_Christoph Schenk - Stress Bewältigen Durch Entspannung. Autogenes Training

July 24, 2017 | Author: Car Een | Category: Stress (Biology), Self-Improvement, Neuron, Emotions, Endocrine System
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Christoph Schenk

Streß bewältigen durch Entspannung Mit Anleitungen zum autogenen Training scanned by AnyBody corrected by Yfffi Die Zahl der Erkrankungen, die auf streßbedingte Störungen des Leib-SeeleGefüges zurückzuführen sind, steigt ständig, aber jeder kann etwas gegen die Streßbelastung in seinem Leben unternehmen. Der erste und wichtigste Schritt ist das Kennenlernen des eigenen Körpers und seiner »Sprache«. Erst wenn man versteht, warum und wie der Organismus auf Streß reagiert, kann man sich ein Bild von seiner Belastung machen. Die in dieses Buch integrierten Fragebögen zur persönlichen Streßgefährdung sind als Hilfe für diesen notwendigen Schritt der Selbsterkenntnis gedacht. In der Folge werden Wege zum Abbau des Stresses vorgestellt. Das Schwergewicht liegt dabei auf dem autogenen Training, einer wirksamen und bewährten Entspannungsmethode. ISBN 3-8068-0834-1 © 1994 by Falken-Verlag GmbH Umschlaggestaltung und Titelbild: Zembsch Werkstatt, München Zeichnungen: Norbert Morast, Schriesheim; Gerhard Scholz, Dornburg

Meiner Frau Margit und meiner Tochter Laura gewidmet!

Inhalt Inhalt.........................................................................................3 Der Streß mit dem Streß..........................................................5 Dem Streß auf der Spur...........................................................7 Streß gestern und heute.......................................................7 Die Rolle der Psychosomatik ...............................................8 Was ist eigentlich »Streß«? ...............................................10 Unser Körper und seine Reaktionen .....................................14 Die Grundlagen der Nervenfunktionen ..............................17 Das vegetative Nervensystem ...........................................19 Schaltzentrale Gehirn .........................................................22 Die Rolle des Lernens ........................................................26 Der richtige Umgang mit den Streßsignalen .........................29 Stressoren ..........................................................................31 Die Wechselwirkung von Schmerz und Streß ...................33 Die Warnsignale des Körpers ............................................35 Testen Sie Ihre Streßgefährdung ..........................................39 Das aktuelle Streßprofil......................................................39 Fragebogen zu Streßsymptomen..........................................43 Interpretationshilfen zum Streßprofil ..................................50 Lebenskrisen sind Streßsituationen ...................................52 Welche Streßfaktoren birgt Ihr Leben? ..............................52 Hinweise zur Interpretation ................................................54 Streßbewältigung durch Entspannung ..................................56 Progressive Muskelentspannung .......................................57 Biofeedback........................................................................58 Yoga und Meditation ..........................................................61 Autogenes Training ............................................................64 Übungsteil: Die Praxis des autogenen Trainings ..................66 Zur Geschichte dieser Entspannungstechnik ....................66 Geeignete Körperhaltungen ...............................................69 Leitfaden zur Durchführung des autogenen Trainings ......71 Beginn der Übungen ..........................................................74 Beenden der Übungen .......................................................76 Übung 1: Schwere..............................................................76 Übung 2: Wärme................................................................79

Zusätzliche Hilfen für die ersten beiden Übungen .............83 Übung 3: Atmen..................................................................85 Übung 4: Herzschlag..........................................................89 Übung 5: Sonnengeflecht...................................................95 Übung 6: Stirnkühle ............................................................99 Der Ablauf des autogenen Trainings im Überblick..........102 Autogenes Training im täglichen Leben ..........................103 Weitere Einsatzmöglichkeiten ..........................................106 Schlußbemerkung................................................................109

