Der Menschliche Geist
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Wie schon in seinem ersten Buch An den Grenzen des Wissens unternimmt John Horgan einen Streifzug durch verschiedene Wissenschaften: Diesmal durch jene Disziplinen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Geist und Psyche des Menschen beschäftigen. Der Streifzug führt von der Psychologie über die Neurologie, die Pharmakologie, die Evolutionsbiologie bis zur Genetik. Die Ansätze und Methoden dieser Disziplinen werden bündig vorgestellt, die in ihnen gewonnenen Kenntnisse zentralen Fragen gegenüber gestellt, die um die immer noch ungelösten Rätsel des menschlichen Geistes und des psychischen Innenlebens kreisen. John Horgan ist Wissenschaftsjournalist des Scientific American. Im Fischer Taschenbuch Verlag liegt vor: ›An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften‹ (Bd. 14364). Unsere Adresse im Internet: www. fischer-tb.de
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John Horgan
Der menschliche Geist Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt
Fischer Taschenbuch Verlag
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Ungekürzte Ausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, November 2001 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlages, München Die amerikanische Ausgabe erschien 1999 unter dem Titel ›The Undiscovered Mind: How the Human Brain Defies Replication, Medication, and Explanation‹ bei The Free Press, New York © 1999 John Horgan Für die deutsche Ausgabe: © 2000 Luchterhand Literaturverlag GmbH, München Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-15139-2
Ungekürzte eBook-Ausgabe mit freundlicher Genehmigung des Autors Erscheint in der Reihe: Eine Welt des Wissens - Eine Welt des Friedens © 2003 E.V.C. Elaboraziones, Vatican City Diese Ausgabe ist unverkäuflich.
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Für meinen Vater
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Inhalt
EINLEITUNG: »ICH-ZEUGE« 11
Naturwissenschaft versus Wissenschaft vom menschlichen Geist 17 Wo bleibt das Positive? 24 1. DIE »ERKLÄRUNGSLÜCKE« DER NEUROWISSENSCHAFT 30
Das Dilemma des Reduktionismus 34 Patricia Goldman-Rakics Erklärungslücke 41 Emotionen erkunden 48 Gagesche Neurowissenschaft 53 Die Anfälligkeit der Psychologie für Moden 58 Psychoanalyse und Seehasen 63 Freud als Neurowissenschaftler 70 2. WARUM FREUD NICHT TOT IST 73
Ziegen, Schafe und der Ödipuskomplex 78 »Crews Missiles«» 87 Der Skeptiker Steven Hyman 96 Freud als Erzähler 102 Freuds versöhnender Pessimismus 108 3. PSYCHOTHERAPIE UND DIE DODO-HYPOTHESE 110
Psychoanalytiker bewerten sich selbst 117 Die Dodo-Hypothese - Teil I 120 Psychotherapie als Placebo 125 -7
Therapien im Hier und Jetzt 131 Der Mythos von der Sachkompetenz 134 Ein Rundgang durchs Psychiatrische Museum 137 4. FLUCTIN UND ANDERE PLACEBOS 146
Fieber, Koma und andere Therapien 149 Peter Kramer lauschen 158 Die Dodo-Hypothese - Teil II 167 Vom Placebo zum Allheilmittel 172 Placebos zur Behandlung von Depressionen 177 Die Renaissance der Elektroschocktherapie 181 In der EST-Abteilung 186 Zur Verteidigung der EST und anderem 190 5. GEN-MAGIE 194
Die Minnesota-Zwillinge 200 Die Fahndung nach Psychosegenen 207 Wird Schizophrenie durch Prionen verursacht? 211 Die Alkoholspur 214 Die Glockenkurve und der Flynn-Effekt 217 Auf der Suche nach Intelligenzgenen 225 Das Temperament von Jerome Kagan 229 Das andere genetische Paradigma 233 6. DARWIN, RETTE UNS! 236
Steven Pinkers Umgang mit Wörtern 245 Was Noam Chomsky wirklich denkt 250 Ist Altruismus ein Instinkt? 252 Das Syndrom vom bösen Vater 258
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Verhaltensgenetische Erklärungen vermeiden 261 Darwinistische Kulturalisten 264 Die Hypothese der Geburtenfolge 266 Darwin und Freud 270 Unsere unwahrscheinliche Vergangenheit und Zukunft 273 7. KÜNSTLICHER ALLTAGSVERSTAND 279
Herbert Simons Prophezeiungen 283 Die Revanche des Philosophen 293 Douglas Lenats Angriff auf den Alltagsverstand 298 Rodney Brooks sucht nach dem Lebenselixier 304 KI und Psychoanalyse 310 Die Bedeutung des Turing-Tests 313 8. DAS RÄTSEL BEWUSSTSEIN 319
Christof Kochs Bewußtsein 337 Roger Penroses Quantensprung 331 Thermostate mit Bewußtsein 335 Bewußtsein - wegerklärt 337 Der Aufstieg der »Hysteriker« 343 Der mystische Weg zur Erkenntnis 347 Brian Josephsons »Tunnelkontakt« 352 EPILOG: DIE ZUKUNFT DER WISSENSCHAFTLICHEN ERFORSCHUNG DES MENSCHLICHEN GEISTES 357
Der Mythos vom wissenschaftlichen Erlöser 359 Die Gefahren der Wissenschaftsgläubigkeit 361 Die Sehnsucht nach einer Offenbarung 367
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ANHANG 373
Anmerkungen 375 Literaturhinweise 412 Danksagung 414 Register 415
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EINLEITUNG »ICH-ZEUGE« Die Naturwissenschaften entwickelten sich in genau umgekehrter Reihenfolge, als man es hätte erwarten sollen. Der Bereich, der uns am fernsten lag, wurde als erstes der Herrschaft des Gesetzes unterworfen, dann, nach und nach, alles Näherliegende: zuerst der Himmel, dann die Erde, dann das Tier- und Pflanzenreich, anschließend der menschliche Körper und zu guter Letzt (und bis jetzt äußerst unvollkommen) der menschBERTRAND RUSSELL1 liche Geist.
I
m Verlauf der letzten Jahrzehnte haben Anthropologen eine Dokumentationsmethode entwickelt, bei der sie die kulturellen, intellektuellen und emotionalen Präferenzen offenlegen, die ihre Beobachtungen verzerren könnten. Clifford Geertz, Anthropologe am Institute for Advanced Study in Princeton, der zu den Begründern dieses Ansatzes gehörte, hat ihn »IchZeuge-Sein« (»I-witnessing«) genannt.2 Indem Ich-Zeugen ihre subjektiven Vorlieben offenbaren und dadurch implizit zu verstehen geben, daß jeglicher Anspruch auf Objektivität naiv, wenn nicht unlauter ist, hoffen sie, ein größeres Vertrauen beim Leser zu gewinnen. Allerdings führt dies häufig dazu, daß der Leser - der sich vermutlich mehr für das Sexualleben der Fidschianer als für das Heimweh des Harvard-Doktoranden interessiert - gelangweilt ist und vor allem, daß sein Argwohn hinsichtlich der Absichten des Erzählers nicht zerstreut, sondern geradezu angefacht wird. Bekenntnisse sind für Wissenschaftler genauso gefährlich wie für Politiker und Liebende - oder auch für Wissenschaftsjournalisten. Dennoch fühle ich mich genötigt, dieses Buch mit einem Ich-Zeugnis zu beginnen, weil sein Gegenstand - mehr als beispielsweise die Elementarteilchenphysik oder die Chaostheorie - Fragen hinsichtlich der Grenzen der Objektivität aufwirft. Anfang der neunziger Jahre, als ich bereits zehn Jahre - 11
lang als Wissenschaftsjournalist arbeitete, störte mich die Art und Weise zunehmend, in der die meisten Naturwissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten einschließlich meiner selbst die Wissenschaft präsentierten. Aus verständlichen Gründen konzentrieren sich sowohl Forscher als auch Journalisten auf die Grenzgebiete der wissenschaftlichen Forschung, auf denen die meisten - echten oder vermeintlichen - Fortschritte gemacht werden. Diese Konzentration führt jedoch zu einer Überzeichnung der Leistungsfähigkeit und der positiven Ergebnisse in den Wissenschaften. Paradoxerweise bestätigt sie auch die postmoderne Kritik, die Wissenschaft könne keine absoluten, dauerhaften Wahrheiten hervorbringen, weil alle Theorien nur vorläufig gültig seien und sich ständig wandelten. All die Wissenschaftsgebiete, in denen nur langsame oder gar keine Fortschritte gemacht werden - entweder weil die Hauptprobleme bereits gelöst wurden und keine fundamentalen Fragen mehr geblieben sind oder weil die Probleme allen Angriffen widerstanden haben -, werden übersehen. In meinen Beiträgen für den Scientific American (dt. Spektrum der Wissenschaft), meinen ehemaligen Arbeitgeber, befaßte ich mich immer weniger mit den Errungenschaften der Wissenschaft und zunehmend mit ihren Beschränkungen. Mein Interesse an den Grenzen der Wissenschaft gipfelte in dem Buch An den Grenzen des Wissens, das 1997 erschien. Dort untersuchte ich die Kerngebiete der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, wie etwa Elementarteilchenphysik, Kosmologie und Evolutionsbiologie. Ich behauptete, diese Disziplinen würden zu Opfern ihrer phänomenalen Erfolge. Die Physiker würden niemals über die allgemeingültigen Theorien der Quantenmechanik und die Relativitätstheorie, die zusammen sämtliche Kräfte und Teilchen der Natur beschreiben, hinausgelangen; die Kosmologen würden nie mehr etwas so Tiefsinniges zustande bringen wie das vereinheitli- 12
chende Modell der Urknalltheorie; die Biologen könnten nicht hoffen, jemals die Darwinsche Evolutionstheorie und die DNA-basierte Genetik zu übertreffen. In den Kapiteln »Das Ende der Sozialwissenschaften« und »Das Ende der Neurowissenschaften« erörterte ich eine andere These: Wissenschaftler, die das menschliche Bewußtsein erklären wollen, sind womöglich von dessen schierer Komplexität überfordert. Hierbei wie bei anderen Überlegungen ließ ich mich von Günther Stent von der Universität von Kalifornien in Berkeley anregen.3 In seinen zukunftsweisenden Büchern The Coming of the Golden Age und Paradoxes of Progress behauptete Stent, die Naturwissenschaft sei dazu verdammt, ein Opfer sowohl ihres Erfolgs als auch ihrer Grenzen zu werden. Stent erkannte die Bedeutung der Neurowissenschaft. Dies veranlaßte ihn sogar dazu, in den siebziger Jahren von der Molekularbiologie auf dieses Fachgebiet umzusatteln, und später fungierte er als Leiter der Abteilung Neurobiologie der National Academy of Sciences. Doch Stent schätzte die Fähigkeit der Neurowissenschaft, Bewußtsein und andere ungelöste Fragen des menschlichen Geistes* zu erklären, pessimistisch ein. Er vermutete, daß »das Gehirn letzten Endes nicht in der Lage sein wird, eine Erklärung von sich selbst zu liefern.«4 Einige Kritiker meines Buchs An den Grenzen des Wissens räumten zwar ein, die Elementarteilchenphysik, die Kosmologie und die Evolutionsbiologie hätten möglicherweise in der Tat ihren Zenit überschritten, meine Analyse der Hirnforschung fanden sie indes – gelinde gesagt – nicht überzeugend. Lewis Wolpert, eine Säule der britischen Biologie, fühlte sich durch meine Darstellung der Neurowissenschaft persönlich angegriffen.5 Als ich ihm bei einer Wissenschaftskonferenz in London im Jahr 1997 vorgestellt wurde, geriet er so in Rage, * Der englische Begriff mind wird im folgenden meist mit »Geist« wiedergegeben, gelegentlich aber auch mit »Psyche« und »Gehirn«. (A.d.Ü.) - 13
daß ich für einen spannungsgeladenen Augenblick fürchtete, er würde gleich auf mich einprügeln. Mit knallrotem Gesicht fauchte er, das Kapitel über Neurowissenschaft in An den Grenzen des Wissens sei »entsetzlich! absolut entsetzlich!«. Es befasse sich nicht überwiegend mit Neurowissenschaftlern, die ihr Metier von der Pike auf gelernt hätten, sondern mit Wissenschaftlern, die erst spät auf dieses Gebiet umgesattelt hätten, wie Gerald Edelman, einen ausgebildeten Immunologen, und Francis Crick, der gelernter Physiker sei! Und wie könne ich überhaupt schreiben, die Neurowissenschaft gehe ihrem Ende zu, wo sie doch offenkundig gerade erst beginne? Wolpert stolzierte davon, bevor ich antworten konnte. Wenn wir unser Gespräch hätten fortsetzen können, hätte ich versucht, ihn mit der Bemerkung zu besänftigen, daß sein Einwand gegen mein Buch nicht völlig unberechtigt sei. Tatsächlich war ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß meine Behandlung der Wissenschaft vom menschlichen Geist in Anbetracht der enormen Breite und Bedeutung des Themas unzureichend war. An den Grenzen des Wissens konzentrierte sich in erster Linie auf Versuche, das unmittelbarste und unbestimmteste aller mentalen Phänomene, nämlich das Bewußtsein, zu erklären. Bewußtsein ist wohl das Problem des Geistes, das die größte philosophische Tragweite hat, aber es ist auch das am schwersten zu packende Problem. Die meisten Hirnforscher beschäftigen sich mit anderen, konkreteren Fragestellungen: Was geschieht im Gehirn, wenn wir sehen, hören, lernen, logisch denken, Emotionen empfinden, Willensentschlüsse fassen oder handeln? Weshalb leiden so viele Menschen an psychischen Erkrankungen wie Depression und Schizophrenie ? Wie wirksam sind die Medikamente, Psychotherapien und andere Heilverfahren, die zur Behandlung dieser verheerenden Leiden eingesetzt werden? Auf welche Weise wird die Persönlichkeit des einzelnen durch das Zusammenwirken von Erbanlage und Umwelt geformt ? Wel- 14
che Rolle spielt die natürliche Selektion bei der Prägung unseres Gehirns und unserer Psyche? In welchem Ausmaß werden wir durch unser biologisches Erbe bestimmt? Lassen sich die Funktionen des menschlichen Geistes durch einen Computer kopieren? Mein Argument, die Wissenschaft habe ihren Zenit überschritten, basierte auch auf einer Definition der Wissenschaft, die implizit Gebiete, die sich mit der Erforschung des Geistes befassen, abwertet und Physik und Kosmologie überbewertet. Nach dieser Definition, die ich von den Elementarteilchenphysikern Steven Weinberg und Murray Gell-Mann übernommen habe, lassen sich wissenschaftliche Theorien nach dem Umfang ihres Gültigkeitsbereichs in Raum und Zeit in eine Rangfolge einordnen. Die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie sind die fundamentalsten Theorien, weil sie, soweit wir wissen, für das gesamte Universum gelten. Innerhalb der Biologie sind die Darwinsche Evolutionstheorie und die DNA-gestützte Genetik die fundamentalsten Theorien, weil sie - wiederum soweit wir wissen - für alle Organismen gelten, die jemals auf der Erde gelebt haben. Gebiete wie Psychologie, Psychiatrie und Verhaltensgenetik befassen sich dagegen mit einem einzigen Organismus, der erst seit ein paar hunderttausend Jahren auf der Erde lebt. Andererseits sind diese Disziplinen, die uns helfen, unseren Geist und unser Verhalten zu verstehen, für die meisten von uns bedeutungsvoller als Physik oder Kosmologie. Wie schrieb doch der Arzt Sherwin Nuland in seiner Betrachtung über die Sterblichkeit Wie wir sterben: »Mir ist der Mikrokosmos wichtiger als der Makrokosmos; mich interessiert das Leben eines Menschen mehr als das Verlöschen eines Sterns oder das Vorüberziehen eines Kometen. [...] Was mich fasziniert, ist die Conditio humana, nicht die Struktur des Kosmos.«6 So narzißtisch, wie wir nun einmal sind, gibt es kein Thema, das uns mehr interessierte als wir selbst. - 15
Die wissenschaftliche Erforschung des Geistes ist jedoch nicht nur bedeutungsvoll. Auch in einem streng praktischen Sinne besitzt die Erforschung des Homo sapiens von allen wissenschaftlichen Unternehmungen die größte Tragweite. Selbst pseudowissenschaftliche Erklärungen der menschlichen Natur haben die Macht, den Lauf der Geschichte zu verändern. Die Bewegungen, die von Karl Marx und Sigmund Freud ins Leben gerufen wurden - oder auch von Jesus, Buddha und Mohammed, deren Theologien ebenfalls implizite Theorien über die menschliche Natur enthalten -, haben dies gezeigt. Krieg, Armut, Umweltverschmutzung, Verbrechen, Rassismus, ja praktisch alle gesellschaftlichen Übel haben ihren Ursprung zumindest teilweise in unserem Gehirn. Das gleiche gilt für Depression, Angststörungen, Schizophrenie und Alkoholismus. Laut Auskunft der Weltgesundheitsorganisation leiden über 1,2 Milliarden Menschen an neuropsychiatrischen Erkrankungen oder Verhaltensstörungen.7 Die neuropsychiatrischen Erkrankungen verursachen allein in den Vereinigten Staaten jährliche Kosten von über dreihundert Milliarden Dollar;8 das sind mehr als die geschätzten Ausgaben für Krebsund Herzerkrankungen sowie AIDS zusammengenommen. Auch die Lösungen für diese Probleme werden vielleicht aus dem menschlichen Geist hervorgehen. Wenn Neurowissenschaftler, Psychologen, Forscher auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) und andere Erforscher der Psyche ihre Träume verwirklichen, werden wir eines Tages vielleicht in einer Kultur leben, die von wahren Theorien der menschlichen Natur geprägt sein wird. Wir werden uns nicht länger an der Anlage-Umwelt-Kontroverse oder dem Geist-Körper-Problem aufreiben, weil sie zu jedermanns Zufriedenheit gelöst sein werden. Wir werden vielleicht genug über unsere Natur wissen, um ein politisches System zu konzipieren, das Elend minimiert und Glück maximiert. Wir werden vielleicht über - 16
Medikamente verfügen, die Hoffnungslosigkeit vertreiben und das Erinnerungsvermögen verbessern, über Gentherapien, die manisch-depressive Erkrankungen heilen und die Intelligenz optimieren. Wir werden vielleicht von Robotern bedient werden, die so intelligent und liebenswürdig wie Commander Data aus der Serie Star Trek sind. Wir werden vielleicht zu Robotern werden, die so intelligent und liebenswürdig wie Commander Data sind. Aus all diesen Gründen beschloß ich, ein weiteres Buch zu schreiben, das die wissenschaftliche Erforschung des Geistes sehr viel eingehender untersuchen sollte, als ich dies in An den Grenzen des Wissens getan hatte. Das Buch sollte sich nicht nur mit den wissenschaftlichen Ansätzen zur Erklärung der Eigenschaften des Geistes einschließlich des Bewußtseins befassen; es sollte auch Versuche, die Psyche von Personen, die an seelischen Störungen leiden, medikamentös zu behandeln und die Eigenschaften des Gehirns in Maschinen zu kopieren, einer kritischen Würdigung unterziehen.
Naturwissenschaft versus Wissenschaft vom menschlichen Geist In An den Grenzen des Wissens prägte ich den Ausdruck »ironische Wissenschaft« für eine Wissenschaft, die die Wirklichkeit niemals richtig durch Erkenntnis erfaßt und sich folglich nicht der Wahrheit annähert. Die ironische Wissenschaft stellt keine präzisen Tatsachenbehauptungen über die Welt auf, die empirisch bestätigt oder widerlegt werden können. Sie ist daher näher mit der Philosophie und der Literaturtheorie oder gar der Literatur verwandt als mit der echten Naturwissenschaft. In den sogenannten exakten Wissenschaften, wie etwa der Physik, der Astronomie und der Chemie, taucht sie plötzlich auf. (Ein unverkennbares Beispiel für ironische Wissen- 17
schaft ist eine Theorie, welche die Existenz weiterer Welten neben dem bekannten Universum postuliert.) Doch sie dominiert vor allem in den Gebieten, die sich mit dem menschlichen Geist befassen. Die wissenschaftliche Erkundung des menschlichen Geistes stellt Forscher, die nach exakten, dauerhaften Wahrheiten suchen, vor eine Herausforderung ganz eigener Art. Der Evolutionsbiologe Ernst Mayr von der Harvard-Universität hat darauf hingewiesen, daß kein Zweig der Biologie es mit der Genauigkeit und Allgemeingültigkeit der Physik aufnehmen könne, weil sämtliche Lebewesen, anders als etwa Elektronen und Neutronen, einzigartig seien.9 Doch die Unterschiede zwischen beispielsweise zwei Bakterien der Art Escherichia coli oder zwei Blattschneiderameisen sind belanglos im Vergleich zu den Unterschieden zwischen zwei beliebigen Menschen, seien sie auch genetisch identisch. Und auch jedes einzelne Gehirn macht möglicherweise drastische Veränderungen durch, je nachdem, ob sein Besitzer verprügelt wird, das Alphabet lernt, Also sprach Zarathustra liest, LSD nimmt, sich verliebt, sich scheiden läßt, eine jungianische Traumtherapie absolviert oder einen Schlaganfall erleidet. Die Variabilität und die Formbarkeit des Gehirns erschweren die Suche nach allgemeingültigen Prinzipien der menschlichen Natur enorm. Die Erforschung des Gehirns hat bislang auch nicht jene Arten von praktischen Nutzanwendungen hervorgebracht, die zweifelsfrei für ein bestimmtes Paradigma sprächen. Physiker können mit Lasern, Transistoren, Radar, Düsenflugzeugen, Atombomben prahlen. Biologen können mit Impfstoffen, Antibiotika, der Klonierung und anderen Wundern auftrumpfen. Die Nebenprodukte der wissenschaftlichen Erforschung des Gehirns nehmen sich dagegen viel bescheidener aus: kognitive Verhaltenstherapie, Fluctin, Elektroschocktherapie, vermeintliche genetische Marker für Homosexualität, IQ-Tests und Schachcomputer. - 18
Der Philosoph Thomas Kuhn behauptete, moderne wissenschaftliche Theorien seien nicht wahrer als die Theorien, die sie abgelöst hätten, sondern bloß anders.10 Kuhns These trifft auf bestimmte wissenschaftliche Fachgebiete wie etwa die Astronomie einfach nicht zu. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert glaubten die Astronomen, daß die Lichtflekken im Himmel, die als Nebel bezeichnet wurden, Gaswolken in unserer Galaxie, der Milchstraße, seien. Als sich dann das Auflösungsvermögen der Teleskope verbesserte, erkannten die Astronomen, daß jeder Nebel eine eigene Galaxie ist, die weit jenseits der Grenzen der Milchstraße liegt. Das ist nicht bloß eine andere Sichtweise; es ist die richtige Sichtweise. Doch Kuhns Modell des wissenschaftlichen Nicht-Fortschritts paßt recht gut auf die wissenschaftliche Erforschung des Gehirns. Clifford Geertz wies unlängst darauf hin, daß die Psychologie »durch grundverschiedene Vorstellungen dessen, ›worum‹ es ihr geht - welche Erkenntnisse, über welche Wirklichkeit, zu welchem Zweck sie gewinnen soll -, sich in grundverschiedene Richtungen entwickelt hat. [...] Paradigmen, völlig neue Herangehensweisen an die Welt der Dinge, entstehen nicht alle hundert, sondern alle zehn Jahre; ja, manchmal hat man fast den Eindruck, sie änderten sich im monatlichen Abstand.«11 Theorien der menschlichen Natur sterben niemals völlig aus; sie kommen nur in und aus der Mode. Oftmals werden alte Ideen einfach in schmackhafteren Formen neu verpackt. Die Phrenologie wird als Modularitätstheorie der kognitiven Psychologie wiedergeboren. Die Soziobiologie wandelt sich zur Evolutionspsychologie. Die von ihren anstößigen politischen Implikationen (weitgehend) gereinigte Eugenik schlüpft ins Gewand der Verhaltensgenetik. Auch ältere Behandlungstechniken bestehen fort. Schockbehandlungen und Lobotomien, die in den letzten Jahrzehnten weitgehend durch Fluctin - 19
und Lithium verdrängt worden waren, werden bei schweren Psychosen noch immer verordnet. Ein Paradigma, das ein unglaubliches Beharrungsvermögen bewiesen hat, ist die Psychoanalyse, die Sigmund Freud vor einhundert Jahren erfand. Obgleich das Ansehen der Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten gesunken ist, machen nach wie vor Millionen von Menschen eine Psychotherapie, die, zumindest indirekt, auf der Lehre Freuds basiert. Zudem brachten viele Intellektuelle - darunter nicht nur französische Philosophen, sondern auch Neurowissenschaftler, KI-Forscher und andere, die es vermeintlich besser wissen sollten - ihre Bewunderung für die Psychoanalyse zum Ausdruck. Weshalb ist die Psychoanalyse noch immer so einflußreich? Freud-Gegner beantworten diese Frage, indem sie Freud als Sektenführer anprangern, der sich auf nichts so gut verstanden habe wie auf die Werbung in eigener Sache. FreudAnhänger huldigen ihm als Genie, dessen Erkenntnisse über die Psyche, obgleich empirisch nur schwer zu überprüfen, dennoch intuitiv plausibel erscheinen. Beide Auffassungen sind vertretbar, doch beide übersehen auch den entscheidenden Faktor, der dem Überdauern der Psychoanalyse zugrunde liegt: die Unfähigkeit der Wissenschaft, eine zweifelsfrei überlegene Erklärung für die Psyche und ihre Störungen zu liefern. Die Freudianer können keine eindeutigen Beweise für die Überlegenheit ihres Paradigmas vorlegen, doch das gleiche gilt für die Verfechter modernerer Paradigmen. Die Antifreudianer behaupten in der Tat, die Psychoanalyse stehe wissenschaftlich auf ebenso tönernen Füßen wie das Phlogiston, der Stoff, von dem die Physiker im achtzehnten Jahrhundert glaubten, er würde bei allen Verbrennungsvorgängen freigesetzt. Doch die Physiker erörtern heute die Phlogiston-Hypothese deshalb nicht mehr, weil sie dank der Entdeckung des Sauerstoffs und weiterer Fortschritte in der Chemie und der Thermodynamik als gänzlich überholt gilt. - 20
Dagegen haben hundertjährige Forschungsanstrengungen in der Psychiatrie, der Genetik, der Neurowissenschaft und den angrenzenden Gebieten kein so allgemeingültiges Paradigma hervorgebracht, daß Freud ein für allemal erledigt wäre. Wenn die Psychoanalyse dem Phlogiston entspricht, wie die Antifreudianer behaupten, dann gilt dies auch für ihre selbsternannten Nachfolgerinnen. Um mit Thomas Kuhn zu sprechen: Diese Alternativen sind nicht wahrer oder besser, sondern einfach anders. Die Freiheit, gegensätzliche Standpunkte zu vertreten, ist in der Wissenschaft genauso unentbehrlich wie in der Rechtsprechung. Doch die Zerstrittenheit unter den Wissenschaftlern, die sich mit der Erforschung des Geistes befassen, unterscheidet diese Wissenschaften von anderen. Die Forscher sind, wenn sie das von ihnen bevorzugte Paradigma anpreisen, häufig mit weniger Ernsthaftigkeit und Begeisterung bei der Sache, als wenn sie die Paradigmen anderer heruntermachen. So verhöhnt ein Neurowissenschaftler die Evolutionspsychologie als ein Sammelsurium von kasuistischen Fallgeschichten, ein Anhänger der Elektroschocktherapie stellt die sexuellen Nebenwirkungen von Fluctin heraus, ein Verhaltensgenetiker verspottet die Roboterphantasien von Forschern auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Selbst unter Forschern, die sich für ein und dasselbe Paradigma einsetzen, kann das Kreuzfeuer tödlich sein. Ich habe diesen internen Konflikt für meine Zwecke ausgeschlachtet. Einige Leser mögen es unfair und widersprüchlich finden, daß ich beispielsweise die Verhaltensgenetik in einem Kapitel kritisiere und mich dann im nächsten Kapitel auf sie berufe, um die Evolutionspsychologie in Frage zu stellen. Doch bei Theorien über die menschliche Natur sollten die umgekehrten Beweisanforderungen gelten als vor Gericht. Theorien sollten so lange als schuldig - das heißt falsch oder zweifelhaft - angesehen werden, bis ihre Richtigkeit über jeden - 21
berechtigten Zweifel hinaus erwiesen ist. Deshalb sollte es Kritikern erlaubt sein, eine Theorie in Zweifel zu ziehen, indem sie eine entgegengesetzte Hypothese aufstellen, die ebenso zweifelhaft sein mag. Zudem ist die Tatsache, daß sachkundige Wissenschaftler so unterschiedliche, sich widersprechende Paradigmen vertreten, Grund für Skepsis gegenüber allen Paradigmen. Wissenschaftler verteidigen die Neurowissenschaft und verwandte Gebiete vielfach mit der Bemerkung, daß sie »noch am Anfang stehe«, wie etwa mein britischer Gegner Lewis Wolpert. Tatsächlich hat die Neurowissenschaft eine Geschichte, die mit der anderer wissenschaftlicher Disziplinen vergleichbar ist. Im fünften Jahrhundert vor Christus stellte Hippokrates die Hypothese auf, das Gehirn sei beim Menschen Sitz der Wahrnehmung und des Denkens,12 und Galen bestätigte diese Annahme sechs Jahrhunderte später. Luigi Galvani zeigte im späten achtzehnten Jahrhundert, daß Nerven elektrische Ströme aussenden und darauf ansprechen. Etwa zur selben Zeit erfand Franz Joseph Gall die Phrenologie, die Vorläuferin der Modularitätstheorie des Geistes, die heute von Kognitionswissenschaftlern und anderen gepriesen wird. Francis Galton versuchte im neunzehnten Jahrhundert, das AnlageUmwelt-Problem durch Untersuchung eineiiger Zwillinge zu lösen. William James schrieb 1890 die Principles of Psychology. Und Freud begann wenig später mit der Darlegung seiner psychoanalytischen Theorie, nachdem er bereits eine solide Monographie über Sprachstörungen, die durch Hirnschäden verursacht werden, geschrieben hatte. Unterdessen enträtselten Camillo Golgi, Ramon y Cajal und andere Aufbau und Funktion der Nervenzellen. Die Behauptung, die Neurowissenschaft »stehe an ihrem Anfang«, fußt nicht auf dem tatsächlichen Alter der Disziplin, sondern auf ihrer Produktivität. Wolpert räumte dies in seinem 1993 erschienenen Buch The Unnatural Nature of - 22
Science auch ein. Er schrieb, die wissenschaftliche Erforschung des Geistes befinde sich im Vergleich zu ausgereiften wissenschaftlichen Disziplinen wie der Kernphysik und der Molekularbiologie noch immer in einem »primitiven« Zustand. Als Beleg führte er die Unfähigkeit der Neurowissenschaftler an, die Grundkonzepte der Psychoanalyse zu bestätigen beziehungsweise zu widerlegen: »Es ist gegenwärtig unmöglich, ein Experiment auf einer niedrigen Organisationsebene - das heißt der Ebene der Hirnfunktion oder der Neurophysiologie durchzuführen, das die psychoanalytische Theorie widerlegen würde.« Dennoch lehnte Wolpert die pessimistische Auffassung entschieden ab, daß »menschliches Verhalten und Denken niemals jener Art von Erklärungen zugänglich sein werden, die in den physikalischen und biologischen Wissenschaften so erfolgreich sind«. Er behauptete: »Wir wissen einfach nicht, was wir nicht wissen, und folglich, was die Zukunft bringen wird.«13 Ich stimme mit Wolpert überein, was den gegenwärtigen »primitiven« Zustand der Neurowissenschaft und anderer Disziplinen, die sich mit der Erforschung des Geistes befassen, anbelangt. Die Frage ist, wie weit es die Wissenschaft vom menschlichen Geist, angesichts der geringen Fortschritte, die sie bislang erzielt hat, in Zukunft bringen wird. Wie die meisten anderen Wissenschaftler ist Wolpert ein Optimist. Im Grunde genommen behauptet er, das bisherige Ausbleiben von Fortschritten bei der Erforschung des Geistes bedeute, daß um so wichtigere Entdeckungen vor uns lägen. Anders gesagt, der Mißerfolg in der Vergangenheit läßt auf künftige Erfolge schließen. Dies ist allerdings weniger ein Argument als eine Glaubensaussage. In Anbetracht ihrer dürftigen Erfolgsbilanz bis heute fürchte ich, daß Neurowissenschaft, Psychologie, Psychiatrie und andere Fachgebiete, die sich mit der Erforschung der Psyche befassen, möglicherweise an fundamentale wissenschaftliche Grenzen stoßen. Den Wissenschaftlern wird - 23
es vielleicht niemals endgültig gelingen, die Psyche zu heilen, sie auf Rechnern zu simulieren oder zu erklären. Womöglich wird der menschliche Geist bis zu einem gewissen Grad immer ein Rätsel bleiben.
