die Nordpol TschukGRÖNLAND tanker voller Rohöl oder Flüslegendäre Nordostpassage tschensee siggas. Unter anderem bezwischen Atlantik und finden sich derzeit auch Pazifik zu bewältiEisausdehnung ISLAND Laptewsee im September 2012 erstmals chinesische gen versucht. Vieis

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Karasee

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DAVIDE MONTELEONE / VII

Sollte ein Schiff in Not geraten, würde es viele Tage dauern, bis Hilfsmannschaften vor Ort einträfen.

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Nordostpassage 14 000 km

RUSSLAND Moskau

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Eiskalt abgekürzt Suezkanal-Route 20000 km

CHINA Shanghai

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Wissenschaft Von 2016 an soll das Jamal-Gas in Tankschiffen über den Nördlichen Seeweg Richtung Europa verbracht werden. Auch Gas, das für E.on und den deutschen Markt bestimmt ist, wird diese Route nehmen. Der Transport in Pipelines wird dann an Bedeutung verlieren. Zumindest nach Westen, brüstet sich Novatek-Chef Frank, könne Novatek seinen Schiffsverkehr das ganze Jahr über betreiben, ganz gleich, wie viel Eis sich im Winter aufbaue. Nur nach Osten hin bleibt die Strecke vorerst auf die Sommermonate beschränkt, die schiffbare Zeit dauert bislang fünf Monate. Die russischen Investoren hoffen aber, dass die Saison mit zunehmendem Klimawandel bald bis zu acht Monate währen könnte.

Einige Experten glauben, dass der Nordpol schon ab 2030 in den Sommermonaten eisfrei sein wird. Der östliche Teil des Seewegs bleibt aber auch während der Sommersaison ein Wagnis. Wettervorhersagen sind unzuverlässig, Eis und Nebel fordern die volle Aufmerksamkeit der Seeleute. Die NSRA macht es hier meist zur Auflage, dass die Kapitäne gestandene Arktis-Skipper mit auf die Brücke nehmen. Viele Schiffe müssen sich auch im Sommer von Eisbrechern begleiten lassen. Russland betreibt allein sechs Eisbrecher mit Atomantrieb, ein weiterer ist im Bau. Wer die Dienste eines Eisbrechers in Anspruch nimmt, muss sie auch bezahlen. Teuer ist die Nutzung der Nordostpassage

zudem wegen der schwer zu durchschauenden Gebührenpolitik der NSRA. Aber den einigen hunderttausend Euro an Kosten pro Frachtschiff, so rechnen die Russen vor, stünden massive Einsparungen gegenüber: Eine Fahrt von Shanghai nach Hamburg dauert via Sibirien 35 Tage – bis zu 15 Tage weniger als über den Suezkanal. Die Treibstoffersparnis mache alle Gebühren wett. Außerdem drohen im Norden keine Piratenangriffe. So wichtig die Nordostpassage auch werden mag für den Transport von Öl und Gas, Kohle und Erz – den klassischen, auf pünktliche Lieferung angewiesenen Containerverkehr wird sie einstweilen nur wenig verändern. Niels Harnack, Deutschland-Chef der China Shipping Agency, schickt seine Schiffe lieber weiter durch den bewährten Suezkanal; er sei „sehr skeptisch“, ob ein „zuverlässiger Liniendienst“ im Nordpolarmeer möglich sein werde. „Kurz- und mittelfristig“, glaubt Harnack, werde es „keine Verlagerung der klassischen Transportwege zwischen Nordeuropa und China“ geben. Und langfristig? Der Trend ist eindeutig: Das Eis der Arktis wird weiter schwinden. Experten glauben, dass der Nordpol schon ab 2030 in den Sommermonaten komplett eisfrei sein wird. Andere sagen, dies geschehe erst 2050 oder 2080. Wenn das der Fall wäre, würde sich neben der Nordostpassage die derzeit noch zugefrorene Nordwestpassage oberhalb von Alaska für den Schiffsverkehr öffnen. Der Seeweg über den Pol wäre dann endgültig die kürzeste Route zwischen den Kontinenten. Und sie hätte einen weiteren Vorteil: Kein Land könnte sie exklusiv für sich beanspruchen. MARCO EVERS

ARCTICPHOTO / LAIF

Frachter auf dem Weg durch die Nordostpassage. Am 11. September soll die „Yong Sheng“ (14 000 Bruttoregistertonnen) Rotterdam erreichen. Das Frachtvolumen liegt in diesem Jahr bereits bei rund fünf Millionen Tonnen. Schon 2017 soll es dreimal so viel sein. Ein französischer Luxuskreuzer darf sich jetzt ebenso auf den Weg in die Nordostpassage machen wie die Yacht des 74-jährigen Seglers „Arctic Tony“ aus England. Abgewiesen wurde ein bald 40 Jahre alter Eisbrecher in Diensten von Greenpeace. Im vergangenen Jahr hatte die Umweltschutzorganisation die „Arctic Sunrise“ genutzt, um eine Ölplattform von Gazprom zu entern. Die meisten Schiffe auf dem Nördlichen Seeweg sind derzeit noch in russischen Registern verzeichnet. Andere fahren unter der Flagge von Panama, Liberia, Zypern, Großbritannien, China, Hongkong, Antigua, Frankreich, Norwegen und den Niederlanden. Auch die Hamburger Reederei Nord schickt ihren Öltanker „Two Million Ways“ (40 000 Bruttoregistertonnen) durch das Polarmeer. Äußern mag sich das Unternehmen dazu nicht. Ein großer Teil des Polarverkehrs steuert aber noch nicht den fernen Osten an, sondern nimmt Kurs auf Nordwestsibirien. Vor der Halbinsel Jamal treffen, im kurzen arktischen Sommer, derzeit Dutzende Bagger und andere Spezialgefährte ein. Hier errichtet der Novatek-Konzern für mehr als 15 Milliarden Euro den Polarhafen Sabetta und ein ultramodernes Terminal für Flüssiggas. Heruntergekühlt auf minus 160 Grad nimmt Gas nur noch ein Sechshundertstel seines ursprünglichen Volumens ein.

Gasförderanlage nahe dem Polarhafen Sabetta in Sibirien: Tankschiffe sollen die Energie aus dem Eis nach Europa bringen

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Video: Was ist ein Komet? spiegel.de/app342013ison oder in der App DER SPIEGEL

Hubble-Aufnahme des Kometen „Ison“ vom 8. Mai NASA, ESA, AND THE HUBBLE HERITAGE TEAM (STSCI/AURA)

und ihre Planeten geboren wurden. Seit dieser Zeit ruhen Milliarden dieser gigantischen Schneebälle in der „Oortschen Wolke“, die fast bis zu den nächsten Fixsternen reicht, weit jenseits der sonnenfernsten Planeten Neptun und Pluto. Die meisten werden diesen Kometenfriedhof bis zum Ende aller Zeiten nicht verlassen. Doch ab und zu kommt es vor, dass einer von ihnen herauskatapultiert wird – ausgelöst durch einen Gravitationsschubser, etwa wenn ein Nachbarstern vorbeizieht. Genau das geschah vor Urzeiten auch mit Ison und brachte ihn auf Kollisionskurs mit der Sonne. Entdeckt wurde der Komet im September 2012 von zwei Hobbyastronomen. Eigentlich wollten Witalij Newski und Artjom Nowitschonok neu gefundene Asteroiden beobachten. Sie verwendeten dazu Aufnahmen, die vom russisch geführten Teleskopnetzwerk Ison stammten. Durch Zufall stießen sie auf einen Lichtfleck, der auf früheren Bildern noch nicht zu sehen war. Da den Russen nicht wirklich klar war, was sie da gefunden hatten, wurde der Komet nach dem Beobachtungsnetzwerk benannt – Entdeckerpech, andernfalls hieße Ison heute Newski-Nowitschonok. Beim Aufspüren von Kometen kommen die Amateure den Profis häufig zuvor. Rund 20, jedoch meist nur im Fernrohr sichtbare Schweifsterne werden jedes Jahr entdeckt – im Schnitt jeder zweite von einem Amateur. Auch unter den Hobbyastronomen gilt die Ankunft von Ison als das Ereignis des Jahres. Überall auf der Nordhalbkugel werden sie ihre Teleskope ausrichten. Wenn der Schweifstern den Vorbeiflug an der Sonne trotz Blessuren übersteht, könnte er in der Adventszeit sogar mit bloßem Auge am Nachthimmel zu sehen sein. „Mit Glück wird er vorübergehend heller leuchten als die hellsten Sterne“, sagt der Bonner Amateurastronom Stefan Krause, der eine eigene Ison-Website betreibt. „Aber nach gut einer Woche ist das Schauspiel leider auch schon 15. Jan. 2014 wieder vorbei.“ OLAF STAMPF

Auf mehr als 1500 Grad Celsius wird sich der fliegende Berg, der wie alle Kometen hauptsächlich aus Eis und Staub besteht, in Sonnennähe aufheizen. In der Gluthitze verdampfen sogar in ihm vorkommende Metalle. Die aufsteigende Gas-und-Staub-Wolke wird, vom Sonnenlicht angestrahlt, als prachtvoller Kometenschweif sichtbar sein – und lässt sich dann von der Erde aus beobachten und Gespannt erwarten vermessen. Himmelsforscher die Ankunft Weltweit bringen Astrophysiker ihre eines neuen Schweifsterns. Teleskope in Stellung. Auch Satelliten Er stammt aus der Frühzeit des nehmen Ison ins Visier. „Wir wollen herSonnensystems. ausfinden, welche Substanzen aus dem Innern des Kometen freigesetzt werden“, ls er seine lange Reise begann, wa- sagt Böhnhardt, der an dem internatioren die Menschen noch Affen. nalen Beobachtungsprogramm beteiligt Seit Millionen Jahren saust der ist. Ison könnte unter anderem organische Komet „Ison“ nun schon durchs All, im- Moleküle enthalten, Bausteine des Lemer der Sonne entgegen. Während seines bens. Einige Astrobiologen halten sogar ereignislosen Flugs entdeckten die Men- für möglich, dass durch Kometeneinschläschen das Feuer, erfanden die Schrift, bau- ge einst jene Lebenssporen auf die Erde ten Städte, errichteten Weltreiche, führ- gelangten, aus denen später Pflanzen, Tieten Kriege, zündeten die Atombombe re und Menschen keimten. Schon im Anflug an die Sonne taut und landeten auf dem Mond. In diesem Herbst erreicht Ison endlich Ison allmählich auf. Wie bei einem zersein Ziel – doch die Ankunft könnte mit bröselnden Keks bricht seine dünne Kruste an einigen Stellen bereits auf. Erste seiner Zerstörung enden. Am 28. November schrammt der kos- Staubstürme umwehen den Himmelskörmische Vagabund an der Sonne vorbei. per. Eine Lkw-Ladung voll Dreck hustet Hundertmal näher kommt er dem Glut- er hinaus ins All – pro Minute. Kometen wie Ison sind faszinierende ball als die Erde. Die Gefahr ist groß, dass der Komet geröstet wird, auseinander- Himmelsobjekte. Ihre Erforschung dient Astrophysikern dazu, etwas über die Anbricht und verdampft. „Immerhin besteht aber auch die Chan- fänge der Welt herauszufinden: In Koce, dass er den Vorbeiflug in abgespeckter meten ist die Geburt des Sonnensystems Form überlebt und unser Sonnensystem eingefroren. Die Eisbrocken sind aus danach für immer verlässt“, sagt der Ko- dem gleichen Urmaterial entstanden, aus metenforscher Hermann Böhnhardt vom dem vor 4,6 Milliarden Jahren die Sonne Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung im niedersächsischen Lindau. Und fährt fort: „Wie auch immer das Dra- Einmal Sonne ... und zurück? ma ausgeht – der Komet ist ein Glücksfall Voraussichtliche Bahn des Kometen „Ison“ für die Wissenschaft.“ nicht maßstabsgerecht, Planetenpositionen Ende Dezember 2013 Ison gehört zur seltenen Klasse der so- Größen (größte Annäherung des Kometen an die Erde); Quelle: Nasa genannten Sonnenstreifer („Sungrazer“). Die bisher beobachteten Kamikaze-Kometen waren meist nur wenige Meter Merkur groß. Ison dagegen misst – zumindest 28. Nov. jetzt noch – mehrere Kilometer. ASTRONOMIE

Komet auf Kamikazeflug

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11. Dez. 3. Okt. 2013 1. Nov. Venus

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Ein Patient reicht ein Rezept ein.