Der Streß mit dem Streß Wer in unserer heutigen Zeit »in« sein will, versteht etwas von Selbsterfahrung, weiß seine Körpersignale zu deuten und kennt zumindestens einen namhaften Analytiker und seine Thesen. Joga, Meditation und sonstige Techniken zur »Reise ins Innere« werden als Konsumartikel angeboten. Wer auf sich hält, arbeitet angestrengt daran, ein Höchstmaß an Selbsterkenntnis zu gewinnen, um noch kreativer und noch intensiver leben zu können. Immer häufiger soll dem einzelnen durch fragwürdige Therapieangebote das Gefühl vermittelt werden, daß nur diese oder jene Form der Selbsterfahrung dem Leben Sinn geben kann. Kein Wunder, daß in diesem Zusammenhang auch das Schlagwort »Streß« oft gebraucht wird. Wer heutzutage seine kleinen und großen Wehwehchen nicht auf den Streß am Arbeitsplatz, zu Hause oder sonstwo zurückführen kann, scheint etwas falsch zu machen. Vielerorts ist eine »Sucht« nach Psychoerfahrung zu beobachten, die von gewissenlosen Geschäftemachern ausgenutzt wird. Das ist um so bedauerlicher, als in den allermeisten Fällen die Ratsuchenden mit ihrem ehrlichen Bemühen um einen neuen, anderen und streßfreieren Weg entmutigt und alleingelassen werden. Um mehr Menschen das Verständnis der komplexen Regelsysteme unseres Leib-Seele-Gefüges zu ermöglichen, habe ich dieses Buch geschrieben. Dem Leser sollen die medizinischen Grundlagen der körperlichen und seelischen Reaktionen auf Streß als Basis für eigene Denkansätze und Lernprozesse in verständlicher Form an die Hand gegeben werden, um die eigenen Streßmechanismen besser zu erkennen und durch geeignete Maßnahmen angehen zu können. Die ausführliche Anleitung zum autogenen Training unter Einbeziehung der eigenen Gemütsbewegungen und -5 -

Körperempfindungen vermittelt dabei jedem Lernwilligen ein positives Lebensgefühl. Mit »Leib und Seele« bei der Sache sein, stellt für jeden autogen Trainierenden eine Möglichkeit dar, seine täglichen kleinen und großen Sorgen positiv zu bewältigen. Dr. med. Christoph Schenk

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Dem Streß auf der Spur Die Veröffentlichungen über das Thema »Streß« der letzten Jahre beweisen, daß Faktoren wie Lärm, hohe Arbeitsbelastung, körperliche Erkrankungen, soziale Probleme usw. tatsächlich krankmachende Stressoren sind, die vermehrt zu vegetativer Fehlsteuerung sowie im weiteren Verlauf zu den sogenannten psychosomatischen Erkrankungen führen können. Dieser Zusammenhang zwischen Streß und Krankheit ist für einen Mediziner, der von der Leib-Seele-Einheit des Menschen ausgeht, in den letzten Jahren immer augenscheinlicher geworden. Und es gibt immer mehr Menschen, die auch seelische Ursachen für das Entstehen einer Krankheit akzeptieren. Nicht zuletzt deshalb ist der berechtigte Ruf nach mehr Zeit für das ärztliche Gespräch laut geworden. Leider ohne großen Widerhall, wie es die heute noch vielerorts praktizierte »Fünf-Minuten-Medizin« beweist. Aber der Einbezug von Umweltfaktoren und ihrer Wirkung auf die Leib-Seele-Balance spielt eine große Rolle bei der Diagnose psychosomatischer Krankheiten. Unter Umweltfaktoren sind dabei nicht nur die von Menschen erzeugten Streßsituationen zu verstehen. Selbst geringe klimatische Veränderungen beeinflussen unser LeibSeele-Gefüge. Die sogenannte Wetterfühligkeit ist das beste Beispiel dafür. Und ein Arzt, der solche »Stressoren« als Grund für viele Krankheiten ansieht, muß sich die Zeit nehmen, den Ursachen durch das Gespräch mit dem Patienten auf die Spur zu kommen. Nur so lassen sich wirkungsvolle Therapien und Gegenmaßnahmen erarbeiten.

