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September 25, 2017 | Author: Jason Liebson | Category: N/A
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Friedrich Dürrenmatt

Der Besuch der alten Dame Eine tragische Komödie Neufassung 198o

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Diogenes Umschlag: Detail aus >Turmbau 1v: Versuch eines Neubaus< von Friedrich Dürrenmatt. Der Besuch der alten Dame erschien erstmals 1956 im Verlag der Arche, Zürich. Aufführungs-, Film-, Funk- und TV-Rechte: Weltvertrieb: Reiss AG Theaterverlag, Sprecherstraße 8, CH-8032 Zürich. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Abschnitte. Diese Rechte sind nur vom Reiss Theaterverlag zu erwerben. Vertrieb für Deutschland: Felix Bloch Erben, Verlag für Bühne, Film, Funk, Hardenbergstraße 6, D-W-1oooBerlin 1z. Die vorliegende Neufassung 1980 hat Friedrich Dürrenmatt eigens für diese Ausgabe geschrieben. Die Sondereinrichtung der Szene Ills Laden im dritten Akt wurde 1959 für das Atelier-Team Bern geschrieben, sie wird hier, ebenso wie die dazugehörige Anmerkung erstmals veröffentlicht. Redaktion: Thomas Bodmer.

Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1985 Diogenes Verlag AG Zürich 500/91/8/21 ISBN 3 25720835 9

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Inhalt Der Besuch der alten Dame Eine tragische Komödie ErsterAkt 13 ZweiterAkt 51 Dritter Akt 86 Anhang Randnotizen, alphabetisch geordnet Anmerkungen 141 Dritter Akt: Szene >Ills Laden< 146 (Sondereinrichtung Atelier-Theater Bern)

Allgemeine Anmerkung zu der Endfassung 1980 meiner Komödien Es ging mir, im Gegensatz zu den verschiedenen Fassungen, die vorher einzeln im Arche-Verlag erschienen sind, bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater schrieb, Play Strindberg und Porträt eines Planeten, die Übungsstücke für Schauspieler darstellen und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden - die ersten Stücke tastete ich nicht an - die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen. F. D.

Der Besuch der alten Dame Eine tragische Komödie Neufassung 1980

Personen

Die Besucher

Claire Zachanassian, geb. Wäscher Multimillionärin (Armenian-Oil) Ihre Gatten VII-IX Der Butler Toby, Roby kaugummikauend Koby, Loby blind

Die Besuchten

Ill Seine Frau Seine Tochter Sein Sohn Der Bürgermeister Der Pfarrer Der Lehrer Der Arzt Der Polizist Der Erste Der Zweite Der Dritte Der Vierte Der Maler Erste Frau Zweite Frau Fräulein Luise

Bürger

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Die Sonstigen

Die Lästigen

Ort: Zeit:

Bahnhofsvorstand Zugführer Kondukteur Pfändungsbeamter Pressemann I Pressemann II Radioreporter Kameramann

Güllen, eine Kleinstadt Gegenwart

Pause nach dem zweiten Akt Geschrieben 1955 Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 29. Januar 1956 Erster Akt Glockenton eines Bahnhofs, bevor der Vorhang aufgeht. Dann die Inschrift: Güllen. Offenbar der Name der kleinen Stadt, die im Hintergrund angedeutet ist, ruiniert, zerfallen. Auch das Bahnhofgebäude verwahrlost, je nach Land mit oder ohne Absperrung, ein halbzerrissener Fahrplan an der Mauer, ein verrostetes Stellwerk, eine Türe mit der Aufschrift: Eintritt verboten. Dann, in der Mitte, die erbärmliche Bahnhofstraße. Auch sie nur angedeutet. Links ein kleines Häuschen, kahl, Ziegeldach, zerfetzte Plakate an der fensterlosen Mauer. Links Tafel. Frauen, rechts: Männer. Alles in eine heiße Herbstsonne getaucht. Vor dem Häuschen eine Bank, auf ihr vier Männer. Ein fünfter, aufs unbeschreiblichste verwahrlost, wie die andern, beschreibt ein Transparent mit roter Farbe, offenbar für einen Umzug: Willkommen Kläri. Das donnernde, stampfende Geräusch eines vorbeirasenden Schnellzuges. Vor dem Bahnhof der Bahnhofsvorstand salutierend. Die Männer auf der Bank deuten mit einer Kopfbewegung von links nach rechts an, daß sie den vorbeirasenden Expreß verfolgen.

Die >GudrunRasende RolandGudrun< und der >Rasende Roland< in Güllen. Dazu noch der >Diplomat< und die >LoreleiDiplomatBörsianerRasende RolandWillkommen Claire Zachanassian< heben Kühn in die Höhe und Hauser. Er zeigt auf den Vierten. Die andern schwenken am besten die Hüte. Doch bitte: Nicht schreien wie voriges Jahr bei der Regierungskommission, der Eindruck war gleich Null, und wir haben bis jetzt noch keine Subvention. Nicht übermütige Freude ist am Platz, sondern innerliche, fast Schluchzen, Mitgefühl mit dem wiedergefundenen Kind der Heimat. Seid ungezwungen, herzlich, doch muß die Organisation klappen, die Feuerglocke gleich nach dem gemischten Chor einsetzen. Vor allem ist zu beachten ... DER ERSTE

DER ZWEITE

Das Donnern des nahenden Zuges macht seine Rede unverständlich. Kreischende Bremsen. Auf allen Gesichtern drückt sich fassungsloses Erstaunen aus. Die fünf auf der Bank springen auf.

Der D-Zug! Hält! DER ZWEITE In Güllen! DER DRITTE Im verarmtesten DER VIERTE lausigsten DER ERSTE erbärmlichsten Nest der Strecke VenedigStockholm! DER BAHNHOFSVORSTAND Die Naturgesetze sind aufgehoben. Der >Rasende Roland< hat aufzutauchen in der Kurve von Leuthenau, vorbeizuflitzen und, ein dunkler Punkt, in der Niederung von Pückenried zu verschwinden. DER MALER DER ERSTE

Von rechts kommt Claire Zachanassian, zweiundsechzig, rothaarig, Perlenhalsband, riesige goldene Armringe, aufgedonnert, unmöglich, aber gerade darum wieder eine Dame von Welt, mit einer seltsamen Grazie, trotz allem Grotesken. Hinter ihr das Gefolge, der Butler Boby, etwa achtzig, mit schwarzer Brille, ihr Gatte VII (groß, schlank, schwarzer Schnurrbart) mit kompletter Angel-Ausrüstung. Ein aufgeregter Zugführer begleitet die Gruppe, rote Mütze, rote Tasche.

Bin ich in Güllen? Sie zogen die Notbremse, Madame. CLAIRE ZACHANASSIAN Ich ziehe immer die Notbremse . DER ZUGFÜHRER Ich protestiere. Energisch. Die Notbremse zieht man nie in diesem Lande, auch wenn man in Not ist. Die Pünktlichkeit des Fahrplans ist oberstes Prinzip. Darf ich um eine Erklärung bitten? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich bin doch in Güllen, Moby. Ich erkenne das traurige Nest. Dort drüben der Wald von Konradsweiler mit dem Bach, wo du fischen kannst, Forellen und Hechte, und rechts das Dach der Peterschen Scheune. ILL wie erwachend Klara. DER LEHRER Die Zachanassian. ALLE Die Zachanassian. DER LEHRER Dabei ist der gemischte Chor nicht bereit, die Jugendgruppe! CLAIRE ZACHANASSIAN DER ZUGFÜHRER

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DER BÜRGERMEISTER Die Kunstturner, die Feuerwehr! DER PFARRER Der Sigrist! DER BÜRGERMEISTER Mein Rock fehlt, um Gottes willen, der Zylinder, die Enkelkinder! DER ERSTE Die Kläri Wäscher! Die Kläri Wäscher! Er springt auf und rast ins Städtchen. DER BÜRGERMEISTER ruft Die Gattin nicht vergessen! DER ZUGFÜHRER Ich warte auf eine Erklärung. Dienstlich. Im Namen der Eisenbahndirektion. CLAIRE ZACHANASSIAN Sie sind ein Schafskopf. Ich will eben das Städtchen mal besuchen. Soll

ich etwa aus Ihrem Schnellzug springen? DER ZUGFÜHRER Madame. Wenn Sie Güllen zu besuchen wünschen, bitte, steht Ihnen in Kalberstadt der Zwölfuhrvierzig-Personenzug zur Verfügung. Wie aller Welt. Ankunft Güllen einuhrdreizehn. CLAIRE ZACHANASSIAN Der Personenzug, der in Loken, Brunnhübel, Beisenbach und Leuthenau hält? Sie wollen mir wohl zumuten, eine halbe Stunde durch diese Gegend zu dampfen? DER ZUGFÜHRER Madame, das wird Sie teuer zu stehen kommen. CLAIRE ZACHANASSIAN Gib ihm tausend, Boby. ALLE murmelnd Tausend. Der Butler gibt dem Zugführer tausend. DER ZUGFÜHRER verblüfft Madame. CLAIRE ZACHANASSIAN Und dreitausend ALLE murmelnd Dreitausend.

für die Stiftung zugunsten der Eisenbahnerwitwen.

Der Zugführer erhält vom Butler dreitausend. DER ZUGFÜHRER verwirrt Es gibt keine solche CLAIRE ZACHANASSIAN Dann gründen Sie eine.

Stiftung, Madame.

Der Gemeindepräsident flüstert dem Zugführer etwas ins Ohr.

Gnädige sind Frau Claire Zachanassian? Oh, pardon. Das ist natürlich etwas anderes. Wir hätten selbstverständlich in Güllen gehalten, wenn wir nur die leiseste Ahnung - Sie erhalten Ihr Geld zurück, gnädige Frau - viertausend - mein Gott. ALLE murmelnd Viertausend. CLAIRE ZACHANASSIAN Behalten Sie die Kleinigkeit. ALLE murmelnd Behalten. DER ZUGFÜHRER Wünschen gnädige Frau, daß der >Rasende Roland< wartet, bis Sie Güllen besichtigt haben? Die Eisenbahndirektion würde dies mit Freuden billigen. Das Münsterportal soll sehenswert sein. Gotisch. Mit dem Jüngsten Gericht. CLAIRE ZACHANASSIAN Brausen Sie mit Ihrem Zug davon. GATTE VII weinerlich Aber die Presse, Mausi, die Presse ist noch nicht ausgestiegen. Die Reporter dinieren ahnungslos im Speisewagen vorne. CLAIRE ZACHANASSIAN Laß sie weiterdinieren, Moby. Ich brauche die Presse fürs erste nicht in Güllen. Und später wird sie schon kommen. DER ZUGFÜHRER bestürzt

Unterdessen hat der Zweite dem Bürgermeister den Rock gebracht. Der Bürgermeister tritt feierlich auf Claire Zachanassian zu. Der Maler und der Vierte auf der Bank heben die Inschrift Willkommen Claire Zachanassi ...< in die Höhe. Der Maler hat sie nicht ganz beendet.

Abfahrt! Wenn gnädige Frau sich nur nicht bei der Eisenbahndirektion beschweren. Es war ein reines Mißverständnis.

DER BAHNHOFSVORSTAND hebt die Kelle DER ZUGFÜHRER

Der Zug beginnt sich in Bewegung zu setzen. Der Zugführer springt auf.

Verehrte, gnädige Frau. Als Bürgermeister von Güllen habe ich die Ehre, Sie, gnädige, verehrte Frau, als ein Kind unserer Heimat ...

DER BÜRGERMEISTER

Durch das Geräusch des davonrasenden Zuges wird der Rest der Rede des Bürgermeisters, der unentwegt weiterspricht, nicht mehr verstanden.

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Ich danke, Herr Bürgermeister, für die schöne Rede.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Sie geht auf Ill zu, der ihr etwas verlegen entgegengetreten ist. ILL Klara. CLAIRE ZACHANASSIAN Alfred. ILL Schön, daß du gekommen CLAIRE ZACHANASSIAN

bist. Das habe ich mir immer vorgenommen. Mein Leben lang, seit ich Güllen verlassen

habe. Das ist lieb von dir. Auch du hast an mich gedacht? ILL Natürlich. Immer. Das weißt du doch, Klara. CLAIRE ZACHANASSIAN Es war wunderbar, all die Tage, da wir zusammen waren. ILL stolz Eben. Zum Lehrer Sehen Sie, Herr Lehrer, die habe ich im Sack. CLAIRE ZACHANASSIAN Nenne mich, wie du mich immer genannt hast. ILL Mein Wildkätzchen. CLAIRE ZACHANASSIAN schnurrt wie eine alte Katze Wie noch? ILL Mein Zauberhexchen. CLAIRE ZACHANASSIAN Ich nannte dich: mein schwarzer Panther. ILL Der bin ich noch. CLAIRE ZACHANASSIAN Unsinn. Du bist fett geworden. Und grau und versoffen. ILL Doch du bist die gleiche geblieben. Zauberhexchen. CLAIRE ZACHANASSIAN Ach was. Auch ich bin alt geworden und fett. Dazu ist mein linkes Bein hin. Ein Autounfall. Ich fahre nur noch Schnellzüge. Doch die Prothese ist vortrefflich, findest du nicht? Sie hebt ihren Rock in die Höhe und zeigt ihr linkes Bein . Läßt sich gut bewegen. ILL wischt sich den Schweiß ab Wäre nie daraufgekommen, Wildkätzchen. CLAIRE ZACHANASSIAN Darf ich dir meinen siebenten Gatten vorstellen, Alfred? Besitzt Tabakplantagen. Führen eine glückliche Ehe. ILL Aber bitte. CLAIRE ZACHANASSIAN Komm, Moby, verneig dich. Eigentlich heißt er Pedro, doch macht sich Moby schöner. Es paßt auch besser zu Boby, wie der Kammerdiener heißt. Den hat man schließlich fürs Leben, da müssen sich dann eben die Gatten nach seinem Namen richten. ILL unsicher

CLAIRE ZACHANASSIAN

Gatte VII verneigt sich. CLAIRE ZACHANASSIAN

Ist er nicht nett mit seinem schwarzen Schnurrbart? Denk nach, Moby.

Gatte VII denkt nach. CLAIRE ZACHANASSIAN

Fester.

Gatte VII denkt fester nach. CLAIRE ZACHANASSIAN Noch fester. GATTE VII Aber ich kann nicht mehr fester nachdenken, Mausi, CLAIRE ZACHANASSIAN Natürlich kannst du's. Probier's nur.

wirklich nicht.

Gatte VII denkt noch fester nach. Glockenton.

Siehst du, es ging. Nicht wahr, Alfred, so wirkt er fast dämonisch. Wie ein Brasilianer. Das ist aber ein Irrtum. Er ist griechisch-orthodox. Sein Vater war Russe. Ein Pope traute uns. Hochinteressant. Nun will ich mich in Güllen umschauen. Sie betrachtet das Häuschen links mit einem edelsteinbesetzten Lorgnon. Diese Bedürfnisanstalt hat mein Vater errichtet, Moby. Gute Arbeit, exakt ausgeführt. Ich saß als Kind stundenlang auf dem Dach und spuckte hinunter. Aber nur auf die Männer.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Im Hintergrund haben sich nun der gemischte Chor und die Jugendgruppe versammelt. Der Lehrer tritt mit Zylinder vor. DER LEHRER

Gnädige Frau, als Rektor des Güllener Gymnasiums und Liebhaber der edlen Frau Musica

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es mir erlaubt, mit einem schlichten Volkslied aufzuwarten, dargeboten vom gemischten Chor und der Jugendgruppe. CLAIRE ZACHANASSIAN Schießen Sie los, Lehrer, mit Ihrem schlichten Volkslied. Der Lehrer nimmt eine Stimmgabel hervor, gibt den Ton an, der gemischte Chor und die Jugendgruppe beginnen feierlich zu singen, doch kommt in diesem Augenblick ein neuer Zug von links. Der Bahnhofsvorstand salutiert. Der Chor muß mit dem Rattern des Zuges kämpfen, der Lehrer verzweifelt, endlich ist der Zug vorbei. DER BÜRGERMEISTER untröstlich Die Feuerglocke, sollte doch die Feuerglocke einsetzen! CLAIRE ZACHANASSIAN Gut gesungen, Güllener. Besonders der blonde Baß links außen

mit dem großen

Adamsapfel war eigenartig. Durch den gemischten Chor drängt sich ein Polizist, nimmt vor Claire Zachanassian Achtungstellung an. DER POLIZIST Polizeiwachtmeister CLAIRE ZACHANASSIAN mustert ihn

Hahncke, gnädige Frau. Stehe zu Ihrer Verfügung. Danke. Ich will niemanden verhaften. Aber vielleicht wird Güllen Sie nötig haben. Drücken Sie hin und wieder ein Auge zu? DER POLIZIST Das schon, gnädige Frau. Wo käme ich in Güllen sonst hin? CLAIRE ZACHANASSIAN Schließen Sie lieber beide. Der Polizist steht etwas verdattert da. ILL lacht

Ganz die Klara! Ganz mein Zauberhexchen. Er

schlägt sich vergnügt auf die Schenkel.