Die Apotheke leitet das Rezept weiter an ein Apotheken-Rechenzentrum.

Die Rezepte werden sortiert, gescannt und mit der Krankenkasse abgerechnet. Apothekenmitarbeiterinnen in Berlin ADAM BERRY / GETTY IMAGES

GESUNDHEIT

Pillendreher als Datendealer Die Rechenzentren der Apotheken verkaufen Patientendaten an die Pharmaindustrie. Nun steigen die norddeutschen Apotheker aus – zum Ärger ihrer Kollegen.

I

m kleinen Ort Danbury, rund hundert Kilometer nördlich von New York, liegt eine Geheimdienstzentrale der etwas anderen Art. In einem verspiegelten Glaskomplex befindet sich der Hauptsitz von IMS Health. Der US-Konzern zählt zu den weltgrößten Sammlern von Krankheitsdaten. IMS Health ist in über hundert Ländern aktiv, in firmeneigenen Datenzentren wühlen sich rund 5000 Server jedes Jahr durch über 40 Milliarden Datensätze. Das Unternehmen verfolgt nach eigenen Angaben die Krankheiten von über 300 Millionen Patienten – darunter auch „42 Millionen verschiedene gesetzlich Versicherte“ in Deutschland, wie es in einem internen Papier heißt: „Viele Patientenkarrieren sind zurück bis 1992 verfügbar.“ Die deutsche Niederlassung befindet sich in Frankfurt-Sachsenhausen. Sie verkauft „Studien“ an die Pharmaindustrie: Wann wurde welche Medizin in welcher Packungsmenge welcher Patientengruppe verordnet? Der global operierende Konzern macht Milliardenumsätze. IMS ist der Platzhirsch neben kleineren deutschen Datenaufbereitern wie Insight Health oder Idapharm. Das Unternehmen bezieht seinen Datenrohstoff unter anderem von Ärzten, Großhändlern – und den Apothekenrechenzentren, die sich eigentlich nur darum kümmern sollen, die Rezepte aller gesetzlich Versicherten mit den Krankenversicherungen abzu118

rechnen. Dass die Zentren nebenbei auch ihre kaum verschlüsselten Daten verkaufen, erfahren die Patienten nicht. Die Rezeptschnüffelei ist ein lukratives Geschäft. Dem SPIEGEL liegt ein Angebot von IMS an den französischen Pharmakonzern Sanofi-Aventis vom April 2012 vor. Darin bietet IMS die Informationen aus Insulinrezepten – „patientenindividuell“ und mit „zwölf Monats-Updates“ – für 86 400 Euro an. Der Handel mit Rezeptinformationen sei „einer der größten Datenskandale der Nachkriegszeit“, kritisiert Thilo Weichert, der schleswig-holsteinische Landesbeauftragte für Datenschutz. Dies bestätigt auch der Pharmaexperte Roland Holtz aus Hildesheim: „Die Daten der IMS sind das Einfallstor zu einem System permanenter Ausspitzelung. Wenn ein Hersteller ein neues Medikament in den Markt drücken will, wissen die Außendienstmitarbeiter sofort, welche Ärzte sie bearbeiten müssen. Ohne Rezeptdaten ist das auch möglich, aber es wäre viel aufwendiger.“ Holtz weiß, wovon er spricht; er war selbst 23 Jahre in Verkauf und Marketing der Pharmaindustrie tätig. Nun schreibt er darüber ein Buch. Im Durchschnitt alle zwei bis drei Tage bekommt jeder deutsche Arzt Besuch von einem Pharmavertreter. Es wird geschätzt, dass 12 000 Außendienstler jährlich über zehn Millionen Praxisbesuche D E R

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unternehmen. Wenn Holtz mit prallgefülltem Pilotenkoffer an der Praxistür klingelte, wusste er stets haargenau über den jeweiligen Arzt Bescheid: Art der Patienten, Umsätze, Verschreibungen, Packungsmengen. Denn die von Unternehmen wie IMS erstellten Steckbriefe versprechen die „Identifizierung der spezialisierten Ärzte“: Wie markentreu ist ein Doktor, wie oft verschreibt er billige Generika, ist er Nachzügler oder Trendsetter beim Einsatz neuer Medikamente? Und an wen überweist ein Allgemeinarzt Krebs- oder Diabetespatienten, die besonders teure Medikamente erhalten? Dem SPIEGEL liegen Listen von Kliniken und Apotheken vor, die bestimmte Krebsmedikamente nutzen, teils mit Umsatzzahlen, Klarnamen und Telefonnummern. Sie lagen unverschlüsselt auf dem privaten Internetrechner eines IMS-Mitarbeiters. IMS Health widerspricht der Kritik: „Es ist zu keiner Zeit ein Rückschluss auf einzelne Ärzte oder einzelne Patienten weder bei IMS Health noch bei unseren Kunden möglich“, sagt das Unternehmen auf Anfrage. Firmen wie IMS besorgen sich die heiklen Rezeptdaten an der Quelle: Apotheken rechnen meist nicht direkt mit den jeweiligen Krankenkassen ab, sondern etwa über das Norddeutsche ApothekenRechenzentrum (Narz) in Bremen oder die Verrechnungsstelle der Süddeutschen Apotheken (VSA) in München. In diesen Zentralen werden die Rezepte sortiert, eingescannt und abgerechnet. Doch nebenbei verhökern Apothekenrechenzentren die Rezeptdaten für 1,5 Cent pro Stück und kassieren dadurch jedes Jahr mehrere Millionen Euro zusätzlich. Die Verwendung von Rezeptdaten „für andere Zwecke“ als zur Verrechnung ist laut Sozialgesetzbuch (SGB V) sogar erlaubt – allerdings nur unter strengen Auflagen: Die personenbezogenen Daten

Dr. Muster

Marktübliche Liste der umsatzstärksten Kliniken, bezogen auf ausgewählte Chemotherapeutika

Analyse von Arztpraxis und Umfeld

Verhaltensbewertung der Ärzte



Gläserne Praxis Wie Rezeptdaten an Pharmafirmen verkauft werden

Die Daten gehen, oberflächlich verschlüsselt, an eine Marktforschungsfirma.

müssen anonymisiert werden. Andernfalls drohen bis zu zwei Jahre Freiheitsentzug. Doch die Strafandrohung schreckt Rezeptedealer nicht ab. Vor gut einem Jahr packte ein Datenhehler gegenüber der Kriminalpolizei aus. Über einen längeren Zeitraum, so der Mitarbeiter einer Marktforschungsfirma, habe das süddeutsche Apothekenrechenzentrum VSA unverschlüsselte Daten an sein Unternehmen geliefert – alles, was auf den Rezepten zu lesen war. Schon 2003 habe die VSA gefürchtet, dass die Datenhehlerei auffliegen könnte, verriet der Insider der Polizei. Daraufhin habe sie einen potemkinschen Datenschutz aufgebaut: Fortan seien die Rezeptdaten in zwei Versionen geliefert worden. Eine erste Lieferung sei zur Tarnung verschlüsselt gewesen – für den Fall, dass Datenschützer eine Kontrolle vorgenommen hätten. „Lieferung 2 bestand aus dem identischen Datenbestand, jedoch unverschlüsselt“, so der Informant in einer eidesstattlichen Versicherung. Die VSA gab die „Doppellieferung“ zu, diese sei aber als rechtmäßig angesehen worden und „selbstverständlich ohne Patienten- und Arztnamen, Adressdaten etc.“ geschehen. Zu keinem Zeitpunkt sei „die Weitergabe irgendwelcher personenbezogener Verordnungsdaten“ nach außen erfolgt. Im Widerspruch dazu hatte ein Gutachten der Rechtsanwaltskanzlei CMS Hasche Sigle schon 2009 gewarnt: Die Rechtsverstöße bei der unverschlüsselten Übertragung seien „relativ offensichtlich“ und „durch die Aufsichtsbehörden leicht nachvollziehbar“. Dennoch stellte die Staatsanwaltschaft II in München die Ermittlungen gegen die VSA ein – wegen einer abgelaufenen Frist. Das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht bemühte sich dann rührend um eine einvernehmliche Lösung mit den Datendealern: Im Juli 2012 tagte im fränkischen Ansbach eine „Ad hoc-

Die verkauft die Daten an Pharmaunternehmen.

Der Pharmavertreter plant seine Praxisbesuche anhand der Daten.

Arbeitsgruppe Apothekenrechenzentren“. Mit dabei: Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums, der Marktforschungsfirma IMS und des Apothekenrechenzentrums VSA. Die Runde einigte sich auf kosmetische Schein-Anonymisierungen, wie ein Insider berichtet: Der Name von Patienten wird lediglich durch einen oft lebenslang gültigen Code ersetzt, dazu werden Alter und Geschlecht festgehalten. Die realen Patienten, die sich hinter derartigen Pseudonymen verbergen, lassen sich ohne größeren Aufwand identifizieren. „Eine solche Verschlüsselung der Rezeptdaten ist längst nicht ausreichend“, urteilt denn auch der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Weichert. Viel weiter sind inzwischen die Apotheker im Norden der Republik. Fast im Alleingang hat ein weißhaariger Herr den Datenkraken den Saft abgedreht: Jörn Graue, 79, betreibt in Wedel bei Hamburg die Holthof-Apotheke und ist Vorstandsvorsitzender des Hamburger Apothekervereins. Seit 20 Jahren sitzt er im Vorstand des Norddeutschen Apotheken-Rechenzentrums Narz. Als der Hamburger Apothekerchef von der Rezeptschnüffelei erfuhr, stoppte er die Übermittlung der identifizierbaren Pseudonym-Codes von Ärzten und Patienten. „Man mag den stringenten Datenschutz bedauern oder auch nicht“, sagte er Ende Juni in einer wütenden Rede vor Hamburger Apothekern. „Ich werde es jedenfalls nicht zulassen, dass wir in den Tageszeitungen mit der Überschrift konfrontiert werden: ,Der Apotheker als Datendealer‘.“ Zwar liefert auch das Norddeutsche Apotheken-Rechenzentrum weiterhin Daten an IMS; doch die sind nun so stark abgespeckt, dass sie keine Rückschlüsse mehr auf Patient oder Arzt zulassen, sondern nur für allgemeine Marktanalysen taugen. „Derlei wirklich anonyme Daten D E R

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Nach seinem Besuch prüft der Vertreter, ob tatsächlich mehr Rezepte als bisher für ein bestimmtes Präparat ausgestellt wurden.

sind für Pharmavertreter fast wertlos“, bestätigt Roland Holtz, der Aussteiger. Doch die Apotheker in Süddeutschland bleiben stur. Die VSA liefert weiter detaillierte Rezeptdaten aus Bayern und Baden-Württemberg an Firmen wie IMS. In Nordrhein-Westfalen versucht der Landesdatenschutzbeauftragte derzeit, das Apothekenrechenzentrum in Haan zu zwingen, auf den norddeutschen Kurs einzuschwenken. Die Datensammler von IMS in Frankfurt geben offen zu, wie sehr es sie trifft, dass ihre Datenströme zu versiegen drohen. In einem Apotheker-Branchenblatt klagt die Firma über „erhebliche Einbußen unseres Geschäfts“. Der Wegfall der Pseudonym-Codes in den norddeutschen Rezeptdaten sei „übertriebene Vorsicht“. Man sei mit der Qualität der Daten aus dem Norden „nicht zufrieden“. Auch das süddeutsche Apothekenrechenzentrum VSA wettert gegen den Rebellen aus Wedel: „In vorauseilendem Gehorsam“ habe Graue „die Umstellung der Datenlieferungen“ angeordnet. Die VSA warnt sogar vor Schadensersatzforderungen. „Für die VSA und den IMS-Konzern ist die illegale Nutzung der Rezeptdaten ein lohnendes Geschäftsmodell, das sie anscheinend so lange fortsetzen wollen, bis es ihnen gerichtlich untersagt wird“, sagt Datenschützer Weichert. „Es wäre traurig, wenn die Dienstleister des Vertrauensberufs Apotheker erst durch Gerichtsprozesse zur Vertraulichkeit zu veranlassen wären.“ Doch die Datendealer haben längst einen Plan B, falls die Datenströme aus den Rechenzentren versiegen: IMS rekrutiert bereits Apotheker, um bei ihnen Scannersysteme aufzustellen, die „innerhalb von 48 Stunden nach dem abgeschlossenen Verkaufsvorgang“ Rezeptdaten ablichten, um sie an den Datenkraken zu übermitteln. HILMAR SCHMUNDT 119

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ERNÄH RUNG

Wellness im Stall Wagyus liefern das teuerste Fleisch der Welt. Gourmets sind verrückt nach den Edelrindern aus Asien. Deutsche Landwirte bauen nun eine reinrassige Zucht auf.