Wo bleibt das Positive? Bevor ich mit dem Schreiben dieses Buches begann, bat ich einen auf Naturwissenschaft spezialisierten Verlagsagenten, mir zu sagen, was er von der Idee halte. »Ja, ich verstehe«, sagte er, nachdem ich alle Disziplinen, die ich kritisieren wollte, durchgegangen war. »Sie legen uns all die negativen Punkte auseinander. Aber welchen hoffnungsvollen Ausblick setzen Sie dem entgegen?« - »Hoffnungsvoll?« fragte ich zurück. »Ja, die positive Botschaft. Was sagen Sie den Lesern am Ende Ihres Buches, damit sie das Buch nach Lektüre nicht in gedrückter Stimmung weglegen?« Auf diese Frage war ich nicht gefaßt. »Ich bringe nichts Optimistisches«, sagte ich und faselte etwas von der Befriedigung, die dem Streben nach Wahrheit als solchem innewohne. Obgleich der Agent nicht überzeugt zu sein schien, bohrte er nicht weiter. Als ich mich dann an die Arbeit machte, änderte sich meine pessimistische Einschätzung der gegenwärtigen Lage der wissenschaftlichen Erforschung des Geistes nicht. Im Gegenteil. Doch ich empfand ein starkes Bedürfnis, meine kritische Einstellung zu begründen und etwas Positives zu finden. Zu Beginn meiner Recherchen beobachtete ich am New York State Psychiatrie Institute Patienten, die einer Elektroschocktherapie unterzogen wurden. Eine der Patientinnen war eine schlanke, zierliche Frau mit kurzem braunem Haar. Sie lag auf einer Untersuchungsliege und wartete auf ihre Behandlung, während ich ein paar Schritte von ihr weg stand und Notizen auf einen Block mit gelbem Papier kritzelte. Als ein Techniker die - 24
Schläfen der Frau mit elektrisch leitendem Gel einrieb, drehte sie plötzlich den Kopf und starrte mich unvermittelt an. Sie schien gleichzeitig verwirrt, erschrocken und zornig zu sein, als dächte sie: Wer zum Teufel ist der da, und was steht er da herum und gafft, wie ich leide ? Ähnliche Gedanken überkamen mich, als ich auf einer Party zufällig einem Bekannten aus Kindertagen begegnete, den ich Harry nennen will. Wir hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Er fragte, was ich mache, und ich erzählte ihm von meinem Buchprojekt, wobei ich, wie ich es häufig gegenüber Laien tat, meine geplante Kritik an Medikamenten wie Fluctin als Beispiel wählte. Je länger ich sprach, um so verlegener blickte Harry drein, und er sagte mir schließlich, warum. Vor ein paar Jahren war Harry einer so tiefen Depression verfallen, daß er an Selbstmord dachte. Fluctin hatte ihm geholfen, die Depression zu überwinden. Ohne das Medikament wäre er möglicherweise tot. Er fragte mich freundlich, was ich mir davon verspräche, ein Medikament anzuprangern, das ihm und vielen anderen das Leben gerettet habe? Eine weitere Unsicherheit kam auf, als ich in einem Vortrag an einer kalifornischen Universität einige Themen dieses Buches angeschnitten hatte.14 Während der anschließenden Diskussion fragte mich ein Genetiker empört, worauf ich eigentlich hinauswolle. Ob ich der Ansicht sei, er und seine Kollegen sollten einfach mit ihrer Arbeit aufhören? Solle der US-Kongreß seine finanzielle Förderung einstellen? Diese Begegnungen führten dazu, daß ich zunehmend meine persönliche Einstellung zu dem Thema, das ich erörtern wollte, hinterfragte. Weshalb war ich so negativ eingestellt? Was war mein Motiv? Wollte ich im Grunde genommen, daß diese Forschungen scheitern? Angenommen, meine Sichtweise der Erforschung des menschlichen Geistes war richtig, was versprach ich mir davon, sie öffentlich kundzutun ? Wozu sollte es gut sein, oder, um mit dem Verlagsagenten zu reden: Was war das Positive daran? - 25
Ich befasse mich zunächst mit dem Einwand meines Bekannten aus Kindertagen, Harry. Es macht mich betroffen, daß Kritik an Fluctin, an der Psychotherapie und an anderen Behandlungsverfahren möglicherweise den Glauben daran untergräbt und so deren Wirksamkeit bei Menschen wie Harry beeinträchtigt; schließlich hat die Wissenschaft gezeigt, daß der Glaube an eine bestimmte Therapie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. Doch zweifellos wäre es unverantwortlich, ja sogar grausam, wenn ein Journalist bewußt die Wirksamkeit eines Behandlungsverfahrens übertriebe, nur damit irgend jemand eventuell größeren Nutzen daraus zöge. Dann könnten Journalisten genausogut die Heilkräfte von Blutegeln, Kristallen oder der Homöopathie anpreisen. Der Glaube ist nicht allmächtig und auch nicht immer nützlich. Religiöser Glaube ist wohl die erfolgreichste psychologische Therapie, die je erfunden wurde, aber er hat auch Unwissenheit und Intoleranz gefördert. Der Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnisse muß den Nutzen des Glaubens übertreffen. Weshalb sollte man andernfalls überhaupt Wissenschaft betreiben? Eindringliche Hinweise auf die Grenzen von Neurowissenschaft, Verhaltensgenetik und verwandten Disziplinen könnten vermutlich auch Wissenschaftler davon abhalten, diese Art von Forschung fortzusetzen, und Politiker abschrecken, Fördermittel für weitere Studien zu bewilligen. Doch diese Möglichkeiten rechtfertigen nicht, Tatsachen zu ignorieren oder falsch darzustellen. Ich möchte in diesem Buch konstruktive Kritik an den Disziplinen üben, die sich mit der Erforschung des menschlichen Geistes befassen, mit der vielleicht wichtigsten wissenschaftlichen Fragestellung überhaupt. Gerade weil diese Forschungen so wichtig sind, bedürfen sie einer sorgfältigen Überprüfung. Meine Kritik mag sich manchmal schroff anhören. Das liegt daran, daß ich eine Unausgewogenheit beheben möchte: Die meisten Bücher zum Thema menschlicher - 26
Geist sind, gleich ob sie von Forschern oder Journalisten stammen, in einem allzu verklärenden Ton geschrieben. Einige Probleme, mit denen sich die Forscher herumschlagen, entziehen sich möglicherweise dem wissenschaftlichen Zugriff, doch ich möchte keinesfalls, daß diese Prognose zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Trotz ihrer Fehltritte und Grenzen sind Neurowissenschaft, Psychologie, Psychiatrie, Verhaltensgenetik, Evolutionspsychologie, Künstliche Intelligenz und sogar die Psychoanalyse keineswegs wertlos. Sie haben uns wichtige Erkenntnisse über unser Wesen verschafft, wenn auch problematische und widersprüchliche. Jede dieser Disziplinen kann zumindest als ein Gegengewicht zu den anderen dienen und sorgt dafür, daß keine zu mächtig wird. Zudem werden die Wissenschaftler vielleicht eines Tages wirklich damit anfangen, die menschliche Natur zu verstehen, und Methoden finden, sie zu verbessern. Doch der feste innere Glaube und die Zuversicht, die Wissenschaftler brauchen, um ihre Suche durchzuhalten, können sie auch in Schwierigkeiten bringen. In der Vergangenheit brachte die Überbewertung der Macht von Wissenschaft und Vernunft pseudowissenschaftliche Ideologien hervor wie den Sozialdarwinismus, die Eugenik und den totalitären Kommunismus. Ich würde gern glauben, daß Wissenschaftler - und andere Menschen - mittlerweile gelernt haben, keiner Theorie zuviel Glauben zu schenken, doch ich sehe zu viele gegenteilige Anzeichen. Ich bin beunruhigt über die Ausbreitung der erinnerungsaufdeckenden Therapie, die immer weiter um sich greifende Behandlung von Kindern mit Psychopharmaka, das Weiterbestehen rassistischer Intelligenztheorien, die Veröffentlichung karikaturistischer Darstellungen der männlichen und weiblichen Sexualität. Subtilere Schäden können die Behauptungen prominenter Forscher anrichten, wonach wir Menschen nur ein Haufen Neurone oder nur Vehikel für die Fortpflanzung von Genen oder nur Maschinen sind. Solcher - 27
Reduktionismus erweist sowohl der Menschheit als auch der Wissenschaft einen schlechten Dienst. In bezug auf die menschliche Natur kann unsere Gier nach absoluten Wahrheiten, nach vereinheitlichten Theorien und nach Allheilmitteln gefährliche Konsequenzen haben. Der Schlüssel liegt darin, den Ergebnissen der Wissenschaft skeptisch gegenüberzustehen und gleichzeitig die Wissenschaft als solche zu fördern. Der Philosoph Karl Popper verkörperte diese Einstellung. Er behauptete, wir könnten nicht beweisen, daß unsere Theorien wahr seien; wir könnten Theorien lediglich widerlegen beziehungsweise falsifizieren. Alle unsere Erkenntnisse seien nur vorläufig gültig. So wird die Wissenschaft, zur Freude des wissenschaftsliebenden Popper, zu einem endlosen Unternehmen. In An den Grenzen des Wissens behauptete ich, das Poppersche Modell lasse sich nicht aufrechterhalten, wenn man es auf die gesamte Wissenschaft beziehe.15 Ein Großteil der Erkenntnisse, die wir in der Physik, der Astronomie und der Biologie gewonnen haben, sind nicht vorläufig, sondern dauerhaft und absolut, wie etwa die Tatsache, daß die Erde rund und nicht flach ist. Die Poppersche Philosophie ist allerdings, bezogen auf die Erforschung des menschlichen Geistes, der wissenschaftlich so schwer zu bezwingen ist, sehr plausibel. Popper nannte seine Philosophie kritischen Rationalismus. Ich ziehe den Begriff optimistischer Skeptizismus vor. Zuwenig Skepsis läßt uns wissenschaftlichen Quacksalbern auf den Leim gehen. Zuviel Skepsis kann zum Solipsismus führen, zu einer radikalen postmodernen Anschauung, die nicht nur die Möglichkeit vollkommener menschlicher Selbsterkenntnis, sondern die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt bestreitet. Nur das richtige Maß an Skepsis - gemischt mit dem richtigen Maß an Hoffnung - kann uns vor unserer Gier nach Antworten schützen und uns gleichzeitig so aufgeschlossen sein lassen, daß wir echte Wahrheiten erkennen, wenn sie - 28
auftauchen. Falls dieses Buch auch nur annähernd sein Ziel erreicht, wird es den Leser dazu bringen, die wissenschaftliche Erforschung des Geistes mit optimistischem Skeptizismus zu betrachten. Das ist ein positiver Aspekt. Doch selbst wenn der Geist weiterhin den Bemühungen von Wissenschaftlern, ihn zu erklären, zu therapieren und zu simulieren, widersteht - selbst wenn er ein Rätsel bleiben sollte -, gibt es einen weiteren positiven Aspekt. Die Wissenschaft hat der Menschheit eine gewaltige, edle Aufgabe gegeben; wenn dieses Streben nach Erkenntnis enden sollte, werden wir etwas Wertvolles verlieren. Die Ziele der Erforschung des Geistes sind so verlockend, daß die Wissenschaftler zweifellos niemals aufhören werden, sie zu verfolgen, noch werden Regierungen, Unternehmen und Philanthropen jemals aufhören, dieses Streben finanziell zu unterstützen. Die Tatsache, daß diese Ziele möglicherweise nie ganz erreicht werden, bedeutet paradoxerweise, daß die Wissenschaft vom menschlichen Geist vielleicht nie zu einem Ende kommen wird. Solange wir uns selbst ein Rätsel bleiben, solange wir leiden, solange wir nicht in eine utopische Apathie verfallen, werden wir weiterhin mit den Instrumenten der Wissenschaft unseren Geist analysieren und ihm auf den Grund gehen. Könnten wir anders? Die Innenwelt ist vielleicht das letzte - ewig - unerforschte Grenzgebiet der Wissenschaft.
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1. DIE »ERKLÄRUNGSLÜCKE« DER NEUROWISSENSCHAFT
Im Jahr 1979 behandelte man die freudianische Psychologie nur noch als eine interessante historische Fußnote. Die neueste wissenschaftliche Mode war die klinische Erforschung des Zentralnervensystems. [...] Heute sind die neuen Gelehrten eifrig dabei, das Gehirn von allen Seiten zu sondieren und in hauchdünne Scheibchen zu zerlegen, und sie projizieren ihre Dias und betrachten Freuds theoretische Konstrukte, seine »Libido«, seinen »Ödipuskomplex« und alles weitere, als kuriose Scharlatanerien der Vergangenheit, ähnlich Mesmers »animali1 schem Magnetismus«. TOM WOLFE, In Our Time
Im Phaidon beschrieb Platon die letzten Stunden des Sokrates, der von der Athener Regierung ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt worden war. Sokrates erklärte seinen Freunden, die sich im Gefängnis versammelt hatten, weshalb er die Todesstrafe angenommen habe und nicht geflohen sei. Im Verlauf seiner Rede führt Sokrates die Vorstellung, sein Verhalten lasse sich rein physisch erklären, ad absurdum. Jemand, der dies glaube, argumentierte Sokrates, sage im Grunde folgendes über ihn aus: Da nun die Knochen in ihren Gelenken schweben, so bewirkten die Sehnen, wenn ich sie nachlasse und anziehe, daß ich jetzt imstande sei, meine Glieder zu bewegen, und aus diesem Grund säße ich jetzt hier mit gebogenen Knien. Ebenso, wenn er von unserm Gespräch andere solche Ursachen anführen wollte, die Töne nämlich und die Luft und das Gehör und tausenderlei dergleichen herbeibringen, ganz vernachlässigend, die wahren Ursachen anzuführen, daß nämlich, weil es den Athenern besser gefallen hat, mich zu verdammen, deshalb es auch mir besser geschienen hat, hier sitzenzubleiben, und gerechter, die Strafe geduldig auszustehen, welche sie angeordnet haben.2
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Dies ist die meines Wissens älteste Anspielung auf das, was zeitgenössische Philosophen die »Erklärungslücke« nennen. Der Begriff wurde von Joseph Levine geprägt, einem Philosophen an der Staatsuniversität von North Carolina. In seinem Aufsatz »Materialism and Qualia: The Explanatory Gap«3 befaßte sich Levine mit der rätselhaften Unfähigkeit physiologischer Theorien, psychische Phänomene zu erklären. Er konzentrierte sich dabei hauptsächlich auf das Bewußtsein beziehungsweise »Qualia«, also unsere subjektiven Empfindungen von der Welt. Doch die Erklärungslücke kann sich auch auf mentale Funktionen wie Wahrnehmung, Gedächtnis, logisches Denken und Emotion sowie auf das menschliche Verhalten beziehen. Die Disziplin, die am ehesten imstande sein dürfte, die Erklärungslücke zu schließen, ist die Neurowissenschaft, die Wissenschaft vom Gehirn. Als Platon seinen Phaidon schrieb, wußte man nicht einmal, daß das Gehirn der Sitz der mentalen Funktionen ist. (Aristoteles' Beobachtung, daß Hühner nach ihrer Enthauptung oftmals noch eine Zeitlang umherlaufen, brachte ihn zu der Überzeugung, daß das Gehirn keinesfalls die Steuerungszentrale des Körpers sein könne.) Heute erkunden die Neurowissenschaftler die Zusammenhänge zwischen Gehirn und Geist mit einer Reihe immer leistungsfähigerer Instrumente. Sie können mit Hilfe der Positronenemissions- und der Kernspinresonanztomographie die Aktivität sämtlicher Hirnareale messen. Sie können mit Mikroelektroden die extrem schwachen elektrischen Impulse registrieren, die zwischen einzelnen Nervenzellen weitergeleitet werden. Sie können die Wirkungen spezifischer Gene und Neurotransmitter auf die Funktionsweise des Gehirns verfolgen. Die Forscher hoffen, daß die Neurowissenschaft schließlich für die Wissenschaft vom menschlichen Geist das leisten wird, was die Molekularbiologie für die Evolutionsbiologie leistete, nämlich sie auf eine feste empirische Grundlage zu stellen, die - 31
zu weitreichenden neuen Erkenntnissen und Nutzanwendungen führt. Die Neurowissenschaft ist zweifellos eine Wachstumsbranche. Die Anzahl der Mitglieder der Society for Neuroscience4 die ihren Sitz in Washington, D. C., hat, stieg drastisch von fünfhundert in ihrem Gründungsjahr 1970 auf über fünfundzwanzigtausend im Jahr 1998 an. Die Zahl neurowissenschaftlicher Fachzeitschriften hat stark zugenommen, ebenso die Behandlung des Themas in renommierten Wissenschaftsmagazinen wie Science und Nature. Als Nature 1998 eine neue Fachzeitschrift, Nature Neuroscience, auf den Markt brachte, hieß es in der Presseverlautbarung, die Neurowissenschaft sei »eines der dynamischsten und sich am schnellsten entwickelnden Gebiete der Biologie. Die Aufklärung der Funktionsweise des Gehirns ist nicht nur eine der größten wissenschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, sondern sie hat auch tiefgreifende gesellschaftliche Auswirkungen, reichen ihre Fragestellungen doch von der Grundlage des Gedächtnisses über die Ursachen der Alzheimer-Krankheit bis hin zur Entstehung von Emotionen, der Persönlichkeit und sogar des Bewußtseins selbst.«5 Die Neurowissenschaft macht zweifelsohne Fortschritte. Aber in welcher Richtung schreitet sie voran ? Ich bat einmal Gerald Fischbach, den Direktor der Abteilung Neurowissenschaft an der Harvard-Universität und ehemaligen Präsidenten der Society for Neuroscience, mir die seines Erachtens bedeutendste Errungenschaft seines Fachgebiets zu nennen.6 Er lächelte über die Naivität der Frage. Die Neurowissenschaft sei ein weites Feld, betonte er, das von der Erforschung von Molekülen, die die neuronale Impulsübertragung beschleunigen, bis zur bildlichen Darstellung der Aktivität des gesamten Gehirns mit Hilfe der Kernspinresonanztomographie reiche. Es sei unmöglich, eine bestimmte Erkenntnis oder auch eine Reihe von Erkenntnissen herauszustellen, die aus der neurowissenschaftlichen Forschung hervorgegangen seien. - 32
Das charakteristischste Kennzeichen der Disziplin sei vielmehr ihre Produktion einer gewaltigen und wachsenden Zahl von Erkenntnissen. Die Forscher entdeckten ständig neue Typen von Hirnzellen beziehungsweise Neuronen, von Neurotransmittern, also chemischen Substanzen, mit denen Neuronen miteinander kommunizierten, von neuronalen Rezeptoren, also den Proteinstrukturen auf der Oberfläche von Nervenzellen, in welche die Neurotransmitter paßten, und von neurotropen Faktoren, also Substanzen, die das Wachstum des Gehirns vom Embryonal- bis ins Erwachsenenstadium steuerten. Vor nicht allzu langer Zeit, so Fischbach weiter, hätten die Forscher geglaubt, es gebe nur einen Rezeptor für den Neurotransmitter Acetylcholin, der die Aktivität der Muskeln steuert; mittlerweile seien mindestens zehn verschiedene Rezeptoren identifiziert worden. Und Experimente hätten mindestens fünfzehn Rezeptoren für den Neurotransmitter Gammaaminobuttersäure (GABA) nachgewiesen, der die Aktivität von Nervenzellen hemmt. Die Erforschung neurotroper Faktoren nehme ebenfalls »explosionsartig« zu. Forscher hätten herausgefunden, daß neurotrope Faktoren das Gehirn nicht nur in der Pränatalphase und im Säuglingsalter formen, sondern während der gesamten Lebensspanne. Leider wüßten die Neurowissenschaftler bislang nicht, wie sie all diese Erkenntnisse in ein kohärentes Rahmenmodell einordnen könnten. »Wir sind von einer einheitlichen Theorie des menschlichen Bewußtseins noch weit entfernt«, so Fischbach. Er warf damit ein Schlaglicht auf eines der paradoxesten Merkmale seines Fachgebiets. Obgleich das Adjektiv reduktionistisch oftmals in einem abwertenden Sinne gebraucht wird, ist die Naturwissenschaft definitionsgemäß reduktionistisch. Der Philosoph Daniel Dennett formulierte dies einmal folgendermaßen: »Aber natürlich muß etwas ›ausgelassen‹ werden andernfalls hätten wir nicht zu erklären begonnen. Auslassungen sind gerade ein Merkmal für erfolgreiche Erklärungen.«7 - 33
Im günstigsten Fall isoliert die Wissenschaft ein gemeinsames Element, das vielen scheinbar ungleichartigen Phänomenen zugrunde liegt. Isaac Newton fand heraus, daß sich die Neigung von Körpern, zu Boden zu fallen, die Gezeiten der Meere sowie die Bewegung des Mondes und der Planeten durch den Weltraum alle mit einer einzigen Kraft erklären lassen, der Gravitation oder Massenanziehung. Im zwanzigsten Jahrhundert haben Physiker nachgewiesen, daß alle Materie sich letztlich aus zwei Teilchenarten zusammensetzt, Quarks und Elektronen. Charles Darwin zeigte, daß die mannigfaltigen Arten von Lebewesen auf der Erde durch einen einzigen Prozeß entstanden sind, die Evolution. In den letzten fünfzig Jahren enthüllten Francis Crick, James Watson und andere Molekularbiologen, daß alle Organismen weitgehend dieselbe DNA-gestützte Methode zur Übertragung genetischer Information an ihre Nachkommen benutzen. Den Neurowissenschaftlern dagegen steht ihr reduktionistisches Offenbarungserlebnis noch bevor. Statt eine große vereinheitlichte Theorie zu finden, dekken sie weiterhin immer komplexere Zusammenhänge auf. Der Fortschritt der Neurowissenschaft ist in Wirklichkeit ein Gegen-Fortschritt. Je mehr Erkenntnisse die Forscher über das Gehirn gewinnen, um so schwieriger wird es für sie, all die verschiedenen Daten zu einem in sich widerspruchsfreien, kohärenten Gesamtmodell zusammenzufügen.