Streß gestern und heute Aber so rasant die Entwicklung der Streßforschung in den letzten Jahren auch war und obwohl sie uns eine Fülle von neuen Einsichten in die Zusammenhänge zwischen Streß und Krankheit geliefert hat - eigentlich ist das alles nichts Neues. -7 -

Streß und seine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit gibt es seit Anfang der Menschheitsgeschichte. (Natürlich haben sich die Inhalte dessen, was als Streß betrachtet wird, im Laufe der Jahrhunderte gewandelt.) Dieses Phänomen ist also nicht neu - neu ist nur, daß wir inzwischen eine Menge mehr über die medizinischen Zusammenhänge zwischen belastenden Situationen und körperlichen Reaktionen herausgefunden haben, nicht zuletzt, weil in unserem Jahrhundert eine Reihe von technischen Hilfsmitteln entwickelt wurden, die es uns erlauben, auch Vorgänge, die im vegetativen Nervensystem und damit unbewußt ablaufen, meßbar zu machen. Inzwischen ist auch experimentell bewiesen, daß äußere Faktoren Einfluß auf unsere Körperfunktionen nehmen und umgekehrt. Ein neuer Zweig der Medizin, der sich mit diesen Zusammenhängen befaßt, die Psychosomatik, ist entstanden.

Die Rolle der Psychosomatik Die Psychosomatik geht von folgenden Voraussetzungen aus: 1. Alle seelischen Vorgänge beeinflussen bestimmte Körpervorgänge, auch wenn es nicht äußerlich sichtbar wird. 2. Alle körperlichen Vorgänge haben auch seelische Auswirkungen! (Diese sind oft nicht direkt fühlbar und können auch erst später und in anderen Situationen spürbar werden.) Selbst die medizinischen Teildisziplinen, die vormals rein körperlich orientiert waren, wie etwa die Chirurgie, erkennen inzwischen den Einfluß der Seele auf das körperliche Geschehen an. Das beste Beispiel ist das »Schmerzerleben«. Schmerz kann sowohl organischen wie auch seelischen Ursprungs sein. Je länger ein Schmerz besteht, desto mehr überwiegen die seelischen Faktoren. Ein Schmerz kann dann sogar auch bei Wegfall der Organgrundlage aufrechterhalten werden, wie die -8 -

sogenannten »Phantomschmerzen« an amputierten, also nicht mehr vorhandenen Gliedmaßen beweisen. (Der hier immer wieder gebrauchte Begriff »Seele« meint dabei die bereits im 19. Jahrhundert allgemeine Bezeichnung für Psyche, wobei dann also eine Seelenstörung nichts anderes ist als der Ausdruck für eine psychische Erkrankung.) Bei den Bemühungen, für psychosomatische Erkrankungen Therapien zu entwickeln, die über die Psyche auf den Körper wirken, sind in unserem Jahrhundert sehr viele medizinisch anerkannte Verfahren wie auch Außenseitermethoden entstanden. Gleichzeitig wurde auch ein anderer Weg zur Streßbewältigung beschritten. Psychopharmaka (Arzneimittel, die auf die Psyche wirken) kamen auf den Markt, die eine Heilung von Seele und Körper ohne eigenes Zutun versprechen. Übrigens ein großer Irrtum, der aber noch immer weit verbreitet ist, wie der Riesenumsatz an Beruhigungs- und Schlafmittelpräparaten beweist. Es gibt sicher aus medizinischer Sicht viele Situationen, wo ein Beruhigungsmittel erforderlich ist, zum Beispiel zur Ruhigstellung nach einem Schock. Somit wäre der totale Verzicht auf jede Art von Psychopharmaka ebenso falsch wie der kritiklose Einsatz dieser Medikamente. Durch die Einnahme von Beruhigungsmitteln wird der Körper quasi »überlistet« und seine wichtigen und richtigen Streßsignale werden übertönt, so daß Arzt und Patient leicht den Eindruck gewinnen können, nun sei alles in Ordnung. Aber eine medikamentös, also künstlich erzeugte Entspannung kann nie den gleichen Erholungseffekt für Körper und Seele haben wie eine natürliche. Läßt die Wirkung des Medikaments nach, ist nämlich auch die Verspannung wieder da. Jeder, der wirklich etwas gegen den Streß in seinem Leben tun möchte, sollte sich also - in Absprache mit seinem Arzt - nach geeigneten Methoden, die Körper und Seele gleichermaßen berücksichtigen, umsehen. -9 -