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ls Hornochse würde man gern bei Rüdiger Marquardt leben. Sein Bauernhof in Negenharrie bei Kiel gleicht einem Wellnesspalast für Wiederkäuer. Lichtumflutet, zur Musik von Simon & Garfunkel fressen die Rinder frisches Kräuterheu, getränkt mit Bier. Ein elektrischer Futtermischwagen verteilt geräuschlos Weizenkleie. Nachts wird das Licht gedimmt. An den Wänden drehen sich Massagebürsten. Rund 80 Wagyus räkeln sich im Stall. Sie sind pechschwarz und liefern die zartesten Filets der Welt. Der Bauer zeigt auf eine mampfende Vertreterin der Rasse: „Das ist Akemi, am Haken kostet sie 20 000 Euro.“ Doch die Kuh ist viel zu kostbar, um sofort verspeist zu werden. Draußen auf der Weide tänzelt bereits unruhig der Bulle Yojimbo, den Marquardt zur Begattung mittels „Natursprung“ einsetzt. „Akemi kann im Laufe ihres Lebens bis zu 30 Embryonen liefern“, sagt er. „Die kühlen wir mit Flüssigstickstoff auf minus 196 Grad herunter und verkaufen sie zum Stückpreis von 1000 Euro.“ Abnehmer der befruchteten Eizellen ist eine kleine Schar von Landwirten, die ein ehrgeiziges Zuchtprojekt verfolgt: In Deutschland soll eine eigenständige Population an reinrassigen („fullblood“) Wagyus geschaffen werden. Bereits 35 Bauern gehören dem exklusiven Verband an. Auf Schützenhilfe aus der Heimat der Edelrinder können die Pioniere nicht hoffen. Zwar gibt es in Japan rund 750 000 Wagyus. Doch sie gelten als nationales Erbe – Ausfuhrverbot. Das schreckt die Deutschen nicht. Über Umwege in Amerika und Australien haben sie sich tiefgekühlte Embryonen und Spermien besorgt. Derzeit verfügen die hiesigen Bauern über rund 15 wertvolle Zuchtbullen und gut 300 Kühe und Ochsen – genug, um beim Kampf ums Premiumfleisch mitzumischen. Weil die Paarhufer aus Fernost in Zeitlupe wachsen und man ihnen 36 Monate Zeit bis zur Schlachtreife lässt, schmeckt ihr Fleisch unglaublich aromatisch. Die Muskeln sind mit Fettadern durchsetzt, die beim Braten einen nussigen Geschmack abgeben. Ob Lafer, Lichter oder Alfons Schuhbeck – fast die gesamte deutsche Koch120

topf-Avantgarde schwärmt von den butterzarten Nippon-Steaks. Kenner braten das Fleisch ungewürzt in heißem Butterschmalz medium und wälzen es danach in Rauchsalzflocken. Auch bestes Sukiyaki oder geschnetzeltes Ochsenmaul lässt sich daraus zubereiten. Das Dünenrestaurant Sansibar auf Sylt hat Wagyu-Burger mit getrüffelten Parmesan-Pommes-frites erfunden. Selbst das Knochenmark, zu „Bone Pudding“ veredelt, soll köstlich munden. „An den Viechern schmeckt einfach alles“, behauptet Bauer Marquardt. Das alte Rom labte sich an gegrillten Nachtigallen und Siebenschläfern, gefüllt mit Pinienkernen. Der Hype um die Hornochsen ist von derlei Dekadenz nicht weit entfernt. Nur der Preis kann einem den Appetit verderben. Wagyu-Filet vom Züchter Marquardt kostet 598 Euro pro Kilogramm. Delikatessen Es gibt ein weiteres Preise pro Kilogramm Problem. Zwar bieten FeinRinderfilet in Deutschland kostläden, Internetshops und Restaurants das kostbare Sättigungsmittel an. Doch die liefern meist nur Fleisch bis 600 Euro Die Japaner essen das aus den USA oder Austrafür gereiftes Filet Fleisch auch roh, wie Sushi. lien, das von F1-Tieren vom reinrassigen Für die Fettadern haben sie stammt. Das Kürzel steht Wagyu-Rind eine zwölfstufige Marmofür Kreuzungen zwischen rierungsskala ersonnen. Ab Wagyu-Bullen und Kühen Stufe acht sieht das Fleisch anderer Rassen. Schockgewie Salami aus und zergeht froren kommt die Ware in auf der Zunge als rauchenKühlschiffen übers Meer. etwa 60 Euro der Schmelz. Echtes Wagyu-Steak von für Bio-Rind Wie einen Schatz hüten Tieren auf heimischen Weidie Japaner die lukulliden, 28 Tage lang im Kühlschen Paarhufer, die um raum gereift (in dem das Fleisch 20 Prozent an Feuchte verliert, Christi Geburt über Korea auf die Insel und Enzyme die Fasern mürbe machen), gelangten. Dort kamen sie vornehmlich ist dagegen kaum zu kriegen. Bundesweit als Zugtiere zum Einsatz. Sie zu essen wurden im vergangenen Jahr weniger als war lange Zeit tabu. Bereits der Kaiser 30 reinrassige Tiere geschlachtet. Temmu (672 bis 686 nach Christus) stellte Entsprechend groß ist der Andrang, den Verzehr von Rindern unter Strafe. wenn eine echte Japan-Kuh hierzuErst nach der Erfindung des Treckers lande das Zeitliche segnet. Vorige Woche landeten auch in Japan Ochsen und rollte der Metzgerwagen des Züchters Kühe immer häufiger auf dem Teller. Vor Steffen Schäfer auf den Markt in der allem die Region um Kobe wurde beFrankfurter Berger Straße. In der Aus- rühmt. Bis heute hält sich die Wanderlage: Entrecôte und Braten von einer sage, die Viehbauern dort würden Wagyu-Kuh namens Ito. Die Filetstücke ihre Wagyus kraulen und mit Bier verhatte der Besitzer allerdings alle schon wöhnen, um die Muskelfasern mürber an vorgemerkte Kunden verkauft. zu machen. D E R

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Wahr ist: Wegen der Knappheit an Weideland in Japan erhielten die Tiere früher auch Gärabfälle aus der Bierherstellung als Futter. Und massiert wurden sie, damit sie sich in den engen Ställen nicht verkrampften. Echte Rinder aus Kobe werden heute in Japan streng zertifiziert. Ihr Schlachtgewicht darf 470 Kilogramm nicht übersteigen. Die Marmorierungsstufe muss mindestens bei Stufe sechs liegen. Noch niemals ist solch ein Superrind über Japans Grenzen gelangt. Exportiert wurden nur normale Wagyus. 1976 verbrachte eine US-Firma vier Bullen nach Texas. Mitte der neunziger Jahre folgten weitere Transporte per Schiff und Flugzeug. Vom Großzüchter Shogo Takeda weiß man, dass er 45 Stück Hornvieh auf einen Schlag an einen befreundeten Rancher in die USA lieferte. Dann trat Tokio auf die Bremse. Nur rund 200 „Fullbloods“ gelangten insgesamt ins Ausland. Das reichte aus, um in Kanada, Australien und den USA reinrassige Herden aufzubauen. Aus diesen Beständen bedienten sich später die

IMKE LASS / DER SPIEGEL

Wagyu an der Massagebürste*

Argentinier, Chinesen und neuerdings die Spanier. Nun mischen auch die Deutschen vorn mit. Vom Bodensee bis in die Havelaue reicht der Kreis der Edelfarmer. Mitte Juli wurde erstmals auf einer heimischen Viehauktion bei Münster ein Wagyu verkauft. Es war erst zehn Monate alt und ziemlich mickrig. Trotzdem erzielte es einen Preis von 10 000 Euro. So lieb und teuer sind den Züchtern ihr Exotenrinder, dass sie sie verhätscheln. Ludwig Maurer aus dem Bayerischen Wald verwöhnt seine Wagyus mit zehn Minuten persönlicher Ansprache pro Tag und kippt ihnen Steinsalz ins Futter. Andere verschütten angeblich Sake oder spielen kastrierten Bullen Mozart vor. Der Münchner Wiesn-Wirt und BussiBussi-Schlachter Sepp Krätz, der auf seiner Ranch nahe dem Ammersee etwa 35 Vollblut-Japaner hält, striegelt seine Herde mit der Bürste. Der älteste Zuchtbulle dort heißt „Opus Ecki“; Pate des Tiers ist der Sternekoch Eckart Witzigmann. * Im Stall von Bauer Rüdiger Marquardt bei Kiel. D E R

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In Wahrheit ist all das nur Gaukelwerk, um den Mythos vom Luxusrind zu schüren. Zart und buttrig werden die Schlemmerkühe nicht durchs Gekuschel, sondern infolge der Mast. In den letzten sechs Monaten ihres Lebens fressen sie unentwegt Rüben, Soja, Kartoffeln und Getreide. „Aufgrund ihrer genetischen Anlagen können die Tiere unglaublich viel intramuskuläres Fett einlagern“, erklärt Steffen Maak vom Leibniz-Institut für Nutztierbiologie bei Rostock, der das deutsche Zuchtprogramm wissenschaftlich begleitet. „Man wundert sich, dass sie dabei nicht tot umfallen.“ Aber auch ein panikfreier Tod ist für die Fleischqualität wichtig. Würde man ein Wagyu – wie bei normalen Rindern üblich – viele Kilometer im Viehtransporter herumkarren, um es dann in einem Großschlachthof töten zu lassen, wäre das Fleisch von Stresshormonen und Milchsäure überflutet. Um das zu verhindern, strebt der Verband eine neue – zentrale – Form der Vermarktung an. Alle deutschen Wagyus sollen schon Wochen vor dem Schlachttermin zentral in einen 170 Plätze fassenden Großstall in Hessen verbracht werden, in dem die Vierbeiner sich beruhigen und final vollfressen können. Erst dann führt sie ein freundlicher Metzger einzeln in die Tötebucht, um ihnen sanft das Bolzenschussgerät auf die Stirn zu setzen – schöner sterben im Reich der Paarhufer. „Über einen Internetshop wird die Ware dann direkt vermarktet“, erklärt ein Mitglied des Verbands. So klug das Konzept anmutet, die aktuellen Engpässe lassen sich auf diese Weise nicht beheben. Deshalb streben die Bauern auch eine bessere Verwertung des Schlachtkörpers an. Im Verbund mit Sterneköchen haben sie Wagyu-Rezepte für Nieren, Milz, Kutteln oder Lippen entworfen – alles Igitt-Innereien und minderwertige Stücke, die normalerweise kaum noch in die menschliche Nahrung gelangen. Beim Wagyu, so das Credo, sehe das anders aus. Da verwandle sich das gesamte Rind zum Gaumenschmaus und der Leib des Essers zum Tempel der Lust. Das Gourmetblatt „Beef!“ präsentiert in seiner neuesten Ausgabe sogar eine „Frittata von Hoden“, veredelt mit Crème fraîche und Wachteleiern. Die Bullentestikel hätten eine „leicht nussige“ Note, urteilt das Magazin begeistert. „Beim Garen verfestigen sie sich, bleiben aber elastisch.“ MATTHIAS SCHULZ Video-Reportage: Besuch im Wagyu-Stall spiegel.de/app342013wagyustall oder in der App DER SPIEGEL