Das Dilemma des Reduktionismus Im Jahr 1990 brachte die Society for Neuroscience den USKongreß dazu, die neunziger Jahre zum Jahrzehnt des Gehirns zu erklären. Der Zweck dieser Proklamation bestand darin, sowohl die Errungenschaften der Neurowissenschaft ins allgemeine Bewußtsein zu heben als auch Forschungsanstrengungen zur Aufklärung der Ursachen von Psychosen wie Schi- 34
zophrenie und manisch-depressive Erkrankung (auch bipolare affektive Störung genannt) zu unterstützen. Ein Neurowissenschaftler, der diese Idee ablehnte, war der in Schweden geborene und aufgewachsene Torsten Wiesel, der 1981 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet wurde und später Präsident der Rockefeller-Universität in New York wurde. (Ende 1998 legte er dieses Amt nieder, um sich wieder der Forschung zu widmen.) Wiesel ist ein freundlicher, ruhiger Mann, doch als ich ihn 1997 interviewte,8 geriet er bei der Erwähnung des Ausdrucks »Dekade des Gehirns« in Rage. Die Idee sei »töricht«, murrte er. »Wir brauchen mindestens hundert, vielleicht tausend Jahre«, um das Gehirn zu verstehen. »Wir begreifen noch nicht einmal, wie C. elegans funktioniert«, fuhr er fort, womit ein winziger Wurm gemeint ist, der Molekular- und Zellbiologen als Versuchstier dient. Wissenschaftler hätten im Gehirn einige »einfache Mechanismen« entdeckt, doch sie wüßten im Grunde immer noch nicht, wie sich das Gehirn in der Embryonalphase und den anschließenden Lebensstadien entwickle, wie das Gehirn altere und wie das Gedächtnis funktioniere. »Wir stehen ganz am Anfang der Gehirnforschung.« (Dennoch begannen Verhaltenswissenschaftler - dazu gehören Psychologen, Genetiker, Anthropologen und andere - im Jahr 1998 damit, sich dafür stark zu machen, daß das Jahrzehnt, das im Jahr 2000 beginnt, zur »Dekade des Verhaltens« gekürt wird.)9 Wiesel selbst war an einer der mustergültigen Entdeckungen der Neurowissenschaft beteiligt. Wie viele andere wissenschaftliche Triumphe verdankte sich auch dieser einer Kombination von harter Arbeit und Findigkeit. Im Jahr 1958 führten Wiesel und ein anderer junger Neurowissenschaftler, David Hubel, in einem »kleinen, schäbigen, fensterlosen Kellerlabor« der Medizinischen Fakultät der John-Hopkins-Universität Experimente am visuellen Kortex einer Katze durch.10 Nachdem sie eine Elektrode in den visuellen Kortex der Katze implantiert - 35
hatten, projizierten sie mit einem Diaprojektor, der mit einem Ophthalmoskop verbunden war, Bilder auf die Netzhaut der Katze. Sie boten der Katze zwei einfache Reize dar: einen hellen Fleck auf dunklem Hintergrund und einen dunklen Fleck auf hellem Hintergrund. Wenn die Elektrode eine elektrische Entladung eines Neurons registrierte, gab ein Gerät, das einem Geigerzähler glich, ein Klickgeräusch von sich. Wiesel und Hubel erhielten unschlüssige Ergebnisse, bis eines ihrer Dias im Projektor hängenblieb. Nachdem sie das Dia gelöst hatten, schoben sie es langsam zurück in den Schlitz. Plötzlich begann der Elektrodendetektor »wie ein Maschinengewehr« zu feuern. Wiesel und Hubel erkannten schließlich, daß das Neuron auf die Bewegung der Kante des Dias durch das Gesichtsfeld der Katze reagierte. Bei nachfolgenden Experimenten wiesen sie Neuronen nach, die nur auf Linien ansprachen, die in bestimmter Weise bezüglich der Netzhaut ausgerichtet waren. Als die Forscher die Elektrode durch den visuellen Kortex bewegten, änderte sich die Ausrichtung der Linien, auf welche die Neuronen reagierten, kontinuierlich, wie eine winzige Hand, die einen Kreis um eine Uhr beschreibt. Im Jahr 1981 wurden Wiesel und Hubel für ihre Forschungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Solche Entdeckungen sind bezeichnend für einen allgemeinen Trend in der Neurowissenschaft. Die wohl bedeutendste Erkenntnis, die aus dieser Disziplin hervorging, ist die Tatsache, daß verschiedene Hirnregionen je spezifische Funktionen ausführen. Das ist zwar nicht gerade neu - Franz Gall behauptete dies schon vor zweihundert Jahren, als er die Phrenologie erfand (die zu einer pseudowissenschaftlichen Lehre verkam, mit der der Charakter eines Menschen aus der Form seines Schädels abgeleitet wurde). Doch moderne Wissenschaftler zerschneiden das Gehirn in immer dünnere Scheiben, und es ist kein Ende dieses Prozesses in Sicht. Noch in den fünfziger Jahren glaubten viele Wissenschaft- 36
ler, das Gedächtnis sei eine einheitliche - wenn auch sehr vielseitige - Funktion. Der Forscher Karl Lashley war ein prominenter Verfechter dieser Auffassung.11 Er behauptete, Erinnerungen würden nicht an einer bestimmten Stelle des Gehirns, sondern überall im Gehirn verarbeitet und gespeichert. Zum Beweis führte er Experimente an, bei denen Verletzungen im Gehirn von Ratten keine wesentliche Auswirkung auf ihre Fähigkeit hatten, sich den Weg durch ein Labyrinth zu merken. Was Lashley nicht erkannte, war die Tatsache, daß Ratten viele redundante Methoden besitzen, den Weg durch ein Labyrinth zu finden; wenn die Fähigkeit der Ratte, sich an visuelle Anhaltspunkte zu erinnern, beeinträchtigt ist, weicht sie auf olfaktorische oder taktile Stimuli aus. Anschließende Experimente sowohl mit Menschen als auch mit anderen Tieren erbrachten den Nachweis, daß es viele verschiedene Gedächtnistypen gibt, die jeweils mit spezifischen Hirnregionen assoziiert sind. Die zwei Hauptkategorien des Gedächtnisses sind das explizite oder deklarative Gedächtnis, in dem das bewußte Erinnern abläuft, und das implizite oder unbewußte Gedächtnis, das unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegt, sich aber dennoch auf das Verhalten und die mentale Aktivität auswirkt. Das Gedächtnis wurde noch in weitere Kategorien eingeteilt, von denen sich einige überschneiden. Das Kurzzeitgedächtnis, gelegentlich auch Arbeitsgedächtnis genannt, ermöglicht uns, einen flüchtigen Blick auf eine Telefonnummer zu werfen und sie uns gerade lange genug zu merken, um sie ein paar Sekunden später zu wählen. Das Langzeitgedächtnis speichert dieselbe Telefonnummer dauerhaft, so daß sie jederzeit abgerufen werden kann. Das prozedurale Gedächtnis läßt uns solche unwillkürlichen Fertigkeiten wie das Autofahren, das Blindschreiben oder das Tennisspielen erwerben und ausführen. Das episodische Gedächtnis ermöglicht uns die Erinnerung an bestimmte Ereignisse. - 37
Experimente haben zudem ein priming (»Bahnung«) genanntes Phänomen aufgedeckt, das einen ähnlichen Sachverhalt bezeichnet wie der ältere Begriff der unterschwelligen Beeinflussung. Versuchspersonen wird ein Reiz, etwa ein Ton oder ein Bild, so kurzzeitig dargeboten, daß sie ihn nicht bewußt wahrnehmen und sich später nicht daran erinnern können. Dennoch zeigen Tests, daß der Reiz sich auf irgendeiner Ebene dem Gehirn eingeprägt hat. Bei einer Serie von Experimenten werden den Versuchspersonen Listen mit Wörtern für so kurze Zeit dargeboten, daß sie diese nicht im Kurzzeitgedächtnis speichern können. Anschließend bittet man die Versuchspersonen ein Spiel, ähnlich dem Fernsehspiel Glücksrad, zu spielen. Sie bekommen eine bestimmte Buchstabenfolge, etwa »O-t-p-s«, und müssen raten, wie das vollständige Wort lautet. Versuchspersonen, denen zuvor eine Liste mit Wörtern dargeboten wurde, die Octopus enthält, haben dabei eine viel höhere Trefferquote, auch wenn sie sich nicht bewußt daran erinnern können, ob die Liste auch Octopus enthielt. Technologien wie die Positronenemissionstomographie (PET) und die Kernspinresonanztomographie (MRT) haben die Zergliederung von Gehirn und Geist weiter beschleunigt. Bei der PET wird die Strahlung gemessen, die von kurzlebigen radioaktiven Sauerstoffisotopen, die in die Blutbahn injiziert wurden, ausgeht. Hohe Konzentrationen des Isotops deuten auf eine erhöhte Durchblutung und damit eine verstärkte neuronale Aktivität hin. Die MRT kommt ohne Injektion einer radioaktiven Substanz aus. Ein starker elektromagnetischer Impuls bewirkt, daß sich bestimmte Atome in einer bestimmten Richtung anordnen, ähnlich wie Eisenspäne um einen Magneten. Wenn das magnetische Spannungsfeld abgeschaltet wird, senden die Atome Strahlung von charakteristischen Frequenzen aus. Studien mit bildgebenden Verfahren konzentrieren sich oftmals auf Versuchspersonen, die bestimmte Aufgaben ausfüh- 38
ren, wie etwa knifflige mathematische Probleme lösen, Bilder nach Kategorien ordnen oder Wörterlisten auswendig lernen. Man nimmt dabei an, daß jene Hirnregionen, die die stärkste Aktivität zeigen, für die jeweilige Aufgabe von entscheidender Bedeutung sind. Karl Friston, ein MRT-Spezialist am Institut für Neurologie in London, verglich diese Katalogisierung von neuralen hot spots, Stellen hoher neuronaler Aktivität, mit Darwins beharrlicher Sammlung von Daten über Tiere aus allen Regionen der Erde. »Ohne diesen Katalog der funktionalen Spezialisierung«, sagte er, »wird man meines Erachtens bei der Erarbeitung einer nützlichen und konsistenten Theorie der Organisation des Gehirns nicht weit kommen.«12 Allerdings war er der Ansicht, das Streben nach Lokalisierung sei zu weit getrieben worden. Zu viele Studien begnügten sich damit, einfach eine bestimmte Region mit einer bestimmten Funktion in Zusammenhang zu bringen, »ohne dies in ein theoretisches Rahmenmodell einzufügen und ohne ein angemessenes oder tieferes Verständnis der funktionalen Architektur des Gehirns«. Verschiedene Teile des Gehirns seien offensichtlich miteinander verbunden, und die Aufklärung dieser neuralen Verbindungen sei für das Verständnis des Gehirns von entscheidender Bedeutung. »Die Betrachtung der Korrelationen zwischen verschiedenen Regionen ist arg vernachlässigt worden.« Rodolfo Llinas, ein Neurowissenschaftler an der New York University, stand der Art und Weise, wie bildgebende Verfahren insbesondere in der Psychiatrie verwendet werden, noch kritischer gegenüber. »Da kommt jemand mit einem bestimmten Problem, und man sieht einen roten Fleck auf der Vorderseite des Kortex, und man sagt zu der Person: ›Diese Stelle auf dem Kortex ist der Sitz ihrer negativen Gedanken.‹ Es ist absolut unglaublich! Das Gehirn ist kein Organ, in dem eine Funktion an einer einzigen Stelle lokalisiert ist!«13 Llinas verglich diese Studien mit der Phrenologie, jener pseudowissenschaft- 39
lichen Lehre aus dem achtzehnten Jahrhundert, die das Gehirn in diskrete Bezirke einteilte, die angeblich spezifische Funktionen ausführten. »Man hat einen Patienten und schiebt ihn ins Meßgerät, dann schreibt man einen Aufsatz, weil man es auf den Aufnahmen klar sehen kann. Das ist reinste Phrenologie!« Llinas erinnerte daran, daß die Neurowissenschaft eine Phase durchlaufen habe, in der die Forscher Affen beziehungsweise Ratten Drogen injizierten und dann die Ergebnisse publizierten, egal ob diese aussagekräftig waren oder nicht. Mit den neuen bildgebenden Technologien seien wir fast wieder auf diese Stufe zurückgefallen, behauptete Llinas. »Wir neigen dazu, ein paar Fälle zu publizieren und zu sagen: ›So funktioniert das, schau dir nur das schöne Bild an.‹ [... Doch] dann geht man in die Einzelheiten, und es zeigt sich, daß es ein Trugbild war.« Je weiter die Neurowissenschaftler das Gehirn unterteilen, um so dringlicher wird die Antwort auf die Frage: Wie koordiniert und integriert das Gehirn die Aktivitäten seiner hochspezialisierten Regionen, so daß jene scheinbare Einheit der Wahrnehmung und des Denkens entsteht, die den Geist ausmacht? Der an Harvard lehrende Neurowissenschaftler David Hubel, dessen Experimente mit Torsten Wiesel mit zu der gegenwärtigen Krise in der Neurowissenschaft beitrugen, schrieb am Ende seines Buches Eye, Brain and Vision: Diese überraschende Feststellung, daß Attribute wie Form, Farbe und Bewegung weitgehend von getrennten Strukturen im Gehirn verarbeitet werden, wirft sogleich die Frage auf, wie all diese Informationen letztlich zusammengeführt werden, so daß wir beispielsweise einen hüpfenden roten Ball wahrnehmen. Sie müssen offenkundig irgendwo verknüpft werden, und sei es auch nur auf der Ebene der motorischen Nerven, welche die Handlung des Fangens steuern. Wir haben keine Ahnung, wo und wie sie zusammengeführt werden.14
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Diese ungelöste Frage wird gelegentlich auch Bindungsproblem genannt. Ich möchte eine andere Bezeichnung vorschlagen: das reduktionistische Dilemma. Es betrifft nicht nur die Neurowissenschaft, sondern auch die Evolutionspsychologie, die Kognitionswissenschaft, die Künstliche Intelligenz, ja sämtliche Disziplinen, die den Geist in eine Sammlung weitgehend unverbundener »Module«, »Intelligenzen« beziehungsweise »Rechenmaschinen« aufteilen. Wie ein frühreifer achtjähriger Junge, der an einem Radio herumbastelt, leisten die Hirnforscher Vorzügliches, wenn es darum geht, das Gehirn zu zerlegen, aber sie haben keinen blassen Schimmer, wie sie die Teile wieder zu einem Gesamtbild zusammenfügen können.
Patricia Goldman-Rakics Erklärungslücke Eine Neurowissenschaftlerin, die sich bemüht, das reduktionistische Dilemma zu überwinden, ist Patricia Goldman-Rakic, Professorin an der Medizinischen Fakultät der Yale-Universität.15 Goldman-Rakic, die einem der modernsten neurowissenschaftlichen Forschungslabors der Welt vorsteht, erforscht nicht das menschliche Gehirn, sondern das eines engen Verwandten des Menschen, des Makaken. Goldman-Rakic nennt sich selbst eine »systemorientierte Neurowissenschaftlerin«. Sie hofft, durch ihre Untersuchungen am frontalen Kortex, der als Sitz von Denken, Entscheidungsfindung und anderen höheren kognitiven Funktionen gilt, zu zeigen, wie Psychologie, Psychiatrie und andere Disziplinen, die den menschlichen Geist auf hohen Organisationsebenen erforschen, mit reduktionistischeren Modellen, die sich auf neurale, genetische und molekulare Prozesse konzentrieren, zusammengeführt werden können. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist das Arbeitsgedächtnis. Wie der Direktzugriffsspeicher eines Computers, der In- 41
formationen zur sofortigen Abrufung bereithält, erlaubt uns das Arbeitsgedächtnis, den Faden eines Gesprächs zu behalten, ein Buch zu lesen, ein Kartenspiel zu spielen oder einfache arithmetische Berechnungen im Kopf auszuführen. Viele Neurowissenschaftler glauben, daß uns ein besseres Verständnis des Arbeitsgedächtnisses dabei helfen wird, ungelöste Fragen wie die der Bindung, der Willensfreiheit, des Bewußtseins und der Schizophrenie aufzuklären. Kein Neurowissenschaftler könnte die Erklärungslücke besser schließen als GoldmanRakic, und dennoch habe ich diese Lücke nie lebhafter - ja geradezu körperlich - empfunden als bei meinem Besuch in ihrem Labor. Der Radikalismus der Tierschutzbewegung hat dazu geführt, daß Labors wie das von Goldman-Rakic in regelrechte Festungen verwandelt wurden. Besucher müssen sich an der Eingangspforte der Medizinischen Fakultät der Yale-Universität bei einem bewaffneten Sicherheitsbeamten anmelden; sie werden durch zwei Stahltüren geleitet, die jeweils mit einem kleinen Fenster versehen sind und die nur mit einem Magnetschlüssel geöffnet werden können. Dahinter erstreckt sich eine lange Flucht von Räumen, die Affen, Mikroskope, chirurgische Instrumente und all die neuesten Geräte der biotechnologischen Revolution beherbergen. In einem Zimmer schnitt eine junge Frau mit einem Apparat, der einer Wurstschneidemaschine im Kleinformat glich, das gefrorene walnußgroße Gehirn eines Affen in durchsichtige dünne Scheiben. In einem benachbarten Arbeitszimmer untersuchte ein junger Mann Querschnitte unter einem Mikroskop und zeichnete auf Papier die unglaublich verschlungenen Verbindungen zwischen den Neuronen nach. Anschließend speiste er diese Zeichnungen in einen Computer ein, um dreidimensionale Karten der neuronalen Verschaltungen mit hoher Auflösung zu erhalten. Goldman-Rakic und ihre Kollegen haben eine Technik vervollkommnet, die dieselben Informationen wie eine PET-Auf- 42
nahme liefert, allerdings mit sehr viel höherer Auflösung. Nachdem den Affen radioaktive Chemikalien injiziert wurden, die die Verstoffwechslung von Glukose beschleunigen, führen sie bestimmte Aufgaben aus. Unmittelbar danach werden die Affen getötet und ihre Gehirne eingefroren. Durch Messung der Stärke der Radioaktivität in verschiedenen Regionen des Gehirns können die Forscher ermitteln, welche Regionen am stärksten an der Ausführung der Aufgabe beteiligt waren. In einem anderen Raum befindet sich ein Apparat zur Untersuchung des Arbeitsgedächtnisses von Affen. Der Affe sitzt auf einem Stuhl in einem kastenförmigen Stahlgestell gegenüber einem Bildschirm, auf den die Forscher Signale und Bilder projizieren. Sein Kopf ist mit Schrauben fixiert, die in seinen Schädel geschraubt und an dem Gestell befestigt sind. Über einen Sensor, der in das Auge des Affen implantiert ist und dessen Draht durch einen Stöpsel im Schädel des Affen zu einem Aufzeichungsgerät geleitet wird -, können die Forscher die Augenbewegungen verfolgen. In den frontalen Kortex des Affen eingepflanzte Elektroden registrieren die Entladungen einzelner Neurone. Die Herrscherin über dieses recht abstoßende Reich ist eine zierliche Frau mit eleganter Frisur, die am Tag meines Besuchs einen weißen Kaschmirpullover und goldene Ohrringe trug. Als wir uns hinsetzten, um über ihre Arbeit zu sprechen, war Goldman-Rakic die meiste Zeit zurückhaltend und reserviert, nur hin und wieder neigte sie sich in meine Richtung und umfaßte meinen Unterarm, um einem Argument Nachdruck zu verleihen. Sie sagte, ihre Forschungen intendierten, höhere Kortexfunktionen wie Gedächtnis, Wahrnehmung und Entscheidungsfindung zu verstehen. Für diejenigen, die höhere Kortexfunktionen erforschen wollten, sei der Makak ein »unübertroffenes« Modell. Affen seien zu kognitiven Leistungen fähig, die weitgehend mit denen des Menschen übereinstimm- 43
ten, auch wenn sie offensichtlich nicht so komplex seien. Wenn man Affen Amphetamine spritze, zeigten sie sogar Verhaltensweisen, die denen schizophrener Menschen glichen. »Wir arbeiten an der vordersten Front«, sagte Goldman-Rakic, »und machen Entdeckungen, die von großer Bedeutung für das Verständnis des Menschen sind.« Experimente an Affen haben dazu beigetragen, die Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses zu erhellen, das GoldmanRakic als einen »mentalen Skizzenblock« oder »Leim« beschrieb, der mit für die Kontinuität des Denkens verantwortlich sei. Die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses korreliert in hohem Grade mit der allgemeinen Intelligenz und der Lesefähigkeit. Menschen mit einem schwachen Arbeitsgedächtnis fällt es schwerer, komplexe Sätze zu verstehen, in denen Subjekt und Verb durch eingeschobene Satzglieder getrennt sind. Auch Schizophrenie wird möglicherweise durch ein Defizit im Arbeitsgedächtnis verursacht. Ein Leitsymptom der Schizophrenie sei die »kognitive Entgleisung«, erklärte GoldmanRakic. Schizophrene verlieren ständig den Faden ihrer Gedanken; aus diesem Grund reagieren sie überempfindlich auf äußere Wahrnehmungen und werden leicht von diesen überwältigt. Ihre Forschungen könnten Erkenntnisse über normale und gestörte kognitive Prozesse beim Menschen liefern und so den Weg zu besseren pharmakologischen und Verhaltenstherapien weisen. Sie und ihre Mitarbeiter untersuchten, aufweiche Weise Dopamin, Serotonin und andere Neurotransmitter die Funktionsweise des Kortex hemmten oder förderten. »Bei vielen Erkrankungen spielt Dopamin eine Rolle: bei der Schizophrenie, der Parkinson-Krankheit und vermutlich auch bei kindlichen Störungen wie dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.« Medikamente wie Fluctin legten die Vermutung nahe, daß sich Serotonin nachhaltig auf die Stimmung auswirke. Fluctin »führt zu einer deutlichen Stimmungsaufhellung bei - 44
Depressiven. Die Frage ist, weshalb?« Ihre Arbeitsgruppe war der Antwort gerade einen Schritt näher gekommen, indem sie den Nachweis erbrachte, daß bestimmte Kortexzellen je nach Serotoninkonzentration unterschiedlich auf eintreffende Signale reagieren. Könnte ihre Forschung zu Medikamenten führen, die Gedächtnisleistung und Intelligenz steigern? »Absolut! Ohne Frage!« versetzte sie mit Nachdruck. »Es gibt bereits Medikamente, die dies tun, aber ihre Wirksamkeit läßt zu wünschen übrig, oder sie haben Nebenwirkungen.« Sie betonte, daß ihre Gruppe die Entwicklung solcher Medikamente nicht als Selbstzweck betrachte. »Der Zweck meiner Forschungen besteht keineswegs darin, die Pharmaindustrie zu unterstützen. Vielmehr möchte ich herausfinden, wie das Gehirn funktioniert und insbesondere wie jene Teile des Gehirns beziehungsweise jene Systeme funktionieren, die an der Kognition beteiligt sind.« Die Kognition umfasse viel mehr als die unwillkürliche Reaktion auf einen Reiz, wie etwa ein Fahrer, der anhält, wenn die Ampel rot ist, und der anfährt, wenn sie auf Grün umschaltet. »Menschen verfügen über ein breites Repertoire an habituellen Reaktionen, unwillkürlichen Reaktionen und reflektorischen Reaktionen. Doch das ist nicht das, was sie als Menschen auszeichnet. Das spezifisch Menschliche ist vielmehr die Flexibilität ihrer Reaktionen, ihre Fähigkeit, nicht zu reagieren, ihre Fähigkeit zu reflektieren und ihre Fähigkeit, sich auf ihre Erfahrung zu beziehen, eine bestimmte Reaktion in einem bestimmten Augenblick zu steuern.« Sprach sie etwa von der Willensfreiheit? »Ich könnte diesen Begriff benutzen«, antwortete Goldman-Rakic, wobei sie leiser wurde und in einem Flüsterton konspirativer Vertraulichkeit sprach, »wenn ich wirklich enthemmt wäre.« Sie holte eine Veröffentlichung, die eines ihrer Experimente beschrieb, und schlug sie auf dem Tisch vor uns auf. In dem - 45
Experiment wurde einem Affen beigebracht, seine Augen starr auf den Mittelpunkt einer Leinwand zu richten, während die Forscher für kurze Zeit einen Lichtstrahl auf einen der Ränder oder eine der Ecken der Leinwand projizierten. Der Affe hatte gelernt, ein paar Sekunden, nachdem das Licht erloschen war, zu warten, bevor er direkt an die Stelle schaute, wo das Licht gewesen war. Während dieser wenigen Sekunden mußte der Affe die Position des Lichts in seinem Arbeitsgedächtnis speichern. Goldman-Rakic deutete auf eines der Schaubilder in dem Artikel, das die Aktivität von Neuronen darstellte, die sich zu entladen begannen, sobald der Lichtreiz erschien, und sich nach dessen Verschwinden weiterhin entluden. Sie wies darauf hin, daß sich Torsten Wiesel und David Rubel und die meisten anderen Neurowissenschaftler auf Neuronen konzentrierten, die direkt auf äußere Reize ansprechen. »Dies«, sagte Goldman-Rakic, mit einem Finger auf das Diagramm tippend, »ist etwas ganz anderes.« Die Neuronen entluden sich in Abwesenheit eines äußeren Reizes; diese neuronale Aktivität korreliere nicht mit einem realen Bild, sondern mit der Erinnerung beziehungsweise inneren Repräsentation eines Bildes. »Dies«, fuhr sie in theatralischem Tonfall fort, »ist das zelluläre Korrelat des Mechanismus für die Speicherung von Online-Information.« Sie ließ ihre Worte einen Augenblick lang wirken und fügte dann hinzu: »Sie sehen hier also die neurophysiologischen Grundlagen der Kognition.« Es gab einen langen Moment des Schweigens, in dem wir beide auf das Schaubild starrten. Goldman-Rakic begann zu lachen: »Sie blicken so finster!« sagte sie. Ich gestand, daß es mir schwerfiel, die Bedeutung ihrer Forschungen zu verstehen. Von all den Themen, über die ich als Journalist berichtet hätte, sagte ich, sei die Neurowissenschaft das schwierigste, noch schwieriger als die Elementarteilchenphysik. Goldman-Rakic gluckste und rief einer jungen Frau, die durchs Zimmer ging, - 46
zu: »Er sagt, die Neurowissenschaft sei schwieriger als die Elementarteilchenphysik!« Sich wieder zu mir umdrehend, sagte sie: »Ich versuche, es Ihnen begreiflich zu machen!« Ich sagte, mir falle es schwer, den Übergang von diesen Diagrammen, die die Entladungsraten von Neuronen zeigten, zu allgemeinen Begriffen wie Gedächtnis und Kognition und Willensfreiheit nachzuvollziehen. Ich könne den Reduktionismus in der Teilchenphysik verstehen, doch beim menschlichen Geist habe ich das Gefühl, daß etwas fehle. »Ich könnte Sie umbringen«, sagte sie. »Ich gebe mir alle Mühe, Ihnen dies zu erklären, und Sie sagen, es sei zu schwierig.« Ich sei doch gewiß nicht die einzige Person, die in dieser Weise auf ihre Erklärungen reagiert hätte, erwiderte ich; die Philosophen hätten sogar einen Begriff für diese Reaktion, die Erklärungslücke. »Ich glaube, daß es in Ihrem Kopf eine Erklärungslücke gibt«, sagte Goldman-Rakic bestimmt. »Die exakte Abfolge der Veränderungen in den Zellen und im Gehirn und so weiter ist gewiß noch nicht aufgeklärt. Und das, was uns zu unverwechselbaren Individuen macht, werde ich Ihnen heute nicht erklären können, und vielleicht werden wir es nie wissen.« Die Wissenschaftler könnten auch den Ursprung des Universums nicht verstehen. Dennoch, so versicherte sie mir, »sind wir auf dem Weg, die Kognition beim Menschen zu verstehen.« Andere haben ebenfalls eine Erklärungslücke in den neurowissenschaftlichen Forschungen von Goldman-Rakic und Mitarbeitern entdeckt. Kurz bevor ich 1997 die Redaktion des Scientific American verließ, redigierte ich einen Aufsatz über das Arbeitsgedächtnis »The Machinery of Thought«, in dem Goldman-Rakic groß herausgestellt wurde.0 Der Aufsatz stammte von einem anderen Redakteur des Scientific American, Timothy Beardsley, einem erfahrenen Wissenschaftsjournalisten mit einem Doktortitel in Ethologie von der Universität Oxford. Im Verlauf der redaktionellen Bearbeitung gestand Beardsley, daß ihm noch nie Forschungsarbeiten un- 47
tergekommen seien, die so schwer verständlich seien und sich so mühsam in einer befriedigenden, kohärenten Form darstellen ließen. Er hatte das Gefühl, daß etwas fehlte. Mehrere Monate nach der Veröffentlichung von Beardsleys Artikel druckte der Scientific American einen Leserbrief ab, der das Problem betraf, das auch Beardsley und mich beschäftigt hatte. Der Autor des Briefes beklagte sich darüber, daß die in Beardsleys Artikel beschriebenen Forschungen »uns lediglich Auskunft darüber geben, wo im Gehirn etwas geschieht, nicht darüber, was die eigentlichen Mechanismen des Erkennens, Erinnerns und so weiter sind. Und das ist natürlich das, was uns eigentlich interessiert.«
Emotionen erkunden Selbst wenn die Neurowissenschaftler die Mechanismen aufklären, die dem Arbeitsgedächtnis und anderen kognitiven Funktionen zugrunde liegen, müssen sie sich noch einem anderen Problem stellen: Wie fügen sich die Gefühle ins Gesamtbild ein? Bis in die jüngste Vergangenheit versuchten viele Neurowissenschaftler, bei ihren Experimenten Emotionen auszuweichen, und sie behandelten sie als einen ärgerlichen Störfaktor, der Ergebnisse verfälscht, und nicht als einen grundlegenden Teil der menschlichen Natur. Neurowissenschaftler sind dem Beispiel der Kognitionswissenschaftler gefolgt, die sich bemühten, jene informationsverarbeitenden Funktionen, die sich am leichtesten auf Computern nachbilden lassen, wie Sehen, Erinnern, Spracherkennung und logisches Denken, zu verstehen. Durch das Ausblenden des Gefühls hätten Neuro- und Kognitionswissenschaftler ein eindimensionales Bild des Geistes gezeichnet, meinte Joseph LeDoux, ein Neurowissenschaftler von der Universität New York. Die Kognitionswissenschaft sei - 48
»in Wahrheit jedoch nur eine Wissenschaft von einem Teil des Geistes, jenem Teil, der mit Denken, Logik und Verstand zu tun hat«, bemängelte er in seinem 1998 erschienenen Buch Das Netz der Gefühle. »Die Emotionen übergeht sie. Ein Geist ohne Emotionen ist aber überhaupt kein Geist. Es handelt sich um Seelen auf Eis - kalte, leblose Geschöpfe, die weder Begierden noch Ängste, weder Kummer noch Leid, noch Freuden kennen.«17 LeDoux selbst, ein kühler, kontrollierter Mann mit tiefliegenden Augen und sorgfältig gestutztem Bart, hat bewiesen, daß zumindest eine Emotion empirisch untersucht werden kann.18 Anders als das Sprachverständnis oder andere kognitive Funktionen, die nur dem Menschen eigen seien, so LeDoux, sei Furcht ein biologisches Phänomen, dessen Wurzeln weit in die Geschichte des Lebens zurückreichten. Die neuronalen Verschaltungen und Prozesse, die der Furcht zugrunde lägen, seien während der Evolution größtenteils erhalten geblieben; daher könnten uns Experimente an Ratten und anderen Säugetieren wichtige Aufschlüsse über den Menschen geben. Die Amygdala (Mandelkern), die bei Furchtreaktionen eine zentrale Rolle spiele, finde sich nicht nur beim Menschen und bei Primaten, sondern auch bei Ratten. »Das Furchtsystem ist äußerst einfach«, sagte LeDoux. »Ein Reiz wird über die normalen Inputbahnen zur Amygdala geleitet und von dort über die Outputbahnen abgeleitet.« Frühere Studien über Furchtreaktionen hätten widersprüchliche Ergebnisse gebracht, weil die Experimente zu komplex gewesen seien. »Bei jeder Änderung am Experiment verändert man die Art und Weise, wie das Gehirn die Aufgabe ausführt. Bei der Aufklärung der Funktionsweise des Furchtsystems kommt es also darauf an, dieses durch ein einfacheres Modell abzubilden.« LeDoux hat Experimente durchgeführt, bei denen Ratten darauf konditioniert wurden, einen bestimmten akustischen Reiz, etwa einen musikalischen Ton, mit einer unlustvollen - 49
Empfindung, wie etwa einem Elektroschock, zu assoziieren.19 Die anfängliche Reaktion von Ratten und vielen anderen Säugetieren auf einen solchen Reiz ist regloses Verharren, das für ein Tier, das von einem Freßfeind bedroht wird, eine angemessene Schutzreaktion darstellt. Dieses reglose Verharren ist eine angeborene reflektorische Funktion. LeDoux und seine Mitarbeiter zeigten nun, daß Schädigungen einer winzigen Struktur innerhalb der Amygdala, des sogenannten Nucleus lateralis corporis amygdaloidei, bei Ratten dazu führen, daß sie nicht lernen, in Reaktion auf den Ton, der einen Elektroschock ankündigt, reglos zu verharren. Die kognitive Fähigkeit der Ratten war in anderer Hinsicht nicht beeinträchtigt. LeDoux versuchte das neuronale Schaltmuster zu enträtseln, das für komplexeres, furchtinduziertes Verhalten, das auch instrumentelles Lernen genannt wird, erforderlich ist. Wenn eine Ratte beispielsweise lernt, daß regloses Verharren sie nicht davor schützt, einen Elektroschock zu bekommen, probiert sie es mit Vermeidung, indem sie sich in einen anderen Teil des Käfigs begibt oder an den Seiten hochklettert. An diesem Punkt vollziehe die Ratte den Übergang von einem emotionalen Reakteur zu einem Akteur, so LeDoux, der Entscheidungen treffe und verschiedene Strategien ausprobiere. Früher glaubten die Psychologen, die subjektive Empfindung von Furcht sei die erste Komponente der Furchtreaktion; erhöhter Herzschlag, Schweißabsonderung und andere physiologische Symptome würden durch die subjektive Empfindung ausgelöst. LeDoux behauptete, daß das Gegenteil der Fall sei; zunächst träten physiologische Symptome auf, die anschließend die subjektive Empfindung der Furcht auslösten. Unsere bewußten, subjektiven Gefühle seien »für die wissenschaftliche Erforschung der Emotionen falsche Spuren, die ins Abseits führen«.20 LeDoux meinte, in jüngster Zeit sei dem Bewußtsein zuviel Aufmerksamkeit gewidmet worden. »Wer das Phänomen - 50
Bewußtsein erklären könnte, erhielte dafür zweifellos den Nobelpreis«, sagte er mir, »aber ich glaube nicht, daß es uns Aufschluß über das gäbe, was wir über den Geist wissen müssen.« Obgleich Bewußtsein häufig mit Geist gleichgesetzt werde, liefen die meisten mentalen Prozesse unterhalb der Bewußtseinsschwelle ab. Bewußtsein sei zudem eine relativ junge Erfindung der Evolution. »Die meisten Prozesse im Gehirn laufen unbewußt ab. Irgendwann im Verlauf der Evolution bildete sich das Bewußtsein als ein Modul heraus. Es steht mit einigen anderen, nicht aber mit allen übrigen Teilen des Gehirns in Verbindung.« Die Erklärung des Bewußtseins sei nicht so wichtig wie die Beantwortung der Frage, wie das Gehirn auf der Grundlage von Genen und Erfahrungen in jedem Individuum ein Selbst, eine personale Identität erzeuge. »Das ist für mich die große Frage: Wie macht unser Gehirn uns zu der Person, die wir sind? Die Erklärung des Bewußtseins würde dies nicht erklären.« Der Schlüssel zu diesem Problem sei die Beantwortung der Frage, wie sich Anlage und Umwelt auf die neuronale »Verdrahtung« des Gehirns auswirkten. »Was oft übersehen wird, ist, daß Anlage und Umwelt dieselbe Sprache sprechen, die Sprache der Synapsen«, sagte LeDoux. Letztlich manifestierten sich sämtliche Einflüsse auf die Persönlichkeit, egal ob sie von den Genen oder der Erfahrung ausgehen, auf der Ebene der Verbindungen zwischen Neuronen. LeDoux bezweifelte, daß eine Theorie allein die Emotionen erklären könne, denn diese hätten viele Aspekte. »Es gibt eine evolutionäre Komponente, eine kognitive Komponente und eine verhaltensbezogene Komponente. Es ist nur die Frage, in welchem Verhältnis die einzelnen Komponenten in einer konkreten Situation zueinander stehen.« Kognitive Theorien konzentrierten sich meist auf bewußte emotionale Prozesse; evolutionäre Theorien betonten angeborene emotionale Reaktionen; Verhaltenstheorien unterstrichen die Rolle der um- 51
weltbedingten Konditionierung. »In jeder konkreten emotionalen Episode geht es nicht darum, welche Theorie richtig ist, sondern welche welchen Teil der Episode erklärt.« Zudem erfordere jedes Gefühl vermutlich eine eigene Erklärung; die Mechanismen, die der Furcht zugrunde liegen, unterschieden sich vermutlich stark von denjenigen, die Lust oder Haß zugrunde liegen. LeDoux faßte die Forschungen über Emotionen, insbesondere über Furcht, die er und andere durchgeführt haben, in seinem Buch Das Netz der Gefühle zusammen. Er wies vorsichtig darauf hin, daß die neurobiologische Erforschung der Furcht irgendwann einmal wirkungsvollere Behandlungsmethoden für menschliche Angstneurosen hervorbringen könne. Er erzählte, er habe erwartet, daß Psychiater seine Rattenexperimente als irrelevant für ihre Arbeit abtäten. Doch zu seiner Überraschung hätten Psychiater sein Buch begeistert aufgenommen - fast zu begeistert. »Es stieß fast auf einhellige Zustimmung«, erklärte er. »›Ja, bestens! Das ist die Antwort!‹ Sie scheinen so verzweifelt zu sein. Ich glaube nicht, daß ich in meinem Buch Antworten präsentierte. Ich habe lediglich einige Ideen vorgestellt.« Wie Gerald Fischbach, Torsten Wiesel und andere führende Neurowissenschaftler räumt LeDoux bereitwillig die Unzulänglichkeiten seines Fachgebiets ein. »Wir haben keine Ahnung davon, wie uns unser Gehirn zu der Person macht, die wir sind. Es gibt bislang noch keine Neurowissenschaft der Persönlichkeit. Wir haben wenige Erkenntnisse darüber, wie das Gehirn Kunstwerke und geschichtliche Ereignisse erlebt. Die geistige Zerrüttung bei der Psychose ist noch immer ein Rätsel. Kurz, wir müssen erst noch eine Theorie erarbeiten, die all dies integriert. Wir haben noch keinen Darwin, Einstein oder Newton gehabt.«21 LeDoux deutete an, daß die Neurowissenschaft vielleicht gar keine vereinheitlichte Theorie brauche: - 52
Vielleicht sind viele kleine Theorien genau das, was wir am meisten brauchen. Es wäre sehr viel wert, zu wissen, was genau bei Angst beziehungsweise Depression geschieht, selbst wenn wir keine Theorie der Psychose besitzen. Und wäre es nicht wunderbar, zu wissen, wie wir ein wunderschönes Musikstück (sei es Rock oder Bach) erleben, auch wenn wir noch keine Theorie der Wahrnehmung hätten. Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir, ohne über eine allgemeine Theorie der Emotion zu verfügen, Furcht und Liebe verstünden. Die Neurowissenschaft kann zur Lösung dieser Fragen beitragen, auch wenn sie keine Theorie von Geist und Gehirn formulieren kann.