Der Bürgermeister stülpt sich den Zylinder des Lehrers auf den Kopf, stellt die beiden Enkelkinder vor. Zwillinge, siebenjährig, blonde Zöpfe. DER BÜRGERMEISTER Meine Enkelkinder, wischt sich den Schweiß ab.

gnädige Frau, Hermine und Adolfine. Nur die Gattin fehlt.

Er

Die beiden Mädchen knicksen und überreichen der Zachanassian rote Rosen. CLAIRE ZACHANASSIAN Ich gratuliere Bahnhofsvorstand in die Arme.

zu den beiden Gören, Bürgermeister. Da!

Sie drückt die Rosen dem

Der Bürgermeister gibt heimlich den Zylinder dem Pfarrer, der ihn aufsetzt. DER BÜRGERMEISTER

Unser Pfarrer, gnädige Frau.

Der Pfarrer zieht den Zylinder, verneigt sich.

CLAIRE ZACHANASSIAN Ei, der Pastor. Pflegen Sie Sterbende zu trösten? DER PFARRER verwundert Ich gebe mir Mühe. CLAIRE ZACHANASSIAN Auch solche, die zum Tode verurteilt wurden? DER PFARRER verwirrt Die Todesstrafe ist in unserem Lande abgeschafft, CLAIRE ZACHANASSIAN Man wird sie vielleicht wieder einführen.

gnädige Frau.

Der Pfarrer gibt etwas konsterniert den Zylinder dem Bürgermeister zurück, der ihn wieder aufsetzt. Durch die Menge drängt sich der Arzt Nüßlin. DER BÜRGERMEISTER Doktor Nüßlin, unser Arzt. CLAIRE ZACHANASSIAN Interessant; verfertigen Sie die Totenscheine? DER ARZT Totenscheine? CLAIRE ZACHANASSIAN Kommt jemand um. DER ARZT Jawohl. CLAIRE ZACHANASSIAN Stellen Sie in Zukunft Herzschlag fest. ILL lachend Wildkätzchen! Was du doch für ausgelassene Witze machst! CLAIRE ZACHANASSIAN Nun will ich ins Städtchen.

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Der Bürgermeister will ihr den Arm reichen. CLAIRE ZACHANASSIAN

Was fällt Ihnen ein, Bürgermeister, ich marschiere nicht meilenweit mit meiner

Prothese. DER BÜRGERMEISTER erschrocken

Sofort! Sofort! Herr Doktor Nüßlin besitzt ein Automobil.

DER ARZT Einen Mercedes aus dem Jahre 32, gnädige Frau. CLAIRE ZACHANASSIAN Nicht nötig. Seit meinem Unfall bewege

ich mich nur per Sänfte. Roby und Toby,

her damit. Von links kommen zwei herkulische, kaugummikauende Monstren mit einer Sänfte. Einer trägt eine Gitarre auf dem Rücken.

Zwei Gangster aus Manhattan, in Sing-Sing zum elektrischen Stuhl verurteilt. Auf meine Fürbitte zum Sänftentragen freigelassen. Kostete mich eine Million Dollar pro Fürbitte. Die Sänfte stammt aus dem Louvre und ist ein Geschenk des französischen Präsidenten. Ein freundlicher Herr, sieht genau so aus wie in den Zeitungen. Tragt mich in die Stadt, Roby und Toby. DIE BEIDEN Yes, Mam. CLAIRE ZACHANASSIAN Doch zuerst in die Petersche Scheune und dann in den Konradsweilerwald. Ich will mit Alfred unsere alten Liebesorte besuchen. Schafft das Gepäck und den Sarg unterdessen in den Goldenen Apostel. DER BÜRGERMEISTER verblüfft Den Sarg? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich brachte einen mit. Ich kann ihn vielleicht brauchen. Los, Roby und Toby. CLAIRE ZACHANASSIAN

Die beiden kaugummikauenden Monstren tragen Claire Zachanassian in die Stadt. Der Bürgermeister gibt ein Zeichen, alle brechen in Hochrufe aus, die sich freilich verdutzt dämpfen, wie nun zwei Dienstmänner einen schwarzen kostbaren Sarg herein und nach Güllen tragen. Doch beginnt in diesem Augenblicke die noch nicht versetzte Feuerglocke zu bimmeln. DER BÜRGERMEISTER

Endlich! Die Feuerglocke!

Die Bevölkerung schließt sich dem Sarg an. Die Zofen der Claire Zachanassian hinterher mit Gepäck und unendlichen Koffern, die von Güllenern getragen werden. Der Polizist regelt den Verkehr, will dem Zug nachgehen, doch kommen von rechts noch zwei kleine, dicke alte Männer mit leiser Stimme, die sich an der Hand halten, beide sorgfältig gekleidet. DIE BEIDEN

Wir sind in Güllen. Wir riechen's, wir riechen's, wir riechen's an der Luft, an der Güllener

Luft. DER POLIZIST Wer seid denn ihr? DIE BEIDEN Wir gehören zur alten Dame, wir gehören zur alten Dame. Sie nennt uns Koby und Loby. DER POLIZIST Frau Zachanassian logiert im Goldenen Apostel. DIE BEIDEN fröhlich Wir sind blind, wir sind blind. DER POLIZIST Blind? Dann führe ich euch zwei mal hin. DIE BEIDEN Danke, Herr Polizist, danke recht schön. DER POLIZIST verwundert Wie wißt ihr denn, daß ich ein Polizist bin, wenn ihr blind seid? DIE BEIDEN Am Tonfall, am Tonfall, alle Polizisten haben den gleichen Tonfall. DER POLIZIST mißtrauisch Ihr scheint Erfahrungen mit der Polizei gemacht zu haben, ihr kleinen dicken

Männer. DIE BEIDEN staunend Männer, er hält uns für Männer! DER POLIZIST Was seid ihr denn sonst, zum Teufel! DIE BEIDEN Werden's schon merken, werden's schon merken! DER POLIZIST verdutzt Na, wenigstens immer munter. DIE BEIDEN Kriegen Koteletts und Schinken. Alle Tage, alle Tage. DER POLIZIST Da würde ich auch herumtanzen. Kommt, gebt mir haben die Ausländer. Er geht mit den beiden in die Stadt hinein. DIE BEIDEN Zu Boby und Moby, zu Roby und Toby!

die Hand. Einen komischen Humor

Verwandlung ohne Vorhang. Die Fassaden des Bahnhofs und des Häuschens schweben in die Höhe. Interieur des Goldenen Apostels, ja es kann sich sogar ein Wirtshausschild von oben heruntersenken,

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eine vergoldete, ehrwürdige Apostelfigur, ein Emblem, das in der Mitte des Raumes schweben bleibt. Untergegangener Luxus. Alles verschlissen, verstaubt, zerbrochen, verstunken, vermodert, der Gips abgebröckelt. Der Bürgermeister, der Pfarrer und der Lehrer sitzen rechts im Vordergrund beim Schnaps und beobachten die endlosen Koffertransporte, die man sich im Zuschauerraum vorzustellen hat. DER BÜRGERMEISTER Koffer, nichts als Koffer. DER PFARRER Haufenweise. Und vorhin wurde in einem Käfig ein Panther hinaufgeschafft. DER BÜRGERMEISTER Ein wildes schwarzes Tier. DER PFARRER Der Sarg. DER BÜRGERMEISTER Wird in ein Extrazimmer gebracht. DER LEHRER Seltsam. DER PFARRER Weltberühmte Damen haben ihre Marotten. DER BÜRGERMEISTER Hübsche Zofen. DER LEHRER Sie scheint länger hier bleiben zu wollen. DER BÜRGERMEISTER Um so besser. Ill hat sie im Sack. Wildkätzchen, Zauberhexchen hat er

sie genannt, Millionen wird er aus ihr schöpfen. Auf Ihr Wohl, Lehrer. Darauf, daß Claire Zachanassian Bockmann saniert. DER LEHRER Die Wagnerwerke. DER BÜRGERMEISTER Die Platz-an-der-Sonne-Hütte. Kommt die in Schwung, kommt alles in Schwung, die Gemeinde, das Gymnasium, der öffentliche Wohlstand. Sie stoßen an.

Seit mehr denn zwei Jahrzehnten korrigiere ich die Latein- und Griechischübungen der Güllener Schüler, doch was Gruseln heißt, Bürgermeister, weiß ich erst seit einer Stunde. Schauerlich, wie sie aus dem Zuge stieg, die alte Dame mit ihren schwarzen Gewändern. Kommt mir vor wie eine Parze, wie eine griechische Schicksalsgöttin. Sollte Klotho heißen, nicht Claire, der traut man es noch zu, daß sie Lebensfäden spinnt.

DER LEHRER

Der Polizist kommt, hängt den Helm an einen Haken. DER BÜRGERMEISTER

Setzen Sie sich zu uns, Polizeiwachtmeister.

Der Polizist setzt sich zu ihnen.

Kein Vergnügen, in diesem Nest zu wirken. Aber nun wird die Ruine aufblühen. War da eben mit der Milliardärin und dem Krämer 111 in der Peterschen Scheune. Eine rührende Szene. Die beiden waren andächtig wie in einer Kirche. Genierte mich, dabeizusein. Ich habe mich denn auch entfernt, wie sie in den Konradsweilerwald gingen. Eine regelrechte Prozession. Vorne zwei dicke blinde Männer mit dem Butler, dann die Sänfte, dahinter Ill und ihr siebenter Mann mit seinen Angelruten. DER BÜRGERMEISTER Männerverbrauch. DER LEHRER Eine zweite Lais. DER PFARRER Wir sind alle Sünder. DER BÜRGERMEISTER Ich wundere mich, was die im Konradsweilerwald suchen. DER POLIZIST Das gleiche wie in der Peterschen Scheune, Bürgermeister. Sie gehen den Lokalitäten nach, wo einst ihre Leidenschaft - wie sagt man DER PFARRER brannte! DER LEHRER Lichterloh! Da muß man schon an Shakespeare denken. Romeo und Julia. Meine Herren: Ich bin erschüttert. Zum ersten Male in Güllen fühle ich antike Größe. DER BÜRGERMEISTER Vor allem wollen wir auf unseren guten Ill anstoßen, der sich jede nur erdenkliche Mühe gibt, unser Los zu bessern. Meine Herren, auf den beliebtesten Bürger der Stadt, auf meinen Nachfolger! DER POLIZIST

Sie stoßen an. DER BÜRGERMEISTER

Schon wieder Koffer.

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DER POLIZIST

Was die für ein Gepäck hat.

Der Wirtshausapostel schwebt wieder nach oben. Von links kommen die vier Bürger mit einer einfachen Holzbank, ohne Lehne, die sie links absetzen. Der Erste steigt auf die Bank, ein großes Kartonherz umgehängt mit den Buchstaben AK, die andern stellen sich im Halbkreis um ihn, breiten Zweige auseinander, markieren Bäume.

Wir sind Fichten, Föhren, Buchen. Wir sind dunkelgrüne Tannen. DER DRITTE Moos und Flechten, Efeudickicht. DER VIERTE Unterholz und Fuchsgeheg. DER ERSTE Wolkenzüge, Vogelrufe. DER ZWEITE Echte deutsche Wurzelwildnis. DER DRITTE Fliegenpilze, scheue Rehe. DER VIERTE Zweiggeflüster, alte Träume. DER ERSTE

DER ZWEITE

Aus dem Hintergrund kommen die zwei kaugummikauenden Monstren, die Sänfte mit Claire Zachanassian tragend, neben ihr Ill. Dahinter der Gatte vii und ganz im Hintergrund der Butler, die beiden Blinden an der Hand führend.

Der Konradsweilerwald, Roby und Toby, haltet mal an. Anhalten, Roby und Toby, anhalten, Boby und Moby.

CLAIRE ZACHANASSIAN DIE BEIDEN BLINDEN

Claire Zachanassian steigt aus der Sänfte, betrachtet den Wald.

Das Herz mit deinem und meinem Namen, Alfred. Fast verblichen und auseinandergezogen. Der Baum ist gewachsen, sein Stamm, seine Äste dick geworden wie wir selber. Sie geht zu den anderen Bäumen. Eine deutsche Baumgruppe. Ich ging schon lange nicht mehr im Walde meiner Jugend, stampfte schon lange nicht mehr durch Laub, durch violetten Efeu. Spaziert nun etwas hinter die Büsche, mit eurer Sänfte, ihr Kaugummikauer, ich mag eure Visagen nicht immer sehen. Und du, Moby, wandere nach rechts gegen den Bach zu deinen Fischen.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Die zwei Monstren mit der Sänfte links ab. Gatte vri nach rechts, Claire Zachanassian setzt sich auf die Bank. CLAIRE ZACHANASSIAN

Schau mal, ein Reh.

Der Dritte springt davon. ILL Schonzeit. Er setzt sich zu ihr. CLAIRE ZACHANASSIAN Auf diesem

Findling küßten wir uns. Vor mehr als fünfundvierzig Jahren. Wir liebten uns unter diesen Sträuchern, unter dieser Buche, zwischen Fliegenpilzen im Moos. Ich war siebzehn und du noch nicht zwanzig. Dann hast du Mathilde Blumhard geheiratet mit ihrem Kleinwarenladen und ich den alten Zachanassian mit seinen Milliarden aus Armenien. Er fand mich in einem Hamburger Bordell. Meine roten Haare lockten ihn an, den alten, goldenen Maikäfer. ILL Klara! CLAIRE ZACHANASSIAN Eine Henry Clay, Boby. DIE BEIDEN BLINDEN Eine Henry Clay, eine Henry Clay. Der Butler kommt aus dem Hintergrund, reicht ihr eine Zigarre, gibt ihr Feuer.

Ich schätze Zigarren. Eigentlich sollte ich jene meines Mannes rauchen, aber ich traue ihnen nicht. ILL Dir zuliebe habe ich Mathilde Blumhard geheiratet. CLAIRE ZACHANASSIAN Sie hatte Geld. ILL Du warst jung und schön. Dir gehörte die Zukunft. Ich wollte dein Glück. Da mußte ich auf das meine verzichten. CLAIRE ZACHANASSIAN Nun ist die Zukunft gekommen. CLAIRE ZACHANASSIAN

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ILL Wärest du hier geblieben, wärest du ebenso ruiniert wie ich. CLAIRE ZACHANASSIAN Du bist ruiniert? ILL Ein verkrachter Krämer in einem verkrachten Städtchen. CLAIRE ZACHANASSIAN Nun habe i c h Geld. ILL Ich lebe in einer Hölle, seit du von mir gegangen bist. CLAIRE ZACHANASSIAN Und ich bin die Hölle geworden. ILL Ich schlage mich mit meiner Familie herum, die mir jeden Tag CLAIRE ZACHANASSIAN Mathildchen machte dich nicht glücklich? ILL Hauptsache, daß du glücklich bist. CLAIRE ZACHANASSIAN Deine Kinder? ILL Ohne Sinn für Ideale. CLAIRE ZACHANASSIAN Der wird ihnen schon aufgehen.

die Armut vorhält.

Er schweigt. Die beiden starren in den Wald ihrer Jugend.

Ich führe ein lächerliches Leben. Nicht einmal recht aus dem Städtchen bin ich gekommen. Eine Reise nach Berlin und eine ins Tessin, das ist alles. CLAIRE ZACHANASSIAN Wozu auch. Ich kenne die Welt. ILL Weil du immer reisen konntest. CLAIRE ZACHANASSIAN Weil sie mir gehört. ILL

Er schweigt, und sie raucht. ILL Nun wird sich alles ändern. CLAIRE ZACHANASSIAN Gewiß. ILL lauernd Du wirst uns helfen? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich lasse das Städtchen meiner Jugend nicht im Stich. ILL Wir haben Millionen nötig. CLAIRE ZACHANASSIAN Wenig. ILL begeistert Wildkätzchen! Er schlägt ihr gerührt auf ihren linken Schenkel und zieht die Hand schmerzerfüllt zurück. CLAIRE ZACHANASSIAN Das schmerzt. Du hast auf ein Scharnier meiner Prothese geschlagen. Der Erste zieht aus der Hosentasche eine alte Tabakpfeife hervor und einen rostigen Hausschlüssel, klopft mit dem Schlüssel auf die Pfeife.