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Szene

Sport

Lieber leise Autorennen in Metropolen sind für Manager einer Rennserie besonders attraktiv – einfacher lässt sich ein großes Publikum nicht erreichen. Die Formel 1 rast durch die Straßen von Monte Carlo und Singapur, nächstes Jahr soll in New Jersey gefahren werden. Das Deutsche Tourenwagen Masters (DTM) startet in Nürnberg und seit dieser Saison auch vor den Toren Moskaus. Am erfolgreichsten verfolgt diesen Trend allerdings eine Meisterschaft, die es noch gar nicht zu sehen gibt: Die Formel E für elektrogetriebene Rennwagen wird ab 2014 in Orten wie London, Miami, Rio de Janeiro und Bangkok antreten. Auch in Berlin, auf dem Gelände

des ehemaligen Flughafens Tempelhof, der rege für Konzerte und ähnliche Veranstaltungen genutzt wird. Das Beispiel Berlin zeigt, warum der klassische Motorsport mit lauten und abgasreichen Fahrzeugen kaum eine Chance hat, in Großstädten zugelassen zu werden. Das DTM-Management hatte im vergangenen Jahr im Senat für ein Rennen in Tempelhof geworben, war jedoch erst einmal gescheitert. Nachdem im Juli vor dem Brandenburger Tor das Formel-E-Projekt präsentiert worden war, hofft DTMChef Hans-Werner Aufrecht wieder („Das öffnet uns Türen“). Sport-Staatssekretär Andreas Statzkowski (CDU) hält einen Lauf des Deutschen Tourenwagen Masters schon 2014 für möglich. Doch daraus wird nichts werden, wie die Tempelhof Projekt GmbH, Betreiber der Anlage, nun klarstellt. Tempelhof solle „zu einem Ort für innerstädtisches Wohnen, Freizeit, Sport und Erholung ent-

wickelt werden“, sagt Geschäftsführer Gerhard Steindorf. „Unser Vorhaben basiert unter anderem auf dem Leitbild sauberer Zukunftstechnologien. Ein traditionelles Autorennen passt nicht dazu.“ Die Formel E zielt auf ein alternatives Publikum: jene zahlreichen urbanen Zuschauer, die sich lieber ein Elektroauto per Smartphone ausleihen, als einen eigenen Wagen zu kaufen. Ehemaliger Flughafen Berlin-Tempelhof

DTM-Rennwagen

DOPING

SÖREN STACHE / DPA

„Der Widerstand bröckelt“ Die SPD-Politikerin Dagmar Freitag, 60, Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestags, über die Debatte um ein AntiDoping-Gesetz SPIEGEL: Mit Liga-Präsident Reinhard

Rauball hat sich nun auch ein Prominenter aus dem Fußball für ein AntiDoping-Gesetz ausgesprochen. Bildet sich da gerade eine machtvolle Allianz?

Freitag: Ich erkenne zumindest endlich eine Allianz für solch ein Gesetz, wie ich sie in der Vergangenheit noch nicht erlebt habe. Es melden sich jetzt Befürworter zu Wort, die sich bislang zurückgehalten haben. Zum Beispiel Herr Rauball. Oder Justizminister Thomas Kutschaty aus Nordrhein-Westfalen, der nun auch für einen Straftatbestand Doping eintritt. Ich bin sicher, dass da noch andere nachziehen werden. SPIEGEL: Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) ist gegen ein Gesetz, verweist auf die Autonomie des Sports. Wie lange kann DOSBPräsident Thomas Bach diese Linie noch halten? Freitag: Nicht mehr lange. Ich glaube, dass wir schon in der kommenden D E R

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Legislaturperiode ein Anti-DopingGesetz bekommen werden. Die Gesellschaft hat erkannt, dass der Sport das Problem nicht allein lösen kann. SPIEGEL: Warum schafft es der Sportausschuss nicht, Druck auf den DOSB zu machen? Freitag: Wir machen Druck. Aber noch kann sich der DOSB auf die ablehnende Haltung der Koalition beim Anti-Doping-Gesetz verlassen. Doch auch da bröckelt ja der Widerstand. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hat sich kürzlich für ein Gesetz ausgesprochen. Und ich bin sehr gespannt, wie lange sich Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich noch gegen die Linie seines CSU-Parteichefs stellen will. 123

MARC TIRL / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); LARS BARON / BONGARTS / GETTY IMAGES (U.)

MOTORSPORT

Übungsleiter Taira (l.) mit Kindern beim Training im Riverside Sports Center in Tokio

Schüler beim Einüben der Kampfhaltung

Im Wohnzimmer des SumoStalls Otake in Tokio

Sport

KAM PFSPORT

Die Leibeigenen Die jungen Ringer in Japans Sumo-Ställen führen ein entbehrungsreiches Leben. Das Training ist eine elende Schinderei, den Alltag bestimmen archaische Rituale. Der Traditionssportart geht der Nachwuchs aus.

FOTOS: JEREMIE SOUTEYRAT / DER SPIEGEL

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Chino kocht für sie, mittags wie abends. ür einen Sumo-Ringer ist Takahiro Chino ein Fliegengewicht, 88 Kilo Er spült das Geschirr. Er putzt. Er wäscht verteilen sich auf 1,75 Meter Körper- ihre Wäsche. Er hilft seinen fettleibigen größe. Sein Trainingsgegner hingegen, an Stallgefährten sogar bei der Körperpflege. dem er sich gerade abarbeitet, sieht aus Klaglos reinigt er mit einem Waschlappen jene Stellen, die sie selbst nicht mehr erwie ein Fleischklops. Ein mächtiger Bauch hängt über seinem reichen, weil ihr Leibesumfang gewaltiger Lendenschurz, die Oberschenkel wirken ist als ihre Spannweite. Erst im vorigen Sommer trat er ein in wie Marmorsäulen. Der 130-Kilo-Mann kauert in den Knien, den Oberkörper den Stall, den einer der bedeutendsten vornübergebeugt, damit sein Schwer- japanischen Sumo-Ringer der Nachkriegspunkt möglichst tief liegt, und immer zeit gegründet hatte. Damals wog Chino dann, wenn Takahiro Chino ihn von 67 Kilo. Mit 14 hat er die Schule in seiner neuem attackiert, um ihn aus dem Gleich- Heimatstadt Nagano abgebrochen und gewicht zu bringen, schüttelt der mächtige lag seinen Eltern danach fünf Jahre lang Ringer den jungen Angreifer ab wie ein ohne Perspektive auf der Tasche. Die klare Rangordnung, der strenge lästiges Insekt. „Halt die Arme gerade, und komm Tagesablauf, die spartanische Umgebung, schneller aus dem Start“, ruft Tadahiro Sato die Härte gegen sich selbst, all dies habe dem schmächtigen Ringer zu, „du nutzt seinem Leben die Klarheit verschafft, die dein leichtes Gewicht zu wenig!“ Sato, 52, ihm gefehlt habe, sagt Takahiro Chino. ist der Stallmeister, seine Anweisungen klin- „Ich habe großes Glück, da noch rausgegen ruppig. Er sitzt barfuß auf einem Bo- kommen zu sein.“ In drei Jahren will er ein Sekitori sein, denkissen, trinkt grünen Tee und ist der ein Ringer mit Gehalt und Sonderrechten, Einzige, der im Trainingsraum redet. Ein Drei-Zentner-Mann, der als Nächs- einer von 70, die in Japan vom Sumo leter in den Ring steigen wird, dehnt sich ben können. Er will dann mindestens im Spagat auf dem Lehmboden, ein ande- 120 Kilogramm wiegen. Bis dahin muss rer schlägt seinen Kopf gegen einen Holz- er in seinem Stall dulden und dienen. pfahl. Aufwärmen, gleich sind sie dran. Sumo gehört zu Japan wie der heilige Aber erst muss Takahiro Chino eine Berg Fuji und das Kirschblütenfest, der letzte Runde den Prügelknaben geben. Sport hat seine Wurzeln im Shinto, der Er ächzt, sein Atem geht hastig, von sei- Urreligion des Inselreichs. Bereits vor zwei nem Rücken rinnt Schweiß. Wieder Jahrtausenden wurden Kämpfe zum Zerammt er sich mit aller Wucht in seinen remoniell am Kaiserhof abgehalten, seit Gegner, wieder prallt er chancenlos am 300 Jahren gibt es professionelles Sumo. massigen Bauch des Kontrahenten ab. Da Die Regeln könnten einfacher kaum beendet der Stallmeister nach drei Stun- sein: Wer den Gegner so aus dem Gleichden die Schinderei. Die Kämpfer verbeu- gewicht bringt, dass der den sandbedeckgen sich voreinander, nach der Mittags- ten Lehmboden mit einem anderen Körpause geht es wie jeden Tag weiter. Auf perteil als den Fußsohlen berührt, oder dem Programm stehen dann anderthalb wer den Gegner aus dem Kreis drängt, Stunden Krafttraining. der 4,55 Meter Durchmesser hat und mit Takahiro Chino, 20, ist der Jüngste im einem Strohseil markiert wird, hat gewonSumo-Stall Otake, einem der traditions- nen. Ein Kampf ist meist schon nach einireichsten Japans, der in einem unschein- gen Sekunden beendet. baren Gebäude in Tokios Stadtbezirk Doch die archaischen Rituale, die in Koto liegt. Er ist der Novize. Man könnte den Ställen den Alltag prägen und die auch sagen: der Leibeigene. Sieben Sumo- nicht selten in Gewalt gegen die NeuRinger leben und schlafen hier in einem ankömmlinge umschlagen, halten offenZimmer, das direkt neben dem Dohyo bar immer mehr Jugendliche in Japan liegt, dem Trainingsring. von einer Karriere als Sumo-Ringer D E R

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ab. Waren es Anfang der Neunziger noch Der Rücktritt dieser Stars besiegelte mehr als 200 junge Männer, die als Novi- den Abschwung. Nach Umfragen des jazen in den rund 50 Profiställen aufge- panischen Meinungsforschungsinstituts nommen wurden, sank die Zahl der Neu- Central Research Services zählt selbst linge in den vergangenen Jahren auf Golf in Japan mit seinen mehr als 120 Miletwa 50. Allein bei Otake, sagt Stallmeis- lionen Einwohnern mittlerweile mehr Anter Sato, hätten sich Anfang der Siebzi- hänger. Seit Takanohana vor zehn Jahren ger jährlich noch 50 Jungen beworben, aufhörte, hat kein Japaner mehr den die meisten wurden abgewiesen. „Heute höchsten Rang eines Sumo-Ringers, den ist es wesentlich einfacher, reinzukom- des Yokozuna, erreicht. „Japanische Idole wären schon gut für men.“ Ihren Höhepunkt erlebte die Tradi- den Sport“, sagt Harumafuji Kohei, aktutionssportart vor 20 Jahren zum Ende von eller Yokozuna, bei einem seiner seltenen Japans Aufstieg zur wirtschaftlichen Auftritte vor der internationalen Presse Großmacht. Damals lieferten sich die Brü- in Tokios Geschäftsviertel Yurakucho. der Takanohana und Wakanohana eine „Aber den Jungen hier fehlt vor allem perfekt inszenierte Rivalität mit dem Ha- der Erfolgshunger.“ Der 29-jährige Mongole, 134 Kilogramm schwer, 1,85 Meter waiianer Akebono. Die Aufeinandertreffen des kolossalen, groß, wurde in einer Luxuslimousine zu über 230 Kilo schweren und gut zwei Me- dem Treffen vorgefahren. Er trägt einen ter großen Akebono und des vergleichs- edlen Kimono, sein Haarknoten hat die weise agilen Takanohana wurden zu Kräf- Form eines Ginkgoblatts. Seinen Weg an die Spitze des Sumo temessen zwischen Japan und Hawaii, den USA oder gar dem Rest der Welt sti- beschreibt Harumafuji mit „Essen, Trailisiert. Auch im Ausland war Sumo zu se- ning, Essen, Training“ und einer täglichen hen, nach Deutschland übertrug der TV- körperlichen Verausgabung „bis kurz Sender Eurosport. vor den Tod“. In armen Verhältnissen 126