Gagesche Neurowissenschaft Der Neurowissenschaft wird es möglicherweise schwerfallen, auch nur die »kleinen Theorien«, von denen LeDoux sprach, hervorzubringen. Ein grundlegendes Hindernis für den Fortschritt in der Neurowissenschaft - wie in jeder anderen Disziplin, die sich mit der Erforschung des menschlichen Geistes befaßt - ist die enorme Variabilität von Gehirn und Geist. Dieses Problem zeigt sich schon seit geraumer Zeit in Studien an hirngeschädigten Patienten, die uns Hinweise auf die Verbindung zwischen Gehirn und Geist liefern. Lassen Sie uns diese Forschungen zu Ehren ihres berühmtesten Probanden, Phineas Gage, Gagesche Neurowissenschaft nennen. Der fünfundzwanzigjährige Gage beaufsichtigte im Jahr 1848 den Bau einer Eisenbahnlinie in Vermont, als bei einer Explosion eine knapp ein Meter lange Eisenstange seine Wange durchbohrte und an der Oberseite seines Schädels wieder heraustrat. Gage überlebte diesen Unfall nicht nur, er blieb auch bei klarem Verstand. Etwa eine Stunde später wurde er von dem Arzt Edward Williams untersucht. Williams erinnerte sich, daß Gage während dieser Untersuchung »sich so vernünftig äußerte und so bereitwillig antwortete, daß ich meine Fragen an ihn richtete - 53
statt an die Männer, die dem Unfall beigewohnt hatten und noch zugegen waren«.22 Ein Jahr später erklärte ein anderer Arzt Gage für »völlig genesen«.23 Auf Gages Verletzung wurden erhabene theoretische Lehrgebäude errichtet. Mehrere Jahrzehnte lang galt dieser Fall als eine Widerlegung der Hypothese des Phrenologen Franz Gall und anderer, wonach das Gehirn in Teilsysteme untergliedert sei, die auf verschiedene Auf gaben spezialisiert seien, wie etwa Sprache, Bewegung und Sehen. Anfängliche Untersuchungen von Gage deuteten darauf hin - zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte -, daß sein Gehirn in Regionen beschädigt worden war, die angeblich für Sprache und motorische Steuerung zuständig waren, und doch blieben diese Funktionen unversehrt. Das legte den Schluß nahe, daß das Gehirn nicht modular (um den modernen Ausdruck zu verwenden) aufgebaut, sondern eine undifferenzierte Masse ist, die ganzheitlich funktioniert. Zwanzig Jahre nach dem Unfall legte der Arzt John Harlow eine andere Deutung des Falles Gage vor. Harlow, der Gage im Lauf der Jahre viele Male untersucht hatte, deckte auf, daß sich Gages Persönlichkeit, wenn auch nicht seine funktionellen Fähigkeiten, nach dem Unfall tiefgreifend verändert hatte. Gage, der zuvor ein gewissenhafter, besonnener und verantwortungsbewußter Mensch gewesen war, sei jetzt »launisch, respektlos, flucht manchmal auf abscheulichste Weise, was früher nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte, erweist seinen Mitmenschen wenig Achtung, reagiert ungeduldig auf Einschränkungen und Ratschläge, wenn sie seinen Wünschen zuwiderlaufen. [...] Die Wandlung, die er erfuhr, war so tiefgreifend, daß ihn Freunde und Bekannte kaum wiedererkannten.«24 Allmählich wurde der Fall Gage als eine Bestätigung und nicht mehr als Widerlegung der Modularitäts-Hypothese angesehen. Die Teile von Gages Gehirn, die am stärksten beschädigt worden waren, waren die Stirnlappen, die heute all- 54
gemein als Sitz hoher kognitiver Funktionen wie sittliche Urteilskraft und Entscheidungsfindung angesehen werden. Die Gagesche Neurowissenschaft hat die Auffassung vom Gehirn als einer Zusammenstellung von Modulen, die mit außerordentlich spezifischen Funktionen und Merkmalen verknüpft sind, untermauert. Sprachstörungen, die durch Hirnschäden verursacht werden, faßt man unter dem Oberbegriff der Aphasie zusammen. Manche Aphasiker verlieren die Fähigkeit, sich an die Namen von Menschen und Tieren oder auch Gegenständen zu erinnern. Andere sind nicht mehr in der Lage, Verbindungen zu entschlüsseln. Einige Aphasiker können zwar ein Gespräch führen, aber nicht mehr lesen und schreiben oder umgekehrt. Hirnschäden können nicht nur zu Beeinträchtigungen, sondern auch zu drastischen Steigerungen der psychischen Fähigkeiten einer Person führen. Ärzte haben über mehr als dreißig Fälle einer Erkrankung berichtet, die als »Feinschmeckersyndrom« bezeichnet wird und bei Schädigungen im rechten Stirnlappen dazu führt, daß man zwanghaft an erlesene Speisen denkt. Ein ursprünglich als politischer Journalist arbeitender Schweizer hat das Beste aus seiner Erkrankung gemacht; nachdem er von einem Hirnschlag genesen war, begann er, eine kulinarische Kolumne zu schreib e n. 2 5 Eine wichtige Datenquelle für Gagesche Neurowissenschaftler sind Patienten mit einer so schweren Epilepsie, daß die einzige Behandlungsmöglichkeit in der Durchtrennung des Balkens (Corpus callosum) besteht, jenes Nervenfaserbündels, das die beiden Großhirnhälften miteinander verbindet. (Die Operation verhindert die unkontrollierten neuronalen Entladungen, die durch Ausbreitung über das gesamte Gehirn zu epileptischen Anfällen führen.) Durch Untersuchungen an solchen Patienten haben der Nobelpreisträger Roger Sperry und andere in den sechziger Jahren und später herausgefunden, daß jede Großhirnhälfte unterschiedliche Funktionen - 55
wahrnimmt. Die linke Hemisphäre steuert weitgehend das Sprachverständnis und die Sprachproduktion, während die rechte Hemisphäre bei Aufgaben dominiert, bei denen das Sehvermögen und motorische Fertigkeiten eine Rolle spielen. Das florierende Feld der Split-brain-Forschung brachte schon bald die mittlerweile zum Gemeinplatz gewordene Klischeevorstellung hervor: unsere linke Großhirnhälfte verkörpere unser »rationales« Selbst und unsere rechte Großhirnhälfte unser spontanes, »kreatives« Selbst. Eine große Zahl von Selbsthilfebüchern - wie etwa Drawing on the Right Side of the Brain und Right Brain Sex - bot Ratschläge an, wie man den Beschränkungen unserer pedantischen linken Hemisphäre entkommen und zu einem frei denkenden Rechtshemisphäriker werden könne.26 Zeitungen veröffentlichten Werbeanzeigen für Tonbänder mit unterschwelligen Botschaften, die angeblich die geistigen Fähigkeiten erweitern, indem sie gleichzeitig unterschiedliche motivierende Nachrichten an jede Hemisphäre übermitteln. Pädagogen schickten sich an, die Lehrpläne zu modernisieren, um die »rechte Hälfte« des Gehirns ihrer Studenten anzusprechen. Historiker deuteten die Geschichte neu durch die Linse der Split-brain-Forschung; einem Historiker zufolge sei Stalin ein »linkshemisphärischer Führer« gewesen, während Hitler ein »rechtshemisphärisches Naturell« besessen habe. Selbst jene, die es besser hätten wissen müssen, wie etwa Michael Gazzaniga von der Dartmouth-Universität, ein Wegbereiter der Gageschen Neurowissenschaft, kurbelten die allgemeine Euphorie noch an. In seinem 1985 erschienenen Buch The Social Brain formulierte Gazzaniga eine Kritik am Wohlfahrtsstaat, die auf seiner Interpretation der Split-brain-Experimente basierte.27 Über zehn Jahre später zog Gazzaniga sogar einige seiner vorsichtigsten Aussagen über die rechte und linke Großhirnhälfte in Zweifel. In einem Aufsatz, der 1998 im Scientific American erschien, betonte Gazzaniga die - 56
Gefahren, die damit verbunden seien, auf der Grundlage von relativ wenigen Fällen allgemeingültige Aussagen über das Gehirn zu machen.28 Menschen mit denselben Formen von Hirnschädigungen könnten völlig verschiedene Symptome zeigen. Zudem erschwere es die Plastizität des Gehirns sogar, zuverlässige Aussagen über die Folgen von Hirnschädigungen für dieselbe Person zu machen; schließlich veränderten sich Individuen mit der Zeit. Schwere Läsionen in der linken Hemisphäre führen im allgemeinen zu einer dauerhaften Beeinträchtigung des Sprachvermögens - nicht aber bei einem Patienten, der mit den Initialen J. W. benannt wurde. Obgleich J. W. nach einem chirurgischen Eingriff in der linken Hemisphäre stumm war, erlangte er mit Hilfe seiner rechten Hemisphäre dreizehn Jahre nach der Operation das Sprachvermögen zurück. Ein britischer Junge namens Alex stellt einen noch bemerkenswerteren Fall dar.29 Er kam mit einer so starken Mißbildung der linken Hemisphäre zur Welt, daß er unter ständigen epileptischen Anfällen litt. Außerdem war er völlig stumm. Als Alex acht Jahre alt war, entfernten Chirurgen seine linke Großhirnhälfte, um seine Epilepsie zu lindern. Obschon die Ärzte seine Eltern warnten, keine Besserung seiner sonstigen Symptome zu erwarten, begann Alex zehn Monate später zu sprechen, und im Alter von sechzehn Jahren sprach er flüssig. Die Gagesche Neurowissenschaft verdeutlicht ein Haupthindernis für das Verständnis des menschlichen Gehirns. Ein vermeintlicher Grundpfeiler der Naturwissenschaft ist ihre Fähigkeit, Experimente und damit Befunde zu reproduzieren. Doch das Kriterium der Reproduzierbarkeit stellt für die Wissenschaft vom menschlichen Geist eine extreme Herausforderung dar, weil sich alle Gehirne und alle psychischen Erkrankungen in relevanten Aspekten voneinander unterscheiden. Dies läßt sich nach Ansicht von Jack Pressman, einem Medizinhistoriker an der Universität von Kalifornien in San Fran- 57
cisco, eindeutig der Geschichte der Lobotomie entnehmen. In seinem 1998 erschienenen Buch Last Resort: Psychosurgery and the Limits of Medicine wies er darauf hin, wie schwierig es sei, zuverlässige Aussagen über den Nutzen der Lobotomie zu machen – eines Verfahrens zur Behandlung schwerer Psychosen, bei dem die präfrontalen Faserverbindungen durchtrennt werden. Einige Patienten schienen von dem Eingriff zu profitieren, anderen ging es schlechter als vorher. Einige Patienten verfielen in einen Zustand ungehemmter motorischer Erregung, wie Phineas Gage, andere in einen geradezu katatonen Stupor. Pressmans Fazit lautete: »Da jeder Mensch aus einer einmaligen Kombination von physiologischen Gegebenheiten, sozialer Identität und persönlichen Werten besteht, stellt jeder Patient praktisch ein einzigartiges Experiment dar. «30 Im September 1998 versammelten sich Wissenschaftler aus der ganzen Welt in Cavendish, Vermont, um des hundertfünfzigsten Jahrestages des Unfalls von Phineas Gage zu gedenken. In einem Bericht über die Konferenz in Science wurde hervorgehoben, daß die Forscher die Fragen, die erstmals durch Gages Fall aufgeworfen worden waren, noch immer nicht beantwortet hätten; die Wissenschaftler »streiten sich weiterhin über die Frage, ob der frontale Kortex als Einheit funktioniert oder seine Aufgaben aufteilt«. Ein Konferenzteilnehmer erklärte tapfer, daß »die Wahrheit vermutlich irgendwo dazwischen liegt«.31
Die Anfälligkeit der Psychologie für Moden Die Skepsis des Sokrates gegenüber der Anwendung physikalischer Überlegungen auf das menschliche Denken und Verhalten hat sich als außerordentlich weitsichtig erwiesen. So besteht zwischen der Neurowissenschaft und Disziplinen, die - 58
mentale Phänomene auf höherer Organisationsebene betrachten, wie etwa der Psychiatrie, eine eigentümliche Diskrepanz. Der britische Neurophysiologe Charles Sherrington, der 1932 für seine Arbeiten über das Nervensystem mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, schrieb einmal: »Im Medizinstudium und in der ärztlichen Praxis klafft eine enorme Lücke zwischen dem Gebiet der Neurologie und der Wissenschaft von der geistigen Gesundheit, der Psychiatrie. Den Ärzten wird manchmal angelastet, die eine oder die andere Seite zu kurz kommen zu lassen. Das stimmt zwar, ist aber auch nicht so wichtig. Es gibt einen guten Grund dafür. Die Physiologie hat nicht genügend Erkenntnisse über das Verhältnis von Gehirn und Geist anzubieten, um dem Psychiater eine echte Hilfe zu sein.«32 Der Aufstieg der Psychopharmakologie in den sechziger Jahren weckte die Hoffnung, psychische Krankheiten könnten biochemisch erklärt werden. Weil Neuroleptika wie Chlorpromazin und Reserpin die Konzentration des Neurotransmitters Dopamin im Gehirn erhöhen, sahen die Psychiater in der Schizophrenie eine dopaminabhängige Störung und nicht mehr die Folge eines psychischen Traumas. Die Entwicklung spezieller Antidepressiva, der sogenannten Monoaminoxidasehemmer und der trizyklischen Antidepressiva, die die Konzentration der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin steigern, nährten Spekulationen, daß depressiven Erkrankungen ein Mangel an diesen Neurotransmittern zugrunde liege. Die wachsende Beliebtheit der sogenannten Selektiven Serotoninrückaufnahme-Hemmer (SSRI) wie etwa Fluctin hat dazu geführt, daß Serotonin allein als Schlüssel zur Depression angesehen wird. (Bislang gibt es keine allgemein anerkannte Erklärung für die therapeutische Wirksamkeit von Lithium bei manisch-depressiven Erkrankungen.) Doch selbst die Urheber dieser Neurotransmitter-Hypothese räumen ihre Schwachpunkte ein. Angesichts der Allgegenwart eines Neurotrans- 59
mitters wie Serotonin und der Vielfalt seiner Funktionen ist sein Erklärungswert als Kausalfaktor für die Entstehung von Depressionen genauso gering wie etwa der von Blut. Zudem sind Medikamente zur Behandlung von psychischen Erkrankungen nicht so wirksam, wie oft behauptet wird. Neurowissenschaftler haben sich bemüht, physiologische Entsprechungen für die Schizophrenie und andere Erkrankungen zu finden, indem sie das Gehirn von psychisch Kranken mit der PET und anderen bildgebenden Verfahren untersuchten. Bislang haben diese Bemühungen entmutigend mehrdeutige Ergebnisse erbracht. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang eine vielzitierte MRT-Studie, die 1990 am National Institute of Mental Health durchgeführt wurde. Die Forscher verglichen die Gehirne von fünfzehn Schizophrenen mit den Gehirnen ihrer nichtschizophrenen eineiigen Zwillingsgeschwister. Bis auf einen hatten alle Schizophrenen größere Hirnkammern - flüssigkeitsgefüllte Hohlräume im Zentrum des Gehirns - als ihre nichtschizophrenen Geschwister. Lewis Judd, der damalige Direktor des National Institute of Mental Health, pries die Studie als einen »Markstein«, der »unwiderlegbare Beweise dafür erbracht hat, daß die Schizophrenie eine Erkrankung des Gehirns ist«.33 Leider konnten die Forscher jedoch nicht feststellen, ob die vergrößerten Hirnkammern eine Ursache oder eine Folge der Schizophrenie waren - beziehungsweise der Medikamente, die zu ihrer Behandlung eingesetzt wurden. Folgestudien ergaben, daß auch viele normale Menschen relativ große Hirnkammern besitzen und daß dies andererseits bei vielen Schizophrenen nicht der Fall ist. Auch zwischen der Neurowissenschaft und der Psychologie gibt es eine beunruhigende Spaltung. Neurowissenschaftler »machen grundlegende Entdeckungen von weitreichender Bedeutung«, schrieb der an Harvard lehrende Psychologe Jerome Kagan einmal. »Aber die beobachtbaren Verhaltensereignisse, auf welche diese einzelnen Entdeckungen zutreffen, sind viel- 60
fach unklar [...] von entscheidender Bedeutung ist die Aufklärung des Zusammenhangs zwischen molekularen und Verhaltensereignissen. Jeder Bereich besitzt eine gewisse Unabhängigkeit.«34 Mit diesem Aspekt der »Erklärungslücke« befaßte sich ein 1998 im American Scientist erschienener Aufsatz mit dem Titel »Psychological Science at the Crossroads«35. Die drei Verfasser, ausnahmslos Psychologen, suchten in den vier einflußreichsten psychologischen Fachzeitschriften - American Psychologist, Annual Review of Psychology, Psychological Bulletin und Psychological Review - neurowissenschaftliche Quellenangaben. Sie fanden heraus, daß sich die enorme Zunahme der neurowissenschaftlichen Forschung nicht in den Zitaten in psychologischen Aufsätzen widerspiegelte. »Der Stellenwert der Neurowissenschaft nimmt zweifelsfrei zu, allerdings nach unseren Erhebungen nicht in der Hauptströmung der Psychologie.« Bislang ist es der Neurowissenschaft nicht gelungen, in der Psychologie wahrgenommen zu werden, während sie den Fortschritt im Bereich der Biologie gekennzeichnet hat. Die Neurowissenschaftler V. S. Ramachandran und J.J. Smythies von der Universität von Kalifornien in San Diego haben unlängst in einem Aufsatz in Nature auf diesen Punkt hingewiesen: Jeder, der sich für Ideengeschichte interessiert, dürfte über die folgenden bemerkenswerten Unterschiede zwischen Fortschritten in der Biologie und Fortschritten in der Psychologie verwundert sein. Der Fortschritt in der Biologie war durch wegweisende Entdeckungen gekennzeichnet, die jeweils zu einem Quantensprung in unserem Wissen führten - die Entdeckung der Zellen, der Mendelschen Gesetze der Vererbung, der Chromosomen, der Mutationen, der DNA und des genetischen Codes. Die Psychologie hingegen zeichnete sich durch eine peinlich lange Folge von »Theorien« aus, die im Grunde nichts anderes waren als flüchti- 61
ge Modeerscheinungen, die nur selten die Personen überlebten, die sie erfunden hatten.36
Eine psychologische Mode beziehungsweise »Theorie«, die ihren Erfinder überlebt hat, ist die Psychoanalyse. Obgleich die Psychoanalyse in gewissen naturwissenschaftlichen Kreisen zum Inbegriff der Pseudowissenschaft geworden ist, finden einige der führenden Neurowissenschaftler Freuds Ideen noch immer höchst plausibel. Susan Greenfield von der Universität Oxford ist Direktorin der britischen Royal Institution und eine der bekanntesten Neurowissenschaftlerinnen Großbritanniens. »Einer der Gründe, weshalb ich Freud, vielleicht unabhängig von seinen spezifischen Theorien, bewundere, ist die Tatsache, daß er ein Pionier war«, äußerte sie 1997 gegenüber einem britischen Journalisten. »Allerdings bin ich mit meiner Ansicht, daß Freud eine wichtige Inspirationsquelle war, wohl eher eine Ausnahme unter den Neurowissenschaftlern.«37 Greenfields Sympathie für Freud wird von Floyd Bloom geteilt, dem Leiter der Abteilung Neuropharmakologie am Scripps-Forschungsinstitut und Autor mehrerer Bücher über Neurowissenschaft sowie Herausgeber des Wissenschaftsmagazins Science. Als ich ihn fragte, ob er glaube, daß die Neurowissenschaft möglicherweise eines Tages die Psychoanalyse bestätigen würde, antwortete er: »Ich schließe dies nicht aus.« 38 Er sagte mir, er sei vor zwanzig Jahren zu der Überzeugung gelangt, daß die Neurowissenschaft vielleicht den plötzlichen Perspektivwechsel beziehungsweise das plötzliche »Umschalten in einen anderen intellektuellen Gang«, das manchmal während einer Psychoanalyse auftrete, erhellen könne. Bloom erwog sogar, in ein psychoanalytisches Institut einzutreten, um Stoff für sein Projekt zu sammeln; er entschied sich nur deshalb dagegen, weil eine unerwartete Innovation in der Molekularbiologie, durch die Gene in beliebig - 62
großen Zahlen vervielfältigt werden konnten, ihn wieder ins Labor lockte. Ein anderer hochkarätiger Freudophiler ist Gerald Edelman, der für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Immunologie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, später auf Neurowissenschaft umsattelte und heute das Institut für Neurowissenschaft in La Jolla, Kalifornien, leitet. Edelman widmete sein Buch Göttliche Luft, vernichtendes Feuer, eine populärwissenschaftliche Darstellung seiner Theorie des Geistes, zwei »intellektuellen Bahnbrechern, Charles Darwin und Sigmund Freud. In viel Weisheit viel Traurigkeit.« Er schrieb über das Unbewußte: Mein Freund Jacques Monod, ein Molekularbiologe, stritt sich oft heftig mit mir über Freud, wobei er darauf bestand, Freud sei unwissenschaftlich und womöglich ein Scharlatan gewesen. Ich vertrat die Meinung, daß Freud, wenn auch vielleicht nicht in unserem Sinn ein Wissenschaftler, so doch besonders in seiner Sicht des Unbewußten und dessen Rolle für das Verhalten ein großer intellektueller Wegbereiter gewesen sei. Monod, Nachfahre strenger Hugenotten, antwortete: ›Ich kenne meine Beweggründe vollständig und bin für meine Handlungen voll verantwortlich. Sie sind alle bewußt.‹ Verzweifelt sagte ich einmal: ›Jacques, sieh es doch mal so: Alles, was Freud sagt, gilt für mich und nichts davon für dich.‹ Er antwortete: ›Genau, lieber Freund.‹39
Psychoanalyse und Seehasen Angetan von Freud ist auch Eric Kandel, der Direktor des Zentrums für Neurobiologie und Verhalten an der ColumbiaUniversität. Kandel ist durch die Kombination von scharfem Verstand und einschüchterndem Auftreten seit Jahrzehnten die beherrschende Gestalt der Neurowissenschaft. 40 Er ist - 63
Mitautor von zwei herausragenden neurowissenschaftlichen Lehrbüchern, Principles of Neural Science und Essentials of Neural Science and Behavior,41 und hat darüber hinaus viele populärwissenschaftliche Darstellungen der Neurowissenschaft maßgeblich beeinflußt.42 Wenn ihm die Berichterstattung über die Neurowissenschaft in der New York Times, dem Scientific American oder anderen Publikationen mißfällt, ruft er Herausgeber und Reporter an, um sich zu beschweren und ihnen Ratschläge zu erteilen, wie sie die Berichterstattung verbessern könnten. Der in Wien geborene Kandel studierte an der New-York Universität und der Harvard-Universität Psychiatrie, doch zu Beginn der sechziger Jahre spezialisierte er sich auf Neurowissenschaft. Er beschloß, nicht das Nervensystem vom Homo sapiens, sondern das der Aplysia californica zu erforschen, einer Seehase genannten Meeresschnecke, die einmal plastisch als eine »purpurrot-grüne Folienkartoffel mit Ohren« beschrieben wurde. 43 Die Nervenzellen dieses Geschöpfs sind die größten, die bislang wissenschaftlich beschrieben wurden; man kann sie mit bloßem Auge sehen. Die Aplysia war ein vollkommenes Versuchsobjekt für Kandels Untersuchungen über die molekularen Grundlagen des Gedächtnisses und des Lernens. Wenn sie an einer bestimmten Stelle mit einem Wasserstrahl bespritzt wird, zieht sie sich ruckartig in einen Mantel zurück. Je öfter man diese Stimulation wiederholt, um so lustloser zieht sie sich zurück, bis sie den Reiz schließlich völlig ignoriert. Durch diesen Habituation (Gewöhnung) genannten Prozeß lernt die Meeresschnecke, den Wasserstrahl nicht mit Gefahr zu assoziieren. Kandel und seine Mitarbeiter erzeugten das Gegenteil der Habituation - einen Effekt, der Sensibilisierung genannt wird -, indem sie die Aplysia wiederholt bespritzten und ihr gleichzeitig einen Elektroschock verabreichten. Das Tier lernte rasch, sich schon bei der leichtesten Berührung zurückzu- 64
ziehen. Kandels Arbeitsgruppe zeigte, daß sowohl Habituation als auch Sensibilisierung molekulare Veränderungen in den Neuronen auslösen, die den Rückzugsreflex der Aplysia steuern. Bei der Habituation schütteten die Neuronen weniger Neurotransmittermoleküle in die synaptischen Spalte aus, die sie mit benachbarten Neuronen verbinden; umgekehrt schütteten sensibilisierte Neuronen mehr Neurotransmitter aus. Diese Experimente lieferten empirische Belege für eine Hypothese, die erstmals in den fünfziger Jahren von Donald Hebb formuliert wurde und die besagt, daß Lernprozesse die Stärke der Verbindungen zwischen Neuronen verändern. Dieser Hebbsche Mechanismus dient als Grundlage für ein Modell der Künstlichen Intelligenz, das sich auf sogenannte neuronale Netze stützt (die ich im siebten Kapitel behandeln werde). In den neunziger Jahren führten Kandel und seine Mitarbeiter Experimente mit einem Stoff durch, der als ein potentielles »E = mc2 des Geistes« hochgejubelt wurde 44 - ein Protein, das offenbar als ein Schlüsselschalter bei der Bildung von Erinnerungen fungiert. Zusammen mit anderen Gruppen zeigte Kandels Team, daß dieses Protein, das CREB (cyclic-AMP-responsive element binding protein] genannt wird, der Aplysia dabei hilft, Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis zu überführen; wird das Protein chemisch neutralisiert, kann die Meeresschnecke die Langzeiterinnerungen, die charakteristisch für Sensibilisierung und Habituation sind, nicht bilden. Andere Forscher haben ähnliche Experimente an Taufliegen, Mäusen und anderen Lebewesen durchgeführt. In einem Alter, in dem die meisten Wissenschaftler bereit sind, das Feld jüngeren Kollegen zu überlassen, ist Kandel noch immer sehr aktiv. Ein im Februar 1998 im New York Times Magazine erschienener Artikel über Gedächtnisforschung enthält ein ganzseitiges Foto von Kandel, auf dem er ein blaugestreiftes Hemd und eine rote Fliege trägt und eine schleimig glänzende Aplysia in der Hand hält. Der Verfasser - 65