Ein Specht. wie wir jung waren und kühn, da wir in den Konradsweilerwald gingen, in den Tagen unserer Liebe. Die Sonne hoch über den Tannen, eine helle Scheibe. Ferne Wolkenzüge und das Rufen des Kuckucks irgendwo in der Wurzelwildnis. DER VIERTE Kuckuck! Kuckuck!

CLAIRE ZACHANASSIAN ILL Es ist wie einst,

Kühles Holz und Wind in den Zweigen, ein Rauschen, wie die Brandung des Meeres. Wie einst, alles wie einst.

ILL befühlt den Ersten

Die drei, die Bäume markieren, blasen, bewegen die Arme auf und ab . ILL Wäre doch die Zeit aufgehoben, mein Zauberhexchen. Hätte uns doch das Leben nicht CLAIRE ZACHANASSIAN Das wünschest du? ILL Dies, nur dies. Ich liebe dich doch! Er küßt ihre rechte Hand. Dieselbe kühle weiße Hand. CLAIRE ZACHANASSIAN Irrtum. Auch eine Prothese. Elfenbein.

getrennt.

Klara, ist denn überhaupt alles Prothese an dir! Fast. Von einem Flugzeugabsturz in Afghanistan. Kroch als einzige aus den Trümmern. Bin nicht umzubringen. DIE BEIDEN BLINDEN Nicht umzubringen, nicht umzubringen. ILL läßt entsetzt ihre Hand fallen CLAIRE ZACHANASSIAN

Blasmusik ertönt, feierlich getragen. Der Wirtshausapostel senkt sich wieder herunter. Die Güllener tragen Tische herein, die Tischtücher erbärmlich zerfetzt. Gedeck, Speisen, ein Tisch in der Mitte, einer links und einer rechts, parallel zum Publikum. Der Pfarrer kommt aus dem Hintergrund. Weitere

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Güllener strömen herein, einer im Turnerleibchen. Der Bürgermeister, der Arzt, der Lehrer, der Polizist erscheinen wieder. Die Güllener klatschen Beifall. Der Bürgermeister kommt zur Bank, wo Claire Zachanassian und Ill sitzen, die Bäume sind wieder zu Bürgern geworden und haben sich nach hinten begeben.

Der Beifallssturm galt Ihnen, verehrte gnädige Frau. Er gilt der Stadtmusik, Bürgermeister. Sie bläst vortrefflich, und vorhin die Pyramide des Turnvereins war wunderschön.

DER BÜRGERMEISTER

CLAIRE ZACHANASSIAN

Auf einen Wink des Bürgermeisters hin präsentiert sich der Turner den Anwesenden.

Ich liebe Männer in Leibchen und kurzen Hosen. Sie sehen so natürlich aus. Turnen Sie nochmal. Schwingen Sie jetzt die Arme nach hinten, Herr Turner, und dann gehen Sie in den Liegestütz.

CLAIRE ZACHANASSIAN

D er

Turner befolgt ihre Anweisungen.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Wundervoll, diese Muskeln! Haben Sie schon jemanden erwürgt mit Ihren

Kräften? Der Turner in Liegestützstellung sinkt vor Verwunderung auf die Knie. DER TURNER

Erwürgt?

Einen goldenen Humor besitzt die Klara! Zum Totlachen, diese Bonmots! Ich weiß nicht! Solche Späße gehen durch Mark und Bein.

ILL lachend DER ARZT

Turner nach hinten.

Darf ich Sie zum Tisch begleiten? seine Frau vor. Meine Gattin.

DER BÜRGERMEISTER Mitte, stellt ihr

Er führt Claire Zachanassian zum Tisch in der

CLAIRE ZACHANASSIAN betrachtet die Gattin durch ihr Lorgnon

Annettchen Dummermuth, unsere Klassen-

erste. Ill holt seine Frau, sie ist ausgemergelt, verbittert.

Mathildchen Blumhard. Erinnere mich, wie du hinter der Ladentüre auf Alfred lauertest. Mager bist du geworden und bleich, meine Gute. ILL heimlich Millionen hat sie versprochen! DER BÜRGERMEISTER schnappt nach Luft Millionen? ILL Millionen. DER ARZT Donnerwetter. CLAIRE ZACHANASSIAN Nun habe ich Hunger, Bürgermeister. DER BÜRGERMEISTER Wir warten nur auf Ihren Gatten, gnädige Frau. CLAIRE ZACHANASSIAN Sie brauchen nicht zu warten. Er angelt, und ich lasse mich scheiden. DER BÜRGERMEISTER Scheiden? CLAIRE ZACHANASSIAN Auch Moby wird sich wundern. Heirate einen deutschen Filmschauspieler. DER BÜRGERMEISTER Aber Sie sagten doch, sie führten eine glückliche Ehe! CLAIRE ZACHANASSIAN Jede meiner Ehen ist glücklich. Aber es war mein Jugendtraum, im Güllener Münster getraut zu werden. Jugendträume muß man ausführen. Wird feierlich werden. CLAIRE ZACHANASSIAN

Alle setzen sich. Claire Zachanassian nimmt zwischen dem Bürgermeister und Ill Platz. Neben Ill sitzt Frau Ill und neben dem Bürgermeister dessen Gattin. Rechts hinter einem anderen Tisch der Lehrer, der Pfarrer und der Polizist, links die Vier. Weitere Ehrengäste mit Gattinnen im Hintergrund, wo das Spruchband leuchtet: Willkommen Kläri. Der Bürgermeister steht auf, freudestrahlend, schon die Serviette umgebunden, und klopft an sein Glas.

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Gnädige Frau, meine lieben Güllener. Es sind jetzt fünfundvierzig Jahre her, daß Sie unser Städtchen verlassen haben, welches vom Kurfürsten Hasso dem Noblen gegründet, so freundlich zwischen dem Konradsweilerwald und der Niederung von Pückenried gebettet liegt. Fünfundvierzig Jahre, mehr als vier Jahrzehnte, eine Menge Zeit. Vieles hat sich inzwischen ereignet, viel Bitteres. Traurig ist es der Welt ergangen, traurig uns. Doch haben wir Sie, gnädige Frau - unsere Kläri - Beifall - nie vergessen. Weder Sie, noch Ihre Familie. Die prächtige, urgesunde Mutter, die ganz in ihrer Ehe aufging - Ill flüstert ihm etwas zu - leider allzufrüh entschwunden, der volkstümliche Vater, der beim Bahnhof ein von Fachkreisen und Laien stark besuchtes - Ill flüstert ihm etwas zu - stark beachtetes Gebäude errichtete, leben in Gedanken noch unter uns, als unsere Besten, Wackersten. Und gar Sie, gnädige Frau - als blond - Ill flüstert ihm etwas zu - rotgelockter Wildfang tollten Sie durch unsere nun leider verlotterten Gassen - wer kannte Sie nicht. Schon damals spürte jeder den Zauber Ihrer Persönlichkeit, ahnte den kommenden Aufstieg zu der schwindelnden Höhe der Menschheit. Er zieht das Notizbüchlein hervor. Unvergessen sind Sie geblieben. In der Tat. Ihre Leistung in der Schule wird noch jetzt von der Lehrerschaft als Vorbild hingestellt, waren Sie doch besonders im wichtigsten Fach erstaunlich, in der Pflanzen- und Tierkunde, als Ausdruck Ihres Mitgefühls zu allem Kreatürlichen, Schutzbedürftigen. Ihre Gerechtigkeitsliebe und Ihr Sinn für Wohltätigkeit erregte schon damals die Bewunderung weiter Kreise. Riesiger Beifall . Hatte doch unser Kläri einer armen alten Witwe Nahrung verschafft, indem sie mit ihrem mühsam bei Nachbarn verdienten Taschengeld Kartoffeln kaufte und sie so vor dem Hungertode bewahrte, um nur eine ihrer barmherzigen Handlungen zu erwähnen. Riesiger Beifall. Gnädige Frau, liebe Güllener, die zarten Keime so erfreulicher Anlagen haben sich denn nun kräftig entwickelt, aus dem rotgelockten Wildfang wurde eine Dame, die die Welt mit ihrer Wohltätigkeit überschüttet, man denke nur an ihre Sozialwerke, an ihre Müttersanatorien und Suppenanstalten, an ihre Künstlerhilfe und Kinderkrippen, und so möchte ich der nun Heimgefundenen zurufen: Sie lebe hoch, hoch, hoch!

DER BÜRGERMEISTER

Beifall. Claire Zachanassian erhebt sich.

Bürgermeister, Güllener. Eure selbstlose Freude über meinen Besuch rührt mich. Ich war zwar ein etwas anderes Kind, als ich nun in der Rede des Bürgermeisters vorkomme, in der Schule wurde ich geprügelt, und die Kartoffeln für die Witwe Boll habe ich gestohlen, gemeinsam mit Ill, nicht um die alte Kupplerin vor dem Hungertode zu bewahren, sondern um mit Ill einmal in einem Bett zu liegen, wo es bequemer war als im Konradsweilerwald oder in der Peterschen Scheune. Um jedoch meinen Beitrag an eure Freude zu leisten, will ich gleich erklären, daß ich bereit bin, Güllen eine Milliarde zu schenken. Fünfhundert Millionen der Stadt und fünfhundert Millionen verteilt auf alle Familien.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Totenstille DER BÜRGERMEISTER stotternd

Eine Milliarde.

Alle immer noch in Erstarrung. CLAIRE ZACHANASSIAN

Unter einer Bedingung.

Alle brechen in einen unbeschreiblichen Jubel aus. Tanzen herum, stehen auf die Stühle, der Turner turnt usw. Ill trommelt sich begeistert auf die Brust.

Die Klara! Goldig! Wunderbar! Zum Kugeln! Voll und ganz mein Zauberhexchen! Er küßt sie. Unter einer Bedingung, haben gnädige Frau gesagt. Darf ich diese Bedingung wissen? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich will die Bedingung nennen. Ich gebe euch eine Milliarde und kaufe mir dafür die Gerechtigkeit. ILL

DER BÜRGERMEISTER

Totenstille.

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Wie ist dies zu verstehen, gnädige Frau? Wie ich es sagte. DER BÜRGERMEISTER Die Gerechtigkeit kann man doch nicht kaufen! CLAIRE ZACHANASSIAN Man kann alles kaufen. DER BÜRGERMEISTER Ich verstehe immer noch nicht. CLAIRE ZACHANASSIAN Tritt vor, Boby. DER BÜRGERMEISTER

CLAIRE ZACHANASSIAN

Der Butler tritt von rechts in die Mitte zwischen die drei Tische, zieht die dunkle Brille ab.

Ich weiß nicht, ob mich noch jemand von euch erkennt. Der Oberrichter Hofer. DER BUTLER Richtig. Der Oberrichter Hofer. Ich war vor fünfundvierzig Jahren Oberrichter in Güllen und kam dann ins Kaffiger Appellationsgericht, bis mir vor nun fünfundzwanzig Jahren Frau Zachanassian das Angebot machte, als Butler in ihre Dienste zu treten. Ich habe angenommen. Eine für einen Akademiker vielleicht etwas seltsame Karriere, doch die angebotene Besoldung war derart phantastisch CLAIRE ZACHANASSIAN Komm zum Fall, Boby. DER BUTLER Wie ihr vernommen habt, bietet Frau Claire Zachanassian eine Milliarde und will dafür Gerechtigkeit. Mit anderen Worten: Frau Claire Zachanassian bietet eine Milliarde, wenn ihr das Unrecht wiedergutmacht, das Frau Zachanassian in Güllen angetan wurde. Herr Ill, darf ich bitten. DER BUTLER

DER LEHRER

Ill steht auf, bleich, gleichzeitig erschrocken und verwundert. ILL Was wollen Sie von mir? DER BUTLER Treten Sie vor, Herr Ill. ILL Bitte. Er tritt vor den Tisch rechts. Lacht verlegen. Zuckt die Achseln. DER BUTLER Es war im Jahre 1910. Ich war Oberrichter in Güllen und

hatte eine Vaterschaftsklage zu behandeln. Claire Zachanassian, damals Klara Wäscher, klagte Sie, Herr Ill, an, der Vater ihres Kindes zu sein.

Ill schweigt. DER BUTLER Sie bestritten damals die Vaterschaft, Herr Ill. Sie hatten ILL Alte Geschichten. Ich war jung und unbesonnen. CLAIRE ZACHANASSIAN Führt Koby und Loby vor, Toby und Roby.

zwei Zeugen mitgebracht.

Die beiden kaugummikauenden Monstren führen die beiden blinden Eunuchen, die sich fröhlich an der Hand halten, in die Mitte der Bühne. DIE BEIDEN Wir sind zur Stelle, wir sind zur Stelle! DER BUTLER Erkennen Sie die beiden, Herr Ill. Ill schweigt. DIE BEIDEN Wir sind Koby und Loby, wir sind Koby und Loby. ILL Ich kenne sie nicht. DIE BEIDEN Wir haben uns verändert, wir haben uns verändert. DER BUTLER Nennt eure Namen . DER ERSTE Jakob Hühnlein, Jakob Hühnlein. DER ZWEITE Ludwig Sparr, Ludwig Sparr. DER BUTLER Nun, Herr Ill. ILL Ich weiß nichts von ihnen. DER BUTLER Jakob Hühnlein und Ludwig Sparr, kennt ihr Herrn Ill? DIE BEIDEN Wir sind blind, wir sind blind. DER BUTLER Kennt ihr ihn an seiner Stimme? DIE BEIDEN An seiner Stimme, an seiner Stimme. DER BUTLER 1910 war ich der Richter und ihr die Zeugen. Was habt

Jakob Hühnlein, vor dem Gericht zu Güllen?

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ihr geschworen, Ludwig Sparr und

DIE BEIDEN Wir hätten mit Klara geschlafen, wir hätten mit Klara geschlafen. DER BUTLER So habt ihr vor mir geschworen. Vor dem Gericht, vor Gott. War DIE BEIDEN Wir haben falsch geschworen, wir haben falsch DER BUTLER Warum, Ludwig Sparr und Jakob Hühnlein? DIE BEIDEN Ill hat uns bestochen, Ill hat uns bestochen. DER BUTLER Womit?

dies die Wahrheit?

geschworen.

DIE BEIDEN Mit einem Liter Schnaps, mit einem Liter Schnaps. CLAIRE ZACHANASSIAN Erzählt nun, was ich mit euch getan habe, DER BUTLER Erzählt es.

Koby und Loby.

DIE BEIDEN Die Dame ließ uns DER BUTLER So ist es. Claire

suchen, die Dame ließ uns suchen. Zachanassian ließ euch suchen. In der ganzen Welt. Jakob Hühnlein war nach Kanada ausgewandert und Ludwig Sparr nach Australien. Aber sie fand euch. Was hat sie dann mit euch getan? DIE BEIDEN Sie gab uns Toby und Roby. Sie gab uns Toby und Roby. DER BUTLER Und was haben Toby und Roby mit euch gemacht? DIE BEIDEN Kastriert und geblendet, kastriert und geblendet. DER BUTLER Dies ist die Geschichte: Ein Richter, ein Angeklagter, zwei falsche Zeugen, ein Fehlurteil im Jahre 1910. Ist es nicht so, Klägerin? Claire Zachanassian steht auf. ILL stampft auf den Boden Verjährt, alles verjährt! Eine alte, verrückte Geschichte. DER BUTLER Was geschah mit dem Kind, Klägerin? CLAIRE ZACHANASSIAN leise Es lebte ein Jahr. DER BUTLER Was geschah mit Ihnen? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich wurde eine Dirne. DER BUTLER Weshalb? CLAIRE ZACHANASSIAN Das Urteil des Gerichts machte mich dazu. DER BUTLER Und nun wollen Sie Gerechtigkeit, Claire Zachanassian? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich kann sie mir leisten. Eine Milliarde für Güllen, wenn jemand

Alfred Ill tötet.

Totenstille. FRAU ILL stürzt auf Ill zu, umklammert ihn

Fredi!

ILL Zauberhexchen! Das kannst du doch nicht fordern! Das Leben ging doch längst weiter! CLAIRE ZACHANASSIAN Das Leben ging weiter, aber ich habe nichts vergessen, Ill.

Weder den Konradsweilerwald noch die Petersche Scheune, weder die Schlafkammer der Witwe Boll noch deinen Verrat. Nun sind wir alt geworden, beide, du verkommen und ich von den Messern der Chirurgen zerfleischt, und jetzt will ich, daß wir abrechnen, beide: Du hast dein Leben gewählt und mich in das meine gezwungen. Du wolltest, daß die Zeit aufgehoben würde, eben, im Wald unserer Jugend, voll von Vergänglichkeit. Nun habe ich sie aufgehoben, und nun will ich Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für eine Milliarde.