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war er in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator aufgewachsen, früh musste der Sumo-Ringer Geschwister und Eltern ernähren. Die jungen Menschen der japanischen Wohlstandsgesellschaft hält er für verweichlicht – ein Vorwurf, der oft zu hören ist. Traditionell kamen die stärksten Ringer aus Japans ärmeren ländlichen Regionen, meist ohne die Mittel, eine gute schulische Ausbildung zu bezahlen. „Der Weg in einen Stall war attraktiv, weil Schule dort keine Rolle spielte und es Essen und ein Bett gab“, sagt der Soziologe Lee Thompson, 60, der an der Waseda-Universität in Tokio zu Sumo forscht. Doch noch immer finden sich auch in Japans Mittelschicht Kinder, die von einer Karriere als Sumo-Ringer träumen. Einer von ihnen ist der Schüler Seiya Kato, 12. Seine Klassenkameraden schwärmen für den Fußballprofi Shinji Kagawa von Manchester United oder die Baseballstars der Yomiuri Giants aus Tokio. Er schwärmt für Harumafuji, den Yokozuna. Der Junge aus Tokio ist kaum 1,60 Meter groß und wiegt schon über 80 Kilo. Für

Kämpfer Chino (2. v. l.) im Trainingsraum des Otake-Stalls

FOTOS: JEREMIE SOUTEYRAT / DER SPIEGEL

Sport

eine Sumo-Karriere ein vielversprechendes Gewicht. Sechs Schüsseln Reis mit Fisch oder Fleisch schaufelt er täglich in sich hinein, seine Mutter unterstützt die Mast. „Seiya isst so viel, dass es manchmal ins Geld geht“, sagt sie lächelnd. Zweimal in der Woche trainiert der Teenager mit 20 weiteren Kindern zwischen 5 und 15 Jahren bei Shinichi Taira, 38, einem früheren Sumo-Profi, im Riverside Sports Center in Fußnähe zu Tokios Altstadt. Seiya ist einer der Vorzeigeschüler. Über das Strohseil, das den Ring begrenzt, marschiert er voran und simuliert Angriffstechniken. Die Älteren machen die Übungen vor, mit Griffen korrigieren sie die Bewegungsabläufe der Jüngeren. Auch hier fällt kaum ein Wort. Nur Trainer Taira lässt gelegentlich eine zackige Bemerkung fallen. Der dicke Seiya überzeugt ihn. „Er könnte ein Großer werden“, sagt er. „Im Kampf macht er zu viel über seine Masse und zu wenig über die Technik. Er ist noch unerfahren.“ In guter japanischer Manier befolgt der Junge alles, was ihm sein Lehrer als Hausaufgabe aufträgt: deh-

nen, dehnen, dehnen. Seiya soll beweglicher werden, hat der Trainer entschieden, noch kommt er im Spagat nicht vollständig auf den Boden. Kein anderer Junge in seiner Klasse ist in einem Sumo-Verein. Die meisten, sagt Seiya, fänden es peinlich, nackt, bloß durch eine Art altmodischen Stringtanga bedeckt, einen schweißnassen Körper anzupacken. Seine Mutter kann sich mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr Sohn als 15-Jähriger in einen Sumo-Stall zieht. Trotz der immer wieder auftauchenden Berichte von Gewalt in den Ställen und von Geschichten junger Athleten, die wegen des harten Lebens hinschmeißen. Die übelste ereignete sich vor sechs Jahren. Damals starb ein Sumo-Novize, nachdem seine Gefährten ihn auf Anweisung des Stallmeisters mit einem Baseballschläger traktiert und mit glühenden Zigaretten misshandelt hatten. Auch im Otake-Stall gab Anfang des Jahres ein junger Kollege von Takahiro Chino auf. „Er war nicht hart genug. Sumo ist nicht für jeden etwas“, sagt Stallmeister Sato, der einst als 15-Jähriger zu den Profis gezogen war. „Zu meiner Zeit war alles noch viel derber.“ Damit sich in Zukunft wieder mehr Nachwuchsringer bei Japans Sumo-Ställen bewerben, hat der Verband die Größen- und Gewichtsanforderungen für Neuankömmlinge, die mindestens 15 Jahre alt sein müssen, vor einigen Jahren auf 1,67 Meter und 67 Kilogramm gesenkt. Nur deshalb kam Chino als Kandidat beim Otake-Stall in Frage. „Das war ein typischer Nachmittag“, erinnert sich Chino, „an dem ich nichts zu tun hatte. Ich zappte mich durch die Kanäle, und in einem Bericht hieß es,

Otake-Kämpfer bei der Haarpflege

dass Ringer gesucht würden.“ Damals wog er 63 Kilo. „Für die Bewerbungsfrist blieben mir zwei Wochen. Ich habe sofort angefangen zu fressen, wie es nur ging.“ Zu seiner Überraschung bekam er sofort einen Platz in dem renommierten Stall. Sein Kampfname wurde Ginseizan, zu Deutsch: das Silber, der Stern, der Berg. Chinos Stallgefährten kommen nach dem Training frisch gewaschen aus dem Badezimmer, auch in ihrem Wohnzimmer laufen die meisten halbnackt herum, bekleidet nur mit Boxershorts. Einer rollt einen flachen runden Tisch in die Mitte des Zimmers und legt Sitzkissen auf den Holzboden. Es gibt Chanko Nabe, die typische Mahlzeit, einen Eintopf mit Gemüse und Fleisch, dazu Reis, Fisch oder Fleischbällchen. Mittags und abends muss Takahiro Chino für sich und die anderen sechs Ringer kochen, über 10 000 Kilokalorien vertilgt jeder Kämpfer an einem Tag. Das entspricht mindestens zehn Wiener Schnitzeln mit Pommes frites. Nur vor einem Wettkampf kocht Chino kein Schwein und Rind, sondern Huhn. Aus Aberglauben. Schwein und Rind stehen auf vier Beinen, dem Huhn reichen zwei. Wie dem Sumo-Ringer. Und was, wenn es nichts wird mit einer Karriere als umjubelter Kampfsportler? Wenn er, wie so viele Sumo-Novizen vor ihm, zuckerkrank wird wegen der Mast oder Gelenkschäden bekommt? Dann werde er nach Südamerika auswandern, sagt Takahiro Chino, „in ein warmes Land, wo es nicht so teuer ist“. Die zwei gängigsten Aushilfsjobs, in denen gescheiterte oder gestrandete SumoRinger in Japan am häufigsten landen, kämen für ihn jedenfalls nicht in Frage – Türsteher oder Suppenkoch. FELIX LILL

Sport Russlands Anti-Schwulen-Gesetz ist sie Gäste sind“. Das läuft auf das Gleiche mit 88 Prozent Zustimmung im Land äu- hinaus. ßerst populär. Als Putin es Ende Juni unDoch jetzt bereiten sich Homosexuellenterschrieb, sagte er, es diene nur dem verbände auf Sotschi vor. Aktivisten samSchutz von Kindern. Tatsächlich schürt melten Unterschriften für eine Petition, es jahrhundertealte Ressentiments. Hilfs- die eine Verlegung der Spiele nach Kaorganisationen müssen mit Einschränkun- nada fordert. Jacques Rogge, Chef des gen rechnen, die Stigmatisierung Homo- Internationalen Olympischen Komitees sexueller nimmt zu. In Wolgograd drang- (IOC), will den Gesetzestext zumindest Aktivisten aus aller Welt machen salierten jetzt drei junge Männer einen auf seine Vereinbarkeit mit der OlympiKameraden zu Tode; er habe „durch sein schen Charta überprüfen lassen – die Front gegen das AntiSchwulsein unsere religiösen und patrio- lehnt jede Form von Diskriminierung ab. Schwulen-Gesetz in Russland. tischen Gefühle verletzt“, gaben sie an. Für einen Boykott der Spiele gebe es Bei Olympia in Sotschi sollen auch Von einer sportlichen Botschafterin in der internationalen Community keine die Athleten protestieren. bekam Putin nun im Stadion Unterstüt- Mehrheit, sagt eine Sprecherin des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD). Sotschi ie an den meisten Tasei jedoch derzeit Thema Numgen der Leichtathlemer eins, in diversen Foren tik-Weltmeisterschaft würden Vorschläge gesammelt, war wenig los am vergangenen wie während der Wettkämpfe Donnerstag im Luschniki-StaSolidarität geübt werden könne. dion von Moskau, kaum ZuSo wird eine Art Parade nach schauer, kaum Atmosphäre. Vorbild des Christopher Street Die schwedische HochspringeDay in der Nähe von Sotschi rin Emma Green Tregaro flog erwogen, eine Demonstration in der Qualifikation über die also, die nach dem neuen GeLatte – 1,92 Meter. Sie hatte die setz wohl verboten wäre. Fingernägel lackiert, in den FarDie jeweils besten Athletinben des Regenbogens. nen und Athleten sollen, so Kurz darauf trat ihre Teameine andere Idee, bei der Siekameradin, die Sprinterin Moa gerehrung einander die Hände Hjelmer, im 200-Meter-Vorlauf reichen – als solidarische Botan, auf den Fingernägeln dieschaft, die aber nicht als poliselben Regenbogenfarben. Sie tische Aussage gewertet wersind das Symbol der Schwulenden könne, wie sie das IOC in und-Lesben-Bewegung – eine den Stadien untersagt. Der kleine Geste sollte es sein, und LSVD will olympische Sponsodie Leichtathletik-WM hatte ihren, Reiseveranstalter und Tiren Aufreger. ckethändler zu Stellungnahmen Denn die kleinen Gesten bewegen. Vertreter anderer könnten Vorboten größerer Schwulenorganisationen pläKundgebungen gewesen sein. dieren für einen TV-Boykott, Es geht gegen Russland, gegen um die Sponsoren zu treffen. das Anti-Homosexuellen-GeDem IOC-Präsidentschaftssetz des Landes, das im Beisein kandidaten Thomas Bach, Chef von Minderjährigen „Propades Deutschen Olympischen ganda für nichttraditionelle seSportbunds (DOSB), hat der xuelle Beziehungen“ verbietet. LSVD am 2. August einen FraUnd es geht um Solidarität der genkatalog geschickt. Bach warAthleten mit Diskriminierten. te mit seiner Antwort, bis das „Die Zeiten, da Sportler nur IOC das Gesetz bewertet habe, eine unkritische Masse waren, heißt es beim DOSB. Auf die sind vorbei“, meint die deutsche Frage, ob der DOSB deutsche Degenfechterin Imke Duplitzer. Sportler schützen werde, die Als die russischen Machtwährend der Spiele Solidarität haber um Präsident Wladimir mit Homosexuellen demonstriePutin vor Jahren begannen, ren, verwies dessen Sprecher sich reihenweise internationale Athletin Green Tregaro*, Demonstranten in Berlin: Kleine Gesten Christian Klaue gegenüber dem Sportveranstaltungen zu angeln, hatten sie eine Aufwertung des Lan- zung. Die russische Stabhochsprung-Welt- SPIEGEL auf die IOC-Regel, die Demondes als Gastgeber für die Jugend der Welt meisterin Jelena Issinbajewa nannte die strationen an den Sportstätten verbietet. Und wenn die Athleten abseits der im Blick. Woran vermutlich niemand Protestaktion der schwedischen Leichtdachte: Man holte sich weltweiten Protest athletinnen „nicht respektvoll“. Später Wettkämpfe für die Rechte Homosexuelins Haus. Nach der Leichtathletik-WM wandte sie ein, sie sei falsch verstanden ler einträten? Dann seien eben die Gefolgen die Olympischen Winterspiele im worden und habe nur sagen wollen, „dass setze des Landes zu achten, so Klaue, das Februar 2014 in Sotschi, die Fußball-WM die Menschen Gesetze in anderen Län- sei „wie bei Trunkenheit am Steuer: 2018. „Wer die Sportwelt einlädt, darf sich dern respektieren sollten, vor allem wenn Manchmal ist bei 0,8 Promille die Grenze, manchmal bei 0,0“. nicht wundern“, sagt Duplitzer. Seit JahJÖRG KRAMER, GERHARD PFEIL, MATTHIAS SCHEPP * Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moskau. ren lebt sie offen lesbisch. HOMOSEXUELLE

Im Zeichen des Regenbogens

STEFAN BONESS / IPON

MARK KOLBE / GETTY IMAGES

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Trends

Medien

T V- P R O G R A M M

„Live“ von der Völkerschlacht führt in Paris ein Exklusivinterview mit Napoleons Gattin. Zudem soll ein eigenes Nachrichtenportal auf der Senderseite im Stil von Online-Medien über die Schlacht berichten, mit einem Live-

Ticker, Blogs der Frontreporter und Postings aus den sozialen Netzwerken. Auch im Radio soll das historische Ereignis im gewohnten Stil aktueller Berichterstattung stattfinden.