des Artikels weist darauf hin, daß Kandel »einen Großteil der bahnbrechenden Forschungsarbeiten über die molekularen Grundlagen des Gedächtnisses durchgeführt hat« und weiterhin zu den Spitzenforschern auf seinem Gebiet zähle. 45 Kandel versuchte, kommerzielles Kapital aus seinen wissenschaftlichen Errungenschaften zu schlagen, indem er ein Unternehmen mit dem Namen Memory Pharmaceuticals gründete, das Medikamente vermarktet, die angeblich den Gedächtnisverlust verlangsamen, aufhalten oder sogar umkehren. Der Artikel erwähnte, daß sich Kandel für die Psychoanalyse interessiert habe, bevor er sich der Neurowissenschaft zuwandte. Was der Artikel nicht erwähnte, war, daß Kandel sich zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere einer Psychoanalyse unterzogen und sogar erwogen hatte, Psychoanalytiker zu werden. Obgleich ihn »die Neurobiologie auf fruchtbare Weise abgelenkt hat«46 (wie es die Times formulierte), hörte er nie auf, an das theoretische und therapeutische Potential der Psychoanalyse zu glauben. Er hat die Hoffnung, daß Freuds Theorien über die Psyche eines Tages durch die Neurowissenschaft erhärtet werden. Kandel äußerte diese Hoffnung in seinem Beitrag »A New Intellectual Framework for Psychiatry«, der im April 1998 im American Journal of Psychiatry veröffentlicht wurde. 47 Er wies darauf hin, daß seine Experimente und die Experimente von anderen gezeigt hätten, daß Erfahrungen physikalische Veränderungen in den Neuronen herbeiführten. Konkreter ausgedrückt heißt das: Habituation und Sensibilisierung von Neuronen können Gene ein- und ausschalten oder ihre Ausprägung anderweitig beeinflussen. Aus diesen Befunden folge, daß Erfahrungen, wie etwa traumatische Ereignisse in der Kindheit, durch neurochemische und genetische Wirkungen Neurosen verursachen können. In gleicher Weise könnten die Psychoanalyse und andere Psychotherapien langfristig heilsame Wirkungen auf genetischer Grundlage herbeiführen. - 66
»Aufgrund von Fortschritten, die die Neurowissenschaft in den letzten Jahren gemacht hat, befinden sich Psychiatrie und Neurowissenschaft heute in einer neuen und besseren Lage, um sich einander anzunähern - eine Annäherung, die den Einsichten der psychoanalytischen Betrachtungsweise erlauben würde, das Bemühen um ein tieferes Verständnis der biologischen Grundlagen des Verhaltens zu bereichern.« Ich traf Kandel Ende 1997 in seinem Büro im sechsten Stock des Instituts für Psychiatrie in Manhattan. 48 Von seinem Büro aus hat man einen malerischen Ausblick auf den Hudson River, und als wir uns die Hand gaben, versank die blutrote Sonne hinter der Silhouette der Hochhäuser von New Jersey. Wie andere Neurowissenschaftler, die ich interviewt hatte, schwankte auch Kandel zwischen Stolz und Demut, als er ein Resümee der Errungenschaften seiner Disziplin zog. Als ich ihn fragte, ob er glaube, das Gedächtnis werde bald ein »gelöstes« Problem sein, schnitt Kandel eine Grimasse und schüttelte den Kopf. Er erklärte, der große Neurowissenschaftler Ramon y Cajal habe einmal gesagt, Probleme seien niemals erschöpft, höchstens die Wissenschaftler, die an ihrer Lösung arbeiteten. Es sei möglich, so Kandel weiter, daß das CERB-Protein und andere Entdeckungen die gemeinsame Grundlage vieler unterschiedlicher Typen von Gedächtnis enthüllen könnten, so wie die Aufklärung der Struktur der DNA ein einheitliches Modell der Vererbung geliefert habe. Doch das Gedächtnisproblem sei »noch weit von einer Lösung entfernt«. Die Forscher müßten erst noch klären, auf welche Weise die verschiedenen Regionen des Gehirns bei der Codierung, Konsolidierung, Speicherung und Abrufung einer Erinnerung zusammenwirkten. »Wir haben keinen blassen Schimmer von alldem.« Die meisten wissenschaftlichen Disziplinen, sagte er nachdenklich, wechselten zwischen Phasen wachsender Komplexität und Phasen zunehmender Vereinheitlichung. »Wir befinden uns heute in einem Zeitalter der Aufspaltung.« Er habe - 67
sein zum Klassiker avanciertes Lehrbuch Principles of Neural Science seit der Erstveröffentlichung 1981 dreimal aktualisieren müssen, um die Flut neuer Erkenntnisse einzubringen. »Die einfachen Probleme sind gelöst. Jetzt wenden wir uns den kniffligsten zu.« Ein zentrales Problem der Neurowissenschaft, so Kandel, sei die Frage, wie das Gehirn aus vielen verschiedenartigen Elementen Bilder der Wirklichkeit zusammensetze. Das Gehirn bilde die Welt nicht in der gleichen Weise wie eine Kamera ab; »es zerlegt das Bild, es zerlegt alle Empfindungen und setzt sie dann wieder zusammen«. Forschungen an lebenden Primaten, wie sie von Patricia Goldman-Rakic und anderen durchgeführt würden, könnten Anhaltspunkte dafür liefern, wie das Gehirn sein Bild der Wirklichkeit erzeugt. »Das ist meines Erachtens eine sehr fruchtbare Methode«, meinte Kandel. Doch wie Torsten Wiesel und Gerald Fischbach betonte auch er, daß das Problem des binding - das Dilemma des Reduktionismus, um meinen Begriff zu gebrauchen - noch immer weitgehend ungelöst sei. Zu Beginn seiner Tätigkeit als Neurowissenschaftler dachte Kandel, es würde zu einer »raschen Verschmelzung« zwischen Neurowissenschaft und Psychiatrie kommen. Offensichtlich fand diese Synthese nicht statt. Kandel sagte, daß die Psychoanalytiker, die die Psychiatrie in den fünfziger und sechziger Jahren beherrschten, eine Mitschuld an diesem Stillstand treffe. »Die Psychoanalyse machte eine Phase durch, in der sie so sehr von ihrer Macht überzeugt war, daß sie ihre Interessen auf sämtliche psychiatrischen Erkrankungen und alle Gebiete der Medizin ausdehnte. Das trug mit zu ihrem Niedergang bei. Soweit sie funktioniert, tut sie es vermutlich nur in einer begrenzten Reihe von Umständen.« Die Psychoanalytiker seien zudem »pflichtvergessen« gewesen, da sie ihre eigenen Methoden nicht hinterfragt und nicht auf den Prüfstand gestellt hätten. - 68
Viele der grundlegenden Ideen Freuds - wie etwa seine Behauptung, daß Konflikte in der Kindheit unsere Persönlichkeit formten und daß ein Großteil unseres psychischen Lebens unterhalb der Bewußtseinsschwelle ablaufe - seien längst Gemeingut geworden, so Kandel. »Meiner Meinung nach werden sie heute praktisch von jedermann akzeptiert.« Doch blieben Fragen zu spezifischeren Aspekten der Freudschen Theorie, wie etwa der genauen Art und Weise, in der Kindheitserfahrungen verschiedene Persönlichkeitszüge und -Störungen hervorbrächten, offen. »Halten sie einer empirischen Überprüfung stand und unter welchen Umständen? Sind sie universell? Und was noch wichtiger ist: Hat die Psychoanalyse eine therapeutische Wirkung, und wenn ja, unter welchen Umständen?« Er sei »intuitiv« von der Wirksamkeit der Psychoanalyse überzeugt - seine eigene Analyse habe ihn zu einem glücklicheren Menschen gemacht, versicherte mir Kandel -, doch ihre therapeutische Wirksamkeit zu beweisen sei eine ganz andere Sache. Forschungen könnten zeigen, daß Psychotherapien günstige Veränderungen im Gehirn herbeiführten, die »so spezifisch sind wie die Wirkungen von Medikamenten - vielleicht sogar spezifischer. Das wäre hervorragend.« Wenn das Gespräch mit einem Freund, einem Seelsorger oder einem Therapeuten Veränderungen im Gehirn auslöse, was es zweifellos tue, stelle sich die Frage, »weshalb dies weniger wert sein soll als die Einnahme von Fluctin?« Selbst wenn Studien die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse nicht nachweisen könnten, bleibe sie eine »sehr humane, fruchtbare Betrachtungsweise der menschlichen Psyche.« Zu Beginn dieses Jahrhunderts diente die Psychoanalyse als ein Gegengewicht zu den Auswüchsen des Behaviorismus, der ein »sehr flaches« Bild der psychischen Repräsentation entworfen habe. Die Psychoanalyse habe auch die Entdeckung der modernen Neurowissenschaft und kognitiven Psychologie vorweggenommen, wonach das Gehirn die Wirklichkeit kon- 69
struiere und nicht bloß abbilde. Die Psychoanalyse »kann uns daher schlimmstenfalls eine Weltanschauung [dt. im Original] liefern, die recht fruchtbar ist. Bestenfalls mag sich herausstellen, daß sie eine wirklich nützliche Therapie ist.« Es sei möglich, so Kandel, daß der Erfolg einer psychoanalytischen Behandlung auf die Erwartungen des Patienten zurückzuführen sei – anders gesagt, auf den Placebo-Effekt. »Vielleicht ist die Psychoanalyse lediglich eine sehr wirkungsvolle Methode, um das Vertrauen des Patienten für therapeutische Zwecke einzuspannen. Man würde sich wünschen, daß mehr dahintersteckt, aber das könnte das ganze Geheimnis sein.« Kandel widersprach der Behauptung, ein solcher Befund stelle die Psychoanalyse auf eine Stufe mit dem Gesundbeten. Gesundbeter seien viel öfter Scharlatane und Betrüger als Psychoanalytiker, Psychiater und andere, die der anerkannten Wissenschaft näherstünden. »Das soll nicht heißen, daß man unter gut ausgebildeten Ärzten keine Scharlatane findet, sondern nur, daß die statistische Wahrscheinlichkeit sehr viel geringer ist.«
Freud als Neurowissenschaftler Ironischerweise schien Freud selbst gegen Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn zu bezweifeln, daß uns die Neurowissenschaft tiefe Erkenntnisse über die menschliche Psyche verschaffen könne. Bevor Freud die Psychoanalyse begründete, verbrachte er über zehn Jahre mit Forschungen, die man heute zur Neurowissenschaft zählt. 49 Er erforschte das Nervensystem von Neunaugen und Flußkrebsen, und von 1882 bis 1885 arbeitete er im Allgemeinen Krankenhaus in Wien intensiv mit hirngeschädigten Patienten. Er veröffentlichte über dreihundert Aufsätze und fünf Bücher über Neurobiologie, darunter auch eine Monographie über Aphasie und andere - 70
Krankheitsbilder, die durch Schädigungen am zentralen Nervensystem verursacht werden. Im Jahr 1895 war Freud für kurze Zeit davon überzeugt, daß die menschliche Psyche und ihre Erkrankungen auf rein physiologischer Grundlage erklärt werden könnten, etwa unter Bezugnahme auf die unlängst entdeckten Neurone. An seinen Freund Wilhelm Fliess schrieb er: »In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche [...] haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins. Es schien alles ineinanderzugreifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen.« 50 Im selben Jahr umriß Freud seine Vision einer physiologisch begründeten Theorie der Psyche in einem Manuskript, das später Entwurf einer Psychologie genannt wurde: »Es ist die Absicht, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, das heißt psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile [und sie] damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen. Enthalten [sind] zwei Hauptideen: [1.)] das, was Tätigkeit und Ruhe unterscheidet, als Q aufzufassen, die dem allgemeinen Bewegungsgesetz unterworfen [ist], 2.) als materielle Teilchen die Neurose zu nehmen.« 51 Freud hat dieses Manuskript nie veröffentlicht, und am 29. November 1895 schrieb er wieder an Fliess: »Den Geisteszustand, in dem ich die Psychologie ausgebrütet, verstehe ich nicht mehr«.52 Unmittelbar im Anschluß an diese Periode begann er, ein rein psychologisches Modell der Psyche zu entwerfen, die Psychoanalyse. Im Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere bezweifelte Freud immer stärker, daß man die Psyche und ihre Störungen rein physiologisch erklären könne. Im Jahr 1938, kurz vor seinem Tod, schien er die Möglichkeit, - 71
daß die Psychologie jemals mit der Neurowissenschaft vereinigt würde, auszuschließen: Von dem, was wir unsere Psyche (Seelenleben) nennen, ist uns zweierlei bekannt, erstens das körperliche Organ und Schauplatz desselben, das Gehirn (Nervensystem), andererseits unsere Bewußtseinsakte, die unmittelbar gegeben sind und uns durch keinerlei Beschreibung nähergebracht werden können. Alles dazwischen ist uns unbekannt, eine direkte Beziehung zwischen beiden Endpunkten unseres Wissens ist nicht gegeben. Wenn sie bestünde, würde sie höchstens eine genaue Lokalisation der Bewußt53 seinsvorgänge liefern und für deren Verständnis nichts leisten.
Wie Sokrates über zweitausend Jahre vor ihm schien Freud sagen zu wollen, daß die Erklärungslücke möglicherweise nie geschlossen werde. Aufgrund des Unvermögens der Neurowissenschaft, Freuds Theorien zu bestätigen beziehungsweise zu widerlegen, ist diese Prophezeiung bislang in Erfüllung gegangen.
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2. WARUM FREUD NICHT TOT IST So ist es durchaus möglich, und wie man vermuten könnte, in überwältigender Weise wahrscheinlich, daß wir über das menschliche Leben und die menschliche Persönlichkeit aus Romanen immer mehr erfahren werden als durch wissenschaftliche Psychologie. 1
NOAM CHOMSKY, Probleme sprachlichen Wissens
regnerischen Frühlingstag des Jahres 1996 saß ich Animeinem Ballsaal eines Hotels und lauschte einer großen Zahl von Freuds intellektuellen Nachfahren, die ihre Befürchtungen und Wünsche enthüllten. Der Anlaß war ein Treffen der Fachgruppe 39 der American Psychological Association.2 Etwa vierhundert Mitglieder dieser Gruppe, eines Refugiums treuer Anhänger der Psychoanalyse, hatten fünf Tage lang im opulenten Waldorf-Astoria in New York City getagt. Das offizielle Thema des Treffens klang beschwingt: »Psychoanalysis: A Creative Journey«. Doch ich war wegen Diskussionsforen gekommen, in denen unerfreulichere Themen behandelt wurden: »Der Tod der Psychoanalyse: Mord, Selbstmord oder stark übertriebenes Gerücht?« »Psychoanalytische Technik: Hat sie eine Zukunft?« und »Psychoanalyse auf dem Rückzug«. Die Befürchtungen kamen bei einer »offenen Diskussionsrunde«, bei der Mitglieder der Fachgruppe 39 jedes beliebige Thema ansprechen konnten, unverhohlen zum Ausdruck. Morris Eagle, der Vorsitzende der Fachgruppe 39 und ein bekannter New Yorker Psychoanalytiker, eröffnete die Sitzung mit der Empfehlung, die Teilnehmer sollten sich mit dem »Hauptproblem« befassen, mit dem sie gegenwärtig konfrontiert seien: »dem Überleben der Psychoanalyse im besonderen und der langfristigen psychodynamischen Behandlung beliebiger Art unter den Rahmenbedingungen der neuen integrierten Gesundheitsfürsorge (managed health care).« - 73
Teilnehmer der Diskussionsrunde schlugen verschiedene Gegenmaßnahmen vor. Jedesmal wenn jemand die Psychoanalyse in der Öffentlichkeit »heruntermacht«, solle, so der Vorschlag einer Frau, ein Mitglied der Fachgruppe 39 darauf mit einem Aufsatz oder Leitartikel entgegnen. Der einzige Weg, die Psychoanalyse zu stützen, sei der empirische Nachweis ihrer Überlegenheit im Vergleich zu anderen Behandlungsverfahren, meinte ein Mann; in der neuerdings so wettbewerbsintensiven Atmosphäre, die durch die integrierte Gesundheitsfürsorge erzeugt worden sei, »müssen wir nachweisen, daß wir ein besseres Produkt haben«. Ein anderer bestätigte, die Psychoanalytiker müßten Studien durchführen, die bewiesen, daß die Psychoanalyse die medizinischen Kosten, die Arbeitsausfallzeiten und den Alkoholismus verringern könne. Andere äußerten ihre Zweifel. Ein ehemaliger Mathematiker stand auf und erklärte, daß »man mit statistischen Daten alles beweisen kann, und leider beginnt die Öffentlichkeit dies zu begreifen«. »Ich glaube nicht, daß wir auf empirischer Basis gewinnen können«, stimmte ein anderer zu; der Nutzen der Psychoanalyse könne lediglich auf einer »subjektiven, existentiellen Basis« beurteilt werden. Eagle, der Vorsitzende, wies warnend darauf hin, daß Studien, die die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse nachweisen sollten, ihren Gegnern in die Hände spielen könnten. Im Verlauf des Treffens wurde die Stimmung immer gedrückter. Ein Psychoanalytiker beklagte sich, daß das Vorlesungsverzeichnis des Colleges seiner Tochter keinen einzigen Kurs über Freud anbiete. Ein anderer bekundete seine Verwunderung darüber, daß es der Psychoanalyse »in so kurzer Zeit gelungen ist, so viele Menschen gegen sich aufzubringen und sich selbst in eine derartige Außenseiterposition zu manövrieren«. Gegner der Psychoanalyse fänden sich sogar innerhalb der Dachorganisation der Fachgruppe 39, der Ame- 74
rican Psychological Association, meinte er in mürrischem Tonfall. Ein anderer wies darauf hin, daß Freud selbst gegen Ende seines Lebens bezweifelt habe, daß die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren überleben werde. Eine Frau aus La Jolla in Kalifornien erklärte, daß sie und andere Psychoanalytiker in ihrer Region wachsende Schwierigkeiten hätten, so viele Patienten zu halten, daß sie ihre Praxis weiterhin rentabel führen könnten. Sie beklagte bitterlich, daß sie aufgrund neuer Gerichtsurteile wegen Verletzung der beruflichen Sorgfaltspflicht verklagt werden könne, wenn sie kranken Patienten keine Medikamente verschreibe. »Vielleicht ist es Zeit, daß ich in den Ruhestand trete«, seufzte sie. Viele ihrer Kollegen nickten und murmelten in düsterer Zustimmung. Ein altes Bonmot besagt, daß manche Paranoiker tatsächlich Feinde haben. Von dem Augenblick an vor hundert Jahren, da Freud seine Theorien öffentlich vorzustellen begann, wurden sie unerbittlich angegriffen. Im Jahr 1896 wurde Freuds brandneue Theorie über die sexuellen Ursachen der Hysterie als »ein wissenschaftliches Märchen« verhöhnt. 3 Eine im Jahr 1913 erschienene Rezension der Traumdeutung, die viele für Freuds bedeutendstes Werk halten, findet darin »ein völliges Fehlen der Merkmale, die zum wissenschaftlichen Fortschritt führen«.4 Im Jahr 1916 monierte die Zeitschrift Nation, daß die Psychoanalyse »weder theoretisch noch empirisch wohlbegründet ist«5, und im selben Jahr verglich die Zeitschrift Current Opinion Freuds »Sexualtheorie« mit der »Hypothese, wonach der Mond aus Molkenkäse besteht«.6 Der russische Romancier Vladimir Nabokov nannte Freud einen »Schamanen« und »Wiener Quacksalber«; er erregte sich über »die vulgäre, schäbige und im Grunde mittelalterliche Welt Freuds mit [...] ihren bösen kleinen Embryos, die von ihren natürlichen Verstecken aus das Liebesleben ihrer Eltern ausspionieren«7. - 75
Die Attacken auf Freud wurden in den letzten Jahren heftiger, als Autoren von Büchern wie Freudian Fraud, Why Freud Was Wrong, Freud Evaluated und Unauthorized Freud 8 versuchten, einen Pfahl durch Freuds Herz zu treiben. Im Jahr 1995 verschob die Library of Congress eine lange geplante Ausstellung über Freud, nachdem sich ein Bündnis von Protestierenden - darunter Freuds Enkelin Sophie - darüber beschwert hatte, sie verherrliche den Begründer der Psychoanalyse zu sehr. Als die Ausstellung schließlich im Herbst 1998 eröffnet wurde, enthielt der zugehörige Katalog Beiträge von mehreren führenden Freud-Kritikern. Einer davon war der britische Historiker Frank Cioffi, der den Glauben an die Psychoanalyse mit dem Glauben an das Ungeheuer von Loch Ness verglich.9 Die Kräfte des freien Marktes haben der Psychoanalyse schweren Schaden zugefügt. Nur wenige Menschen haben die Zeit und das Geld für eine Behandlung, die bis zu fünf einstündige Sitzungen pro Woche für jeweils hundert Dollar erfordert und in der Regel mehrere Jahre dauert. Viele Patienten und alle Krankenversicherungen bevorzugen Kurztherapien, die spezifische Probleme angehen und nicht tief in der Vergangenheit eines Patienten graben. Unterdessen verschreiben Psychiater und andere Ärzte für weitverbreitete Leiden wie Depression und Angst in zunehmendem Maße Medikamente statt Gesprächstherapien. Angesichts all dieser Trends ist es nur recht und billig, wie das Magazin Time die Frage zu stellen: »Ist Freud tot?«10 Wohl kaum. Wäre Freud tatsächlich tot, weshalb verwendeten dann so viele Kritiker noch immer so viel Energie auf den Versuch, ihn zu töten? Die Antwort lautet natürlich, daß Freud nach wie vor unzählige Verteidiger hat; auf jedes Buch, das Freud angreift, kommt ein anderes, das Partei für ihn ergreift. »Freuds jüngste Kritiker werden ihm keinen bleibenden Schaden zufügen«, prophezeite Paul Robinson, ein Historiker an der Stanford-Universität, in Freud and His Critics. »Sie - 76
haben allenfalls den unvermeidlichen Prozeß hinausgezögert, der ihm eines Tages den ihm gebührenden Platz in der Geistesgeschichte als Denker ersten Ranges zuweisen wird.« 11 Freuds Einfluß ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften besonders stark. Eine Auswertung des Schrifttums auf diesen Gebieten ergab, daß nur Lenin, Shakespeare, Platon und die Bibel häufiger zitiert werden als Freud. 12 Die Freudophilie hat auch jene Wissenschaftler angesteckt, die es eigentlich besser wissen sollten. Zwar ist die Zahl der Zitate aus psychoanalytischen Werken laut der schon erwähnten Erhebung aus dem Jahr 1998 in den wichtigsten psychologischen Fachzeitschriften im Verlauf der letzten Jahrzehnte rückläufig. Doch die drei Autoren beteuerten: »Dies bedeutet nicht, daß ›Freud tot ist‹, sondern nur, daß sich seine Präsenz indirekter bemerkbar macht. Tatsächlich gehören viele von Freuds Grundideen - etwa daß unbewußte Prozesse unser Verhalten beeinflussen und daß sich frühkindliche Erfahrungen auf die Entwicklung von Erwachsenen auswirken - mittlerweile zum Gemeingut der wissenschaftlichen Psychologie.« 13 Selbst Wissenschaftler, die erklären, Freud skeptisch oder gleichgültig gegenüberzustehen, benutzen ihn als einen Bezugspunkt für die Beurteilung und Erklärung neuerer Ideen. Bücher wie Im Netz der Gefühle von Joseph LeDoux, Wie das Denken im Kopf entsteht von dem Kognitionswissenschaftler Steven Pinker vom Massachusetts Institute of Technology und Searching for Memory des in Harvard lehrenden Psychologen Daniel Schacter sind gespickt mit Verweisen auf Schriften Freuds. 14 Die Zahl der Mitglieder in der American Psychoanalytic Association, der größten psychoanalytischen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten, ist in den letzten zehn Jahren mit etwa dreitausend erstaunlich konstant geblieben, und die Zahl der Kandidaten an den Ausbildungsinstituten nimmt zu. 15 Die International Psychoanalytic Association hat mehr als neuntau- 77
send Mitglieder, und nach ihren Angaben steigt die Zahl ihrer Mitglieder in Südamerika, Europa und in anderen Ländern. Im Jahr 1996 unterzeichnete der damalige russische Präsident Boris Jelzin ein Dekret, das der Psychoanalyse, die Stalin im Jahr 1930 zusammen mit sämtlichen Schriften Freuds verboten hatte, den Status einer gesetzlich anerkannten psychiatrischen Behandlungsmethode einräumte. 16 Die eigentliche Frage lautet daher: Weshalb ist Freud nicht tot? Richard Webster, ein führender Freud-Kritiker, gab in seinem 1995 erschienenen Buch Why Freud Was Wrong eine Antwort: »Keine noch so überzeugende ablehnende Kritik der Psychoanalyse wird die von Freud aufgestellten Theorien jemals bündig widerlegen können. Denn in der wissenschaftlichen Realität können schlechte Theorien nur von guten Theorien verdrängt werden.« 17 (Webster prophezeite, daß uns die darwinistische Psychologie, die ich im sechsten Kapitel behandeln werde, von der Freudschen Psychologie befreien werde.) Die Psychoanalyse besteht fort, weil es der Wissenschaft bislang nicht gelungen ist, eine eindeutig überlegene Theorie und Therapie der menschlichen Psyche aufzustellen.