Der Bürgermeister steht auf, bleich, würdig.

Frau Zachanassian: Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.

DER BÜRGERMEISTER

Riesiger Beifall. CLAIRE ZACHANASSIAN

Ich warte.

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Zweiter Akt Das Städtchen, nur angedeutet. Im Hintergrund das Hotel zum Goldenen Apostel. Von außen. Verlotterte Jugendstilfassade. Balkon. Rechts eine Inschrift: Alfred Ill, Handlung. Darunter ein schmutziger Ladentisch, dahinter ein Regal mit alten Waren. Wenn jemand durch die fingierte Ladentüre kommt, ertönt eine dünne Glocke. Links Inschrift: Polizei. Darunter ein Holztisch mit einem Telephon. Zwei Stühle. Es ist Morgen. Roby und Toby tragen von links kaugummikauend Kränze, Blumen wie zu einer Beerdigung über die Bühne nach hinten ins Hotel. Ill schaut ihnen durchs Fenster zu. Seine Tochter fegt auf den Knien den Boden. Sein Sohn steckt eine Zigarette in den Mund.

Kränze. DER SOHN Jeden Morgen bringen sie die vom Bahnhof. ILL Für den leeren Sarg im Goldenen Apostel. DER SOHN Schüchtert niemand ein. ILL Das Städtchen steht zu mir. ILL

Der Sohn zündet die Zigarette an.

Kommt die Mutter zum Frühstück? Sie bleibe oben. Sie sei müde. ILL Eine gute Mutter habt ihr, Kinder. Ich muß es einmal sagen. Eine gute Mutter. Sie soll oben bleiben, sie sol lsich schonen. Dann frühstücken wir miteinander. Das haben wir schon lange nicht getan. Ich stifte Eier und eine Büchse amerikanischen Schinken. Wir wollen es feudal haben. Wie in den guten Zeiten, als noch die Platz-an-der-Sonne-Hütte florierte. DER SOHN Du mußt mich entschuldigen. Er drückt die Zigarette aus. ILL Du willst nicht mit uns essen, Karl? DER SOHN Ich gehe zum Bahnhof. Ein Arbeiter ist krank. Die brauchen vielleicht Ersatz. ILL Bahnarbeit in der prallen Sonne ist keine Beschäftigung für meinen Jungen. DER SOHN Besser eine als keine. Er geht davon. DIE TOCHTER steht auf Ich gehe auch, Vater. ILL Du auch. So. Wohin denn, wenn ich das Fräulein Tochter fragen darf? DIE TOCHTER Aufs Arbeitsamt. Vielleicht gibt es eine Stelle. Sie geht davon. ILL gerührt, niest in sein Taschentuch Gute Kinder, brave Kinder. ILL

DIE TOCHTER

Vom Balkon her dringen einige Gitarrentakte. DIE STIMME CLAIRE ZACHANASSIANS Reich mir mein linkes Bein herüber, Boby. DIE STIMME DES BUTLERS Ich kann es nicht finden. DIE STIMME CLAIRE ZACHANASSIANS Hinter den Verlobungsblumen auf der Kommode. Zu Ill kommt der erste Kunde (der Erste). ILL Guten Morgen, Hofbauer. DER ERSTE Zigaretten. ILL Wie jeden Morgen. DER ERSTE Nicht die, möchte die Grünen. ILL Teurer. DER ERSTE Schreiben's auf. ILL Weil Sie es sind, Hofbauer, und weil DER ERSTE Da spielt jemand Gitarre. ILL Einer der Gangster aus Sing-Sing.

wir zusammenhalten müssen.

Aus dem Hotel kommen die beiden Blinden, Angelruten und andere zum Fischen nötige Utensilien tragend.

19

DIE BEIDEN Einen schönen Morgen, Alfred, einen schönen Morgen. ILL Hol euch der Teufel. DIE BEIDEN Wir gehen fischen, wir gehen fischen. Sie ziehen nach links davon. DER ERSTE Gehen zum Güllenbach. ILL Mit den Angelruten ihres siebenten Mannes. DER ERSTE Soll seine Tabakplantagen verloren haben. ILL Gehören auch der Milliardärin. DER ERSTE Dafür wird's eine Riesenhochzeit mit ihrem achten. Gestern wurde Verlobung

gefeiert.

Auf den Balkon im Hintergrund kommt Claire Zachanassian, im Morgenrock. Bewegt die rechte Hand, das linke Bein. Dazu vielleicht einzelne auf der Gitarre gezupfte Klänge, die in der Folge diese Balkonszene begleiten, ein wenig wie beim Rezitativ einer Oper, je nach dem Sinn der Texte, bald Walzer, bald Fetzen verschiedener Nationalhymnen usw CLAIRE ZACHANASSIAN

Ich bin wieder montiert. Die armenische Volksweise, Roby.

Eine Gitarrenmelodie.

Zachanassians Lieblingsstück. Er wollte es immer hören. jeden Morgen. Er war ein klassischer Mann, der alte Finanzriese mit seiner unermeßlichen Ölflotte und seinen Rennställen, besaß noch Milliarden. Da lohnte sich eine Ehe noch. War ein großer Lehr- und Tanzmeister, bewandert in sämtlichen Teufeleien, habe ihm alle abgeguckt.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Zwei Frauen kommen. Sie geben Ill die Milchkessel. DIE ERSTE FRAU Milch, Herr Ill. DIE ZWEITE FRAU Mein Kessel, Herr Ill. ILL Schönen guten Morgen. Einen Liter

Milch für jede der Damen.

Er öffnet einen Milchkessel und will Milch schöpfen. DIE ERSTE FRAU Vollmilch, Herr Ill. DIE ZWEITE FRAU Zwei Liter Vollmilch, Herr Ill. ILL Vollmilch. Er öffnet einen anderen Kessel und schöpft Milch. Claire Zachanassian betrachtet den Morgen durch ihr Lorgnon.

Ein schöner Herbstmorgen. Leichter Nebel in den Gassen, ein silbriger Rauch, und darüber ein veilchenblauer Himmel, wie ihn Graf Holk pinselte, mein dritter, der Außenminister. Beschäftigte sich mit Malerei in den Ferien. Sie war scheußlich. Sie setzt sich umständlich. Der ganze Graf war scheußlich. DIE ERSTE FRAU Und Butter. Zweihundert Gramm. DIE ZWEITE FRAU Und Weißbrot. Zwei Kilo. ILL Wohl geerbt, die Damen, wohl geerbt. DIE BEIDEN FRAUEN Schreiben's auf. ILL Alle für einen, einer für alle. DIE ERSTE FRAU Noch Schokolade für zwei zwanzig. DIE ZWEITE FRAU Vier vierzig. ILL Auch aufschreiben? DIE ERSTE FRAU Auch . DIE ZWEITE FRAU Die essen wir hier, Herr Ill. DIE ERSTE FRAU Bei Ihnen ist es am schönsten, Herr Ill. CLAIRE ZACHANASSIAN

Sie setzen sich in den Hintergrund das Ladens und essen Schokolade.

20

Eine Winston. Ich will doch einmal die Sorte meines siebenten Gatten probieren, jetzt wo er geschieden ist, der arme Moby, mit seiner Fischleidenschaft. Traurig wird er im D-Zug nach Portugal sitzen. In Lissabon nimmt ihn einer meiner Öltanker nach Brasilien mit.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Der Butler reicht ihr eine Zigarre, gibt ihr Feuer.

Da sitzt sie auf ihrem Balkon und schmaucht ihre Zigarre. Immer sündhaft teure Sorten. DER ERSTE Verschwendung. Sollte sich schämen angesichts einer verarmten Menschheit. CLAIRE ZACHANASSIAN rauchend Merkwürdig. Schmeckt anständig. ILL Sie hat sich verrechnet. Ich bin ein alter Sünder, Hofbauer, wer ist dies nicht. Es war ein böser Jugendstreich, den ich ihr spielte, doch wie da alle den Antrag abgelehnt haben, die Güllener im Goldenen Apostel, einmütig, trotz dem Elend, war's die schönste Stunde in meinem Leben. CLAIRE ZACHANASSIAN Whisky, Boby. Pur. DER ERSTE ILL

Ein zweiter Kunde kommt, verarmt und verrissen, wie alle (Der Zweite).

Guten Morgen. Wird heiß werden heute. DER ERSTE Die Schönwetterperiode dauert an. ILL Eine Kundschaft habe ich diesen Morgen. Sonst die ganze Zeit niemand, und nun strömt's seit einigen Tagen. DER ERSTE Wir stehen eben zu Ihnen. Zu unserem Ill. Felsenfest. DIE FRAUEN Schokolade essend Felsenfest, Herr Ill, felsenfest. DER ZWEITE Du bist schließlich die beliebteste Persönlichkeit. DER ERSTE Die wichtigste. DER ZWEITE Wirst im Frühling zum Bürgermeister gewählt. DER ERSTE Todsicher. DIE FRAUEN Schokolade essend Todsicher, Herr Ill, todsicher. DER ZWEITE Schnaps. DER ZWEITE

Ill greift ins Regal. Der Butler serviert Whisky.

Weck den Neuen. Ich habe es nicht gern, wenn meine Männer so lange schlafen. Drei zehn. DER ZWEITE Nicht den. ILL Den trankst du doch immer. DER ZWEITE Kognak. ILL Kostet zwanzig fünfunddreißig. Kann sich niemand leisten. DER ZWEITE Man muß sich auch etwas gönnen. CLAIRE ZACHANASSIAN ILL

Über die Bühne rast ein fast halbnacktes Mädchen, Toby hinterher. DIE ERSTE FRAU Schokolade essen d

Ein Skandal, wie's die Luise treibt. Dabei ist die doch verlobt mit dem blonden Musiker von der

DIE ZWEITE FRAU Schokolade essend

BertholdSchwarz-Straße. Ill nimmt den Kognak herunter. ILL

Bitte.

DER ZWEITE ILL

Und Tabak. Für die Pfeife.

Schön.

DER ZWEITE

Import.

Ill rechnet alles zusammen.

21

Auf den Balkon kommt der Gatte VIII, Filmschauspieler, groß, schlank, roter Schnurrbart, im Morgenrock. Er kann vom gleichen Schauspieler dargestellt werden wie Gatte VII.

Hopsi, ist es nicht wundervoll: unser erstes Frühstück als Jungverlobte. Wie ein Traum. Ein kleiner Balkon, eine rauschende Linde, ein plätschernder Rathausbrunnen, einige Hühner, die quer über das Pflaster rennen, irgendwo schwatzende Hausfrauen mit ihren kleinen Sorgen, und hinter den Dächern der Turm des Münsters! CLAIRE ZACHANASSIAN Setz dich, Hoby, rede nicht. Die Landschaft seh ich selber, und Gedanken sind nicht deine Stärke. DER ZWEITE Nun sitzt auch der Gatte da oben. DIE ERSTE FRAU Schokolade essend Der achte. DIE ZWEITE FRAU Schokolade essen d Ein schöner Mann, ein Filmschauspieler. Meine Tochter sah ihn als Wilderer in einem Ganghoferfilm. DIE ERSTE FRAU Und ich als Priester in einem Graham Greene. GATTE VIII

Claire Zachanassian wird von Gatte VIII geküßt. Gitarrenakkord.

Für Geld kann man eben alles haben. Er spuckt aus. Nicht bei uns. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. ILL Dreiundzwanzig achtzig. DER ZWEITE Schreib's auf. ILL Diese Woche will ich eine Ausnahme machen, doch daß du mir am Ersten zahlst, wenn die Arbeitslosenunterstützung fällig ist. DER ZWEITE DER ERSTE

Der Zweite geht zur Türe. ILL

Helmesberger! Er bleibt stehen. Ill kommt zu ihm.

Du hast neue Schuhe. Gelbe neue Schuhe. Nun? ILL blickt nach den Füßen des Ersten Auch du, Hofbauer. Auch du hast neue Schuhe. Er blickt nach den Frauen, geht zu ihnen, langsam, grauenerfüllt. Auch ihr. Neue gelbe Schuhe. Neue gelbe Schuhe. DER ERSTE Ich weiß nicht, was du daran findest. DER ZWEITE Man kann doch nicht ewig in den alten Schuhen herumlaufen. ILL Neue Schuhe. Wie konntet ihr neue Schuhe kaufen? DIE FRAUEN Wir ließen's aufschreiben, Herr Ill, wir ließen's aufschreiben. ILL Ihr ließet's aufschreiben. Auch bei mir ließet ihr's aufschreiben. Besseren Tabak, bessere Milch, Kognak. Warum habt ihr denn auf einmal Kredit in den Geschäften? DER ZWEITE Bei dir haben wir ja auch Kredit. ILL Womit wollt ihr zahlen? ILL

DER ZWEITE

Schweigen. Er beginnt die Kundschaft mit Waren zu bewerfen. Alle flüchten.

Womit wollt ihr zahlen? Womit wollt ihr zahlen? Womit? Womit? VIII Lärm im Städtchen. CLAIRE ZACHANASSIAN Kleinstadtleben. GATTE VIII Scheint etwas los zu sein im Laden da unten. CLAIRE ZACHANASSIAN Man wird sich um den Fleischpreis streiten. ILL

GATTE

Starker Gitarrenakkord. Gatte VIII springt entsetzt auf. GATTE VIII

Um Gotteswillen, Hopsi! Hast du gehört? Der schwarze Panther. Er fauchte.

CLAIRE ZACHANASSIAN

22

Er stürzt nach hinten.

Ein schwarzer Panther? Vom Pascha von Marrakesch. Ein Geschenk. Läuft nebenan im Salon herum. Ein großes, böses Kätzchen mit funkelnden Augen.

GATTE VIII verwundert CLAIRE ZACHANASSIAN

An den Tisch links setzt sich der Polizist. Trinkt Bier. Er spricht langsam und bedächtig. Von hinten kommt Ill.

Du kannst servieren, Boby. Was wünschen Sie, Ill? Nehmen Sie Platz.

CLAIRE ZACHANASSIAN DER POLIZIST

Ill bleibt stehen.

Sie zittern. Ich verlange die Verhaftung der Claire Zachanassian.

DER POLIZIST ILL

DER POLIZIST stopft sich eine Pfeife, zündet sie gemächlich an

Merkwürdig. Äußerst merkwürdig.

Der Butler serviert das Morgenessen, bringt die Post.

Ich verlange es als der zukünftige Bürgermeister. Die Wahl ist noch nicht vorgenommen. ILL Verhaften Sie die Dame auf der Stelle. DER POLIZIST Das heißt, Sie wollen die Dame anzeigen. Ob sie dann verhaftet wird, entscheidet die Polizei. Hat sie was verbrochen? ILL Sie fordert die Einwohner unserer Stadt auf, mich zu töten. DER POLIZIST Und nun soll ich die Dame einfach verhaften. Er schenkt sich Bier ein. CLAIRE ZACHANASSIAN Die Post. Ike schreibt. Nehru. Sie lassen gratulieren. ILL Ihre Pflicht. DER POLIZIST Merkwürdig. Äußerst merkwürdig. Er trinkt Bier. ILL Die natürlichste Sache der Welt. DER POLIZIST Lieber Ill, so natürlich ist die Sache nicht. Untersuchen wir den Fall nüchtern. Die Dame machte der Stadt Güllen den Vorschlag, Sie gegen eine Milliarde - Sie wissen ja, was ich meine. Das stimmt, ich war dabei. Doch damit ist für die Polizei noch kein Grund geschaffen, gegen Frau Claire Zachanassian einzuschreiten. Wir sind schließlich an die Gesetze gebunden. ILL Anstiftung zum Mord. DER POLIZIST Passen Sie mal auf, Ill. Eine Anstiftung zum Mord liegt nur dann vor, wenn der Vorschlag, Sie zu ermorden, ernst gemeint ist. Das ist doch klar. ILL Meine ich auch. DER POLIZIST Eben. Nun kann der Vorschlag nicht ernst gemeint sein, weil der Preis von einer Milliarde übertrieben ist, das müssen Sie doch selber zugeben, für so was bietet man tausend oder vielleicht zweitausend, mehr bestimmt nicht, da können Sie Gift drauf nehmen, was wiederum beweist, daß der Vorschlag nicht ernst gemeint war, und sollte er ernst gemeint sein, so kann die Polizei die Dame nicht ernst nehmen, weil sie dann verrückt ist: Kapiert? ILL Der Vorschlag b e d r o h t mich, Polizeiwachtmeister, ob die Dame nun verrückt ist oder nicht. Das ist doch logisch. DER POLIZIST Unlogisch. Sie können nicht durch einen Vorschlag bedroht werden, sondern nur durch das Ausführen eines Vorschlags. Zeigen Sie mir einen wirklichen Versuch, diesen Vorschlag auszuführen, etwa einen Mann, der ein Gewehr auf Sie richtet, und ich komme in Windeseile. Doch gerade diesen Vorschlag will ja niemand ausführen, im Gegenteil. Die Kundgebung im Goldenen Apostel war äußerst eindrucksvoll. Ich muß Ihnen nachträglich gratulieren. Er trinkt Bier. ILL Ich bin nicht ganz so sicher, Polizeiwachtmeister. DER POLIZIST Nicht ganz so sicher? ILL Meine Kunden kaufen bessere Milch, besseres Brot, bessere Zigaretten. DER POLIZIST Freuen Sie sich doch! Ihr Geschäft geht ja dann besser. Er trinkt Bier. CLAIRE ZACHANASSIAN Laß die Dupont-Aktien aufkaufen, Boby. ILL Kognak kaufte Helmesberger bei mir. Dabei verdient er seit Jahren nicht und lebt von der Suppenanstalt. DER POLIZIST Den Kognak werde ich heute abend probieren. Ich bin bei Helmesberger eingeladen . Er ILL

DER POLIZIST Rauchwolken paffend

trinkt Bier. ILL Alle tragen

neue Schuhe. Neue gelbe Schuhe.