MDR

Der MDR experimentiert zum 200-JahrJubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober mit einem ungewöhnlichen multimedialen Format. Der Sender inszeniert das historische Ereignis vier Tage lang wie ein aktuelles Kriegsgeschehen und berichtet darüber in Form einer TV-Sondernachrichtensendung mit „Tagesthemen“-Anchor Ingo Zamperoni. Der Anspruch der Show: Die Zuschauer sollen die bis dahin größte Schlacht der europäischen Geschichte plastisch erleben wie ein Live-Ereignis. Zur Nachrichtenauthentizität beitragen sollen nicht nur Handy-Videos von der Front, „Brennpunkt“-artige Reporterberichte über die Ängste der Bauern und Infografiken zu den Truppenbewegungen des Tages. Zamperoni befragt in Interview-Schalten die ARD-Korrespondenten in Moskau und Paris. Börsenfrau Anja Kohl berichtet über Auswirkungen auf die Exportwirtschaft. Adelsexperte Rolf Seelmann-Eggebert

Zamperoni

WA H L S E N D U N G E N

INTERNET

Quotenkiller

Provinzieller Datenschutz Als „provinziell“ bezeichnet der FDPBundestagsabgeordnete Hartfrid Wolff den Datenschutz in Deutschland. „Mit 17 Datenschutzbeauftragten in 16 Bundesländern und im Bund ist unser System zum Schutz der Menschen vor zu weitgehenden Zugriffen auf ihre Privatsphäre wenig effektiv“, sagt Wolff. Schwierig würde es vor allem dann werden, wenn es um die Aufsicht über globale Internetkonzerne wie Google

oder Facebook gehe. Beide haben ihren Deutschland-Sitz in Hamburg und werden daher vom Hamburger Beauftragten für den Datenschutz, Johannes Caspar, beaufsichtigt. Wolff sagt: „Die Datenschutzbeauftragten sind in den Bundesländern aber sehr unterschiedlich ausgestattet; eine wirklich wirksame Kontrolle ist so nicht möglich.“ Es sei denkbar, dass sich ein internationaler Konzern den „schwächsten Kontrollstandort“ heraussuche. Wolff stößt damit eine schon in der Vergangenheit geführte Debatte an, ob die Zuständigkeit für Großunternehmen besser beim Bundesdatenschutzbeauftragten aufgehoben wäre. „Wir beaufsichtigen Google und Facebook sehr effektiv und scheuen auch keine Auseinandersetzung“, kontert Caspar die Kritik. „Der einzige Punkt ist, dass wir wegen der großen Verantwortung in Hamburg mehr Personal einsetzen müssten.“ BARBARA DOMBROWSKI / LAIF

Fünf Wochen vor der Bundestagswahl interessieren sich die Deutschen, zumindest was den TV-Konsum angeht, immer noch nicht besonders für die Kandidaten. Ein Porträt von Kanzlerin Angela Merkel vergangene Woche im ZDF sahen gerade einmal 2,78 Millionen Zuschauer (9,9 Prozent Marktanteil). Den Film über Peer Steinbrück hatten eine Woche zuvor sogar nur 1,84 Millionen (7,1 Prozent) sehen wollen. Der SPD-Kandidat stößt insgesamt auf geringes Interesse bei den Fernsehzuschauern. Ein Sat.1-Sommerinterview mit Steinbrück hatte vergangene Woche gerade einmal 0,6 Millionen Zuschauer (4,5 Prozent). In den „Berlin direkt“-Sommerinterviews des ZDF der vergangenen Wochen schnitt der Herausforderer mit 1,69 Millionen Zuschauern (8,7 Prozent) sogar noch schlechter ab als Jürgen Trittin, der 2,14 Millionen (10,5 Prozent), und Gregor Gysi, der 2,81 Millionen (12,4 Prozent) Zuschauer anlocken konnte. Nur für Rainer Brüderle (1,31 Millionen Zuschauer, 6,8 Prozent) interessierten sich noch weniger Leute.

Google-Mitarbeiter in Hamburg D E R

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HUMOR

„Für mich war er Opapi“ Zum zweiten Todestag von Loriot erinnert sich sein Enkel Leopold von BülowQuirk an einen Großvater, der seinen Wanderstock zum Säbel umbauen konnte und auch privat so akkurat war wie in seinem humoristischen Berufsleben.

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STEFAN PIELOW / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Herr von Bülow-Quirk, die Deutschen denken bei Loriot an den Sketch mit der Nudel oder die Herren MüllerLüdenscheidt und Doktor Klöbner in der Badewanne. Woran denken Sie? Von Bülow-Quirk: An die Sommerwochen, die ich als Kind mit meiner Schwester bei ihm am Starnberger See verbracht habe. Es waren die schönsten Wochen meines Lebens. Für mich war er ja nicht Loriot, sondern mein Opapi. Wir hatten eine sehr enge Beziehung. Er hat mit uns Tischtennis gespielt, Skat und Sechsundsechzig, und er hat uns zum Lachen gebracht. Er hatte einen Wanderstock, den konnte man aufschrauben, und dann war es ein Säbel. Als er ihn mir das erste Mal zeigte, hat er erst einen alten Mann gemimt. Plötzlich tat er so, als würde er überfallen, und fing an zu fechten. SPIEGEL: Ab wann war Ihnen klar, was Ihr Großvater Vicco von Bülow den Deutschen bedeutet hat? Von Bülow-Quirk: Ich glaube, so ganz begriffen habe ich das erst nach seinem Tod. Natürlich habe ich schon als Kind mitbekommen, wie bekannt er war, weil ihn ständig Leute um ein Autogramm baten. Aber nach jedem öffentlichen Auftritt von ihm waren wir dann wieder unter uns. Jetzt, wo es ihn nur noch in der Erinnerung gibt, wächst er für mich als Künstler immer mehr. Es fällt mir täglich schwerer, ihn nur als Großvater zu sehen. SPIEGEL: Voriges Jahr ging Ihre Tante Susanne, die das Erbe verwaltet, gegen eine Loriot-Biografie vor, die ihrer Meinung nach zu viele Originalzitate von ihm enthielt. Ist es der Familie wichtig, die Erinnerung kontrollieren zu können? Von Bülow-Quirk: Das Buch enthielt tatsächlich zu viele Textstellen meines Groß-

Von Bülow-Quirk mit Opas Rolleiflex

BETTINA VON BÜLOW

Von Bülow-Quirk ist der Sohn von Bettina von Bülow, einer der beiden Töchter des im August 2011 verstorbenen Vicco von Bülow, besser bekannt als Loriot. Der 28-Jährige lebt in London, wo er für eine Rednerund Referentenagentur arbeitet. Mit dem SPIEGEL traf er sich in jenem Münchner Café, wo sein Großvater einst einige seiner ersten Cartoons zeichnete – und brachte auch Utensilien seines Großvaters mit.

Leopold, Vicco von Bülow 1998

vaters, das hat das Gericht bestätigt. Da ging es also nicht um Kontrolle, sondern um die Wahrung seines Urheberrechts. Davon abgesehen finde ich es nicht besonders geschmackvoll, wenn jemand zehn Tage nach dem Tod eines Prominenten schon eine Biografie veröffentlicht. Das geht dann offenbar wirklich nur, wenn man viel abschreibt. Ansonsten freuen wir uns natürlich sehr, wenn die Leute an Loriot denken. Auf seinen D E R

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Grabstein in Berlin haben Fans ganz viele Plastikenten gestellt, um an die Herren im Bad zu erinnern. Mich macht das stolz. SPIEGEL: Nächste Woche erscheint ein Band* mit Schwarzweiß-Fotos von Gästen, die Loriot zu Hause besucht haben. Waren die von ihm zur Veröffentlichung gedacht? * Loriot: „Gästebuch“. Diogenes Verlag, Zürich; 176 Seiten; 26,90 Euro.

LORIOT / AUS LORIOT ‚SPÄTLESE‘, 2013 DIOGENES VERLAG AG, ZÜRICH

Enkel Leopold gewidmetes Loriot-Aquarell

Von Bülow-Quirk: Das wissen wir nicht. Aber wir wollten sie seinen Fans nicht vorenthalten, weil sie sein erster Schritt vom Zeichnen zum Inszenieren waren. Er hat ja alle Besucher vor, hinter oder neben einer kleinen Säule fotografiert, in unterschiedlichsten Posen. Darauf war er gekommen, weil er gemerkt hatte, wie schwer die Leute sich taten, ihm etwas ins Gästebuch zu schreiben. Stattdessen hat er dann diese Bilder angefertigt. Bun-

SPIEGEL: War er privat denn genauso pedantisch wie bei seinen Filmarbeiten? Von Bülow-Quirk: Ja, aber nicht so, dass es uns belastet hätte. Er besaß zum Beispiel eine riesige Plattensammlung und sagte immer, wenn eine von diesen 5000 nicht am richtigen Platz stehe, sei sie so gut wie verloren. Das war ihm ganz wichtig. SPIEGEL: War er im Urlaub entspannter? Von Bülow-Quirk: Wir gingen nie einfach so durch einen Urlaubsort. Er war der Meinung: Wenn man etwas macht, dann richtig. Deshalb hat er uns auf jede Reise wunderbar vorbereitet. Flogen wir nach Rom, sagte er vorher: Wir schauen uns das Kolosseum an, den Vatikan und diese und jene Kirche. Er hat uns dann unheimlich viele Geschichten erzählt über all diese Orte. Man hatte das Gefühl, man ergründet die Seele der Stadt. Auch auf Opernbesuche hat er uns gründlich eingestimmt. SPIEGEL: Wie anstrengend! Von Bülow-Quirk: Nein, das war sehr schön! Meine Schwester und ich hatten das Glück, dass er uns schon als Kinder zu Aufführungen mitgenommen hat. Wenn er in die Oper ging, trug er immer Smoking und ärgerte sich, wenn andere nachlässig gekleidet waren. Weil ich noch so klein war, durfte ich mit Fliege und Hemd mit. Beim ersten Mal war ich acht, wir sahen „Hänsel und Gretel“ am Münchner Theater am Gärtnerplatz. Ein paar Tage davor sagte er: Komm, Leopold, wir legen die Schallplatte auf und hören in die Oper hinein. Als wir dann im Saal saßen, legte er mir die Hand aufs Knie und sagte: Jetzt kommt eine besonders schöne Stelle! Ich glaube, die Liebe zur Musik habe ich von ihm. SPIEGEL: Sie haben einige Jahre in einer Rockband gespielt. Hat Ihr Großvater auch mal ein Konzert von Ihnen besucht? Von Bülow-Quirk: Nein, aber wir haben zu Hause unplugged für ihn gespielt. Ich glaube, er war stolz, dass ich Musik mache. Wir waren vor ein paar Jahren einmal bei den Berliner Philharmonikern, Daniel Barenboim hat drei BeethovenStücke auswendig gespielt und dabei auch noch dirigiert, das war ungeheuer beeindruckend. Opapi und Barenboim kannten sich. Nach dem Konzert hat er mich ihm vorgestellt und gesagt: „Er ist in einer

despräsident Gustav Heinemann und seine Frau sind da zu sehen, SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein, aber auch meine Schwester und ich. Die Fotos hat er alle mit dieser Rolleiflex-Kamera gemacht, die ich Ihnen hier mitgebracht habe. Er hat mich damit auch oft fotografiert, wenn ich Cello geübt habe oder Klavier. Meist musste ich länger sitzen, bis er das richtige Licht hatte. Da haben wir seine Exaktheit gespürt. D E R