Insgesamt hat es der medizinische Laie nämlich nicht leicht, das Überangebot an nützlichen »Tips und Tricks« zur Erlangung und Erhaltung der Gesundheit und der Bewältigung von Streß zu beurteilen. Diese Ausführungen sollen daher ein paar allgemeine, wissenschaftlich abgesicherte Grundkenntnisse über Streß vermitteln sowie die wichtigsten Möglichkeiten der Selbsthilfe aufzeigen.

Was ist eigentlich »Streß«? Die meisten Menschen verstehen unter dem Begriff Streß etwas, das ihnen Angst macht, sie körperlich oder geistig überfordert. Wenn eine genaue Ursache für ein Unwohlsein nicht ersichtlich ist, sind es dann eben »die gestreßten Nerven«! In einer Vorstufe muß auch manchmal das Wetter oder der Klimawechsel herhalten, um das eigene Leiden zu erklären. Schuld an Mißgeschicken des Alltags ist immer der Streß! Aber so einfach ist das nicht, denn Streß ist nicht gleich Streß. Unter Streß versteht man medizinisch erst einmal ganz wertneutral: »Ein Zustand des Organismus, der durch bestimmte körperliche Reaktionen - wie Blutdrucksteigerung, schnellerer Herzschlag oder beschleunigte Atmung - auf unspezifische Reize ausgelöst werden kann.« Damit ist nichts darüber gesagt, ob Streß positiv oder negativ ist. Ein etwas kräftiger und schneller pulsierendes Herz beispielsweise verschafft uns die Möglichkeit, eine Gefahrenquelle schneller zu verlassen. Das wäre dann eine typische Fluchtreaktion. Andere Streßreize wiederum lassen uns eine angenehme Situation erst richtig genießen. Was wäre ein Rendezvous ohne Herzklopfen? Ein gewisses Maß an Streß, und das kann natürlich je nach individueller Ausgangslage sehr unterschiedlich sein, ist für -1 0 -

unser Wohlbefinden geradezu erforderlich. Die moderne Streßforschung unterscheidet deshalb zwei verschiedene Streßformen: 1. Den Eustreß, der zur Gesunderhaltung des Gesamtorganismus notwendig und gut ist, und 2. den Distreß, der unser Leib-Seele-Gleichgewicht auf Dauer stören und zu psychosomatischen Krankheiten führen kann. Wie wichtig »Eustreß« für unser alltägliches Leben ist, wird verständlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie trostlos und einsam ein isoliertes Dasein wäre. So wie es alten Menschen geht, die ohne Partner, Familie oder Freunde vereinsamen, keinen Reiz zur Aktivität oder Auseinandersetzung mit der Umwelt mehr haben. Hier ist keineswegs der langsame körperliche Abbau für das geistig-körperliche Abstumpfen verantwortlich zu machen, sondern vor allem der fehlende und anregende »Eustreß«! Allerdings gibt es erstaunliche ind ividuelle Unterschiede bei der Verarbeitung der Reize! Die Belastbarkeit, also auch die Möglichkeit, den Distreß zu bewältigen, hängt dabei von mannigfaltigen erlernten Faktoren ab. Sie variiert von Mensch zu Mensch erheblich: was der eine ignorieren kann, macht den anderen bereits wahnsinnig. »Das bringt mich noch zur Weißglut«, kann den Gesprächspartner womöglich nur zu einem erstaunten Lächeln bewegen und umgekehrt! So wird ein Hundegebell in dem Züchter andere Gefühle wecken als in demjenigen, der sich dadurch gestört fühlt. Ein und dieselbe Reizsituation kann also Eustreß oder Distreß gleichzeitig sein, kann zu Anspannung und Verspannung oder auch zur Entspannung führen. Wer beispielsweise keine klassische Musik mag, wird diese als unangenehm und somit als Distreß empfinden und auch entsprechend reagieren (etwa mit Pulsanstieg). Ein Mensch -1 1 -