23

DER POLIZIST

Was Sie nur gegen neue Schuhe haben? Ich trage schließlich auch neue Schuhe.

Er zeigt

seine Füße. ILL Auch Sie. DER POLIZIST Sehn

Sie. Auch gelbe. Und trinken Pilsener Bier. DER POLIZIST Es schmeckt. ILL Vorher haben Sie das hiesige getrunken. DER POLIZIST War gräßlich. ILL

Radiomusik.

Hören Sie? Nun? ILL Musik. DER POLIZIST Die Lustige Witwe. ILL Ein Radio. DER POLIZIST Beim Hagholzer nebenan. Er sollte das Fenster schließen. Er notiert in sein Büchlein. ILL Wie kommt Hagholzer zu einem Radio? DER POLIZIST Seine Angelegenheit. ILL Und Sie, Polizeiwachtmeister, womit wollen Sie Ihr Pilsener Bier bezahlen und Ihre neuen Schuhe? DER POLIZIST Meine Angelegenheit. ILL

DER POLIZIST

Das Telephon auf dem Tisch klingelt. Der Polizist nimmt es ab.

Polizeiposten Güllen. CLAIRE ZACHANASSIAN Telephoniere den Russen, Boby, ich sei mit ihrem Vorschlag einverstanden. DER POLIZIST In Ordnung. Er legt das Telephon wieder auf. ILL Meine Kunden, womit sollen die bezahlen? DER POLIZIST Das geht die Polizei nichts an. Er steht auf und nimmt das Gewehr von der Stuhllehne. ILL Aber mich geht's an. Denn mit mir werden sie zahlen. DER POLIZIST Kein Mensch bedroht Sie. Er beginnt das Gewehr zu laden. ILL Die Stadt macht Schulden. Mit den Schulden steigt der Wohlstand. Mit dem Wohlstand die Notwendigkeit, mich zu töten. Und so braucht die Dame nur auf ihrem Balkon zu sitzen, Kaffee zu trinken, Zigarren zu rauchen und zu warten. Nur zu warten. DER POLIZIST Sie fabeln. ILL Ihr alle wartet. Er klopft auf den Tisch. DER POLIZIST Sie haben zuviel Schnaps getrunken. Er hantiert am Gewehr . So, nun ist es geladen. Sie können beruhigt sein. Die Polizei ist da, den Gesetzen Respekt zu verschaffen, für Ordnung zu sorgen, den Bürger zu schützen. Sie weiß, was ihre Pflicht ist. Sollte sich irgendwo und von irgendeiner Seite der leiseste Verdacht einer Bedrohung zeigen, wird sie einschreiten, Herr Ill, darauf können Sie sich verlassen. ILL leise Warum haben Sie denn einen Goldzahn im Mund, Polizeiwachtmeister? DER POLIZIST He? ILL Einen neuen blitzenden Goldzahn. DER POLIZIST Wohl verrückt? DER POLIZIST

Nun sieht Ill, daß der Lauf des Gewehres auf ihn gerichtet ist, und hebt langsam die Hände.

Ich habe keine Zeit, über Ihre Hirngespinste zu disputieren, Mann. Ich muß gehen. Der verschrobenen Milliardärin ist das Schoßhündchen fortgelaufen. Der schwarze Panther. Ich muß ihn jagen. Das ganze Städtchen muß ihn jagen. Er geht nach hinten hinaus. ILL Mich jagt ihr, mich. CLAIRE ZACHANASSIAN liest einen Brief Er kommt, der Modeschöpfer. Mein fünfter Mann, mein schönster Mann. Entwarf noch jedes meiner Hochzeitskleider. Ein Menuett, Roby. DER POLIZIST

Ein Gitarrenmenuett ertönt.

24

GATTE VIII

Aber dein fünfter war doch Chirurg.

CLAIRE ZACHANASSIAN Mein sechster. Sie öffnet einen weiteren Brief. GATTE VIII erstaunt Von dem weiß ich gar nichts.

Vom Western-Railway-Besitzer.

Mein vierter. Verarmt. Seine Aktien gehören mir. Verführte ihn im BuckinghamPalast. Beim Lichte des Vollmonds. GATTE VIII Das war doch Lord Ismael. CLAIRE ZACHANASSIAN Tatsächlich. Du hast recht, Hoby. Vergaß ihn ganz mit seinem Schloß in Yorkshire. Dann ist es mein zweiter, der schreibt. Lernte ihn in Kairo kennen. Küßten uns unter der Sphinx. War ein eindrucksvoller Abend. Auch Vollmond. Kurios: immer schien der Vollmond. CLAIRE ZACHANASSIAN

Rechts Verwandlung. Die Inschrift >Stadthaus< senkt sich herunter. Der Dritte kommt, schafft die Ladenkasse fort, rückt den Ladentisch etwas anders, der nun als Pult verwendet werden kann. Der Bürgermeister kommt. Legt einen Revolver aufs Pult, setzt sich. Von links kommt Ill. An der Wand hängt ein Bauplan.

Ich habe mit Ihnen zu reden, Bürgermeister. Nehmen Sie Platz. ILL Von Mann zu Mann. Als Ihr Nachfolger. DER BÜRGERMEISTER Bitte. ILL

DER BÜRGERMEISTER

Ill bleibt stehen, blickt auf den Revolver.

Der Panther der Frau Zachanassian ist los. Er klettert in der Kathedrale herum. Da muß man sich bewaffnen. ILL Gewiß. DER BÜRGERMEISTER Habe die Männer aufgeboten, die Gewehre besitzen. Die Kinder werden in der Schule zurückbehalten. ILL mißtrauisch Ein etwas großer Aufwand. DER BÜRGERMEISTER Raubtierjagd. DER BÜRGERMEISTER

Der Butler kommt.

Der Präsident der Weltbank, gnädige Frau. Eben von New York hergeflogen. CLAIRE ZACHANASSIAN Ich bin nicht zu sprechen. Er soll wieder zurückfliegen. DER BÜRGERMEISTER Was haben Sie auf dem Herzen? Reden Sie frei von der Leber weg. ILL misstrauisch Sie rauchen da eine gute Sorte. DER BÜRGERMEISTER Eine blonde Pegasus. ILL Ziemlich teuer. DER BÜRGERMEISTER Dafür anständig. ILL Vorher rauchten Herr Bürgermeister was anderes. DER BÜRGERMEISTER Rößli fünf. ILL Billiger. DER BÜRGERMEISTER Allzu starker Tabak. ILL Eine neue Krawatte? DER BÜRGERMEISTER Seide. ILL Und Schuhe haben Sie wohl auch gekauft? DER BÜRGERMEISTER Ich ließ sie von Kalberstadt kommen. Komisch, woher wissen Sie das? ILL Deshalb bin ich gekommen. DER BÜRGERMEISTER Was ist denn los mit Ihnen? Sehen bleich aus. Krank? ILL Ich fürchte mich. DER BÜRGERMEISTER Fürchten? ILL. Der Wohlstand steigt. DER BÜRGERMEISTER Das ist mir das Allerneuste. Wäre erfreulich. ILL Ich verlange den Schutz der Behörde. DER BÜRGERMEISTER EI. Wozu denn? ILL Das wissen der Herr Bürgermeister schon. DER BÜRGERMEISTER Mißtrauisch? ILL Für meinen Kopf ist eine Milliarde geboten. DER BÜRGERMEISTER Wenden Sie sich an die Polizei. DER BUTLER

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Ich war bei der Polizei. Das wird Sie beruhigt haben. ILL Im Munde des Polizeiwachtmeisters blitzt ein neuer Goldzahn. DER BÜRGERMEISTER Sie vergessen, daß Sie sich in Güllen befinden. In einer Stadt mit humanistischer Tradition. Goethe hat hier übernachtet. Brahms ein Quartett komponiert. Diese Werte verpflichten. ILL

DER BÜRGERMEISTER

Von links tritt ein Mann auf mit einer Schreibmaschine (Der Dritte). DER MANN

Die neue Schreibmaschine, Herr Bürgermeister. Eine Remington. Ins Büro damit.

DER BÜRGERMEISTER

Der Mann nach rechts ab.

Wir verdienen Ihren Undank nicht. Wenn Sie kein Vertrauen in unsere Gemeinde zu setzen vermögen, tun Sie mir leid. Ich habe diesen nihilistischen Zug nicht erwartet. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat.

DER BÜRGERMEISTER

Von links kommen die beiden Blinden mit ihren Angelruten, Hand in Hand.

Der Panther ist frei, der Panther ist frei! Hüpfen Haben ihn knurren gehört, haben ihn knurren gehört! Hüpfen in den Goldenen Apostel. Gehen zu Hoby und Boby, zu Toby und Roby. Hinten Mitte

DIE BEIDEN

ab. ILL Dann verhaften Sie die Dame. DER BÜRGERMEISTER Merkwürdig. Äußerst merkwürdig. ILL Das hat der Polizeiwachtmeister auch gesagt. DER BÜRGERMEISTER Das Vorgehen der Dame ist weiß

Gott nicht ganz so unverständlich. Sie haben schließlich zwei Burschen zu Meineid angestiftet und ein Mädchen ins nackte Elend gestoßen. ILL Dieses nackte Elend bedeutet immerhin einige Milliarden, Bürgermeister. Schweigen. DER BÜRGERMEISTER Reden wir ehrlich miteinander. ILL Ich bitte darum. DER BÜRGERMEISTER Von Mann zu Mann, wie Sie

es verlangt haben. Sie besitzen nicht das moralische Recht, die Verhaftung der Dame zu verlangen, und auch als Bürgermeister kommen Sie nicht in Frage. Es tut mir leid, das sagen zu müssen. ILL Offiziell? DER BÜRGERMEISTER Im Auftrag der Parteien. ILL Ich verstehe. Er geht langsam links zum Fenster, kehrt dem Bürgermeister den Rücken zu, starrt hinaus.

Daß wir den Vorschlag der Dame verurteilen, bedeutet nicht, daß wir die Verbrechen billigen, die zu diesem Vorschlag geführt haben. Für den Posten eines Bürgermeisters sind gewisse Forderungen sittlicher Natur zu stellen, die Sie nicht mehr erfüllen, das müssen Sie einsehen. Daß wir Ihnen im übrigen die gleiche Hochachtung und Freundschaft entgegenbringen wie zuvor, versteht sich von selbst.

DER BÜRGERMEISTER

Von links tragen Roby und Toby wieder Kränze, Blumen über die Bühne und verschwinden im Goldenen Apostel.

Es ist besser, wir schweigen über das Ganze. Ich habe auch den Volksboten gebeten, nichts über die Angelegenheit verlauten zu lassen. ILL kehrt sich um Man schmückt schon meinen Sarg, Bürgermeister! Schweigen ist mir zu gefährlich. DER BÜRGERMEISTER Aber wieso denn, lieber Ill? Sie sollten dankbar sein, daß wir über die üble Affäre den Mantel des Vergessens breiten. ILL Wenn ich rede, habe ich noch eine Chance, davonzukommen. DER BÜRGERMEISTER Das ist nun doch die Höhe! Wer soll Sie denn bedrohen? ILL Einer von euch. DER BÜRGERMEISTER

26

Wen haben Sie im Verdacht? Nennen Sie mir den Namen, und ich untersuche den Fall. Unnachsichtlich. ILL Jeden von euch. DER BÜRGERMEISTER Gegen diese Verleumdung protestiere ich im Namen der Stadt feierlich. ILL Keiner will mich töten, jeder hofft, daß es einer tun werde, und so wird es einmal einer tun. DER BÜRGERMEISTER Sie sehen Gespenster. ILL Ich sehe einen Plan an der Wand. Das neue Stadthaus? Er tippt auf den Plan. DER BÜRGERMEISTER Mein Gott, planen wird man wohl noch dürfen. ILL Ihr spekuliert schon mit meinem Tod! DER BÜRGERMEISTER Lieber Mann, wenn ich als Politiker nicht mehr das Recht hätte, an eine bessere Zukunft zu glauben, ohne gleich an ein Verbrechen denken zu müssen, würde ich zurücktreten, da können Sie beruhigt sein. ILL Ihr habt mich schon zum Tode verurteilt. DER BÜRGERMEISTER Herr Ill! ILL leise Der Plan beweist es! Beweist es! CLAIRE ZACHANASSIAN Onassis kommt. Der Herzog und die Herzogin. Aga. GATTE VIII Ali? CLAIRE ZACHANASSIAN Der ganze Rivierakram. GATTE VIII Journalisten? CLAIRE ZACHANASSIAN Aus der ganzen Welt. Wo ich heirate, ist immer die Presse dabei. Sie braucht mich, und ich brauche sie. Sie öffnet einen weiteren Brief. Vom Grafen Holk. GATTE VIII Hopsi, mußt du nun wirklich an unserem ersten gemeinsamen Morgenessen Briefe deiner ehemaligen Gatten lesen? CLAIRE ZACHANASSIAN Ich will die Übersicht nicht verlieren. GATTE VIII schmerzlich Ich habe doch auch Probleme. Er steht auf, starrt in das Städtchen hinunter. CLAIRE ZACHANASSIAN Geht dein Porsche nicht? GATTE VIII So ein Kleinstädtchen bedrückt mich. Nun gut, die Linde rauscht, Vögel singen, der Brunnen plätschert, aber das taten sie schon vor einer halben Stunde. Es ist auch gar nichts los, weder mit der Natur noch mit den Bewohnern, alles tiefer, sorgloser Friede, Sattheit, Gemütlichkeit. Keine Größe, keine Tragik. Es fehlt die sittliche Bestimmung einer großen Zeit. DER BÜRGERMEISTER erhebt sich

Von links kommt der Pfarrer, ein Gewehr umgehängt. Er breitet über den Tisch, an dem vorher der Polizist saß, ein weißes Tuch mit einem schwarzen Kreuz, lehnt das Gewehr gegen die Wand des Hotels. Der Sigrist hilft ihm in den Talar. Dunkelheit. DER PFARRER

Treten Sie ein, Ill, in die Sakristei.

Ill kommt von links.

Es ist dunkel hier, doch kühl. Ich will nicht stören, Herr Pfarrer. DER PFARRER Das Gotteshaus steht jedem offen. Er bemerkt den Blick Ills, der auf das Gewehr fällt. Wundern Sie sich über die Waffe nicht. Der schwarze Panther der Frau Zachanassian schleicht herum. Eben hier im Dachgestühl, dann im Konradsweilerwald und jetzt in der Peterschen Scheune. ILL Ich suche Hilfe. DER PFARRER Wovor? ILL Ich fürchte mich. DER PFARRER Fürchten? Wen? ILL Die Menschen. DER PFARRER Daß die Menschen Sie töten, Ill? ILL Sie jagen mich wie ein wildes Tier. DER PFARRER Man soll nicht die Menschen fürchten, sondern Gott, nicht den Tod des Leibes, den der Seele. Knöpfe den Talar hinten zu, Sigrist. DER PFARRER ILL

Überall an den Wänden der Bühne werden die Güllener sichtbar, der Polizist zuerst, der Bürgermeister, die Vier, der Maler, der Lehrer, herumspähend, die Gewehre schußbereit, herumschleichend.