Ziegen, Schafe und der Ödipuskomplex Das soll nicht heißen, daß man an Freud und seinen Nachfolgern keine berechtigte Kritik üben könne. Einer der frühesten und noch immer triftigsten Einwände gegen die Psychoanalyse lautet, sie besitze eine nahezu grenzenlose Elastizität; sie könne praktisch jede Beobachtung erklären. Freuds Fähigkeit, empirische Befunde, die seinen Theorien widersprachen, wegzuinterpretieren, mutete mitunter geradezu komisch an. So behauptete er immer wieder, Neurosen seien »ganz allgemein als Störungen der Sexualfunktion zu erkennen«, die auf die Kindheit zurückgingen. 18 Während des Ersten Weltkriegs, in - 78
dessen Verlauf Tausende von Soldaten an einer sogenannten »Kriegsneurose« oder »Granatenneurose« erkrankten, wurde diese dogmatische Sichtweise ernsthaft in Frage gestellt. Kritiker behaupteten, diese psychischen Störungen, die eindeutig durch traumatische Kampfeinsätze ausgelöst wurden, widerlegten Freuds These, sämtliche Neurosen hätten eine sexuelle Ursache. Freud entkräftete dieses seines Erachtens »leichtfertige und voreilige« Argument in seiner Selbstdarstellung, die 1924 veröffentlicht wurde. 19 Er beteuerte, Soldaten, die an einer Kriegsneurose litten, seien Narzißten; sie würden im Krieg durch die Gefahr, die ihrem ursprünglichen Liebesobjekt, nämlich ihrer eigenen Person, drohe, seelisch zerrüttet. Freuds Methoden, »klinische Beweise« zu sammeln, waren ebenfalls, gelinde gesagt, fragwürdig. Ein zentrales Dogma der Psychoanalyse lautet, daß die Psyche Erinnerungen an traumatische Kindheitsereignisse verdränge, egal ob diese real oder imaginär seien. Die Aufgabe des Psychoanalytikers bestehe darin, diese Ereignisse durch seine Interpretation der Träume des Patienten, Wortassoziationen und andere »Daten«, die aus dessen Unbewußtem aufstiegen, aufzudecken. Erst wenn sich der Patient diesen Erinnerungen stelle, könne der Heilungsprozeß beginnen. Freud zufolge ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Patient der Deutung des Psychoanalytikers widersetzt, um so höher, je traumatischer und bedeutsamer ein Erlebnis war. »Die vom Arzt erforderte Anstrengung war verschieden groß für verschiedene Fälle, sie wuchs im geraden Verhältnis zur Schwere des zu Erinnernden.« 20 Nehmen wir an, ein Psychoanalytiker behaupte, ausgehend von seiner Deutung der Träume eines jugendlichen Patienten, der Junge zeige ein klassisches Ödipussyndrom; er wolle den Vater töten und mit seiner Mutter schlafen. Wenn der Junge die Deutung annimmt - schön! Wenn er sie verwirft, ist diese Leugnung ein noch stärkerer Beweis dafür, daß er ödipale Triebregungen verdrängt. Freud und seine Anhänger benutz- 79
ten dieselbe Strategie - eine »Immunisierungsstrategie« - als Verteidigungsmechanismus gegen jeden, der Bedenken gegen die Psychoanalyse anmeldete. 21 Kritiker der Psychoanalyse zeigten offenkundig Symptome von Verdrängung und Verleugnung. Um zu verstehen, weshalb Freud so viele Feministinnen in Wut versetzt hat, muß man nur seine Schrift »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds«22 lesen. (Ironischerweise wurde dieser Vortrag nicht von dem kränkelnden Freud gehalten, sondern von seiner Tochter Anna.) Freud behauptete, daß ein Mädchen, wenn es zum ersten Mal den Penis eines Jungen sieht, »weiß, daß sie es [das männliche Genitale] nicht hat, und will es haben [...] Auch wenn der Penisneid auf sein eigentliches Objekt verzichtet hat, hört er nicht auf zu existieren, er lebt in der Charaktereigenschaft der Eifersucht mit leichter Verschiebung fort.«23 Frauen, denen die Stimulation der Klitoris, gleich ob durch Masturbation oder beim Geschlechtsverkehr, sexuelle Lust bereitet, hätten den Penisneid nicht überwunden und folglich nicht ihre wahre weibliche Natur erreicht. Freud verkündete, »daß die Entfaltung der Weiblichkeit die Wegschaffung der Klitorissexualität zur Bedingung habe«24. Nachfolger Freuds, wenn auch nicht Freud selbst, haben Theorien über die Entstehung von Geisteskrankheiten verbreitet, die die Mütter dämonisierten. Noch in den siebziger Jahren machten viele psychoanalytisch ausgerichtete Psychiater »gefühlskalte« Mütter, die ihren Kindern keine emotionale Zuwendung geben, für Autismus und Schizophrenie verantwortlich. Zugleich wiesen die Psychoanalytiker jedoch warnend darauf hin, daß auch allzu liebevolle Mütter ihren Kindern schaden könnten. »Frauen sind bei den Freudiänern niemals gut weggekommen«, schrieb der Journalist Edward Dolnick in Madness on the Couch, einer neueren Kritik an der freudianischen Psychiatrie. 25 - 80
Keiner der Versuche, Freud aus wissenschaftlichen Gründen zu verteidigen, ist sonderlich überzeugend. Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit ist das 1997 erschienene Buch The Talking Cure. Seine Autorin, Susan Vaughan, ist Psychiaterin am New York State Psychiatrie Center und praktizierende Psychoanalytikerin; sie behandelt Patienten in einer Gegend von Manhattan, in der so viele Psychoanalytiker tätig sind, daß sie »Psycho-Block« genannt wird.26 Vaughan hat vom National Institute of Mental Health den Auftrag erhalten, zu erforschen, wie sich Psychotherapie auf das Gehirn auswirkt. In The Talking Cure räumte sie ein, daß es nicht allen Ideen Freuds gut ergangen sei. Insbesondere seine Vorstellungen über die weibliche Sexualität seien »kulturabhängig und veraltet«.27 Dennoch sei Freud »ein Genie« gewesen, so Vaughan weiter, dessen Entdeckungen »heute aufgrund unserer Erkenntnisse über das Gehirn an Plausibilität gewonnen haben«. Die Neurowissenschaft habe »zuverlässige naturwissenschaftliche Beweise« dafür geliefert, daß sowohl frühkindliche Erfahrungen als auch die Psychoanalyse »die Verschaltung der Neuronen im Gehirn ändert. Diese Umschaltung führt dazu, daß man Informationen und Emotionen auf andere Weise verarbeitet, integriert, erlebt und deutet.« Zur Untermauerung ihrer These führte Vaughan mehrere Experimente an. Bei einem dieser Experimente hätten Aufnahmen mit einem Kernspinresonanztomographen gezeigt, daß die kognitive Verhaltenstherapie und Fluctin ähnliche Änderungen im Gehirn von Zwangsneurotikern herbeiführten. Einen noch stärkeren Eindruck auf Vaughan machte der von Eric Kandel erbrachte Nachweis, daß Lernvorgänge chemische Veränderungen in den Neuronen von Meeresschnecken erzeugen. Vaughans Argumentation stützt sich auf einen ziemlich augenfälligen Fehlschluß. Weder die MRI-Studie an Zwangsneurotikern noch Kandels Forschungen an Schnecken sagen das geringste über die Psychoanalyse aus. Aus diesen und an- 81
deren Experimenten folgt zwar in der Tat, daß Kindheitserlebnisse und die Psychoanalyse die »Verschärfung der Neuronen im Gehirn« ändern können. Aber was heißt das schon? Man könnte »Kindheitserlebnisse« und »Psychoanalyse« durch »Besuch eines chinesischen Kochkurses« oder »das Betrachten des Europacup-Endspiels« ersetzen, und die Aussage bliebe genauso gültig. Selbstverständlich verursachen Kindheitserlebnisse und eine Psychoanalyse Änderungen im Gehirn. Das gilt für jegliche Erfahrung! Es handelt sich um eine Binsenwahrheit, die niemand bestreitet. Doch die Studien, die Vaughan anführte, weisen eindeutig nicht die Gültigkeit der Psychoanalyse als Theorie oder ihre Wirksamkeit als Psychotherapie nach. Sogar Eric Kandel fand Vaughans Buch nicht überzeugend. Vaughan unterstelle einfach, daß die Psychoanalyse therapeutisch wirksam sei, beanstandete Kandel während meines Interviews mit ihm, und sie benutze seine Arbeiten dann dazu, ihre Überzeugung zu rechtfertigen. Seine Studien an Meeresschnecken seien zwar anregend, aber wohl kaum eine zündende Untermauerung der Psychoanalyse. Eines Tages werde die Neurowissenschaft vielleicht zeigen, auf welche Weise eine Psychoanalyse heilsame Wirkungen im Gehirn erzeuge, fuhr er fort, doch dieser Zusammenhang sei bislang noch keineswegs bewiesen. »Man darf nicht unterstellen, daß dies geschieht. Man muß es nachweisen.« Nachgewiesen haben Wissenschaftler allerdings, daß Freud ein geradezu unheimliches Geschick besaß, Theorien auszuhecken, die empirisch weder ein für allemal bestätigt noch widerlegt werden können. Viele Bewunderer Freuds halten die Traumdeutung für seine größte literarische und wissenschaftliche Leistung. Freud selbst sagte in seinem Vorwort zur dritten (englischen) Auflage des Buches das gleiche: »Derartige Einsichten sind einem nur einmal im Leben vergönnt.«28 Freud stellte die Hypothese auf, daß während des Schlafs verstörende Wünsche und Ängste, die in kindlichen Erfahrungen wurzeln, - 82
aus dem Unbewußten aufsteigen, wenn auch verschleiert durch das immer wachsame Ich. Durch Entschlüsselung dieser Bilder könne der Psychoanalytiker einen direkteren Zugang zum Unbewußten erlangen. Mehrere Forscher behaupten, Freuds Traumtheorie widerlegt zu haben. Im Jahr 1998 berichteten Wissenschaftler der National Institutes of Health und des Walter Reed Army Institute of Research in Science, sie hätten mit der PET Aufnahmen vom Gehirn schlafender Versuchspersonen gemacht. Die Aufnahmen zeigten, daß die Präfrontallappen des Gehirns, der Sitz der höchsten kognitiven Funktionen, während der sogenannten REM-Phase des Schlafs, die durch schnelle Augenbewegungen und lebhaftes Träumen gekennzeichnet ist, inaktiv sind. Mit dem Hinweis darauf, daß die Präfrontallappen mit der höchsten Wahrscheinlichkeit Sitz der Freudschen Ich-Instanz seien, behaupteten die Forscher, ihre Studie widerlege die Freudsche Hypothese, daß Träume primitive libidinöse Regungen abbildeten, die durch das Ich gefiltert und in rätselhafte Symbole umgewandelt würden. Vielmehr seien Träume vermutlich nur das Resultat von Signalen, die dem Gehirn dabei helfen, herauszufinden, wann es genügend Schlaf hat. Die New York Times brachte einen Artikel über diese Experimente unter der Schlagzeile »Was Freud Wrong? Are Dreams the Brain's Start-Up Test?« (»Irrte sich Freud? Sind Träume der Anlauftest des Gehirns?«).29 Sechs Tage später veröffentlichte die Times Briefe von Kritikern der Kritiker. Howard Shevrin, ein Psychologe an der Universität von Michigan, meinte, der Bericht in Science habe bestätigt, daß in Träumen die Emotionen und Langzeiterinnerungen der Träumenden eine wichtige Rolle spielten. Dieser Befund »rückt die Neurowissenschaft näher an die Freudschen Theorien heran«. Die Behauptung der Forscher, »Freud hat sich geirrt«, meinte ein Psychoanalytiker beifällig, »ist Ausdruck ihrer Voreingenommenheit, nicht wissenschaftlicher Genauigkeit«. - 83
Empirische Studien über den Ödipuskomplex erbrachten ebenfalls keine schlüssigen Ergebnisse.30 Kulturvergleichende Studien deuteten darauf hin, daß Jungen keineswegs mit ihren Müttern kopulieren wollen, ja im allgemeinen kein weibliches Mitglied ihrer Familie sexuell begehren und auch keine andere weibliche Person, mit der sie in enger räumlicher Nähe aufwachsen. Nach Ansicht von Evolutionsbiologen ist diese Abneigung kein Ausdruck von Verdrängung, wie Freud meinte; vielmehr sei sie unseren Vorfahren von der natürlichen Selektion eingeflößt worden. Denn aus Inzest gehen oftmals Nachkommen mit defekten Erbanlagen hervor. Was soll man dann von einer Aussage halten wie »Mütter legen die sexuellen Präferenzen fest«, mit der ein 1998 in Nature erschienener Artikel überschrieben war? 31 In dem Aufsatz beschrieb eine Gruppe britischer und südafrikanischer Wissenschaftler Experimente, bei denen neugeborene Ziegen von weiblichen Schafen aufgezogen wurden. Die Forscher fanden heraus, daß die jungen Männchen - nicht aber die Weibchen - dazu neigen, das Spiel- und Putzverhalten ihrer »Pflegemütter« zu imitieren. Sobald die männlichen Tiere geschlechtsreif waren, zogen sie darüber hinaus die Gesellschaft von Weibchen vor - und mit ihnen zu kopulieren -, die eher ihren Pflegemüttern als ihren biologischen Müttern glichen. Anders gesagt, die Ziegenmännchen wollten sich mit Schafweibchen paaren und die Schafmännchen mit Ziegenweibchen. Die Studie »stützt indirekt Freuds Konzept des Ödipuskomplexes«, lautete das Fazit der Autoren. Einer der ehrgeizigsten Versuche, Freuds Leistungen wissenschaftlich zu würdigen, ist das 1996 erschienene Buch Freud Scientifically Reappraised. Die Psychologen Roger Greenberg und Seymour Fisher von der Staatsuniversität von New York in Syracuse bewerteten Freuds Werk auf der Basis ihrer Auswertung von über 1800 Studien, die in einem Zeitraum von mehr als sechzig Jahren veröffentlicht wurden. Sie - 84
wiesen darauf hin, daß die Freudsche Psychologie oft als eine monolithische Einheit betrachtet werde, die man als Ganzes annehmen oder ablehnen müsse. Tatsächlich stellte Freud zahlreiche Hypothesen auf, die nicht unbedingt voneinander abhängig waren; einige haben einer genaueren Prüfung standgehalten, andere nicht. Dies war das explizite Fazit von Freud Scientifically Reappraised. Das implizite Fazit lautete, daß es schwierig sei, irgendeine Freudsche Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen. Dies zeigte sich, als ich 1998 mit Greenberg sprach.32 (Fisher war Ende 1996 gestorben.) So sagte mir Greenberg, Fisher und er hätten Beweise sowohl für als auch gegen den Mechanismus der Verdrängung gefunden. Forschungen über das implizite Gedächtnis und verwandte Phänomene hätten bewiesen, daß »es Dinge gibt, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle ablaufen und sich auf die Reaktionen und das Verhalten von Menschen auswirken«, erklärte er. Zudem »versuchen Menschen einige ihrer unerwünschten Gefühle abzuspalten« - etwa homosexuelle Impulse. Dagegen würden Erinnerungen an traumatische Erlebnisse, anders als Freud behauptet habe, nur selten völlig verdrängt. Forschungen zahlreicher Psychologen - insbesondere von Elizabeth Loftus von der Universität von Washington - hätten gezeigt, daß es für Therapeuten äußerst leicht sei, falsche Erinnerungen in Patienten einzupflanzen. »In psychotherapeutischen Situationen sind Menschen sehr leicht beeinflußbar.« Ein empirisch gut abgesicherter Aspekt von Freuds Werk sei die Einteilung von Menschen in anale und orale Persönlichkeitstypen. »Es gibt einige recht passable Studien, die darauf hindeuten, daß diese Persönlichkeitstypen und die Merkmale, die er [Freud] mit ihnen in Verbindung brachte, tatsächlich existieren, wenn man die Forschungsergebnisse betrachtet«, sagte Greenberg. Anale Charakterzüge wie Eigensinn, Geiz und Ordnungsliebe »scheinen in denselben Personen zusam- 85
men vorzukommen, und sie scheinen mit analen Ängsten in Zusammenhang zu stehen«. Freud hatte behauptet, daß Eltern diese Merkmale bei ihren Kindern förderten, indem sie sie einer übermäßig frühen oder strengen Reinlichkeitserziehung unterwürfen. Doch wie aussagekräftig sind Studien, die die Reinlichkeitserziehung mit analen Charakterzügen bei Erwachsenen in Verbindung bringen? In seinem 1992 erschienenen Buch Freudian Fraud unterzog der Psychiater E. Füller Torrey Studien zu Freuds Analitäts-Hypothese, darunter einige, die auch von Greenberg und Fisher angeführt werden, einer kritischen Prüfung.33 Die meisten Studien machten keine Angaben über die Reinlichkeitserziehung der Probanden, und die anderen stellten meist keine Korrelation zwischen der Strenge der Reinlichkeitserziehung und analen Charakterzügen fest. Viele der Probanden, vor allem Psychologiestudenten, waren mit Freudianischen Konzepten vertraut und ahnten vielleicht, welche Antworten von ihnen erwartet wurden. Die Schwächen wurden auf beispielhafte Weise durch eine Studie verdeutlicht, die Seymour Fisher 1970 selbst durchführte. Fisher gab Studenten mehrere Fragebogen einschließlich einem »Body Focus Questionnaire«, mit dem er herausfinden wollte, welche Teile ihres Körpers den Studenten bewußtseinsmäßig am präsentesten sind. Die Studenten unterzogen sich auch dem sogenannten Blacky-Persönlichkeitstest; dieser besteht aus Bildern eines Hundes namens Blacky, der in Situationen gezeigt wird, die psychoanalytisch sehr bedeutungsgeladen sind. In einer Szene sieht Blacky einen anderen Hund, dessen Schwanz abgehackt wird, in einer anderen kotet Blacky zwischen den Hundehütten seiner Eltern. Fisher berichtete, daß Studenten mit einem hohen »Rükken-Bewußtsein« (das vermutlich den Hintern einschloß) »eine stärkere Empfindlichkeit für Reize mit analen Konnotationen, mehr negative Einstellungen zu Schmutz [und] eine - 86
stärkere Selbstbeherrschung« zeigten. E. Füller Torrey meinte dazu trocken: »Es wurden keine Daten über die Reinlichkeitserziehung erhoben. Hieraus folgt, daß Fisher lediglich einen Cluster von Persönlichkeitsmerkmalen nachgewiesen hat, die mit dem ›analen Charakter‹ konsistent sind, und daß CollegeStudenten mit diesen Merkmalen ein höheres ›Rücken-Bewußtsein‹ besaßen, vermutlich weil sie sich der Freudschen Theorie bewußt waren.«
»Crews Missiles« Wenn Freud noch nicht tot ist, so gewiß nicht wegen der unzureichenden Bemühungen Frederick Crews', ihn unter die Erde zu bringen. Crews, Professor für Englisch an der Universität von Kalifornien in Berkeley, äußerte schon in den frühen siebziger Jahren erstmals seine Skepsis gegenüber der Psychoanalyse. Seine Ansichten stießen jedoch erst in den Jahren 1993 und 1994, als er Freud in zwei Aufsätzen scharf angriff (»The Unknown Freud« und »The Revenge of the Repressed«), auf allgemeines öffentliches Interesse.34 Crews' Polemik erregte um so größeres Aufsehen, als sie in der New York Review of Books erschien, die als eine Bastion psychoanalytischen Gedankenguts galt. (Freud-Karikaturen schmücken noch immer die Bestellkarten der Zeitschrift.) Crews begnügte sich nicht damit, das abgedroschene Argument zu wiederholen, daß die Psychoanalyse keinerlei wissenschaftlichen oder therapeutischen Wert besitze. Er behauptete, Freud habe sich der »Unaufrichtigkeit und Feigheit« und schlimmerer Dinge schuldig gemacht.35 Crews enthüllte, daß Freud in den zwanziger Jahren bei einem seiner amerikanischen Anhänger, einem Psychoanalytiker namens Horace Frink, latente Homosexualität diagnostiziert habe. Freud riet Frink, gegen diese Regungen anzukämpfen, indem er sich von seiner - 87
Frau scheiden lasse und eine wohlhabende Erbin namens Angelika Bijur heirate, mit der Frink eine Affäre hatte. Gleichzeitig habe Freud Bijur gedrängt, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen und Frink zu heiraten. Freuds eigentliches Motiv, das er in seinen Briefen offenlegte, bestand darin, Bijur Spenden zu entlocken. Frink und Bijur folgten Freuds Weisungen; sie ließen sich von ihren Ehegatten scheiden und heirateten, was katastrophale Folgen nach sich zog. Die geschiedenen Ehegatten starben, kurz nachdem sie verlassen worden waren. Anschließend ließ sich Bijur von Frink scheiden, der in eine psychotische Depression verfiel. »Wir besitzen keine Dokumente darüber, ob Freud jemals sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, daß er das Leben dieser vier Menschen zerstört hatte«, bemerkte Crews, »aber wir wissen, daß es nicht zu ihm gepaßt hätte, dies zu tun.«36 Crews' schwerwiegendster Vorwurf lautete, Freud sei der geistige Urvater der »erinnerungsaufdeckenden Therapie«, die von Kritikern auch »Therapie zur Aufdeckung falscher Erinnerungen« genannt werde. Schätzungen zufolge haben sich etwa eine Million Patienten in den Vereinigten Staaten irgendeiner Form dieser Therapie unterzogen.37 Therapeuten, die nach dieser Methode arbeiten, behaupten, sehr viele Kinder würden von Eltern und anderen Erwachsenen körperlich und sexuell mißbraucht; obgleich diese Kinder Erinnerungen an den Mißbrauch verdrängten, litten sie als Erwachsene oft unter psychischen Störungen. Die Therapeuten helfen den Patienten, sich gleichsam kathartisch von ihren Schwierigkeiten zu befreien, indem sie diese verdrängten Mißbrauchserlebnisse der Vergessenheit entreißen. Als die »erinnerungsaufdeckende Therapie« in den achtziger Jahren einen regelrechten Boom erlebte, beschuldigten Tausende von Patienten, überwiegend Frauen, ihre Eltern und andere Erwachsene sie mißbraucht zu haben. Einige dieser Fälle führten zur Anklage und zur Verurteilung der mutmaß- 88
lichen Mißbrauchstäter, selbst wenn es keine Beweise gab, die die aufgedeckten Erinnerungen bestätigt hätten. Die ganze Bewegung fiel schließlich in sich zusammen, als Patienten immer aberwitzigere und unglaublichere Beschuldigungen erhoben (die sich um satanische Rituale, Orgien, Menschenopfer und sogar Außerirdische drehten). Psychologen, die sich auf die Erforschung des Gedächtnisses spezialisiert hatten, bezeugten, daß keineswegs gesichert sei, daß Erinnerungen jahrzehntelang verdrängt und dann in unverfälschter Form wieder ausgegraben werden könnten. Viele Patienten widerriefen ihre Beschuldigungen und beklagten, daß ihre Therapeuten die Mißbrauchserinnerungen in sie eingepflanzt hätten. Einige verklagten ihre Therapeuten erfolgreich auf Schadensersatz wegen Verletzung der beruflichen Sorgfaltspflicht. Crews räumte ein, daß es auf den ersten Blick unfair erscheinen mag, Freud die Schuld an diesem verstörenden modernen Phänomen zu geben. Im Jahr 1896 postulierte Freud für kurze Zeit die sogenannte Verführungstheorie, wonach Frauen, die an Hysterie litten, in ihrer Kindheit von ihren Vätern oder anderen Erwachsenen sexuell mißbraucht worden seien; ihre Hysterie war angeblich auf die Verdrängung dieser traumatischen Erinnerungen zurückzuführen. Freud nahm diese Hypothese jedoch bald darauf wieder zurück und behauptete nunmehr, seine Patientinnen hätten sich lediglich eingebildet, in ihrer Kindheit mißbraucht worden zu sein; ihre psychische Störung sei auf die Verdrängung dieser unsittlichen ödipalen Phantasien zurückzuführen. So wurde die Psychoanalyse geboren. Wenn Freud ausdrücklich sexuellen Mißbrauch als Hauptursache psychischer Störungen verwarf, wie konnte Crews ihm dann die Urheberschaft an der zeitgenössischen erinnerungsauf deckenden Therapie anlasten? Die Antwort lautet, so Crews, daß sich die erinnerungsaufdeckende Therapie auf mehrere Freudsche Konzepte stütze. Sowohl Freuds ursprüng- 89
liche Verführungstheorie als auch seine Theorie des Ödipuskomplexes fußten auf derselben Annahme: Viele Patienten verdrängten Erinnerungen an entweder phantasierte oder reale sexuelle Ereignisse in der Kindheit. Doch Crews zufolge hat keiner von Freuds Patienten Freud von sich aus derartige Erinnerungen erzählt. Vielmehr hätten sie dies erst nach entsprechender Suggestion und, in manchen Fällen, Einschüchterung durch Freud getan. Crews untermauerte seine Behauptung mit einer erdrükkenden Fülle von Zitaten aus Werken von Freud. Bei der Erörterung der Erinnerungen seiner Patientinnen an sexuelle Erlebnisse erklärte Freud 1896: »Die Kranken wissen vor Anwendung der Analyse nichts von diesen Szenen [...] sie können nur durch den stärksten Zwang der Behandlung bewogen werden, sich in deren Reproduktion einzulassen.«38 An anderer Stelle schrieb Freud, »es handelt sich ja wesentlich darum, daß ich das Geheimnis errate und es dem Kranken ins Gesicht zu sage«39. Crews folgerte daraus: »Weil Freud sowohl vor als auch nach der Ausarbeitung der psychoanalytischen Theorie seine Patienten dazu anstachelte, sich an nichtreale sexuelle Ereignisse zu erinnern, ist er der eigentliche historische Taufpate des ›Syndroms der falschen Erinnerungen‹.«40 Crews Doppelattacke auf Freud in der New York Review of Books provozierte mehr Leserbriefe als jeder frühere Artikel in der Geschichte der Zeitschrift. Ein Beobachter bemerkte: Die New York Review of Books galt vielen als das offizielle Organ einer bestimmten Gruppe der liberalen Intelligenzija Amerikas, die der Psychoanalyse sehr wohlwollend gegenüberstand. Was wirklich weh tat, war die Tatsache, daß Frederick Crews' Kritik an Freud dort so groß herausgebracht wurde. Wenn Tom Paine zu einer Predigt in der Kathedrale von Canterbury eingeladen worden wäre oder wenn der Papst Voltaire aufgefor-
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dert hätte, eine Messe im Vatikan zu zelebrieren, hätte das Gefühl der Entweihung unter den Gläubigen kaum größer sein kön41 nen.