dagegen, der sich bei klassischer Musik entspannt, wird sich auch körperlich entspannen, indem der Puls langsamer wird. Was die beiden Menschentypen unterscheidet, ist lediglich der Lernprozeß! Die Reaktion auf die allermeisten Reize wird also gelernt und ist damit auch von Mensch zu Mensch verschieden. Somit ist es auch nicht möglich, allgemeingültige Streßfaktoren zu definieren, denn, wie das Sprichwort schon sagt: »Was dem einen sein Uhu, ist dem anderen seine Nachtigall«! Für unser allgemeines Wohlbefinden ist die Dynamik zwischen Anspannung und Entspannung aber wichtig: Ein Zuwenig an Aufregung ist genauso schädlich wie ein Zuviel. Gefährlich wird es allerdings, wenn die durch die Streßfaktoren erzeugten körperlichen Reaktionen und Verspannungen nicht wieder abgebaut werden. Problematisch ist, daß viele Menschen gar nicht mehr merken, daß sie ständig angespannt, also »gestreßt« sind. Gezielte Entspannung ist aber erst möglich, wenn man sich seiner Verspannungen bewußt wird. Schaffen wir es, die für uns negativen Reize zu erkennen, können wir auch unseren Umgang damit verändern. Distreß kann dann zwar nicht in seiner Entstehung verhindert werden, jedoch in seinen negativen Einflüssen durch rechtzeitiges »Abschalten«, gleichgültig ob körperlich oder seelisch, gelindert werden. Das Kleinkind hat dabei noch eine unverfälschte Art und Weise, bei Reizüberflutung (Distreß) gegebenenfalls »abzuschalten«. In einem offenen Kinderwagen läßt das Kind nur Eustreß auf sich einwirken (da gibt es nämlich viel zu schauen und zu lernen); werden die Reize überfordernd (Distreß) oder uninteressant, schläft es ein. Ein natürlicher »Abschaltvorgang«, der dem Erwachsenen im späteren Leben leider allzu häufig verlorengeht. Wir sollten uns demnach nach anderen Wegen umschauen, um wieder »abschalten« zu können. Eine erlernbare und gezielte Entspannung wäre ein Ausgleich für den täglich anfallenden Distreß. -1 2 -

Die Erkenntnis, daß Entspannung unser Wohlbefinden steigert und Krankheitsprozesse verhindert, läßt denn auch viele Menschen einen Ausgleich suchen. Immer mehr »Distreßgeplagte« schauen sich nach Methoden um, die Regeneration und Erholung versprechen. Ein erschöpfter Organismus gleicht einem »Le ib-Seele-Akkumulator«, der durch Entspannung nachgeladen werden kann. Übrigens »lebt« ein Akkumulator, also eine immer wieder aufladbare Batterie, auch länger, wenn er ab und zu entladen und danach wieder nachgeladen wird! Übertragen auf unsere Situation bedeutet das: Wir benötigen keine Dauernachladung durch Abschalten, sondern eine ausgewogene Dynamik zwischen beiden Extremen. Jeder von uns sollte also die individuelle, optimale Balance zwischen Eustreß und Distreß erkennen und nutzen.