Es geht um mein Leben. Um Ihr ewiges Leben. ILL Der Wohlstand steht auf. DER PFARRER Das Gespenst Ihres Gewissens. ILL

DER PFARRER

27

Die Leute sind fröhlich. Die Mädchen schmücken sich. Die Burschen tragen bunte Hemden. Die Stadt bereitet sich auf das Fest meiner Ermordung vor, und ich krepiere vor Entsetzen. DER PFARRER Positiv, nur positiv, was Sie durchmachen. ILL Es ist die Hölle. DER PFARRER Die Hölle liegt in Ihnen. Sie sind älter als ich und meinen die Menschen zu kennen, doch kennt man nur sich. Weil Sie ein Mädchen um Geld verraten haben, einst vor vielen Jahren, glauben Sie, auch die Menschen würden Sie nun um Geld verraten. Sie schließen von sich selbst auf andere. Nur allzu natürlich. Der Grund unserer Furcht liegt in unserem Herzen, liegt in unserer Sünde. Wenn Sie dies erkennen, besiegen Sie, was Sie quält, erhalten Waffen, dies zu vermögen. ILL Siemethofers haben sich eine Waschmaschine angeschafft. DER PFARRER Kümmern Sie sich nicht darum. ILL Auf Kredit. DER PFARRER Kümmern Sie sich um die Unsterblichkeit Ihrer Seele. ILL Stockers einen Fernsehapparat. DER PFARRER Beten Sie. Sigrist, das Beffchen. ILL

Der Sigrist bindet dem Pfarrer das Beffchen um.

Durchforschen Sie Ihr Gewissen. Gehen Sie den Weg der Reue, sonst entzündet die Welt Ihre Furcht immer wieder. Es ist der einzige Weg. Wir vermögen nichts anderes.

DER PFARRER

Schweigen. Die Männer mit ihren Gewehren verschwinden wieder. Schatten an den Rändern der Bühne. Die Feuerglocke beginnt zu bimmeln.

Nun muß ich meines Amtes walten, Ill, muß taufen. Die Bibel, Sigrist, die Liturgie, das Psalmenbuch. Das Kindchen beginnt zu schreien, muß in Sicherheit gerückt werden, in den einzigen Schimmer, der unsere Welt erhellt.

DER PFARRER

Eine zweite Glocke beginnt zu läuten.

Eine zweite Glocke? Der Ton ist hervorragend. Nicht? Voll und kräftig. Positiv, nur positiv. ILL schreit auf Auch Sie, Pfarrer! Auch Sie! DER PFARRER wirft sich gegen Ill und umklammert ihn Flieh! Wir sind schwach, Christen und Heiden. Flieh, die Glocke dröhnt in Güllen, die Glocke des Verrats. Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibst. ILL

DER PFARRER

Es fallen zwei Schüsse. Ill sinkt zu Boden, der Pfarrer kauert bei ihm. DER PFARRER Flieh!

Flieh!

Ill erhebt sich, nimmt das Gewehr des Pfarrers, links ab.

Boby, man schießt. In der Tat, gnädige Frau. CLAIRE ZACHANASSIAN Weshalb denn? DER BUTLER Der Panther ist entwichen. CLAIRE ZACHANASSIAN Hat man ihn getroffen? DER BUTLER Er liegt tot vor Ills Laden. CLAIRE ZACHANASSIAN Schade um das Tierchen. Trauermarsch, Roby. CLAIRE ZACHANASSIAN DER BUTLER

Trauermarsch von der Gitarre gespielt. DER BUTLER

Die Güllener versammeln sich, Ihnen ihr Beileid auszudrücken, gnädige Frau. Sollen sie.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Der Butler ab. Von rechts kommt der Lehrer mit dem gemischten Chor. DER LEHRER

Verehrte, gnädige Frau. Was wollen Sie denn, Lehrer von Güllen?

CLAIRE ZACHANASSIAN

28

Wir sind aus einer großen Gefahr errettet worden. Der schwarze Panther schlich unheilbrütend durch unsere Gassen. Doch wenn wir auch befreit aufatmen, so beklagen wir dennoch den Tod einer so kostbaren zoologischen Rarität. Die Tierwelt wird ärmer, wo Menschen hausen, wir übersehen keineswegs dieses tragische Dilemma. Wir möchten deshalb einen Choral anstimmen. Eine Trauerode, gnädige Frau. Komponiert von Heinrich Schütz. CLAIRE ZACHANASSIAN Schön, stimmt diese Trauerode an. DER LEHRER

Der Lehrer beginnt zu dirigieren. Von rechts kommt Ill mit einem Gewehr. ILL

Schweigt! Die Güllener schweigen erschrocken.

Dieser Trauergesang! Warum singt ihr diesen Trauergesang? Herr Ill, in Anbetracht des Todes des schwarzen Panthers ILL Auf meinen Tod übt ihr dieses Lied, auf meinen Tod! DER BÜRGERMEISTER Herr Ill, ich muß doch sehr bitten. ILL Packt euch fort! Schert euch nach Hause! ILL

DER LEHRER Aber

Die Güllener verziehen sich.

Fahr etwas mit deinem Porsche aus, Hoby. Aber Hopsi CLAIRE ZACHANASSIAN Verschwinde! CLAIRE ZACHANASSIAN GATTE VIII

Gatte ab. ILL

Klara!

Alfred! Warum störst du denn die Leutchen? Ich fürchte mich, Klara. CLAIRE ZACHANASSIAN Aber es ist freundlich von dir. Ich mag dieses ewige Gesinge nicht. Schon in der Schule war es mir verhaßt. Weißt du noch, Alfred, wie wir beide in den Konradsweilerwald liefen, wenn der gemischte Chor auf dem Rathausplatz übte und die Blasmusik? ILL Klara. Sag doch, daß du Komödie spielst, daß dies alles nicht wahr ist, was du verlangst. Sag es doch! CLAIRE ZACHANASSIAN Wie seltsam, Alfred. Diese Erinnerungen. Ich war auch auf einem Balkon, damals, als wir uns zum ersten Male sahen, es war ein Herbstabend wie jetzt, die Luft ohne Bewegung, nur hin und wieder ein Rascheln in den Bäumen im Stadtpark, heiß, wie es vielleicht jetzt auch heiß ist, aber mich friert es ja immer in der letzten Zeit. Und du standst da und du schautest hinauf zu mir, immerzu. Ich war verlegen und wußte nicht, was tun. Ich wollte hineingehen ins dunkle Zimmer und konnte nicht hineingehen. ILL Ich bin verzweifelt. Ich bin zu allem fähig. Ich warne dich, Klara. Ich bin zu allem entschlossen, wenn du jetzt nicht sagst, daß alles nur ein Spaß ist, ein grausamer Spaß. Er richtet das Gewehr auf CLAIRE ZACHANASSIAN ILL

sie.

Und du gingst nicht weiter, unten auf der Straße. Du starrtest zu mir herauf, fast finster, fast böse, als wolltest du mir ein Leid antun, und dennoch waren deine Augen voll Liebe.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Ill läßt das Gewehr sinken.

Und zwei Burschen standen neben dir, Koby und Loby. Sie grinsten, da sie sahen, wie du zu mir hinaufstarrtest. Und dann verließ ich den Balkon und kam hinunter zu dir. Du hast mich nicht gegrüßt, du sagtest kein Wort zu mir, aber du hast meine Hand genommen, und so sind wir aus dem Städtchen gegangen, in die Felder hinein, und hinter uns wie zwei Hunde Koby und Loby. Und dann hast du Steine genommen vom Boden und nach ihnen geworfen, und sie sind jaulend in die Stadt zurückgerannt, und wir waren allein.

CLAIRE ZACHANASSIAN

Vorne rechts kommt der Butler.

Führ mich in mein Zimmer, Boby. Ich habe dir zu diktieren. Muß schließlich eine Milliarde transferieren.

CLAIRE ZACHANASSIAN

29

Sie wird vom Butler ins Zimmer geführt. Von hinten hüpfen Koby und Loby herein. DIE BEIDEN

Der schwarze Panther ist tot, der schwarze Panther ist tot.

Der Balkon verschwindet. Glockenton. Die Bühne wie zu Beginn des ersten Aktes. Der Bahnhof. Nur der Fahrplan an der Mauer ist neu, unzerrissen, und irgendwo klebt ein großes Plakat mit einer strahlenden gelben Sonne: Reist in den Süden. Ferner: Besucht die Passionsspiele in Oberammergau. Auch sind im Hintergrund einige Krane zu bemerken zwischen den Häusern sowie einige neue Dächer. Das donnernde, stampfende Geräusch eines vorbeirasenden Expreßzuges. Vor dem Bahnhof der Bahnhofsvorstand salutierend. Aus dem Hintergrund kommt Ill mit einem alten Köfferchen in der Hand, schaut sich um. Langsam, wie zufällig, kommen von allen Seiten Güllener hinzu. Ill zögert, bleibt stehen.

Grüß Gott, Ill. Grüß Gott! ILL zögernd Grüß Gott. DER LEHRER Wo geht's denn hin mit dem Koffer? ALLE Wo geht's denn hin? ILL Zum Bahnhof. DER BÜRGERMEISTER Wir begleiten Sie! DER ERSTE Wir begleiten Sie! DER ZWEITE Wir begleiten Sie! DER BÜRGERMEISTER ALLE

Immer mehr Güllener erscheinen.

Das müßt ihr nicht, wirklich nicht. Es ist nicht der Rede wert. Sie verreisen, Ill? ILL Ich verreise. DER POLIZIST Wohin denn? ILL Ich weiß nicht. Nach Kalberstadt und dann weiter DER LEHRER So - und dann weiter. ILL Nach Australien am liebsten. Irgendwie werde ich das Geld schon auftreiben. ILL

DER BÜRGERMEISTER

Er geht wieder auf den

Bahnhof zu.

Nach Australien! Nach Australien! DER MALER Warum denn? ILL verlegen Man kann schließlich nicht immer am gleichen Ort leben - jahraus, jahrein. DER DRITTE DER VIERTE

Er beginnt zu rennen, erreicht den Bahnhof. Die andern rücken gemächlich nach, umgeben ihn.

Nach Australien auswandern. Das ist doch lächerlich. Und für Sie am gefährlichsten. DER LEHRER Einer der beiden kleinen Eunuchen ist schließlich auch nach Australien ausgewandert. DER POLIZIST Hier sind Sie am sichersten. ALLE Am sichersten, am sichersten. DER BÜRGERMEISTER DER ARZT

Ill schaut sich ängstlich um, wie ein gehetztes Tier.

leise Ich schrieb dem Regierungsstatthalter nach Kaffigen. Na und? ILL Keine Antwort. DER LEHRER Ihr Mißtrauen ist unbegreiflich. DER ARZT Niemand will Sie töten. ALLE Niemand, niemand. ILL Die Post schickte den Brief nicht ab. DER MALER Unmöglich. DER BÜRGERMEISTER Der Postbeamte ist Mitglied Stadtrates. DER LEHRER Ein Ehrenmann. DER ERSTE Ein Ehrenmann! ILL

DER BÜRGERMEISTER

30

Ein Ehrenmann! ILL Hier. Ein Plakat: Reist nach dem Süden. DER ARZT Na und? ILL Besucht die Passionsspiele in Oberammergau. DER LEHRER Na und? ILL Man baut! DER BÜRGERMEISTER Na und? ILL Immer reicher werdet ihr, immer wohlhabender! ALLE Na und? DER ZWEITE

Glockenton.

Sie sehen ja, wie beliebt Sie sind. DER BÜRGERMEISTER Das ganze Städtchen begleitet Sie DER DRITTE Das ganze Städtchen! DER VIERTE Das ganze Städtchen! ILL Ich habe euch nicht hergebeten. DER ZWEITE Wir werden doch noch von dir Abschied nehmen dürfen. DER BÜRGERMEISTER Als alte Freunde. ALLE Als alte Freunde! Als alte Freunde! DER LEHRER

Zugsgeräusch. Der Bahnhofsvorstand nimmt die Kelle. Links erscheint der Kondukteur, als wäre er eben vom Zuge gesprungen.

Güllen! Das ist Ihr Zug. ALLE Ihr Zug! Ihr Zug! DER BÜRGERMEISTER Nun, Ill, ich wünsche eine gute Reise. ALLE Eine gute Reise, eine gute Reise! DER ARZT Ein schönes weiteres Leben! ALLE Ein schönes weiteres Leben! DER KONDUKTEUR mit langgezogenem Schrei DER BÜRGERMEISTER

Die Güllener scharen sich um Ill.

Es ist soweit. Besteigen Sie nun in Gottes Namen den Personenzug nach Kalberstadt. DER POLIZIST Und viel Glück in Australien! ALLE Viel Glück, viel Glück! DER BÜRGERMEISTER

Ill steht bewegungslos, starrt seine Mitbürger an.

Warum seid ihr alle hier? Was wollen Sie denn noch? DER BAHNHOFVORSTAND Einsteigen! ILL Was schart ihr euch um mich? DER BÜRGERMEISTER Wir scharen uns doch gar nicht um Sie. ILL Macht Platz! DER LEHRER Aber wir haben doch Platz gemacht. ALLE Wir haben Platz gemacht, wir haben Platz gemacht! ILL Einer wird mich zurückhalten. DER POLIZIST Unsinn. Sie brauchen nur in den Zug zu steigen, um zu sehen, daß dies Unsinn ist. ILL Geht weg! ILL leise

DER POLIZIST

Niemand rührt sich. Einige stehen da, die Hände in den Hosentaschen.

Ich weiß nicht, was Sie wollen. Es ist an Ihnen, fortzugehen. Steigen Sie nun in den Zug. ILL Geht weg! DER LEHRER Ihre Furcht ist einfach lächerlich. DER BÜRGERMEISTER

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Ill fällt auf die Knie.

Warum seid ihr so nah bei mir! Der Mann ist verrückt geworden. ILL Ihr wollt mich zurückhalten. DER BÜRGERMEISTER Steigen Sie doch ein! ALLE Steigen Sie doch ein! Steigen Sie doch ein! ILL

DER ARZT

Schweigen.

Einer wird mich zurückhalten, wenn ich den Zug besteige. Niemand! Niemand! ILL Ich weiß es. DER POLIZIST Es ist höchste Zeit. DER LEHRER Besteigen Sie endlich den Zug, guter Mann. ILL Ich weiß es! Einer wird mich zurückhalten! Einer wird mich zurückhalten! DER BAHNHOFSVORSTAND Abfahrt! ILL leise

ALLE beteuernd

Er hebt die Kelle, der Kondukteur markiert Aufspringen, und Ill bedeckt, zusammengebrochen, von den Güllenern umgeben, sein Gesicht mit den Händen. DER POLIZIST

Sehen Sie! Da ist er Ihnen davongerumpelt!

Alle verlassen den zusammengebrochenen Ill, gehen nach hinten, langsam, verschwinden. ILL

Ich bin verloren!

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Dritter Akt Petersche Scheune. Links sitzt Claire Zachanassian in ihrer Sänfte, unbeweglich, im Brautkleid, weiß, Schleier usw. Ganz links eine Leiter, ferner Heuwagen, alte Droschke, Stroh, in der Mitte ein kleines Faß. Oben hangen Lumpen, vermoderte Säcke, riesige Spinnweben breiten sich aus. Der Butler kommt aus dem Hintergrund.

Der Arzt und der Lehrer. Sollen hereinkommen.

DER BUTLER

CLAIRE ZACHANASSIAN

Der Arzt und der Lehrer erscheinen, tappen sich durchs Dunkel, finden endlich die Milliardärin, verneigen sich. Die beiden sind nun in guten, soliden, bürgerlichen Kleidern, eigentlich schon elegant. DIE BEIDEN

Gnädige Frau.

CLAIRE ZACHANASSIAN betrachtet die beiden durch ihr Lorgnon

Sehen verstaubt aus, meine Herren.

Die beiden wischen sich den Staub ab.

Verzeihung. Wir mußten über eine alte Droschke klettern. Habe mich in die Petersche Scheune zurückgezogen. Brauche Ruhe. Die Hochzeit eben im Güllener Münster ermüdete mich. Bin schließlich nicht mehr blutjung. Setzen Sie sich auf das Faß. DER LEHRER Danke schön. DER LEHRER

CLAIRE ZACHANASSIAN

Er setzt sich. Der Arzt bleibt stehen.