Ich begegnete Crews erstmals in der Lobby eines Hotels nahe dem Campus der Yale-Universität, wo er tags darauf an einem öffentlichen Symposion über Freud teilnehmen sollte.42 Er war groß und schlank; das Drahtgestell seiner Brille verlieh ihm ein asketisches Aussehen. Er war gekleidet wie ein Henker: schwarzer Regenmantel über einem schwarzen kragenlosen Hemd, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Als wir beim Abendessen im Hotelrestaurant miteinander plauderten, sprach er meist mit ruhiger, monotoner Stimme. Doch hinter seiner oberflächlich zurückhaltenden, ja sogar schüchternen Art verbarg sich eine erbitterte Entschlossenheit und Selbstsicherheit. Egal welche Einwände ich vorbrachte, Crews parierte sie mit einer hieb- und stichfest durchdachten Antwort. Als ich bemängelte, Crews unterschätze die Stärke des Einflusses, den die Psychoanalyse noch immer auf die Wissenschaft und die übrige Kultur ausübe, erwiderte er: »Ganz im Gegenteil, ich bin mir dessen wohl bewußt, und aus diesem Grund bin ich nach wie vor der Ansicht, daß sie Kritik verdient. Wenn sie nicht so einflußreich wäre, könnte ich schlicht den Mund halten.« Dennoch, so Crews, ergebe eine genauere Prüfung der Zitate in Wissenschaftsmagazinen und anderen Publikationen, daß die Psychoanalyse einen »steilen Abwärtstrend« erlebe. Crews widersprach aufs entschiedenste der Vorstellung, Neurowissenschaft und Kognitionswissenschaft hätten Freud bestätigt, indem sie die Existenz eines unbewußten beziehungsweise impliziten Gedächtnisses bewiesen hätten. Wer ein Auto fahre, tue dies mehr oder minder ohne bewußtes Nachdenken, räumte Crews ein. »Im selben Sinne läuft unser psychisches Leben größtenteils unterhalb der Oberfläche des
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Bewußtseins ab. Doch dies ist keinesfalls ein Beweis für die Existenz eines dynamischen Unbewußten im Freudschen Sinne, in dem es angeblich von verdrängten Begierden und Ängsten und traumatischen Erinnerungen wimmelt.« Die Beweislage für das freudianische Unbewußte sei bestenfalls dürftig, so Crews. Im Fall der Freudschen Fehlleistung beispielsweise »hat Freud schlichtweg unterstellt, daß sie den Tiefen des Unbewußten entspringe und entweder aggressiver oder sexueller Natur sei«. Eine sehr viel plausiblere Erklärung für solche Fehlleistungen sei von dem italienischen Geisteswissenschaftler Sebastiano Timpanaro vorgeschlagen worden, der eine Autorität auf dem Gebiet der Verfälschung antiker Texte sei. Timpanaro habe durch akribische Forschungen nachgewiesen, daß Schreiber, die Abschriften von antiken Texten anfertigten, oft unabsichtlich Fehler in ihre Kopien einfügten, indem sie exotische Wörter durch geläufige ersetzten. Timpanaro nannte diesen Prozeß »Banalisierung«.43 »Wenn ein Wort im Original etwas ungewöhnlich ist«, erläuterte Crews, »wird es durch den Fehler banalisiert, vertrauter gemacht und näher an die Welt des Übersetzers herangeführt. Eine Banalisierung kann zur nächsten führen, bis man einen stark verfälschten Text erhält.« Timpanaro behauptete, Freuds eigene Beispiele sprachlicher Fehlleistungen ließen sich ohne weiteres mit der Banalisierung erklären. Indem Freud diese naheliegende Alternative außer acht gelassen habe, so Crews, habe er gegen »Ockhams Rasiermesserprinzip« verstoßen, wonach die einfachsten Erklärungen, die sich auf die wenigsten Annahmen stützen, die besten seien. »Freud hat dies nie getan«, sagte Crews. »In all seinen Schriften gibt es keinen Fall, in dem er sich um die naheliegendste Erklärung bemüht hätte.« Das Argument, daß keine wissenschaftliche Theorie den Anforderungen gerecht werden könne, die er an die Psychoanalyse stelle, ließ Crews kalt. »Meine Einwände gegen die Psy- 92
choanalyse sind trivial«, sagte er. Die Psychoanalyse »rechtfertigt ihre Hypothesen unter Rückgriff auf ihre eigenen Deutungen. Wenn sie die Hypothese der Ich-Instanz rechtfertigen will, tut sie dies, indem sie die Äußerungen eines Patienten im Licht der Ich-Theorie interpretiert. Es gibt keine allgemein anerkannte Wissenschaft auf der Welt, die so verfährt.« So richtig in Fahrt kam Crews, als wir auf die »erinnerungsauf deckende Therapie« zu sprechen kamen, die er »einen Kunstfehler kriminellen Stils«, »reinsten Schamanismus« und »völlige Scharlatanerie« nannte. Wenn er und andere diese therapeutische Bewegung nicht kritisieren und nicht ihren Freudschen Ursprung aufdecken würden, fürchtete Crews, könne sie immer wieder aufleben. »Wenn wir die Grundannahmen nicht in Frage stellen, werden wir immer wieder das gleiche erleben.« Ich fragte Crews, weshalb er, nach eigenem Bekunden ein Atheist, seinen Zorn gegen die Psychoanalyse und nicht die Religion richte, die im Verlauf der Geschichte wohl viel mehr Schaden angerichtet habe. Er räumte ein, daß religiöser Glaube oft zu Intoleranz, zu »fanatischen Kreuzzügen und Pogromen« geführt habe. Dennoch, so fügte er hinzu, »würde ich nicht behaupten, daß Religion immer und überall ein negativer Einfluß war. Offenkundig ist alles, was den inneren Zusammenhalt einer menschlichen Gesellschaft fördert, ohne anderen Völkern größeren Schaden zuzufügen, ein Vorteil.« Die Religion könne den sozialen Zusammenhalt und die sittliche Gesinnung in Gemeinschaften heben, die diese Eigenschaften dringend benötigten, wie etwa die Innenstädte. »Jede Gesellschaft lebt von Mythen, und wenn sie gar keine Mythen mehr hat, ist sie in großen Schwierigkeiten.« Er sagte leise, wie zu sich selbst: »Ich persönlich habe keine Mythen mehr.« Er hielt inne. »Ich hoffe es zumindest.« Am nächsten Tag fand ich mich mit mehreren hundert anderen in einem großen holzgetäfelten Hörsaal der Yale-Uni- 93
versität ein, um Crews dabei zu beobachten, wie er sich mit Freud-Anhängern stritt. Crews begann seinen Vortrag, indem er den Titel der Konferenz aufgriff: »Wessen Freud? Der Platz der Psychoanalyse in der zeitgenössischen Kultur«44. »Auf die im Titel dieser Konferenz gestellte Frage«, erklärte Crews, »kann ich eine einfache Antwort geben: Das hängt ganz und gar von Ihnen ab. Nehmen Sie meinen Freud, bitte! Aber wollen Sie ihn wirklich, den fanatischen, aufgeblasenen, rücksichtslosen, kurzsichtigen und doch subtil verschlagenen Freud, der von unabhängigen Forschern der letzten Generation ausgegraben wurde, oder ziehen Sie den Freud der selbstgeschaffenen Legende vor, dessen Name noch immer die Illusion heraufbeschwören kann, die ›Wahrheit der Psychoanalyse‹ werde durch das bloße Genie ihres Entdeckers beglaubigt?« Als Crews weitere zwanzig Minuten in dieser Weise fortfuhr, reagierten die Zuhörer mit Zischlauten und einem leisen Pfiff, aber auch mit einigen Lachern. Unterdessen lieferte ein anderes Mitglied der Diskussionsrunde, Robert Michels, ein Psychoanalytiker und Professor für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Cornell-Universität, einen mimischen Kommentar, indem er grinste, die Augenbrauen hob, die Augen rollte und den Kopf schüttelte. Als Michels das Wort erteilt wurde, erklärte er, daß es ihm als Psychiater egal sei, ob die Wahrheit der Psychoanalyse wissenschaftlich erwiesen sei; seine einzige Sorge gelte dem Wohlergehen seiner Patienten. Michels wußte aus persönlicher Erfahrung, daß die Psychoanalyse Patienten half, und das genügte ihm. Die beiden anderen Redner in Crews' Sitzung, Judith Butler, Professorin für Literatur an der Universität von Kalifornien in Berkeley, und Juliet Mitchell, Psychoanalytikerin und Dozentin an der Universität Cambridge, bekundeten ihr Unbehagen an Crews' Ansatz. Butler behauptete, daß Theorien über die menschliche Erfahrung andere Methoden der wissenschaftlichen Überprüfung erforderten als Theorien über nicht- 94
psychologische Phänomene. Crews' beharrliche Forderung, wissenschaftliche Theorien müßten durch empirische Befunde bestätigt werden, würden zu einer »Verarmung« der Wissenschaft führen. Sowohl Butler als auch Mitchell schienen dafür zu plädieren, die moderne Psychoanalyse solle der Gesellschaft dabei helfen, ein breiteres Spektrum möglicher - einschließlich inzestuöser - Beziehungen zwischen Eltern und Kindern tolerieren zu lernen. Zumindest verstand ich sie in diesem Sinne - beide sprachen in einem beinahe parodistisch unverständlichen Fach chinesisch. So sagte Butler einmal: »Die Verbote, die dazu dienen, nichtnormative soziale Interaktionen zu untersagen, dienen auch dazu, die Normen der mutmaßlich heterosexuellen Verwandtschaft einzusetzen und zu steuern, wo Positionen wie Mutter und Vater differentielle Effekte des Inzesttabus sind. Manche Psychoanalytiker behandeln diese Positionen so, als ob sie zeitlose und notwendige Positionen sind, psychische Platzhalter, die jedes Kind besetzt oder mit dem Erlernen der Sprache erwirbt. Damit wird meines Erachtens die Tatsache übersehen, daß Verwandtschaft eine kontingente soziale Praxis ist und daß es keine symbolische Position von Mutter und Vater gibt, die nicht in ebenjener Idealisierung und Verknöcherung kontingenter kultureller Normen besteht.« Während der anschließenden Diskussion wandte sich Butler zu Crews und fragte ihn mit einem verschmitzten Lächeln, weshalb er in seinen einleitenden Worten gesagt hatte: »Nehmen Sie meinen Freud.« Weshalb nicht »Ihren Freud«? Damit wollte sie offenkundig zu verstehen geben, daß Crews eine Freudsche Fehlleistung unterlaufen sei. Durch seine Wortwahl habe er unabsichtlich die verdrängte ödipale Bindung an Freud enthüllt, die hinter seiner bewußten Feindseligkeit stehe. Crews antwortete Butler seinerseits mit einem verschmitzten Lächeln. Eigentlich habe er lediglich Henny Youngman, der erst wenige Wochen zuvor gestorben war und zu Crews' Lieb- 95
lingskomikern gehört hatte, seine Hochachtung bezeigen wollen. Youngmans »Markenzeichenwitz« habe gelautet: »Nehmen Sie meine Frau. Bitte.«
Der Skeptiker Steven Hyman Crews' Sicht von Freud und von der Psychoanalyse ist weitgehend schlüssig. Ich warte noch immer auf eine überzeugende Widerlegung der meines Erachtens schwerwiegendsten Beschuldigung Crews', daß Freud die »klinischen Beweise«, die ihn dazu veranlaßten, den Ödipuskomplex und andere Schlüsselelemente der Psychoanalyse zu postulieren, erfunden habe. Jedenfalls hat keiner der Freud-Anhänger unter den Diskussionsteilnehmern bei der Yale-Konferenz Crews glaubhaft wiederlegt; und das gleiche gilt für diejenigen, die auf seine Artikel in der New York Review of Books mit Leserbriefen antworteten. Auch die Tagung im Waldorf-Astoria, an der ich im Frühjahr 1996 teilnahm und die ich am Anfang dieses Kapitels beschrieb, erhärtete die von Crews postulierte Verbindung zwischen Psychoanalyse und erinnerungsaufdeckender Therapie. In einem überfüllten Seminar diskutierten fünf Therapeutinnen über »individuelle und paarbezogene Behandlung eines Inzestopfers«.45 Eine Sprecherin ging auf die in jüngster Zeit erhobenen Vorwürfe ein, manche Therapeuten würden »falsche Erinnerungen« an schreckliche Mißbrauchserlebnisse im Kindesalter in Patienten »einpflanzen«. Die Zuhörer spendeten Beifall, als die Sprecherin diese Vorwürfe »reaktionär« und »misogyn« nannte; diejenigen, welche diese Behauptungen aufstellten, verfolgten offensichtlich »hinter dem dünnen Schleier der Wissenschaft politische Ziele«. Sie räumte ein, daß sie die recht abstrusen Erinnerungen mancher Patienten, insbesondere solche, die sich um rituelle - 96
Menschenopfer und andere Greuel drehten, für die es keinerlei physische Beweise gebe, beunruhigten. Wie solle man mit diesen Behauptungen umgehen, fragte die Sprecherin. Eine andere Teilnehmerin der Diskussionsrunde antwortete, es sei nicht Aufgabe des Therapeuten, festzustellen, ob der Mißbrauch, an den sich ein Patient erinnere, tatsächlich stattgefunden habe. »Wir können lediglich wissen, wie die emotionale Wahrheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt aussieht.« Es könne »gefährlich und beschränkend sein«, ein »kohärentes Gesamtbild« der Geschichte eines Patienten entwerfen zu wollen. Das Schaffen eines »emotional sicheren Umfeldes« habe »Vorrang vor allem anderen«. Das gleiche Desinteresse an der Wahrheit kennzeichnete auch andere Veranstaltungen. Ein Sprecher hielt einen Vortrag, in dem es, soweit ich verstanden habe, darum ging, daß die Psychoanalytiker erkennen müßten, daß sie ihre Patienten niemals richtig verstehen könnten, da die menschliche Psyche kein »einheitliches Phänomen« sei, sondern »nichtlinear«.46 Der Psychoanalytiker »arbeitet in einem komplexen Feld veränderlicher Gegebenheiten«, und folglich sei seine Einstellung gegenüber einem Patienten zu jedem beliebigen Zeitpunkt »immer per se sowohl richtig als auch falsch«. Wenn der Analytiker sich damit abfinde, daß er einen Patienten niemals hundertprozentig verstehen könne, »legt er das Entwicklungspotential des Patienten zurück in dessen eigene Hände«. Ironischerweise lehnte Freud selbst diese postmoderne Einstellung zur Wahrheit (was immer sie ist) entschieden ab. In Die Zukunft einer Illusion widersprach Freud der »radikalen« Behauptung, »daß sie [die wissenschaftliche Bemühung] nichts anderes als subjektive Ergebnisse liefern kann, während ihr die wirkliche Natur der Dinge außer uns unzugänglich bleibt«.47 Selbstverständlich untergrub Freuds Methode, Beweise für seine Theorien zu sammeln – seine »Immunisierungsstrategie« -, seine eigenen Objektivitätsansprüche. - 97
Mein Haupteinwand gegen Frederick Crews ist die Tatsache, daß er an einem »Tunnelsehen« leidet. Er ist so auf die Schwächen der Psychoanalyse fixiert, daß er sich weigert, den geringsten Nutzen in ihr zu sehen. Und er stellt die Psychoanalyse auch nicht in ihren umfassenderen wissenschaftlichen Kontext. Die Grenzen seiner Kritik zeigen sich dort am deutlichsten, wo er zu erklären versucht, weshalb die Psychoanalyse trotz ihrer offenkundigen Mängel weiterhin selbst eingefleischte Naturwissenschaftler nachhaltig beeinflußt. Genauer gesagt, weshalb bringen Eric Kandel, Gerald Edelman und andere prominente Neurowissenschaftler der Psychoanalyse noch immer eine hohe Wertschätzung entgegen? Als ich Crews diese Frage stellte, äußerte er die Vermutung, sie seien bei ihren Psychoanalysen einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Er verglich die Psychoanalyse mit einer religiösen Sekte, die sich auf nichts so gut verstehe wie auf ihre Selbsterhaltung. »Wer eine freudianische Therapie abschließt, wird selbst zum Freudianer«, sagte Crews. »Er wird nicht etwa geheilt. Vielmehr zieht er hinaus in die Welt wie ein Seelenjäger und bekehrt andere zum Freudianismus.« Diese Antwort ist in zweifacher Hinsicht ungenügend. Erstens verkennt sie die außerordentliche Faszination, die von den Schriften Freuds ausgeht (auf die ich in Kürze eingehen werde). Zweitens läßt sie die Unzulänglichkeiten sämtlicher Alternativen zur Psychoanalyse außer Betracht. Die Psychologen Roger Greenberg und Seymour Fisher äußerten dieses Argument in Freud Scientifically Reappraised. Sie geben zu, daß die Psychoanalyse nicht den von einigen Kritikern aufgestellten Beweisanforderungen genüge. Doch wer immer eine solche »überperfektionistische Sichtweise« vertrete, so Greenberg und Fisher, müsse zugeben, daß »keine psychologische Theorie hinreichend empirisch überprüft worden ist«.48 Namentlich die Verfechter eines biologischen Erklärungsmodells für psychische Erkrankungen, die zu den schärfsten Kritikern - 98
Freuds gehörten, hätten die Überlegenheit ihres Ansatzes keineswegs nachgewiesen. »Es wäre verfrüht, die gegenwärtigen glorreichen Wunschträume einer biologischen Psychiatrie in ein Programm zu übersetzen, das psychodynamische Schemata verbietet.« Anders gesagt, wenn die Psychoanalyse eine unvollkommene und unbewiesene Spielart der Wissenschaft vom menschlichen Geist ist, gilt dies auch für all ihre selbsternannten Nachfolger. Es sind nicht bloß Psychologen wie Greenberg und Fisher - oder Journalisten wie ich -, die diesen Standpunkt einnehmen. Auch einer der herausragendsten Vertreter der modernen biologischen Psychiatrie, Steven Hyman, ist weitgehend dieser Ansicht. Im Jahr 1996 wurde Hyman, der als Psychiater und Neurowissenschaftler an der Harvard-Universität lehrte, zum Direktor des National Institute of Mental Health ernannt, wo er für ein Forschungsbudget von achthundert Millionen Dollar verantwortlich ist. Kurz nach seiner Ernennung traf ich ihn bei der Jahrestagung der American Psychiatrie Association in New York.49 Mit seinem fein säuberlich gestutzten Bart und seinem mächtigen Unterkiefer ähnelt er etwas dem jungen Freud. Doch der Schein trügt, er ist kein Freudianer. Obgleich ihn einige psychoanalytische Schriften beeindruckten, fand er die psychoanalytischen Erklärungen der Seele letztlich unbefriedigend. »Ihre Schriften waren echte Glanzleistungen. Sie klangen plausibel. Sie gaben Erklärungen für Phänomene, die nach Erklärungen verlangten. Doch es hat mich immer gestört, daß sie möglicherweise nichts anderes als gute Geschichten waren.« Andererseits kamen Hyman einige »einfache pharmakologische Modelle« psychischer Erkrankungen ebenfalls wie bloße »Geschichten« vor. »Ich bin ein Skeptiker gegenüber allen Seiten«, sagte er. Anhänger solcher Modelle beschrieben die Depression oft als eine chemische Störung, die sich mit Medikamenten wie Fluctin behandeln lasse, welche die Kon- 99
zentration des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn steigern. »Dabei drängt sich mir die Frage auf: Was bedeutet das? Ist das eine Antwort?« Die reduktionistischen Methoden der Molekularbiologie und der Neurowissenschaft hätten sich in den letzten Jahrzehnten als äußerst fruchtbar erwiesen, sagte Hyman. »Wir leben in einem Zeitalter, in dem diese Fortschritte in der molekularen und zellulären Neurobiologie eine allgemeine Euphorie auslösen. Dennoch«, fuhr er fort, »werden wir nach der Klonierung des nächsten Serotoninrezeptors, den wir entdekken, nicht sagen können: ›Jetzt verstehen wir, wie das Gehirn funktioniert.‹« Hyman vertrat eine ähnliche Einstellung gegenüber der Verhaltensgenetik. Durch Studien an eineiigen Zwillingen und andere Forschungen versuchten Verhaltensgenetiker den relativen Beitrag der Gene und der Umwelt zu verschiedenen menschlichen Merkmalen und Erkrankungen abzuschätzen. »Es ist eine viel zu grobe Vereinfachung, wenn man für eine Person angeben will, welcher Prozentsatz eines bestimmten Merkmals durch Gene und welcher Prozentsatz durch die Umwelt festgelegt wird, denn die gegebene Umwelt könnte die relativen Beiträge verändern.« Die Identifikation der Gene, die eine Anfälligkeit für Schizophrenie und andere Erkrankungen erzeugen, würde einen gewaltigen Fortschritt darstellen, sagte Hyman. Doch er gab zu bedenken, daß die Forscher noch immer herausfinden müßten, in was für einer Wechselwirkung solche Gene bei der Entwicklung eines Gehirns, das an Schizophrenie erkrankt, miteinander und mit der Umwelt stehen. »Und ich nehme an, daß sich dies nicht leicht lösen lassen wird.« Was die Evolutionspsychologie anbelangt, die die Psyche mit Hilfe der Darwinschen Theorie der natürlichen Selektion zu erklären versucht, so fand Hyman sie, ähnlich wie die Psychoanalyse, faszinierend, aber auch frustrierend. Evolutions- 100
Psychologen »spielen ihre Unfähigkeit, ihre Behauptungen experimentell zu überprüfen, oftmals in einer Weise herunter, die an die Psychoanalyse erinnert«. Es liege eine »schwerwiegende Gefahr« darin, so Hyman weiter, die Psyche in erster Linie als ein von der natürlichen Selektion gestaltetes Instrument zur Förderung der Verbreitung unserer Gene anzusehen. Als empirisch ausgerichteten Biologen erstaune es ihn, wie »behelfsmäßig zusammengebastelt« Organismen seien. Evolutionspsychologen »unterschätzen die Tatsache, daß die Frühgeschichte der Entstehung unseres Gehirns möglicherweise Randbedingungen für die Anpassung beziehungsweise für das Material, das selektiert werden konnte, festgelegt hat«. Es sei nicht verwunderlich, daß all diese Ansätze ihre gesteckten Ziele nicht erreichten, wenn man bedenke, daß »die Aufklärung der Funktionsweise des Gehirns und der möglichen Störungen das schwierigste Unternehmen ist, das die Menschheit in Angriff genommen hat«. Die anhaltende Debatte über die Ideen Freuds deute darauf hin, daß Psychologie, Psychiatrie, Neurowissenschaft und andere Disziplinen, die sich der Erforschung des Geistes widmeten, noch nicht ausgereift seien; schließlich sei das Gebiet der Infektionskrankheiten nicht mehr durch Kontroversen zwischen Anhängern und Gegnern Pasteurs gespalten. In ausgereiften Wissenschaften, sagte Hyman, prüften Forscher nur selten Befunde, die älter seien als fünf Jahre. War Hyman überzeugt davon, daß wir die Psyche und ihre Erkrankungen eines Tages vollkommen verstehen würden? Er verzog das Gesicht, während er über die Frage nachsann. »Wenn man Patienten begegnet«, sagte er vorsichtig, »wünscht man sich aus Mitleid, man könnte alles tun, was man wollte.« Andererseits müßten Forscher vermeiden, sich an »schlechten Modellen der Funktionsweise des Gehirns festzuklammern, gleich ob sie freudianisch sind oder einem einfachen pharmakologischen Reduktionismus frönen«. - 101
Freud als Erzähler Wenn man wissenschaftliche »Erzählungen« nicht nach ihrer empirischen Gültigkeit auseinanderhalten kann, läßt man sich wahrscheinlich von ästhetischen Faktoren beeinflussen. Freuds rhetorische Begabung wurde von Freund und Feind anerkannt. Im Jahr 1985 nannte der Psychologe Hans Eysenck, ein erbitterter Gegner der Psychoanalyse, Freud »ein Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Propaganda, nicht des stringenten Beweises, sondern der Überzeugung, nicht der Planung von Experimenten, sondern der Literatur. Er steht nicht, wie er behauptete, in einer Reihe mit Kopernikus und Darwin, sondern mit Hans Christian Andersen und den Gebrüdern Grimm, Märchenerzählern.«50 Der Molekularbiologe und Neurowissenschaftler Francis Crick, Mitentdecker der DNA-Doppelhelix, stimmte dem zu. »Nach modernen Maßstäben«, schrieb Crick, »kann Freud kaum als Wissenschaftler betrachtet werden; vielmehr war er ein Arzt, der viele neue Ideen hatte, die er überzeugend und ungewöhnlich gut formulierte.«51 Nach dem Urteil des Literaturtheoretikers Harold Bloom von der Yale-Universität dagegen war Freud nicht bloß ein guter Schriftsteller. In seinem Buch The Western Canon schloß Bloom Freud in seine Liste der sechsundzwanzig bedeutendsten Schriftsteller aller Zeiten ein. Freud sei zusammen mit Marcel Proust, James Joyce und Franz Kafka ein zentraler Schriftsteller des modernen »chaotischen Zeitalters«. Bloom machte sich keine Illusionen über die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse, die er eine Form des »Schamanismus« nannte, die »am Sterben oder schon tot ist«. Doch Freuds Arbeit, fuhr Bloom fort, »die die Gesamtheit der menschlichen Natur beschreibt, geht weit über die Freudsche Therapie hinaus. Wenn es eine Quintessenz des Freudschen Denkens gibt, muß sie in seiner Vision eines Bürgerkriegs innerhalb der Psyche liegen.«52
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Paul Gray, der Literaturkritiker der Time, kam in seiner berühmten Titelgeschichte »Ist Freud tot?« zum selben Schluß. Er pflichtete der Behauptung von Crews und anderen Kritikern bei, daß Freud sowohl als Wissenschaftler wie auch als Mensch gravierende Schwächen gehabt habe. Dennoch sagte er voraus, daß Freud als Schriftsteller überdauern würde. »Ungeachtet seines Machtwillens und seines Buhlens um Einfluß, ungeachtet auch seines rücksichtslosen Hinweggehens über Kollegen und Patienten, ungeachtet aller vorsätzlichen Sünden, die frühere und heutige Kritiker auf seine Couch packen, gelang es ihm, ein Theoriegebäude zu errichten, das der subjektiven Lebens- und damit Leidenserfahrung des einzelnen näher zu stehen scheint als alle anderen Systeme, die gegenwärtig zur Diskussion stehen.«53 Selbst Frederick Crews geriet eine Zeitlang in Freuds Bann.54 Crews begann mit der Lektüre der Freudschen Werke, als er in den fünfziger Jahren in Princeton studierte, und nur die hohen Ausbildungskosten hielten ihn davon ab, selbst Psychoanalytiker zu werden. Zu Beginn seiner akademischen Laufbahn benutzte er die Psychoanalyse als Instrument der literarischen Analyse in seinen Lehrveranstaltungen und Schriften. In der 1966 erschienenen Studie The Sins of the Fathers: Hawthorne's Psychological Themes behauptete Crews, The Scarlet Letter und andere Werke von Nathaniel Hawthorne »nehmen die Befunde der Psychoanalyse vorweg, und die geheimsten Belange seines künstlerischen Schaffens stimmen ausnahmslos mit denjenigen überein, denen auch Freud größte Bedeutung beimaß«. Crews' Buch gilt noch immer als ein Klassiker der freudianischen Literaturwissenschaft. Nach wohl einhelliger Auffassung hat Freud, wenn schon keine wissenschaftlichen, so doch bedeutende literarische Erkenntnisse zutage gefördert. Mehrere prominente Wissenschaftler sind der Auffassung, daß in Anbetracht der bisher sehr dürftigen wissenschaftlichen Erfolgsbilanz tiefe Einblik- 103
ke in die menschliche Psyche möglicherweise immer eher literarischen als wissenschaftlichen Charakter haben werden. Clifford Geertz meint sogar, daß Kontroversen über die menschliche Natur - anders als Probleme in der Kernphysik oder der Molekularbiologie oder in »sachlicheren« wissenschaftlichen Disziplinen - niemals eindeutig durch Rückgriff auf empirische Daten gelöst werden könnten. Seines Erachtens ist sein Fachgebiet, die Anthropologie, ein halb literarisches, halb wissenschaftliches Projekt und werde dies vielleicht immer bleiben. Der von Geertz geprägte Begriff Faktion, den er als »imaginatives Schreiben über reale Menschen an realen Orten zu realen Zeitpunkten« definiert,55 ist eine passende Beschreibung für Freuds Fallgeschichten. (Falls Freud diese Fallgeschichten größtenteils selbst erfunden hat, würden sie allerdings nicht einmal als »Faktion« gelten können.) Ähnliches vertrat Howard Gardner, Psychologe und Pädagogikprofessor an der Harvard-Universität. Er ist Kodirektor des Harvard-Projektes Zero, das die psychischen Grundlagen von künstlerischer Produktivität, Kreativität und Lernen erforscht. Für Furore sorgte seine 1983 in Frames of Mind postulierte Hypothese, daß der Mensch keine homogene, multifunktionale Intelligenz besitze, sondern »vielfache Intelligenzen«, die auf verschiedene Aufgaben zugeschnitten seien.56 In Extraordinary Minds legte er Fallstudien über vier archetypische Genien vor. Gandhi war demnach ein »Beeinflusser«, der über eine geradezu unheimliche Führungsfähigkeit verfügte; Virginia Woolf gehörte zum Typus des »Introspektors«, der sich hervorragend darauf versteht, seine innerseelischen Vorgänge aufzudecken; Mozart war ein »Meister«, der einem bereits bestehenden Gebiet künstlerischer Kreativität sein Gepräge gab; Freud war ein »Macher«, der praktisch von Grund auf eine neue wissenschaftliche Disziplin erfand. Freud sei weder ein schlechter Beeinflusser noch ein Introspektor gewesen, bemerkte Gardner. - 104
Vor unserer ersten Begegnung hatte ich mir Gardner als einen ernsten, liebenswürdigen Mann vorgestellt.57 Seine Schriften über vielfache Intelligenzen atmeten diese Eigenschaften ebenso wie einen altmodischen, romantischen Liberalismus. Das Leitprinzip seiner wissenschaftlichen Tätigkeit schien zu lauten, daß die Pädagogik jede Person als ein einzigartiges Individuum mit spezifischen Charakterzügen, die nicht in einem IQ-Wert erfaßt werden können, behandeln sollte. Gardner in Person war dagegen genauso scharfzüngig wie Frederick Crews. Gardner hat jedoch nicht nur die Psychoanalyse im Visier, sondern das gesamte Gebiet der Psychologie. Die Psychologie, eröffnete er mir, stehe nicht etwa im Begriff zu sterben, nein, sie sei bereits tot. Er habe aufgehört, seine Mitgliedsbeiträge an die American Psychological Association zu überweisen. »Ich hielt es für einen guten symbolischen Akt«, sagte er. »Aber wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich noch immer: Psychologe.« Auf die Bitte, die bedeutendsten Errungenschaften der Psychologie anzuführen, antwortete er, die Psychologen hätten gelernt, »sich nicht selbst dazu zu verleiten«, ungesicherte Schlußfolgerungen zu ziehen. »In begrifflicher und methodologischer Hinsicht hat die Psychologie einiges erreicht. Doch wenn Sie fragen, welche dauerhaften Wahrheiten hat die Psychologie im Verlauf der letzten hundert Jahre zusammengetragen, lautet meine Antwort: nicht sonderlich viele.« Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaft und andere Disziplinen, die sich der Erforschung der Psyche widmen, könnten unser psychologisches Wissen nachhaltig bereichern, räumte Gardner ein. Die Sozialpsychologie stelle weiterhin Spekulationen über die menschliche Natur an, indem sie Begriffe und Wörter präge - wie etwa Identitätskrise, Alltagswissen oder auch erlernte Hilflosigkeit–, die zwar keine strengen wissenschaftlichen Theoreme seien, aber als »Denkhilfen« genutzt werden könnten. Experten auf dem Gebiet der ange- 105
wandten Psychologie entwickelten weiterhin IQ-Tests und andere Instrumente, die Unternehmen bei der Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern einsetzen könnten. Doch keines dieser Gebiete sei der Lösung des Rätsels der menschlichen Psyche auch nur nahe gekommen. Gardner hatte seine Kritik erstmals 1992 in einem Vortrag geäußert, der den Titel »Scientific Psychology: Should We Bury It or Praise It?« trug.58 Er erinnerte daran, daß William James, obschon er im Grunde genommen ein Wissenschaftsoptimist gewesen sei, gelegentlich seine Kritik am »vorwissenschaftlichen Stand« und »der Begriffsverwirrung und Unvollkommenheit« der Psychologie zum Ausdruck gebracht habe. James habe einmal beklagt, daß »es keine wissenschaftliche Psychologie gibt«. James' Vorbehalte gegenüber seiner Disziplin »haben sich als allzu berechtigt erwiesen«, erklärte Gardner in seinem Vortrag. »Die Psychologie hat sich nicht zu einer integrierten Wissenschaft entwickelt, und sie wird dieses Ziel wahrscheinlich nie erreichen.«59 Gardner räumte ein, daß gewisse Disziplinen, die sich der Erforschung der Psyche widmeten, insbesondere die Neurowissenschaft, Fortschritte gemacht hätten und dies auch weiterhin tun würden. Er wies darauf hin, daß »die Jahre am Ende unseres Jahrhunderts durchaus als das Mündigwerden der Hirnforschung beziehungsweise Neurowissenschaft beschrieben werden können. Auf jeder Ebene des Nervensystems, von der einzelnen Synapse bis zu den Durchblutungsmustern des gesamten Kortex, nimmt unser Wissen mit einer phänomenalen Geschwindigkeit ständig zu.« Doch »die Phänomene der Empfindung und Wahrnehmung oder auch andere physiologische Zustände werden sich nie auf eine rein neurale Theorie zurückführen lassen«. Gardner steht der Kognitionswissenschaft erstaunlich kritisch gegenüber, wenn man bedenkt, daß er mit seinem 1985 erschienenen Buch The Mind's New Science60 selbst zu ihrer - 106
Popularisierung beigetragen hat. Kognitionswissenschaftler betrachteten die Psyche als eine informationsverarbeitende Maschine, einen Rechner, der, statt aus Silizium, aus Fleisch und Blut bestehe. Als der Behaviorismus Ende der fünfziger Jahre an Ansehen verlor, schien alles darauf hinzudeuten, daß die Kognitionswissenschaft zum vorherrschenden Paradigma der Psychologie werden würde. Doch die Herangehensweise der Kognitionswissenschaftler an die Phänomene Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und logisches Denken stelle keine deutliche Verbesserung gegenüber den älteren psychologischen Ansätzen dar. Zudem, so Gardner weiter, »übersehen [Kognitionswissenschaftler] möglicherweise jene Aspekte des logischen Denkens oder Problemlösens, die eher charakteristisch für Menschen als für mechanische Gegenstände sind«. Sein zentraler Kritikpunkt war die Tatsache, daß streng wissenschaftliche Methoden zur Erforschung der Psyche unser Verständnis der Kernthemen der Psychologie nicht vorangebracht hätten: Bewußtsein, das Selbst, Willensfreiheit und Persönlichkeit. Diese Konzepte »scheinen sich der Zerlegung in elementare Bestandteile und anderen Formen des Reduktionismus besonders nachhaltig zu widersetzen«. Gardner behauptete, Psychologen könnten vielleicht mit Hilfe eines »literarischeren« Untersuchungsstils und Diskurses weiterkommen. Schließlich vermittelten uns Shakespeare und Dostojewski viel tiefere Aufschlüsse über das menschliche Wesen, als es Psychologen vermochten. Und einige der bedeutendsten Psychologen hätten herausragende literarische Fähigkeiten und Kenntnisse besessen, etwa William James. Während unseres Gesprächs wies Gardner darauf hin, daß auch Freud ein Meister jener Form literarischer Psychologie gewesen sei, die man benötige, um die tiefsten Geheimnisse der Psyche zu erkunden. Freud habe sich in seinen Schriften immer wieder auf Beispiele aus der Literatur und der Mytho- 107
logie gestützt, und er habe ein gutes intuitives Gespür für Menschen besessen. Alle »großen« Psychologen, denen Gardner begegnet sei, hätten diese intuitive Fähigkeit gehabt. »Übrigens können fünfundneunzig Prozent - Sie können mich mit dieser Zahl zitieren - der Psychologen« sich nicht tief in andere Menschen einfühlen. »Sie satteln von Chemie auf Psychologie um, weil sie in Chemie nicht gut genug waren.«
Freuds versöhnender Pessimismus Die Psychoanalyse ist ein Paradigma mit schwerwiegenden Fehlern; wir sollten dankbar dafür sein, daß ihr einst beherrschender Einfluß gebrochen ist. Andererseits stellt der Kult um Freud heute eine geringere Gefahr dar als der Kult um Fluctin, um die DNA, um Darwin oder um den Computer. Neofreudianer erfüllen dadurch, daß sie die Vorherrschaft dieser vermeintlich neuen und verbesserten Paradigmen in Frage stellen, noch immer einen nützlichen Zweck. Der britische Psychoanalytiker Adam Phillips schrieb 1998, die Psychoanalyse »zeigt uns bestenfalls sowohl die Grenzen unserer vielgerühmten Erkenntnisfähigkeit als auch, was wir mit dieser sogenannten Erkenntnisfähigkeit tun können«.61 Meines Erachtens war Freuds Bereitschaft, die Grenzen der Wissenschaft einschließlich seiner eigenen Beiträge ausdrücklich anzuerkennen, einer seiner versöhnlichsten Wesenszüge. In dem 1937 erschienenen Werk Die endliche und die unendliche Analyse schrieb Freud: »Es hat doch beinahe den Anschein, als wäre das Analysieren der dritte jener ›unmöglichen‹ Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren.«62 Im Jahr 1933 klang er noch sarkastischer: »Da möchte ich sagen, ich glaube nicht, daß unsere Heilerfolge es mit denen von Lourdes - 108
aufnehmen können. Es gibt so viel mehr Menschen, die an die Wunder der heiligen Jungfrau, als die an die Existenz des Unbewußten glauben.«63 Freuds Sorgen waren wohlbegründet. Mehr als fünfzig Jahre nachdem er diese Äußerung gemacht hat, gibt es noch immer keine schlüssigen Beweise dafür, daß die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren dem Gesundbeten überlegen wäre. Andererseits gibt es auch keine schlüssigen Beweise dafür, daß irgendeine von den Hunderten von »Redekuren«, die auf alternativen Theorien der menschlichen Natur basieren und die im Verlauf der letzten hundert Jahre entstanden sind, im geringsten erfolgreicher wären.