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Unser Körper und seine Reaktionen Die Grundvoraussetzung jeder Reizübertragung ist das Vorhandensein von Übermittlungswegen, die im gesamten Körper des Menschen durch ein Netz der verschiedensten Nerven gegeben sind. Diese Nervenbahnen stellen für jede denkbare Funktion des Körpers und der Seele die Signalleitungen dar. In unserem Nervensystem können dabei zwei Arten von Nervenbahnen unterschieden werden: einmal solche, deren Signale wir spüren, und zum zweiten solche, deren Funktion wir nur indirekt bemerken. Tritt uns jemand auf den Fuß, spüren wir den Schmerzreiz durch einen Rezeptor (Reizaufnehmer), der dann die Information an das Gehirn weiterleitet. Hier übersetzt dann das Gehirn die übermittelte Information in das Gefühl Schmerz. Völlig unbewußt und autonom (der Fachausdruck heißt »vegetativ«) reagiert aber im nächsten Schritt der Körper und reflexartig ziehen wir, wenn das möglich ist, den Fuß zurück. Glücklicherweise geschehen die meisten Reaktionen und aufeinander abgestimmte Regelungen »automatisch« (vegetativ), ohne daß unser Bewußtsein dies wahrnimmt! Wenn wir das alles bewußt steuern müßten, würden wir vermutlich nicht nur ein heilloses Durcheinander anrichten, sondern könnten uns Tag und Nacht mit nichts anderem beschäftigen. Man stelle sich nur vor: Jeder Herzschlag und jeder Atemzug erfordere einen bewußten Befehl! Die vegetative Steuerung etwa des Blutdrucks, des Pulses oder der Produktion von Hormonen entlastet also unser bewußtes Denken. Unser vegetatives Nervensystem ist zudem ein sehr flexibles Regelsystem, das auch Umweltreize jeder Art mit berücksichtigt. Als Beispiel sei die Temperaturregelung unseres Körpers genannt: Wir beginnen zu schwitzen, um durch die Verdunstungskälte einer Überhitzung entgegenzuwirken, oder bekommen eine Gänsehaut, wenn wir frieren, um Wärme zu erzeugen. Wichtig -1 4 -

ist ferner die Tatsache, daß unsere vegetativen Regelkreise nicht nur auf Signale aus der Umwelt, sondern auch auf innere Reize reagieren. Gefühle, also etwa Freude oder Ärger, können auch zu (vegetativen) körperlichen Reaktionen führen. Das Gefühl der »Peinlichkeit« in einer bestimmten Situation läßt uns beispielsweise erröten; genauso wie uns auf der anderen Seite eine körperliche Veränderung (Knochenbruch oder ähnliches) auch seelischen Kummer und Schmerzen bereitet. Die Art der jeweiligen vegetativen Reaktionen ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Zum Beispiel erröten nicht alle Menschen bei peinlichen Gefühlen! Aber ganz ohne körperliche Reaktionen gibt es keine Gefühle. Meistens sind es nur andere Ventile, die bewußt oder unbewußt benutzt werden! Manch einer reagiert vielleicht eher mit dem Magen, weil er versucht, den Ärger zu schlucken, ein anderer mit Kopfschmerzen oder Migräne, weil ihm zu viele Dinge unbewältigt durch den Kopf gehen, ein weiterer vielleicht mit Muskelverspannungen oder Schlafstörungen ... Sätze wie: »Der Ärger schlägt auf den Magen ...«, »Vor Angst keine Luft mehr bekommen ...«, »Die Sorgen machen mir Kopfzerbrechen ...«, haben also eine körperliche Grundlage und somit durchaus ihre Richtigkeit.

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Abbildung 1: Die Grafik zeigt die unterschiedlichen Reaktionen auf einen Reiz. Person A hat große Angst vor Hunden und reagiert auf das Dia eines Hundes mit einer deutlichen Erhöhung des Pulsschlages, also mit einer Distreßreaktion, wohingegen Person B, da sie Hunde mag, von dem Dia eher angeregt wird, also eine Eustreßreaktion zeigt.