Schwül hier. Zum Ersticken. Doch ich liebe diese Scheune, den Geruch von Heu, Stroh und Wagenschmiere. Erinnerungen. All die Geräte, die Mistgabel, die Droschke, den zerbrochenen Heuwagen gab es schon in meiner Jugend. DER LEHRER Ein besinnlicher Ort. Er wischt sich den Schweiß ab. CLAIRE ZACHANASSIAN Der Pfarrer predigte erhebend. DER LEHRER Erster Korinther dreizehn. CLAIRE ZACHANASSIAN Und auch Sie machten Ihre Sache brav mit dem gemischten Chor, Herr Lehrer. Es tönte feierlich. DER LEHRER Bach. Aus der Matthäus-Passion. Bin noch gänzlich benommen. Die mondäne Welt war anwesend, die Finanzwelt, die Filmwelt ... CLAIRE ZACHANASSIAN Die Welten sind nach der Hauptstadt gerauscht in ihren Cadillacs. Zum Hochzeitsessen. DER LEHRER Gnädige Frau. Wir möchten Ihre kostbare Zeit nicht mehr als nötig beanspruchen. Ihr Gatte wird Sie ungeduldig erwarten. CLAIRE ZACHANASSIAN Hoby? Den habe ich nach Geiselgasteig zurückgeschickt mit seinem Porsche. DER ARZT verwirrt Nach Geiselgasteig? CLAIRE ZACHANASSIAN Meine Rechtsanwälte haben die Scheidung bereits eingereicht. DER LEHRER Aber die Hochzeitsgäste, gnädige Frau? CLAIRE ZACHANASSIAN Sind sich gewöhnt. Meine zweitkürzeste Ehe. Nur die mit Lord Ismael war noch geschwinder. Was führt euch zu mir? DER LEHRER Wir kommen in der Angelegenheit des Herrn Ill. CLAIRE ZACHANASSIAN Oh, ist er gestorben? DER LEHRER Gnädige Frau! Wir haben schließlich unsere abendländischen Prinzipien. CLAIRE ZACHANASSIAN Was wollt ihr denn? DER LEHRER Die Güllener haben sich leider, leider verschiedenes angeschafft. DER ARZT Ziemlich vieles. CLAIRE ZACHANASSIAN

Die beiden wischen sich den Schweiß ab.

Verschuldet? Hoffnungslos. CLAIRE ZACHANASSIAN Trotz der Prinzipien? DER LEHRER Wir sind nur Menschen. DER ARZT Und müssen jetzt unsere Schulden bezahlen. CLAIRE ZACHANASSIAN Ihr wißt, was zu tun ist. CLAIRE ZACHANASSIAN DER LEHRER

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Frau Zachanassian. Reden wir offen miteinander. Versetzen Sie sich in unsere traurige Lage. Seit zwei Jahrzehnten pflanze ich in dieser verarmten Gemeinde die zarten Keime der Humanität, rumpelt der Stadtarzt zu den tuberkulösen und rachitischen Patienten mit seinem alten Mercedes. Wozu diese jammervollen Opfer? Des Geldes wegen? Wohl kaum. Unsere Besoldung ist minimal, eine Berufung ans Kalberstädter Obergymnasium lehnte ich schlankweg ab, der Arzt einen Lehrauftrag der Universität Erlangen. Aus reiner Menschenliebe? Auch dies wäre übertrieben. Nein, wir harrten aus, all die endlosen Jahre, und mit uns das ganze Städtchen, weil es eine Hoffnung gibt, die Hoffnung, daß die alte Größe Güllens auferstehe, daß die Möglichkeit aufs neue begriffen werde, die unsere Heimaterde in so verschwenderischer Hülle und Fülle birgt. Öl liegt unter der Niederung von Pückenried, Erz unter dem Konradsweilerwald. Wir sind nicht arm, Madame, nur vergessen. Wir brauchen Kredit, Vertrauen, Aufträge, und unsere Wirtschaft, unsere Kultur blüht. Güllen hat etwas zu bieten: Die Platz-an-der-Sonne-Hütte. DER ARZT Bockmann. DER LEHRER Die Wagnerwerke. Kaufen Sie die, sanieren Sie die, und Güllen floriert. Hundert Millionen sind planvoll, wohlverzinst anzulegen, nicht eine Milliarde zu verschleudern! CLAIRE ZACHANASSIAN Ich besitze noch zwei weitere. DER LEHRER Lassen Sie uns nicht ein Leben lang vergeblich geharrt haben. Wir bitten um kein Almosen, wir bieten ein Geschäft. CLAIRE ZACHANASSIAN Wirklich. Das Geschäft wäre nicht schlecht. DER LEHRER Gnädige Frau! Ich wußte, daß Sie uns nicht im Stich lassen würden! CLAIRE ZACHANASSIAN Nur nicht auszuführen. Ich kann die Platz-an-der-Sonne-Hütte nicht kaufen, weil sie mir schon gehört. DER LEHRER Ihnen? DER ARZT Und Bockmann? DER LEHRER Die Wagnerwerke? CLAIRE ZACHANASSIAN Gehören mir ebenfalls. Die Fabriken, die Niederung von Pückenried, die Petersche Scheune, das Städtchen, Straße um Straße, Haus für Haus. Ließ den Plunder aufkaufen durch meine Agenten, die Betriebe stillegen. Eure Hoffnung war ein Wahn, euer Ausharren sinnlos, eure Aufopferung Dummheit, euer ganzes Leben nutzlos vertan. DER LEHRER mutig

Stille.

Das ist doch ungeheuerlich. Es war Winter, einst, als ich dieses Städtchen verließ, im Matrosenanzug, mit roten Zöpfen, hochschwanger, Einwohner grinsten mir nach. Frierend saß ich im D-Zug nach Hamburg, doch wie hinter den Eisblumen die Umrisse der Peterschen Scheune versanken, beschloß ich zurückzukommen, einmal. Nun bin ich da. Nun stelle ich die Bedingung, diktiere das Geschäft. Laut Roby und Toby, in den Goldenen Apostel. Gatte Nummer neun ist angerückt mit seinen Büchern und Manuskripten.

DER ARZT

CLAIRE ZACHANASSIAN

Die beiden Monstren kommen aus dem Hintergrund und heben die Sänfte in die Höhe.

Frau Zachanassian! Sie sind ein verletztes liebendes Weib. Sie verlangen absolute Gerechtigkeit. Wie eine Heldin der Antike kommen Sie mir vor, wie eine Medea. Doch weil wir Sie im tiefsten begreifen, geben Sie uns den Mut, mehr von Ihnen zu fordern: Lassen Sie den unheilvollen Gedanken der Rache fallen, treiben Sie uns nicht zum Äußersten, helfen Sie armen, schwachen, aber rechtschaffenen Leuten, ein etwas würdigeres Leben zu führen, ringen Sie sich zur reinen Menschlichkeit durch! CLAIRE ZACHANASSIAN Die Menschlichkeit, meine Herren, ist für die Börse der Millionäre geschaffen, mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung. Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell. Wer nicht blechen kann, muß hinhalten, will er mittanzen. Ihr wollt mittanzen. Anständig ist nur, wer zahlt, und ich zahle. Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche. Los, ihr beiden. Sie wird nach hinten getragen. DER ARZT Mein Gott, was sollen wir tun? DER LEHRER Was uns das Gewissen vorschreibt, Doktor Nüßlin. DER LEHRER

Im Vordergrund rechts wird Ills Laden sichtbar. Neue Inschrift. Neuer blitzender Ladentisch, neue Kasse, kostbarere Ware. Tritt jemand durch die fingierte Türe: pompöses Geklingel. Hinter dem Ladentisch Frau Ill. Von links kommt der Erste, als arrivierter Metzger, einige Blutspritzer auf der neuen Schürze.

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Das war ein Fest. Ganz Güllen sah auf dem Münsterplatz zu. Klärchen ist das Glück zu gönnen nach all der Misere. DER ERSTE Filmschauspielerinnen als Brautjungfern. Mit solchen Busen. FRAU ILL Heute Mode. DER ERSTE Zigaretten. FRAU ILL Die Grünen? DER ERSTE Camel. Und ein Beil. FRAU ILL Ein Schlachtbeil? DER ERSTE Exakt. FRAU ILL Bitte, Herr Hofbauer. DER ERSTE Schöne Ware. FRAU ILL Wie geht's im Geschäft? DER ERSTE Personal angeschafft. FRAU ILL Stelle auch ein am ersten. DER ERSTE FRAU ILL

Der Erste nimmt das Beil zu sich. Der Zweite, ein gepflegter Geschäftsmann, kommt. FRAU ILL

Grüß Gott, Herr Helmesberger.

Fräulein Luise geht elegant gekleidet vorüber.

Die macht sich sauber Illusionen, sich so zu kleiden. Schamlos. DER ERSTE Saridon. Die Nacht gefeiert bei Stockers. DER ERSTE FRAU ILL

Frau Ill reicht dem Ersten ein Glas Wasser und das Mittel.

Alles voll Journalisten. Schnüffeln im Städtchen herum. DER ERSTE Werden auch hier vorbeikommen. FRAU ILL Wir sind einfache Leute, Herr Hofbauer. Bei uns suchen sie nichts. DER ZWEITE Sie fragen alle aus. DER ERSTE Eben interviewen sie den Pfarrer. DER ZWEITE Der wird schweigen, hat immer ein Herz für uns arme Leute gehabt. Chesterfield. FRAU ILL Aufschreiben? DER ERSTE Aufschreiben. Ihr Mann, Frau Ill? Sah ihn lange nicht. FRAU ILL Oben. Geht im Zimmer herum. Seit Tagen. DER ERSTE Das schlechte Gewissen. Schlimm hat er's mit der armen Frau Zachanassian getrieben. FRAU ILL Ich leide auch darunter. DER ZWEITE Ein Mädchen ins Unglück stürzen. Pfui Teufel. Entschlossen Frau Ill, ich hoffe, daß Ihr Mann nicht schwatzt, wenn die Journalisten kommen. FRAU ILL Aber nein. DER ERSTE Bei seinem Charakter. FRAU ILL Ich habe es schwer, Herr Hofbauer. DER ERSTE Wenn er Klara bloßstellen will, Lügen erzählen, sie hätte was auf seinen Tod geboten oder so, was doch nur ein Ausdruck des namenlosen Leids gewesen ist, müssen wir einschreiten. DER ZWEITE Nicht wegen der Milliarde. DER ERSTE Aus Volkszorn. Die brave Frau Zachanassian hat, weiß Gott, genug seinetwegen durchgemacht. Er schaut sich um . Geht's hier in die Wohnung hinauf? FRAU ILL Der einzige Aufgang. Unpraktisch. Aber im Frühling bauen wir um. DER ERSTE Da will ich mich mal hinpflanzen. DER ERSTE

DER ZWEITE

Der Erste stellt sich ganz rechts auf, die Arme verschränkt, mit dem Beil, ruhig, wie ein Wärter. Der Lehrer kommt.

Grüß Gott, Herr Lehrer. Schön, daß Sie uns auch einmal besuchen. Ich benötige ein starkes alkoholisches Getränk. FRAU ILL Steinhäger? DER LEHRER Ein Gläschen. FRAU ILL Sie auch, Herr Hofbauer? DER ERSTE Nein, danke. Muß noch nach Kaffigen mit meinem Volkswagen. Ferkel einkaufen. FRAU ILL

DER LEHRER

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Und Sie, Herr Helmesberger? Bevor diese verfluchten Journalisten das Städtchen nicht verlassen haben, trinke ich keinen Tropfen.

FRAU ILL

DER ZWEITE

Frau Ill schenkt dem Lehrer ein.

Danke. Stürzt den Steinhäger hinunter. Sie zittern, Herr Lehrer. DER LEHRER Trinke zuviel in der letzten Zeit. Eben im Goldenen Apostel war eine ziemlich scharfe Zecherei, direkt eine alkoholische Orgie. Hoffentlich stört Sie meine Fahne nicht. FRAU ILL Noch eins wird nicht schaden. Schenkt ihm wieder ein. DER LEHRER Ihr Mann? FRAU ILL Oben. Geht immer hin und her. DER LEHRER Noch ein Gläschen. Das letzte. Schenkt sich selber ein. DER LEHRER FRAU ILL

Der Maler kommt von links. Neuer Manchesteranzug, buntes Halstuch, schwarze Baskenmütze.

Vorsicht. Zwei Journalisten fragten mich nach diesem Laden. Verdächtig. DER MALER Ich tat, als wüßte ich nichts. DER ZWEITE Klug. DER MALER Hoffentlich kommen sie in mein Atelier. Malte einen Christus. DER MALER DER ERSTE

Der Lehrer schenkt sich wieder ein. Draußen gehen die beiden Frauen vom zweiten Akt elegant gekleidet vorbei und betrachten die Ware im fingierten Schaufenster. DER ERSTE

Diese Weiber. Gehn ins neue Kino am hellichten Tag.

DER ZWEITE

Von links kommt der Dritte.

Die Presse. Dichthalten. DER MALER Aufpassen, daß er nicht nach unten kommt. DER ERSTE Dafür wird gesorgt. DER DRITTE

DER ZWEITE

Die Güllener stellen sich rechts auf. Der Lehrer hat die Flasche halb ausgetrunken und bleibt am Ladentisch stehen. Zwei Pressemänner kommen mit Photoapparaten. Hinter ihnen erscheint der vierte Güllener.

Guten Abend, ihr Leute. Grüß Gott. PRESSEMANN I Frage eins: Wie fühlt ihr euch, allgemein gesprochen? DER ERSTE verlegen Wir sind natürlich erfreut über den Besuch der Frau Zachanassian. DER DRITTE Erfreut. DER MALER Gerührt. DER ZWEITE Stolz. PRESSEMANN I Stolz. DER VIERTE Kläri ist schließlich die unsrige. PRESSEMANN I Frage zwei an die Frau hinter dem Ladentisch: Es wurde behauptet, Ihr Mann hätte Sie Claire Zachanassian vorgezogen. PRESSEMANN I

DIE GÜLLENER

Stille. DER ERSTE

Wer behauptet das? Die beiden kleinen, dicken, blinden Onkelchen der Frau Zachanassian.

PRESSEMANN I

Stille.

Was erzählten die Onkelchen? Alles. Verflucht.

DER VIERTE zögernd PRESSEMANN II DER MALER

36

Stille.

Claire Zachanassian und der Besitzer dieses Ladens hätten sich vor mehr als vierzig Jahren beinahe geheiratet. Stimmt's?

PRESSEMANN II

Schweigen.

Stimmt. Herr Ill? FRAU ILL In Kalberstadt. ALLE In Kalberstadt. PRESSEMANN I Wir können uns die Romanze vorstellen: Herr Ill und Claire Zachanassian wachsen zusammen auf, sind vielleicht Nachbarskinder, gehen gemeinsam in die Schule, Spaziergänge in den Wald, die ersten Küsse und so weiter, bis Herr Ill Sie kennen lernt, gute Frau, als das Neue, das Ungewohnte, als die Leidenschaft. FRAU ILL Es ist genau so passiert, wie Sie es erzählen. PRESSEMANN I Claire Zachanassian begreift, verzichtet auf ihre stille, edle Art, und Sie heiraten FRAU ILL Aus Liebe. DIE ANDEREN GÜLLENER erleichtert Aus Liebe. PRESSEMANN I Aus Liebe. FRAU ILL

PRESSEMANN II

Die beiden Pressemänner schreiben gleichgültig in ihre Notizbücher. Von rechts kommen die beiden Eunuchen, von Roby am Ohr geführt. DIE BEIDEN jammernd

Wir wollen nichts mehr erzählen, wir wollen nichts mehr erzählen.

Sie werden nach dem Hintergrund gebracht, wo sie Toby mit einer Peitsche erwartet.

Nicht zu Toby, nicht zu Toby! Ihr Mann, Frau Ill, ist er nicht hin und wieder, ich meine, es wäre schließlich menschlich, wenn es ihn hin und wieder reuen würde. FRAU ILL Geld allein macht nicht glücklich. PRESSEMANN II Nicht glücklich. DIE BEIDEN

PRESSEMANN II

Der Sohn kommt von links. In einer Wildlederjacke.

Unser Sohn Karl. I Ein prächtiger junger Mann. PRESSEMANN II Weiß er Bescheid über die Beziehungen ... FRAU ILL Wir kennen keine Geheimnisse in unserer Familie. Mein Mann sagt immer: Was Gott weiß, sollen auch unsere Kinder wissen. PRESSEMANN I Gott weiß. PRESSEMANN II Kinder wissen. FRAU ILL

PRESSEMANN

Die Tochter betritt den Laden im Tenniskostüm, einen Tennisschläger in der Hand. FRAU ILL

Unsere Tochter Ottilie. Charmant.

PRESSEMANN II

Nun rafft sich der Lehrer auf.

Güllener. Ich bin euer alter Lehrer. Ich habe still meinen Steinhäger getrunken und zu alledem geschwiegen. Doch nun will ich eine Rede halten, vom Besuch der alten Dame in Güllen. Er

DER LEHRER

klettert auf das Fäßchen, das noch von der Peterschen Scheune übriggeblieben ist.