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LORIOT / AUS: LORIOT ‚GÄSTEBUCH‘, 2013 DIOGENES VERLAG AG, ZÜRICH

Band.“ Das müssen Sie sich vorstellen: Ich als doofer Schlagzeuger und dieser große Musiker. SPIEGEL: Konnte Loriot auch streng sein? Von Bülow-Quirk: Das Schimpfen hat er meinen Eltern oder meiner Großmutter überlassen. SPIEGEL: Er selbst hat in Interviews gelegentlich gesagt, er bereue es, nicht genug für die Familie da gewesen zu sein. Von Bülow-Quirk: Den Vorwurf hat er sich öffentlich gemacht, ja. Aber ich habe mit meiner Mutter darüber Foto aus Loriots „Gästebuch“*: „Seine Exaktheit gespürt“ gesprochen. Sie sagt, sie und ihre Schwester hätten das nie so emp- Von Bülow-Quirk: Er hat Reinhold in den funden. Er war immer für sie da. fünfziger Jahren oft hier in München im SPIEGEL: War es eigentlich auch mal an- Café Luitpold gemalt. Ich war noch nie strengend, einen Humoristen zum Groß- hier, aber ich fand die Idee schön, dass vater zu haben? wir beide uns jetzt hier treffen. Er hatte Von Bülow-Quirk: Er war ja kein Clown. Er immer ein Glas Wasser für die Pinsel hat das, was er gemacht hat, alles sehr auf dem Tisch. Mit der Zeit färbte es ernst genommen. Er hatte eine unglaub- sich orange, das war ja Reinholds Farbe. liche Balance zwischen Ernst und Komik. Opapi hat gern die Geschichte erzählt, Nehmen Sie seinen Sketch über die Woh- wie mal zwei ältere Damen auf die Frage, nungszerstörung, die damit beginnt, dass was sie trinken wollten, zum Kellner sagein Mann ein Bild geraderücken will: Die ten: so einen Orangensaft wie der Herr Menschheit möchte alles beherrschen, und da drüben. Zeichnen und Malen waren trotzdem oder gerade deshalb geht alles seine Art, auf die Welt zu schauen. Er schief. Das kennt man aus der griechischen hat auch Familienmitgliedern oder engen Tragödie, nur nicht so komisch. Loriot war Freunden gern Bilder geschenkt. berühmt dafür, dass er Konventionen und SPIEGEL: Welches hängt bei Ihnen zu Traditionen veralbert hat. Aber er pflegte Hause? sie auch. Er hat uns an seiner Wand immer Von Bülow-Quirk: Als ich in der Band gedie Porträts unserer Vorfahren gezeigt, die spielt habe, hat er mir einmal ein wunderja fast alle Offiziere waren: der Großvater, bares kleines Aquarell gemalt. Darauf der Urgroßvater, bis zum vierfachen Ur- sieht man meine beiden Hunde, einen großvater, der unter Friedrich dem Großen Labrador und einen Dalmatinermischgedient hat. Die haben ihm viel bedeutet. ling, die über mein Schlagzeug herfallen, SPIEGEL: In den letzten Jahren seines Le- und unten drin in der Trommel sitze ich bens hatte er sich weitgehend zurückge- mit Knollennase. Es wird im September zogen. Hat ihm das Altwerden zu schaf- in einer Loriot-Ausstellung im Münchner fen gemacht? Literaturhaus zu sehen sein. Darüber hinVon Bülow-Quirk: Sein Geist blieb immer aus auch 46 bislang unveröffentlichte hell, aber es ging alles ein bisschen lang- Zeichnungen von Möpsen. samer, und das hat ihn geärgert. Für ihn SPIEGEL: Weil ein Leben ohne Möpse mögwar es immer wichtig, alles auf höchstem lich, aber sinnlos ist, wie Ihr Großvater Niveau zu machen. Trotzdem hat er nie es ausgedrückt hat. aufgehört zu arbeiten. Im hohen Alter Von Bülow-Quirk: Opapis Mops Emil lebt fing er an, nachts zu zeichnen, wenn er heute noch bei meiner Großmutter. nicht schlafen konnte. Nachtschattenge- Manchmal begleitet er sie auch auf Reiwächse hat er diese kleinen Werke ge- sen, aber das wird für ihn immer benannt. Sie werden in einem Nachlassband schwerlicher, er ist jetzt ja schon 13 Jahre zu sehen sein, der im September er- alt. Meine Großmutter hat einmal einen scheint, genauso wie seine ersten Car- Spaziergang mit ihm gemacht, als ein antoons, die er für die Magazine „Quick“ derer Hund auf ihn zukam, der mindesund „Stern“ gezeichnet hat. Da wird man tens viermal so groß war. Emil hätte keine nachverfolgen können, wie Loriot seinen Chance gehabt. Aber er wollte kämpfen. Da hat meine Großmutter Emil gepackt Stil gefunden hat. SPIEGEL: „Reinhold das Nashorn“ war die und ihn zu seinem eigenen Schutz über Figur, die ihn bekannt gemacht hat. den nächsten Gartenzaun geworfen. Ich liebe Möpse. Ich finde, sie haben etwas Zuversichtliches und Tapferes. * Das Schauspieler-Paar Walter Giller und Nadja Tiller 1968 bei einem Besuch in Loriots Haus.

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zug machte der „Advokat des Teufels“

CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL

Studenten, die vom liberalen Klima an der Hochschule schwärmten. Er hatte Kontakt zum damaligen DDR-Auslandsspionage-Chef Markus Wolf, der seinerzeit als Reformer galt, als Mann von Michail Gorbatschow. Ins Rampenlicht geriet Bisky im Herbst 1989, als er auf der Großdemonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz sprach und enger Vertrauter von Gregor Gysi wurde. So landete Bisky in der Politik, wurde Landtagsabgeordneter in Brandenburg, 1993 bis 2000 sowie 2003 Bundesvorsitzender der PDS und seit 2007 gemeinsam mit Oskar Lafontaine Vorsitzender der Partei Die Linke. Doch Bisky blieb eine Art AntiPolitiker, selbstironisch, distanziert, auch zum Schrecken der eigenen Leute, die er mit seiner Offenheit gelegentlich überrumpelte. Mal bezeichnete er sich als „finale Mülltonne“ seiner Partei, ein andermal beklagte er den Stalinismus in den eigenen Reihen und wetterte gegen die Rechthaber. Obwohl Biskys demokratische Grundhaltung unbestritten war, scheiterte er 2005 als Kandidat für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten. Enttäuscht von Machtkämpfen und Intrigen bei der Linken, zog er sich in den letzten Jahren aus der Parteiarbeit zurück und suchte neue Erfahrungen als Europaabgeordneter. Lothar Bisky starb am 13. August in Leipzig. D E R

Slawomir Mrozek, 83. Angefangen hat er als Zeichner und Karikaturist, die Kunst der satirischen Übertreibung machte ihn vor allem als Theaterautor international berühmt. Mit 27 Jahren veröffentlichte Mrozek, der in bäuerlich-armen Verhältnissen bei Krakau aufwuchs, das Drama „Die Polizei“, das von einem perfekten Überwachungsstaat erzählt. Er mischte die damals modische Abstraktion des absurden Theaters mit dem Witz eines Hyperrealismus, der den Alltag der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa treffend einfing. Mit „Striptease“ (1961), der Familienchaos-Groteske „Tango“ (1965) und „Emigranten“ (1974) gelangen ihm weitere Welterfolge, die auch auf den Bühnen der BRD häufig gespielt wurden. Bereits 1963 zog er nach Italien, wo er Depressionen mit Alkohol zu bekämpfen versuchte. Später lebte er in Paris und eine Zeitlang auf einer Ranch in Mexiko. Während sein Weltruhm verblasste, blieb der eifrig weiterpublizierende Mrozek in Polen ein verehrter Schriftsteller. 1996 kehrte er in sein Heimatland zurück, 2007 veröffentlichte er seine Autobiografie „Balthasar“, mit der er einen 2002 erlittenen Hirnschlag verarbeitete. Slawomir Mrozek starb am 15. August in Nizza.

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SONNTAG, 25. 8., 23.10 – 23.55 UHR | RTL

SPIEGEL TV MAGAZIN

SPIEGEL TV

Voltaire 1778 starb – in einem Stadtpalais gegenüber dem Pariser Louvre; dort hatte ihn eine Freundin aufgenommen. Das passt zum schillernden Leben von Vergès, dem wohl bekanntesten Anwalt Frankreichs, der sich vom Bösen magisch angezogen fühlte. Er hat den Terroristen Carlos verteidigt, den Nazi Klaus Barbie und den serbischen Kriegsverbrecher Slobodan Milošević. Eines seiner Prinzipien sei, keine Prinzipien zu haben, erklärte er 2008 in einem SPIEGEL-Gespräch. Er hätte auch Hitler verteidigt ebenso wie Osama Bin Laden, sagte er damals. Ein Strafprozess war für ihn ein Kunstwerk, sein Auftritt als Anwalt eine wohlüberlegte Inszenierung. Einer seiner letzten Mandanten war wieder ein Böser, der Ex-Staatschef der Roten Khmer, Khieu Samphan. Jacques Vergès starb am 15. August in Paris.

PETER PEITSCH

mer etwas kompliziert, Schachtelsätze, eher Fragen, so als dächte da einer laut nach. Das war ungewöhnlich für einen Parteivorsitzenden, manchmal auch hinderlich. Aber es hatte mit seiner Lebenserfahrung zu tun, mit den vielen Wendungen und den immer neuen Anforderungen. Bisky wurde in Pommern geboren, nach der Flucht wuchs er in Schleswig-Holstein auf. Mit 18 Jahren entschloss er sich, in die DDR zu gehen. Dort sah er als Kind armer Leute eher Aufstiegschancen. Er studierte Philosophie und Kulturwissenschaften, wurde SED-Mitglied und machte Karriere. Er wurde Dozent, Professor, 1986 dann Rektor der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg. In dieser Zeit entstand sein Ruf als reformwilliger Genosse. Bisky stellte sich schützend vor rebellische

THOMAS RUSCH

Lothar Bisky, 71. Seine Sätze waren im- in einem Raum, in dem schon der Dichter

Großstadtratte Die Monarchin – wie Merkel das Land in die Erstarrung regiert; Teilen statt Besitzen – Porträt einer neuen Jugendbewegung; Kampf dem Nager – Ratten-

plage in Berlin. SAMSTAG, 24. 8., 23.15 – 1.00 UHR | SKY

SPIEGEL GESCHICHTE Der Sommerpalast – Die geheimen Gärten der chinesischen Kaiser, Teil 1 und 2 Vor den Toren Pekings erstreckt sich auf rund 300 Hektar eine der schönsten Park- und Palastanlagen der Welt. Der kaiserliche Garten des Sommerpalasts ist ein herausragendes Beispiel für die Philosophie chinesischer Landschaftskunst. Mit ihren zahlreichen Pagoden, Tempeln und Wohnanlagen symbolisieren die Anlagen das Reich der Mitte in Miniaturform. Die Dokumentation erkundet das UnescoWelterbe mit spektakulären Bildern und erzählt die Geschichte eines lebendigen Museums chinesischer Kultur. DIENSTAG, 20. 8., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF

ZDFzeit Der Deutschland-Test – Wie gut ist unser Gesundheitssystem? Ärzte, die auf Boni lauern, eine deutliche Bevorzugung von Privatpatienten im Kampf um einen Termin, unnütze Operationen: Nach dem Euro Health Consumer Index 2012 liegt Deutschland nur noch auf Platz 14 der Staaten mit der besten Gesundheitsversorgung. Die SPIEGEL TV-Autoren Nicola Burfeindt und Ralf Hoogestraat haben unser Gesundheitssystem unter die Lupe genommen: Wie sieht die Realität in Deutschlands Praxen und Krankenhäusern tatsächlich aus?