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3. PSYCHOTHERAPIE UND DIE DODO-HYPOTHESE Es gibt seit hundert Jahren Psychotherapie, und trotzdem geht's mit der Welt bergab. JAMES HILLMAN UND MICHAEL VENTURA1
einem noch nicht lange zurückliegenden Sommertag Anverkaufte die Bücherei meiner Heimatstadt gespendete Bücher. Zwischen den hoch mit broschierten und gebundenen alten Büchern beladenen Tischen stieß ich auf ein fossiles Lager populärwissenschaftlicher Psychologiebestseller: Phänomenologie der Erfahrung des britischen Psychiaters und Dichters R. D. Laing, jenseits von Freiheit und Würde des Psychologen B. F. Skinner, eines Begründers des Behaviorismus, Jugend und Krise des Psychoanalytikers Erik Erikson, I'm Okay – You're Okay des Psychiaters Thomas Harris, der die Transaktionsanalyse popularisierte, und Der Urschrei des klinischen Psychologen Arthur Janov, der die Urschreitherapie erfand, deren berühmteste Anhänger John Lennon und Yoko Ono waren. Allein schon die Titel dieser Bücher zeigen, daß sich die Psychologie im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts in zahlreiche divergierende Richtungen entwickelte. Wie ein Bakterium, das ultravioletter Strahlung ausgesetzt wird, begann die Psychoanalyse unmittelbar nach ihrer Begründung rasch zu mutieren und sich zu teilen. Sie brachte schließlich eine Vielzahl ähnlicher, aber konkurrierender psychologischer Theorien hervor, darunter jene, die von so bekannten freudianischen Apostaten wie Carl Jung und Wilhelm Reich begründet wurden. Daneben bildeten sich eigenständige Theorien der menschlichen Psyche heraus, wie etwa der Behaviorismus, die Soziobiologie und die Kognitionswissenschaft. Praktisch alle diese Theorien haben ihre eigenen Psychotherapien hervorgebracht. Mitte der achtziger Jahre umfaßte die Angebotspalette über 450 verschiede- 110
ne Arten von Psychotherapien, von der aktiven analytischen Therapie bis hin zur psychoenergetischen Technik nach Zaraleya.2 Die Psychotherapien lassen sich in drei allgemeine Kategorien einteilen: - Psychodynamische Therapien, zu denen die Psychoanalyse und ihre Abkömmlinge zählen, sehen in Kindheitserfahrungen, insbesondere solchen sexueller Natur, die Ursache für psychische Störungen im Erwachsenenalter. - Verhaltenstherapien verfolgen einen gegenwartsbezogeneren Ansatz. Auf der Grundlage der Arbeiten von Iwan Pawlow, J.B. Watson, B.F. Skinner und anderen Behavioristen streben Verhaltenstherapien danach, durch Konditionierungsübungen dysfunktionale Verhaltensmuster zu ändern. Verhaltenstherapien werden oft mit kognitiven Therapien, die jedoch vor allem auf die Änderung schädigender Denkgewohnheiten abzielen, in einen Topf geworfen. - Erlebnisorientierte Therapien haben eine philosophischere Ausrichtung als psychodynamische und Verhaltenstherapien; mitunter nehmen sie sogar eine ausgesprochen spirituelle Dimension an. Depression und Angst werden als legitime Reaktionen auf die Sinnlosigkeit des Daseins gewertet. Die Therapeuten versuchen den Patienten zu helfen, sich ihrer Verzweiflung und Entfremdung zu stellen und sie zu überwinden, indem sie ihre Fähigkeit erkennen, ihr Leben mit Sinn zu erfüllen.3 Selbst innerhalb einer bestimmten psychotherapeutischen Richtung kann es eine enorme Bandbreite geben. In der klassischen Psychoanalyse sollte es der Analytiker vermeiden, dem Patienten Ratschläge zu geben, doch viele Analytiker einschließlich Freud haben gegen diese Regel verstoßen. Tatsäch- 111
lieh gibt es wohl genauso viele Arten von Psychotherapie, wie es Psychotherapeuten gibt, ja sogar mehr, wenn man bedenkt, daß viele Psychotherapeuten gegenüber verschiedenen Patienten unterschiedliche therapeutische Strategien einschlagen. Nach der gegenwärtig vorherrschenden Meinung sinkt der Stellenwert von Psychotherapien infolge des (in den USA) neu eingeführten Systems der integrierten Gesundheitsfürsorge und der sprunghaft zunehmenden Beliebtheit von Medikamenten wie Fluctin immer weiter. Obgleich es eine Fülle von anekdotischen Indizien für den Bedeutungsverlust von Psychotherapien gibt, ist es schwerer, exakte Daten zu bekommen.4 Laut einer statistischen Erhebung erhielten im Jahr 1987 7,3 Millionen Amerikaner oder 3,1 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens eine psychotherapeutische Sitzung pro Jahr auf ambulanter Basis.5 Die Anzahl der ambulanten psychotherapeutischen Visiten belief sich auf insgesamt achtzig Millionen und die Gesamtkosten auf über vier Milliarden Dollar.6 Eine Studie aus dem Jahr 1992 zählte hundert Millionen psychotherapeutische Sitzungen, aber diese Zahl enthielt auch Patienten in Kliniken und anderen Gesundheitseinrichtungen.7 Bei einer statistischen Erhebung, die sich auf Ärzte, einschließlich Psychiatern, konzentrierte, wurde festgestellt, daß diese Ende der neunziger Jahre weniger Psychotherapien durchführten als im vorausgehenden Jahrzehnt, doch werde dieser Rückgang möglicherweise durch eine Zunahme von Besuchen bei nichtärztlichen Therapeuten kompensiert.8 Selbst wenn die Gesamtzahl der psychotherapeutischen Behandlungen rückläufig ist, stellt die Psychotherapie noch immer eine wichtige Form der Behandlung von psychischen Problemen dar, und diejenigen, die sie verabreichen, bilden noch immer eine einflußreiche politische Interessengruppe. Allein in den Vereinigten Staaten gibt es fast dreihunderttausend Psychotherapeuten. Diese Zahl schließt vierzigtausend Psychiater, - 112
achtzigtausend klinische Psychologen und hundertzwanzigtausend Sozialarbeiter ein.9 Seelsorger, Drogenberater und andere eklektische Praktiker steuern weitere fünfzigtausend Therapeuten zu der Mischung bei. Mitte der neunziger Jahre bedrängten diese Gruppen den US-amerikanischen Kongreß, Unternehmen gesetzlich dazu zu verpflichten, für psychische Erkrankungen denselben Versicherungsschutz zu gewähren wie für körperliche Leiden wie Krebs oder Herzerkrankungen. Der Mental Health Parity Act (Gesetz zur Gleichstellung der psychischen Gesundheit mit der körperlichen Gesundheit) trat mit den unvermeidlichen Lücken im Januar 1998 in Kraft.10 Die Psychotherapiebranche stellt einen beständigen umfassenden Test der zahllosen psychologischen Lehren dar, die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wurden. Man kann die relativen Vorteile verschiedener psychologischer Lehren bewerten, indem man die Wirksamkeit ihrer zugehörigen Therapien mißt. Wenn sich eine Psychotherapie anderen Verfahren bei der Behandlung seelischer Leiden als überlegen erwiese, wäre dies ein starker Indizienbeweis für die Wahrheit der ihr zugrunde liegenden Theorie. Wie Politiker sollten vielleicht auch wissenschaftliche Theorien - insbesondere solche mit medizinischen Ansprüchen - nicht danach beurteilt werden, was sie sagen, sondern danach, was sie bewirken. Die Frage lautet dann nicht mehr »Ist sie wahr?«, sondern »Ist sie wirksam?«. Die frühen Anhänger der Quantenmechanik konnten nur die Ergebnisse rätselhafter Experimente beschreiben. Später konnten sie Kernspaltungsreaktoren, Transistoren, Laser und thermonukleare Bomben - Technologien, die den Lauf der Geschichte veränderten - als Beweise vorlegen. Für viele Physiker ist die Frage, ob die Quantenmechanik wahr ist, nahezu belanglos; Hauptsache ist, sie funktioniert. Die Frage, ob eine bestimmte Psychotherapie wirksam ist, läßt sich nicht leicht beantworten. Freud wollte mit seinen Fallberichten über einzelne Patienten - darunter so berühmte - 113
Personen wie der Rattenmann, der Wolfsmann und Anna O., die den Begriff »Redekur« prägte und nicht von Freud selbst, sondern von einem seiner Kollegen analysiert wurde - den Nachweis für die Wirksamkeit der Psychoanalyse erbringen. So wie Freud diese Fallstudien erzählte, bestätigten sie den Nutzen einer psychoanalytischen Behandlung. Mit Hilfe des brillanten Analytikers gelinge es dem Patienten, die psychischen Ursachen seiner Symptome zu verstehen, was ihm Erleichterung verschaffe. Wie mehrere Kritiker gezeigt haben, bestand allerdings oftmals eine erhebliche Diskrepanz zwischen Freuds Erzählungen und der Wirklichkeit. Zudem könnten die nachweislichen Verbesserungen bei manchen (nicht allen) Patienten von Freud und seinen Kollegen trotz und nicht wegen der Behandlung zustande gekommen sein. Fallberichte bleiben ein zentrales Element moderner Bücher über die Psyche, egal ob sie Psychotherapien (The Talking Cure von Susan Vaughan), Medikamente (Glück auf Rezept von Peter Kramer) oder die Verhaltensgenetik (Twins von Lawrence Wright) anpreisen.11 Auch wenn Fallgeschichten oftmals eine faszinierende Lektüre sind, werden sie nicht mehr als zuverlässige Belege für die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen anerkannt. Wenn man sich allein auf kasuistische Einzelfallschilderungen bezieht, kann man Wirksamkeitsnachweise für jede beliebige Behandlungsform beibringen, ob für die Jungsche Psychotherapie bei Depression oder Haiknorpel bei Krebs. Die beste Methode zur Bewertung eines bestimmten Heilverfahrens besteht darin, im Rahmen einer kontrollierten Studie seine Wirksamkeit bei einer großen Zahl von Probanden zu messen. Doch Studien, die die Wirksamkeit psychologischer Behandlungsformen nachweisen sollen, werden durch Faktoren erschwert, die in Studien über Tumortherapien oder andere, einfachere Therapien nicht auftreten. Toksoz Karasu, Psychiater am Albert Einstein College of Medicine und eine - 114
Autorität auf dem Gebiet der Psychotherapieforschung, schrieb einmal: Wenn man versucht, die trügerisch einfache Frage ›Ist eine Psychotherapie wirksam?‹ zu beantworten, muß man die Vielfalt theoretischer und klinischer Ansätze in der Psychotherapie, die Schwierigkeiten, sie als eine gleichförmige Praktik zu beschreiben und zu messen, das Spektrum der Störungen, die Verschiedenartigkeit der Kontexte, die große - scheinbar endlose - Zahl von Patienten-, Therapeuten- und Interaktionsvariablen berücksichtigen. Zudem haben Therapeuten [...] politische, wirtschaftliche und narzißtische Interessen, die dazu führen, daß sie sich nicht nur in ihrem beruflichen Rollen- und Identitätsverständnis, sondern auch in ihrer ideologischen Einstellung unterscheiden.12
Die Diagnose psychischer Störungen ist ein problematisches Unterfangen; was ein Psychiater als Schizophrenie klassifiziert, wird von einem anderen vielleicht als Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankung oder normale Melancholie diagnostiziert. Die Therapeuten sind sich, gelinde gesagt, uneinig darüber, wie eine bestimmte Störung definiert werden sollte, und selbst darüber, was überhaupt als Störung anzusehen ist. Die American Psychiatrie Association hat sich bemüht, dieses Problem mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM - dt. Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) zu lösen, dessen erste Ausgabe 1952 erschien.13 Doch das DSM, das von Gruppen von Psychiatern erarbeitet wird, in deren Beurteilungen sich der Konsens der Fachwelt widerspiegeln soll, hat allenfalls das subjektive Moment bei psychiatrischen Diagnosen verdeutlicht, dieses aber keinesfalls ausgeschaltet. Ein Rezensent des DSM-IV (der in Deutschland 1996 erschienenen vierten Auflage) meinte etwa, die Beschreibung der Schizophrenie »läuft auf folgendes hinaus: Ein Schizophrener ist eine Person, die sehr eigenartige Gedanken hat, sich sonderbar benimmt - 115
und unter bizarren Wahnideen leidet; dies deutet darauf hin, daß die Verfasser des DSM-IV entweder nicht wissen, was Schizophrenie ist, oder sich sprachlich nicht richtig ausdrükken können.«14 Das DSM-IV erwähnt nicht einmal Hysterie und Neurose, die beiden zentralen Themen der freudianischen Psychologie, und auch die Homosexualität taucht nicht mehr auf, die noch im DSM-I und im DSM-II als psychische Störung gewertet wurde, aber in späteren Ausgaben auf Druck schwuler Aktivisten und anderer gestrichen wurde. Dennoch stieg die Zahl der anerkannten Störungen von 106 im DSM-III (1980) auf über 300 im DSM-IV an.15 Zu den neuen Kategorien gehören Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (»Kann sich nicht auf Details konzentrieren und begeht Flüchtigkeitsfehler«), antisoziale Persönlichkeitsstörung (»Impulsivität beziehungsweise Unfähigkeit vorauszuplanen«), dissoziative Fugue (der unwiderstehliche Drang, »seinen Wohnort und seinen gewohnten Arbeitsplatz zu verlassen«). Das DSM-IV spiegelt »die zunehmende Tendenz in unserer Gesellschaft [wider], nichtmedizinischen Problemen eine medizinische Bedeutung beizulegen, Gefühlsüberschwang mit Psychopathologie zu verwechseln und so zu tun, als verstehe man Phänomene schon, wenn man ihnen ein Etikett und eine Codenummer anhängt «16, heißt es in dem 1998 erschienenen Buch Making Us Crazy, einer Geschichte des DSM. Außerdem bezahlen die meisten Versicherungsgesellschaften nur die Behandlung von Störungen, die im DSM aufgeführt sind. Doch selbst wenn die Diagnose eindeutig wäre, bestünde noch immer Uneinigkeit darüber, wie man den Erfolg einer psychologischen Behandlung messen soll. Kann der Therapeut oder der Patient selbst die Störung eines Patienten besser beurteilen? Und worin besteht ein erfolgreicher Abschluß? Die letztgenannte Frage ist stark mit Werturteilen behaftet. Während die meisten (wenn auch nicht alle) Beobachter darin über- 116
einstimmen würden, daß ein Selbstmord auf einen Fehlschlag der Therapie hindeutet, stellt sich die Frage, was einen Erfolg ausmachte. Und welchen Zeitraum müßte man dabei betrachten? Besteht das Ziel der Therapie darin, Selbsterkenntnis, Zufriedenheit oder beides zu fördern? Sollten Therapeuten Patienten helfen, eigenständiger zu werden oder sich konventionellen sozialen Normen anzupassen? Wie lange muß ein Patient symptomfrei sein, bis er als geheilt gelten kann, sofern dieser Begriff überhaupt anwendbar ist? Ist es sinnvoll, von einer »Heilung« der Melancholie oder Angst zu sprechen, wenn beide möglicherweise angemessene Reaktionen auf das menschliche Dasein sind? Auf einem weniger philosophischen Niveau stellt sich die Frage, wie man eine Kontrollgruppe für eine Psychotherapiestudie zusammenstellen soll. In einer kontrollierten Studie vergleicht man die behandelte Gruppe mit einer zweiten, die nicht behandelt wird, aber ansonsten mit der ersten soweit wie möglich übereinstimmt. Jeder Unterschied zwischen den beiden Gruppen läßt sich dann mit hoher Plausibilität auf die Behandlung zurückführen. Die ideale klinische Studie ist ein Doppelblindversuch; eine Gruppe erhält den Wirkstoff, der erprobt wird, und die Kontrollgruppe erhält eine pharmakologisch unwirksame Substanz, die Placebo genannt wird. Weder die Studienteilnehmer noch die Studienleiter wissen, wer die wirksame Substanz und wer das Placebo erhält. Wie aber führt man eine Doppelblindstudie über ein psychotherapeutisches Behandlungsverfahren durch?
Psychoanalytiker bewerten sich selbst Freud griff all jene heftig an, die auf einem stringenteren empirischen Wirksamkeitsnachweis bestanden, als er von Fallstudien erbracht wird. Statistische Auswertungen, so meinte - 117
Freud, seien »überhaupt nicht lehrreich, das verarbeitete Material so heterogen, daß nur sehr große Zahlen etwas besagen würden. Man tut besser, seine Einzelerfahrungen zu befragen.«17 In Freuds Widerstand gegen statistische Studien mag sich seine Befürchtung widerspiegeln, daß die Ergebnisse der Psychoanalyse möglicherweise nicht zum Vorteil gereichten. Gegen Ende seines Lebens schrieb er: »Man hat den Eindruck, daß man nicht überrascht sein dürfte, wenn sich am Ende herausstellt, daß der Unterschied zwischen dem nicht Analysierten und dem späteren Verhalten des Analysierten doch nicht so durchgreifend ist, wie wir es erstreben, erwarten und behaupten.«18 Die Psychoanalytiker definieren den therapeutischen Erfolg oftmals so, daß er sich nicht objektiv messen läßt. Die Journalistin Janet Malcolm machte in ihrem 1982 erschienenen Buch Psychoanalysis: The Impossible Profession darauf aufmerksam: »Es ist eine der ältesten und tiefverwurzeltesten Überzeugungen der Psychoanalyse, daß der Analytiker mehr will, als dem Patienten bloß ein angenehmes Lebensgefühl zu vermitteln.«19 Ihrer Auffassung nach kann die Minderung des Leidensdrucks die persönliche Weiterentwicklung aber behindern. Freud selbst tadelte einst Analytiker, die »nichts anderes [anstreben], als es dem Kranken möglichst angenehm zu machen, damit er sich dort wohl fühle und gerne wieder aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht dorthin nehme. Dabei verzichten sie darauf, ihn für das Leben stärker [...] zu machen.«20 In Anbetracht dieser Faktoren ist es nicht verwunderlich, daß viele Analytiker ihre Zwiespältigkeit beziehungsweise ihren offenen Widerstand gegenüber jedem Versuch, die Wirksamkeit ihres Produktes zu quantifizieren, zum Ausdruck brachten. Im Jahr 1948 riefen leitende Funktionäre der American Psychoanalytic Association (APA) einen Evaluationsausschuß ins Leben, der von Mitgliedern Wirksamkeitsbelege sammeln sollte, doch der Ausschuß löste sich bald wieder auf, - 118
da die Mitglieder nicht miteinander kooperierten.21 Einem 1953 gegründeten Ausschuß gelang es, Berichte über den therapeutischen Erfolg von Tausenden von Analytikern zu sammeln. Als die Ausschußmitglieder im Jahr 1957 die Informationen dem Vorstand des Berufsverbandes vorlegten, empfahlen sie, die Ergebnisse unter Verschluß zu halten. Die APA schickte die Rohdaten zur Auswertung an IBM, doch dabei gingen offenbar viele der Daten verloren. Im Jahr 1967 versuchte die APA, das Projekt zu retten, indem sie einen Teil der Ergebnisse veröffentlichte - ein Kritiker bezeichnete sie als eine Sammlung »angeblicher Fakten«22 -, ließ das Thema dann aber erneut fallen. Ungeachtet dessen begannen psychoanalytische Institute in Chicago, New York, Boston, San Francisco und in anderen Orten Daten über den Therapieerfolg zusammenzutragen. Die Ergebnisse, die sich auf über sechshundert Patienten bezogen, wurden 1991 im Journal of the American Psychoanalytic Association von einer Gruppe um Henry Bachrach, einem Professor für Psychiatrie am New York Medical College im Saint Vincent's Hospital, erörtert.23 Die Autoren kamen zu dem Schluß, daß die psychoanalytische Behandlung bei sechzig bis neunzig Prozent der untersuchten Patienten zu einer »erheblichen« Verbesserung ihres Zustands geführt habe. Diese Studien weisen jedoch so gravierende Mängel auf, daß sie von unabhängigen Beobachtern und sogar von vielen Psychoanalytikern selbst als wertlos erachtet werden. Erstens wurde der Fortschritt der Patienten in der Regel von ihren Analytikern beurteilt, die aus naheliegenden Gründen dazu neigen dürften, positive Resultate festzustellen. Zweitens wurden die Patienten nicht mit einer Kontrollgruppe verglichen, die keine Therapie erhielt. Drittens nahmen die Analytiker nur solche Patienten an, die sie als »geeignet« für eine Psychoanalyse einstuften. »Geeignete« Patienten sind tendenziell wohlhabender, gebildeter, funktional weniger stark beeinträchtigt und - 119
motivierter für eine Therapie als »ungeeignete«. Anders gesagt, diejenigen, die am meisten von einer Psychoanalyse profitierten, waren zugleich diejenigen, die sie am wenigsten brauchten. Als Bachrach diese Daten 1992 auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science in Chicago vorstellte, räumte er ein, diese Studien seien nicht ideal. Doch die Schwächen »waren nicht größer als bei vergleichbaren Untersuchungen über andere Formen von Psychotherapie«.
Die Dodo-Hypothese - Teil I Anders als von Bachrach behauptet, haben Forscher durchaus aussagekräftigere Studien zur Wirksamkeit anderer Psychotherapien durchgeführt. Eine der längsten Studien war das sogenannte Cambridge-Somerville Delinquency Prevention Project (Delinquenz-Präventionsprojekt).24 Die 1937 begonnene Untersuchung verfolgte die Entwicklung von über sechshundert Jungen aus dem Raum Boston, deren Durchschnittsalter bei Studienbeginn zehn Jahre betrug und bei denen man ein erhöhtes Straffälligkeitsrisiko vermutete. Eine Gruppe von ihnen wurde während eines Zeitraums von durchschnittlich fünfeinhalb Jahren zweimal pro Monat von Sozialarbeitern beraten, die eine Fortbildung in Psychoanalyse oder in der damals populären »humanistischen Gesprächstherapie«, entwickelt von dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers, gemacht hatten. Die andere Gruppe wurde nicht betreut. Im Jahr 1948 gab es keinen Unterschied in den Strafregistern der beiden Gruppen. Das gleiche wurde in den fünfziger Jahren und 1975 festgestellt. Doch zu diesem Zeitpunkt kamen einige bemerkenswerte Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zum Vorschein. Diejenigen, die betreut und im weiteren Verlauf ihres Lebens straffällig geworden waren, hatten - 120
mit höherer Wahrscheinlichkeit mehr als eine Straftat begangen. Die Forscher fanden darüber hinaus auch eine positive Korrelation zwischen der Behandlungsdauer und dem Ausmaß straffälligen Verhaltens. Die Studie deutete darauf hin, daß eine therapeutische Behandlung Jugendliche keineswegs vor einem Abdriften in die Kriminalität schützt, sondern, im Gegenteil, das Risiko noch erhöht. Auch die Forschungen von Hans Eysenck, einem in Deutschland geborenen Psychologen, der den größten Teil seiner wissenschaftlichen Laufbahn am Institute of Psychiatry der Universität London verbrachte, förderten ernüchternde Ergebnisse zutage.25 Im Jahr 1952 legte Eysenck die Befunde einer Studie über die Psychoanalyse und andere »eklektische« Psychotherapien vor. Er behauptete, daß es vierundvierzig Prozent der Analysanden nach Abschluß ihrer Analyse besser gehe, im Vergleich zu vierundsechzig Prozent der Patienten, die mit anderen Therapien behandelt worden waren. Doch bei zwei Dritteln einer Gruppe unbehandelter neurotischer Patienten sei nach zwei Jahren ebenfalls eine Besserung eingetreten. Eysenck zog daraus den Schluß, daß Psychotherapien bestenfalls wirkungslos seien; die Psychoanalyse habe sogar eine nachteilige Wirkung. Eysencks offen ablehnende Einstellung zu Freud und sein Eintreten für alternative Theorien der menschlichen Psyche trugen ihm den Vorwurf ein, seine Schlußfolgerungen seien tendenziös.26 Er erklärte einmal, Freuds Modell der Psyche sei »zu absurd, als daß es wissenschaftlich genannt werden könnte«. Es sei keine Theorie, sondern »eine mittelalterliche Moralität«, deren Charaktere aus so »mythischen Figuren wie dem Ich, dem Es und dem Über-ich« bestünden. Eysenck bevorzugte genetische Theorien des Temperaments und der Intelligenz; er war einer der ersten, der die Auffassung vertrat, die relativ niedrigen IQ-Werte von Schwarzen hätten eine genetische Grundlage. - 121
Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte gelangten Forscher, die versuchten, die Wirksamkeit der Psychoanalyse und anderer Psychotherapien zu evaluieren, zu einer positiveren Bilanz als Eysenck: Personen, die psychotherapeutisch behandelt wurden, ging es im allgemeinen besser als Mitgliedern der unbehandelten Kontrollgruppe. (Die Mitglieder der Kontrollgruppe wurden in der Regel auf eine »Therapie-Warteliste« gesetzt.) Ende der siebziger Jahre wies der US-Kongreß, der über einen Gesetzentwurf beriet, der Versicherungsgesellschaften zur Übernahme der Kosten einer psychotherapeutischen Behandlung verpflichten sollte, das mittlerweile aufgelöste Amt für Technologiebewertung an, die Wirksamkeit der Psychoanalyse zu evaluieren. »Obgleich die Beweislage nicht völlig schlüssig ist«, heißt es in dem Bericht, den das Amt für Technologiebewertung 1980 an seine Auftraggeber im Kongreß sandte, »enthält die aktuelle Literatur mehrere hervorragende Forschungsstudien, die die positive Wirkung einer psychotherapeutischen Behandlung feststellen.«27 Eine der einflußreichsten Evaluationsstudien über Psychotherapien trug den Titel »Comparative Studies of Psychotherapy: Is It True That ›Everybody Has Won and All Must Have Prizes‹?«28 und erschien 1975 in den Archives of General Psychiatry. In dem Aufsatz werteten Lester Luborsky, Professor für Psychologie an der Universität von Pennsylvania, und zwei Kollegen Studien über verschiedene Therapien aus. Sie kamen zu dem Schluß, daß sich eine Psychotherapie auszahle; denjenigen, die eine Therapie erhielten, ging es im allgemeinen besser als denjenigen, die nicht therapiert wurden. Andererseits stach keine Therapie heraus; alle waren annähernd gleich wirksam. Um die Tragweite dieses Befundes sinnfällig zu veranschaulichen, zitierten Luborsky und seine Mitarbeiter eine Episode aus Alice im Wunderland, in der Alice und andere Figuren, die in einem Meer aus Tränen trieben, ans Ufer einer Insel schwammen, wo sie tropfnaß an Land gingen. - 122
Dort begegneten sie einem Dodo, der meinte, ein Wettlauf um die Insel sei der beste Weg, wieder trocken zu werden. Die Episode entwickelte sich folgendermaßen: Er [der Dodo] legte zuerst die Rennbahn fest, eine Art Kreis (›auf die genaue Form kommt es nicht an‹, sagte er), und die Mitspieler mußten sich irgendwo auf der Bahn aufstellen, wie es sich gerade traf. Es gab kein ›Eins - zwei - drei – los!
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