Verrückt geworden? Aufhören. DER DRITTE. Runter vom Faß! DER LEHRER Güllener! Ich will die Wahrheit verkünden, auch wenn unsere Armut ewig währen sollte! DER ERSTE

DER ZWEITE

37

Sie sind betrunken, Herr Lehrer. Sie sollten sich schämen! Schämen? Du solltest dich schämen, Weib, denn du schickst dich an, deinen Gatten zu verraten! DER SOHN Maul halten! DER VIERTE Raus! DER LEHRER Das Verhängnis ist bedenklich gediehen! Wie beim Ödipus: angeschwollen wie eine Kröte! DIE TOCHTER flehend Herr Lehrer! DER LEHRER Du enttäuschest mich, Töchterchen. Es wäre an dir zu reden, und nun muß es dein alter Lehrer tun mit Donnerstimme! DER MALER reißt ihn vom Faß Du willst mir wohl meine künstlerische Chance zerstören! Einen Christus habe ich gemalt, einen Christus! DER LEHRER Ich protestiere! Angesichts der Weltöffentlichkeit! Ungeheuerliche Dinge bereiten sich vor in Güllen! FRAU ILI.

DER LEHRER

Die Güllener stürzen sich auf ihn, doch kommt in diesem Augenblick Ill von rechts in alten zerschlissenen Kleidern. ILL

Was ist los in meinem Laden? Die Güllener lassen vom Lehrer und starren Ill erschocken an. Totenstille.

Die Wahrheit, Ill. Ich erzähle den Herren von der Presse die Wahrheit. Wie ein Erzengel erzähle ich, mit tönender Stimme. Er schwankt. Denn ich bin ein Humanist, ein Freund der alten Griechen, ein Bewunderer Platos. ILL Schweigen Sie. DER LEHRER Aber die Menschlichkeit – ILL Setzen Sie sich. DER LEHRER

Schweigen.

Setzen. Die Menschlichkeit soll sich setzen. Bitte - wenn auch Sie die Wahrheit verraten. Er setzt sich taumelnd auf das Faß. ILL Verzeihen Sie. Der Mann ist betrunken. PRESSEMANN I Herr Ill? ILL Was wollen Sie von mir? PRESSEMANN I Wir sind glücklich, daß wir Sie nun doch treffen. Brauchen einige Aufnahmen. Dürfen wir bitten? Er schaut sich um. Lebensmittel, Haushaltgegenstände, Eisenwaren - Am besten: Verkaufen Sie das Beil. ILL zögernd Das Beil? PRESSEMANN I Dem Metzger. Er hat es ja schon in der Hand. Geben Sie das Mordinstrument mal her, guter Mann. Er nimmt dem Ersten das Beil aus der Hand. Demonstriert Sie nehmen das Beil, wiegen es in der Hand, machen ein nachdenkliches Gesicht, sehen Sie, so; und Sie, Herr Ill, neigen sich über den Ladentisch, reden dem Metzger zu. Bitte. Er arrangiert die Stellung. Natürlicher, meine Herren, ungezwungener. DER LEHRER ernüchtert

Die Pressemänner knipsen.

Darf ich bitten, den Arm um die Schulter der Gemahlin zu legen. Der Sohn links, die Tochter rechts. Und nun bitte, strahlen vor Glück, strahlen, strahlen, zufrieden, innerlich, stillvergnügt strahlen. PRESSEMANN I Großartig gestrahlt. PRESSEMANN II Gestorben. PRESSEMANN II

Von links vorne rennen einige Photographen nach hinten links über die Bühne. Einer ruft in den Laden hinein.

Die Zachanassian hat einen Neuen. Gehen im Konradsweilerwald spazieren. Einen Neuen! Das gibt ein Titelbild für >LifeIm afrikanischen Felsental marschiert ein BataillonO Heimat süß und holdO Heimat süß und hold< zu Ende. ILL

CLAIRE ZACHANASSIAN

Gatte IX kommt zurück.

Der Nobelpreisträger. Kommt von seiner Ruine. Nun, Zoby? Frühchristlich. Von den Hunnen zerstört. CLAIRE ZACHANASSIAN Schade. Deinen Arm. Die Sänfte, Roby und Toby. CLAIRE ZACHANASHAN GATTE IX

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Sie besteigt die Sänfte. CLAIRE ZACHANASSIAN Adieu, ILL Adieu,

Alfred.

Klara.

Die Sänfte wird nach hinten getragen, Ill bleibt auf der Bank sitzen. Die Bäume legen ihre Zweige fort. Von obensenkt sich ein Theaterportal herunter mit den üblichen Vorhängen und Drapierungen, Inschrift >Ernst ist das Leben, heiter die KunstZum Goldenen ApostelIlls Laden< Fassung Atelier-Theater Bern

Vorhang oder Verwandlung. Ills Laden. Die Projektion deutet den neuen Laden an: Neue Inschrift usw. Neuer blitzender Ladentisch in der Mitte, neue Kasse, kostbarere Ware. Tritt jemand durch die fingierte Tür: pompöses Geklingel. Hinter dem Ladentisch Frau Ill. Von rechts kommt der Zweite als arrivierter Metzger, einige Blutspritzer auf der neuen Schürze.

Das war ein Fest. Ganz Güllen sah auf dem Münsterplatz zu. Klärchen ist das Glück zu gönnen nach all der Misere. DER ZWEITE Filmschauspielerinnen als Brautjungfern. Mit solchem Busen. FRAU ILL Heute Mode. DER ZWEITE Aus der ganzen Welt sind die Journalisten gekommen. FRAU ILL Wir sind einfache Leute, Herr Helmesberger. Bei uns suchen sie nichts. DER ZWEITE Zigaretten. FRAU ILL Die Grünen? DER ZWEITE FRAU ILL

55

Camel. Aufschreiben? DER ZWEITE Aufschreiben. Und ein Beil. FRAU ILL Ein Schlachtbeil? DER ZWEITE Exakt. FRAU ILL Bitte, Herr Helmesberger. DER ZWEITE Schöne Ware. Wie geht's im Geschäft? FRAU ILL Macht sich. DER ZWEITE Kann auch nicht klagen. Personal angeschafft. FRAU ILL Stelle auch ein am Ersten. DER ZWEITE Schreiben Sie das Beil auf, Frau Ill. Er nimmt das DER ZWEITE FRAU ILL

Beil zu sich.

Der Erste, nun ein soignierter Geschäftsmann, kommt. Grüßt. FRAU ILL

Grüß Gott, Herr Hofbauer.

Eine Frau - Erste oder Zweite Frau - geht elegant gekleidet vorüber. Der Erste, noch im Ladeneingang, schaut ihr nach.

Die macht sich saubere Illusionen, sich so zu kleiden. Schamlos. DER ERSTE Glaubt wohl, die Hochkonjunktur stehe vor der Tür. Saridon. Die Nacht gefeiert bei Stockers. DER ERSTE FRAU ILL

Frau

Ill reicht dem Ersten ein Glas Wasser und das Mittel.

Alles voll Journalisten. Schnüffeln im Städtchen herum. DER ERSTE Eben interviewen sie den Pfarrer. DER ZWEITE Der wird nichts ausplaudern, hat immer ein Herz für uns arme Leute gehabt. DER ERSTE Chesterfield. FRAU ILL Aufschreiben? DER ERSTE Aufschreiben. Wo ist Ihr Mann denn, Frau Ill? Sah ihn lange nicht. FRAU ILL Oben. DER ERSTE

DER ZWEITE

Alle horchen nach oben.

Schritte. Ich weiß nicht, was der Mann hat. Er geht im Zimmer herum. Seit Tagen. Es ist mir ganz unheimlich mit ihm zumut. DER ERSTE Das schlechte Gewissen. DER ZWEITE Und nach Australien wollte er auch auswandern. DER ERSTE Als ob wir die reinsten Mörder wären. Feuer, Frau Ill. FRAU ILL Bitte sehr. DER ERSTE raucht Schlimm hat er's mit der armen Frau Zachanassian getrieben. DER ERSTE Ein Mädchen ins Unglück stürzen, pfui Teufel. DER ZWEITE FRAU ILL

Der Lehrer kommt. Er ist betrunken, hat sich aber noch in der Gewalt.

Grüß Gott, Herr Lehrer. Es entspricht zwar nicht meiner Art, aber ich benötige ein starkes alkoholisches Getränk. FRAU ILL Habe neuen Steinhäger. DER LEHRER Ein Gläschen. FRAU ILL schenkt ein Sie auch, Herr Helmesberger? DER ZWEITE Nein, danke. Ich muß noch nach Kaffigen mit meinem neuen Volkswagen. Ferkel kaufen. FRAU ILL Und Sie, Herr Hofbauer? DER ERSTE Bevor diese verfluchten Journalisten das Städtchen nicht verlassen haben, trinke ich keinen Tropfen. FRAU ILL Sie zittern ja, Herr Lehrer. DER LEHRER Trinke zuviel in der letzten Zeit. Eben im Goldenen Apostel war eine ziemlich scharfe Zecherei, direkt eine alkoholische Orgie. Hoffentlich stört Sie meine Fahne nicht. FRAU ILL Noch eins wird nicht schaden. Sie schenkt ihm wieder ein. DER LEHRER Ihr Mann? Er horcht nach oben. FRAU ILL

DER LEHRER

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Immer hin und her. Noch ein Gläschen. Das letzte. Er schenkt sich selber ein. FRAU ILL Aber natürlich. DER LEHRER Die Schritte. Immer die Schritte. DER ZWEITE Frau Ill, ich hoffe, daß Ihr Mann nicht schwatzt, falls die Journalisten kommen. FRAU ILL Aber nein. DER ERSTE Bei seinem Charakter? FRAU ILL Ich habe es schwer, Herr Hofbauer. DER ZWEITE Wenn er Klara bloßstellen würde, Lügen erzählen, sie hätte was auf seinen Tod geboten oder so, was doch nur ein Ausdruck ihres namenlosen Leides gewesen ist, müssen wir einschreiten. DER ERSTE Nicht der Milliarde wegen - er spuckt aus - sondern des Volkszornes wegen. Die brave Frau Zachanassian hat, weiß Gott, schon genug durchgemacht. DER LEHRER Hofbauer, ich bin dein alter Lehrer. Ich habe still meinen Steinhäger getrunken und zu alledem geschwiegen. Doch nun ist es meine Pflicht, das Menschliche zu tun. Erhebt sich mühsam. Die Augen aller Menschenfreunde und Philosophen der Vorzeit sind auf mich gerichtet. Ich will mich ihrer würdig erweisen. Ich werde zu den Journalisten gehen und ihnen vom Besuch der alten Dame in unserer Stadt erzählen. FRAU ILL Herr Lehrer! DER ZWEITE Was soll das heißen? DER LEHRER Ich will der Presse die Wahrheit erzählen. Rennt zur Tür. DER ERSTE Du kommst mir nicht zur Tür hinaus, du Verräter! DER LEHRER Wie ein Erzengel will ich die Wahrheit in die Welt hinausschreien. FRAU ILL

DER LEHRER

Der Zweite kommt mit dem Beil und stellt sich vor den Lehrer hin.

Schulmeister! Mir ist ein Sohn gestorben, weil ich keine Medizin kaufen konnte. Unsere Kinder wurden zu Handlangern erzogen, weil selbst die Bildung für uns zu teuer wurde. Wir lebten wie die Tiere. Keine Freude, kein Luxus, nur Jammer und Langeweile, schlechtes Essen und schlechter Schnaps. Und nun, wie es uns etwas besser geht, willst du uns wieder ins Elend zurückstoßen? Ich will aber nicht mehr ins Dunkel zurück, Lehrer. Hör gut zu. Ich gehe nun mit diesem Beil zu Alfred Ill. FRAU ILL Herr Helmesberger! DER ZWEITE Ich erschlage ihn. Du weißt genau, daß wir keinen andern Ausweg mehr haben. Entweder krepiert einer, oder wir krepieren alle. DER ZWEITE

Er will nach rechts hinaufstürzen, doch kommt ihm in diesem Augenblick Ill ruhig entgegen. ILL

Was ist denn los in meinem Laden? Totenstille vor Entsetzen.

ILL

Was willst du mit dem Beil, Helmesberger? Er starrt Ill endlos lange an. Niemand regt sich.

Ich wollte nur dieses Beil kaufen, Ill. Doch ich glaube, ich finde vielleicht in Kaffigen ein besseres. Er gibt Ill das Beil zitternd zurück. ILL Ich verstehe. Dort gibt es auch eine größere Auswahl. DER LEHRER Alfred Ill. Ich bin ein Freund der alten Griechen, ein Bewunderer Platos. Die Menschlichkeit gebietet, dir zuzurufen: Das Städtchen ist voller Journalisten aus der ganzen Welt. Wende dich an die Presse, und der öffentliche Skandal wird dich retten! ILL Unsinn, Lehrer. Ich brauche die Presse nicht. Setzen Sie sich. DER LEHRER Setzen. Die Menschlichkeit soll sich setzen. Er setzt sich mühsam. Bitte - wenn auch Sie die Wahrheit verraten. DER ZWEITE langsam

Alle sind Ill gegenüber etwas verlegen. DER ZWEITE ILL

Partagas.

Bitte.

Schreib's auf. Selbstverständlich. DER ZWEITE Klug, nicht zu schwatzen. Aber einem Halunken wie dir würde man ja auch kein Wort glauben. Er DER ZWEITE ILL

hinaus. DER ERSTE

Offen gesagt: Was du Klärchen angetan hast, tut nur ein Schuft. Er

57

geht hinaus.

geht

Alles neu. Modern wie dies jetzt bei uns aussieht. Sauber, appetitlich. So ein Laden war immer mein Traum. Wo sind die Kinder? FRAU ILL Auf dem Tennisplatz. ILL Geh sie doch holen. Ich möchte euch heute abend alle bei mir haben. ILL schaut sich wie träumend im Laden um

Frau Ill geht nach links hinaus, der Lehrer sitzt immer noch da.

Sie müssen entschuldigen. Ich habe einige Steinhäger probiert, so zwei oder drei. In Ordnung. DER LEHRER Ach, Ill, was sind wir für Menschen. Sie hätten fliehen müssen, damals, am Bahnhof. Wir hätten Sie gehen lassen, noch waren wir zur Tat nicht fähig. Aber jetzt? Die schändliche Milliarde brennt in unsern Herzen. Ich fühle, wie ich langsam zum Mörder werde. Noch vor wenigen Minuten habe ich alles den Journalisten anzeigen wollen, doch nun habe ich die Kraft nicht mehr. Mein Glaube an die Humanität ist machtlos. Schenkt sich ein und trinkt. Reißen Sie sich zusammen, Ill, kämpfen Sie um Ihr Leben. Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren. ILL Ich kämpfe nicht mehr.

DER LEHRER ILL

Der Lehrer schenkt sich wieder ein und trinkt.

Sie müssen kämpfen, Ill, sonst sind Sie verloren. Und auch wir. Ich sah ein, daß ich kein Recht mehr habe. Ich kann von euch nicht verlangen, was ich einmal auch nicht getan habe. DER LEHRER Kein Recht? Gegenüber dieser verfluchten alten Dame, gegenüber dieser unanständigen Parodie der Gerechtigkeit, dieser Erzhure, die ihre Männer wechselt, vor unseren Augen, schamlos, die unsere Seelen einsammelt? ILL Ich bin schließlich schuld daran. DER LEHRER Schuld? ILL Ich habe Klara zu dem gemacht, was sie ist, und mich zu dem, was ich bin, ein verschmierter, windiger Krämer. Was soll ich tun, Lehrer von Güllen? Den Unschuldigen spielen? Alles ist meine Tat, die Eunuchen, der Butler, der Sarg, die Milliarde. Ich kann mir nicht mehr helfen und euch auch nicht mehr. DER LEHRER Bin nüchtern. Auf einmal. Geht schwankend auf Ill zu. Sie haben recht. Vollkommen. Sie sind schuld an allem. Und nun will ich Ihnen etwas sagen, Alfred Ill, etwas Grundsätzliches. Er bleibt kerzengerade vor Ill stehen. Sie sind ein Schuft, Ill, nichts weiter. Und nun geben Sie mir noch eine Flasche Steinhäger. DER LEHRER ILL

Ill stellt ihm eine Flasche hin. Der Lehrer nimmt die Flasche zu sich. DER LEHRER

Schreiben Sie sie auf.

Geht langsam hinaus. Die Familie kommt. Die Tochter im Tenniskostüm.

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