Joachim Gauck, 73, Bundespräsident, hat Schwierigkeiten, seine Tätigkeit als Autor mit dem Staatsamt unter einen Hut zu bringen. Ein Buch mit Texten Gaucks, das im September beim Siedler Verlag erscheint („Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen. Denkstationen eines Bürgers“), beschäftigt die Juristen des Bundespräsidialamts. Der Band soll neben älteren Vorträgen auch drei Reden enthalten, die der frühere Pfarrer als Bundespräsident gehalten hat. Das Präsidialamt will Siedler dafür zwar eine „nichtexklusive Abdruckgenehmigung“ erteilen, verlangt aber eine „angemessene“ Gebühr, die dem Bundeshaushalt zukommen soll. Außerdem hat sich Gauck entschieden, die Hälfte der Einnahmen zu spenden. Die Reden des „vormaligen Privatmannes Gauck“, heißt es schon im Autorenvertrag vom Januar, würden durch seine „Bundespräsidentschaft eine erhöhte Aufmerksamkeit hervorrufen“.

Athletin, Model, Politikerin

JULIAN FINNEY / GETTY IMAGES

Was wird die Wimbledon-Siegerin Marion Bartoli, 28, mit ihrem weiteren Leben anfangen, fragt sich ganz Frankreich nach ihrem überraschenden Rücktritt vom Profi-Tennis. Ihr wird mehr zugetraut als anderen ehemaligen Sportstars, die häufig Fernsehkommentator wurden. Bartoli gilt nämlich als vielseitig interessiert, in ihrer Freizeit malt sie und löst komplizierte Sudokus. Sie gilt als sprachbegabt und hochintelligent, ihr IQ liegt angeblich bei 175. Außerdem ist sie schlagfertig. Nach ihrem Wimbledon-Sieg Anfang Juli hatte sich ein BBC-Reporter über das bedingt modelhafte Aussehen der kräftigen Athletin lustig gemacht. Bartoli erwiderte souverän, der Mann solle das beurteilen, wenn er sie in Abendrobe und High Heels gesehen habe. Beim Galadiner von Wimbledon trat sie dann in einem knappen Glitzerkleid und hochhackigen Louboutin-Schuhen auf. An Selbstbewusstsein mangelt es Bartoli jedenfalls nicht. In einem Interview sagte die Französin kürzlich, sie könne sich vorstellen, eines Tages Sportministerin zu werden: „Das interessiert mich auf jeden Fall.“

Affären mit dem Personal enden selten harmonisch. Dies muss jetzt auch Fabrice Thomas, 52, erkennen, der nach eigenen Angaben in den neunziger Jahren ein Verhältnis mit dem 2008 verstorbenen Modeschöpfer Yves Saint Laurent hatte, für den er eigentlich als Chauffeur eingestellt worden war. Ursprünglich hatte ihn Pierre Bergé, langjähriger Lebens- und Geschäftspartner von Saint Laurent, als Fahrer angeheuert, sich nach einer kurzen Liebesbeziehung aber auch dienstlich von ihm getrennt. Thomas behauptet nun, von Saint Laurent mit Geschenken „überschüttet“ worden zu sein, darunter seien 390 Zeichnungen des Meisters, einige erotischer Natur. Die Werke ließ er jetzt Bergé anbieten und stellte ihn vor ein Ultimatum, wie dieser erklärt: Entweder zahle er die geforderte Summe, oder die Zeichnungen würden veröffentlicht. Bergé erstattete Anzeige, unter anderem wegen versuchter Erpressung. Thomas weist dies von sich und sagt, er könne alles erklären.

Thomas, Saint Laurent um 1995

Bärtiger Held

A. MAJEED / AFP

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Der pakistanische Geschäftsmann Malik Amir Mohammad Khan Afridi, 48, wurde vor vier Jahren wegen seiner exzentrischen Haarpracht von TalibanKämpfern entführt. Die Extremisten hatten seinen Bart für „unislamisch“ befunden. Afridi musste ihn abrasieren, um nach Peschawar heimkehren zu dürfen. Doch nun ist die XXL-Tracht vollständig wiederhergestellt, 76 Zentimeter misst der Schnurrbart von einem Ende zum anderen. Jeden Tag investiert der Kaufmann 30 Minuten, um seine Gesichtshaare in Form zu bringen. Er sagt, er könne sich nicht vorstellen, ohne seinen Bart zu existieren. D E R

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COURTESY OF FABRICE THOMAS

Dienst beim Designer

Papst Franziskus, 76, in Argentinien geborenes Oberhaupt der römischkatholischen Kirche, erklärt seine Unkonventionalität mit seiner Nationalität. Vergangenen Dienstag empfing Franziskus die Fußballnationalmannschaften von Italien und Argentinien. Gegenüber dem italienischen Stürmer Mario Balotelli scherzte der Pontifex über sein Image als kleiner Revolutionär: „Hier im Vatikan schimpfen sie mit mir, weil ich undiszipliniert bin. Man sieht ja, aus welchem Land ich komme“, sagte er mit Blick auf die argentinischen Spieler, die einen Pulk bildeten, während die Italiener sich brav in eine Reihe gestellt hatten. Das Freundschaftsspiel am Mittwoch gewann Argentinien 2:1. Barbara Bush, 31, Tochter des ehemaligen republikanischen US-Präsidenten George W. Bush, wünscht sich eine Präsidentschaftskandidatur von Hillary Clinton für die Wahl 2016. Das sagte Barbara Bush gegenüber dem Magazin „People“. Damit gehört sie nach neuesten Berechnungen der „Huffington Post“ zu den 61,3 Prozent der US-Bürger, die eine Kandidatur der demokratischen Politikerin unterstützen. Clinton bestreitet Ambitionen, die erste Frau an der Spitze der USA werden zu wollen. Dass Tochter Bush Frau Clinton als Wunschkandidatin nennt, bedeutet für sie allerdings nicht, dass sie Clinton auch wählen würde. Dazu könne sie nichts sagen, wehrte Bush die entsprechende Frage ab, sie wisse schließlich nicht, wer sich sonst noch zur Wahl stellen werde.

Personalien

Nur ein Traum Als Model für Dessous der Marke Agent Provocateur war die spanische Schauspielerin Mónica Cruz, 36, bereits tätig. Jetzt hat sie gemeinsam mit ihrer berühmten Schwester Penélope einen Vertrag über fünf Jahre mit besagter Firma abgeschlossen. Zum Auftakt haben die beiden einen Werbeclip konzipiert und gedreht: Ein gutaussehender Mann kommt in eine Villa voller gutaussehender Frauen, er setzt eine Sonnenbrille auf – und nun kann der Mann gemeinsam mit dem Zuschauer statt teurer Kleider teure Unterwäsche und viel nackte Haut bewundern. Ziemlich töricht, das alles. Am Ende taucht noch Javier Bardem, Mónica Cruz’ Schwager, auf und rüttelt den Mann mit der Sonnenbrille aus dem Traum wach.

ED/RM/PICTURE PRESS/CAMERA PRESS

In den USA müssen Prominente mit Paparazzi an jeder Ecke, hinter jedem Busch rechnen. Auch ihre Kinder werden verfolgt. Halle Berry, 47, und Jennifer Garner, 41, wollen das nicht länger akzeptieren. Die beiden Schauspielerinnen sagten am vergangenen Dienstag in Sacramento vor einem Justizausschuss des kalifornischen Parlaments aus und unterstützen damit den Gesetzesentwurf SB606, nach dem Kinder berühmter Menschen vor zudringlichen Kameras geschützt werden sollen. Berry berichtete, dass ihre fünfjährige Tochter sie einmal im Auto unter Tränen gefragt habe, ob die Männer sie töten wollten, die sie da draußen mit ihren Fotoapparaten bedrängt hatten. Garner, Mutter von drei Kindern, erzählte ebenfalls von unerträglichen Attacken durch Klatschreporter. Sollte die Gesetzesvorlage angenommen werden, müssten die Erziehungsberechtigten fortan wie in Deutschland ihr Einverständnis zum Abdruck von Kinderfotos geben. D E R

RANDY PENCH / AP / DPA

Mütter gegen Paparazzi

Berry, Garner

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Hohlspiegel

Rückspiegel

Aus den Kindernachrichten der „Heilbronner Stimme“: „Die Gehirnhälften übernehmen verschiedene Aufgaben. Wenn du zum Beispiel Englisch-Vokabeln lernst, ist vor allem die linke Hälfte gefragt. Zum Rechnen dagegen braucht man die rechte Hirnhälfte. Das ist bei Tauben ähnlich.“

Zitate

Aus den „Osnabrücker Nachrichten“ Aus dem Edeka-„Marktmagazin“: „Greifen Sie beim Seelachs ruhig öfters zu – denn schon 100 g dieses Seefisches decken Ihren Jod-Tagesbedarf von 200 g.“

Aus der „Gmünder Tagespost“ Aus den „Bremer Nachrichten“: „Als ,Sky Master‘ befördert Carlos Lucero die mutigen Springer nach unten. Nur schubsen darf er nicht. Manchmal allerdings ist schon eine gewisse Überzeugungskraft notwendig, damit der Kandidat nicht abspringt.“

Die „Süddeutsche Zeitung“ zur PanoramaMeldung „Nach der Wahl mehr Geld für Griechenland“ (Nr. 33/2013): Die Schuldenprobleme in Griechenland holen die europäischen Märkte wieder ein. Spekulationen über ein neues Hilfspaket sorgten unter Aktionären zu Wochenbeginn für Verunsicherung … „Es gibt kaum Impulse am Markt, und dann sorgen solche Nachrichten natürlich schnell für Verkäufe“, sagte ein Händler. Auslöser der Unruhe war ein SPIEGELBericht, wonach die Bundesbank im kommenden Jahr mit neuen Finanzhilfen für Griechenland rechnet. Das Branchenblatt „Werben &Verkaufen“ über „Dein SPIEGEL“: Ergebnisse, die Google ganz oben anzeigt, sind nicht zwangsläufig die besten. Das weiß jedes schlaue Kind – „Dein SPIEGEL“ sei Dank. In seiner diesjährigen Februar-Ausgabe hat sich das Magazin in der Rubrik Wirtschaft die ominöse Datenkrake aus den USA vorgenommen und dabei die Suchresultate salopp als zuweilen „richtigen Quatsch“ bezeichnet. Dass der schöne Schein oft trügt, kann man schließlich nicht früh genug lernen.

Der SPIEGEL berichtete … … in Nr. 3/2013 „Betr.: Wetten, dass ..?“ über die krummen Geschäfte mit Deutschlands größter Fernsehshow:

Aus der „Frankfurter Rundschau“ Aus der „Frankenpost“: „Der Besitzer saß mit seiner Frau und einem Kleinkind sowie dem Dackel der Familie im Kinderwagen vor dem Haus.“ Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: „Die goldenen Zeiten dieser Anlagen sind jedoch Geschichte, weil die Wirtschaftskrise sowohl Flugzeugen als auch Schiffen das Wasser abgegraben hat.“

Der Deutsche Rat für Public Relations hat jetzt der Agentur Dolce Media von Christoph Gottschalk sowie den Unternehmen Fleurop und Fressnapf „versuchte bzw. vollendete Schleichwerbung“ vorgeworfen. Dabei ging es um die Frage, ob „mit finanziellen Mitteln direkt oder indirekt Einfluss auf die Inhalte der Sendung genommen wurde, ohne dass dieser Einfluss jedoch für die Zuschauer transparent gewesen wäre“. Das Selbstkontrollorgan der deutschen PR-Branche ermahnte zudem die von Dolce Media vermittelten Unternehmen Daimler, Audi und Solarworld, künftig kritischer zu prüfen, „ob Medienkooperationen den Tatbestand der Schleichwerbung erfüllen“.

Urteil Aus dem „Tagesspiegel“ Aus dem „Wiesbadener Kurier“: „Drogen, Rotlicht und Gewaltkriminalität: Das Bahnhofsviertel hat weitaus mehr zu bieten als der schlechte Ruf, der ihm vorauseilt.“ 138

Das Amtsgericht Kassel hat den Künstler Jonathan Meese von dem Vorwurf der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole freigesprochen. Meese hatte bei einem öffentlichen SPIEGEL-Gespräch zum Thema „Größenwahn in der Kunst“ im Juni 2012 den verbotenen Hitlergruß gezeigt. D E R

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