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Die Grundlagen der Nervenfunktionen Die Grundvoraussetzung dafür, daß wir Reize empfangen können, ist ein vernetztes System von Nerven, die über das Rückenmark eine Verbindung zu unserer »Zentrale«, nämlich dem Gehirn, herstellen. Die Weiterleitung der Reize zum Gehirn geschieht grundsätzlich über zwei Wege: 1. Elektrische Fortleitung eines Reizes in Form kleinster Stromimpulse, die entlang der »Nervenkabel« weitergeführt werden. 2. Biochemische Weiterleitung des Signals in Form kleinster Mengen sogenannter Transmitterstoffe, die an den Synapsen (Koppelstellen der Nerven untereinander) ausgestoßen werden und für ein erneutes elektrisches »Minisignal« (Aktionspotential) sorgen.

Abbildung 2: Schematische Darstellung einer Reizübertragung. Der Reiz geht von dem Finger aus, der auf die Haut drückt. Die freien Nervenenden, die Rezeptoren, nehmen diesen Druck wahr und wandeln ihn in ein elektrisches Signal um. Dieses Signal wandert entlang der Nervenzelle, dem sogenannten Neuron, bis zu den Synapsen. Hier, an den Kopplungsstellen zum nächsten Nerv, wird dieser elektrische Impuls in eine biochemische Reaktion übersetzt. Die Synapsen scheiden Transmitterstoffe, also Übertragungsstoffe aus, die zu den Synapsen der nächsten Nervenzelle wandern und dort wieder in elektrische Impulse zurückverwandelt werden. Diese Impulse wandern entlang der nächsten Nervenzelle bis zu den nächsten Synapsen usw., bis der Impuls im Gehirn angekommen ist.

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Die Abbildung zeigt eine schematische Darstellung der Reizübertragung vom Fuß zum Gehirn.

Die elektrischen Impulse, die entlang der Nervenzellen laufen und so die Information weitertransportieren, sind übrigens mit speziellen Apparaten meßbar. Die praktische Anwendbarkeit dieser Möglichkeit kennen Sie -1 8 -

alle. So werden zum Beispiel die entstehenden elektrischen Signale des Herzens beim EKG (Elektrokardiogramm) gemessen, um den Funktionszustand des Herzens zu prüfen. Aus diagnostischen Gründen wird auch oft ein EEG (Elektroenzephalogramm) angefertigt, das heißt die elektrischen Ströme des Gehirns gemessen, um eine Aussage über die Hirnfunktion machen zu können. Bei Vorhandensein eines Tumors sind beispielsweise die elektrischen Impulse über dem Gebiet des Tumors verändert, so daß man ihn diagnostizieren und lokalisieren kann. Unser Gehirn erhält seine Informationen also immer über Rezeptoren und über die entsprechenden Nervenbahnen. Übrigens können wir sehr viele Informationen auf einmal wahrnehmen. Die menschliche Kapazität liegt bei 10000000000 Informationseinheiten pro Sekunde. Die Aufnahmemenge jedoch, die wir bewußt verarbeiten können, liegt bei nur 10 100 Informationseinheiten pro Sekunde (bit/sec). Der Rest der einlaufenden Informationen wird unterbewuß t oder einfach gar nicht verarbeitet. Wir haben also gelernt, wichtige Informationen aus der Vielzahl der eingehenden Reize auszufiltern und unwichtige abzublocken. Ohne diese Fähigkeit könnten wir gar nicht überleben, denn wir würden unter dem Ansturm der Reize bald an ständiger Reizüberflutung sterben.

Das vegetative Nervensystem Jeder Mensch (und die meisten Tiere) verfügt über zwei Nervensysteme, mit denen unterschiedliche Dinge gesteuert werden. Unsere Skelettmuskulatur wird vom somatischen Nervensystem, das wir mit unserem Willen beeinflussen können, bewegt, und die meisten anderen Vorgänge in unserem Körper wie die Tätigkeit der Drüsen, der Herzschlag, der Blutdruck usw. unterliegen der Kontrolle des vegetativen Nervensystems, das mit unserem Willen kaum zu beeinflussen ist. -1 9 -

Aber, genau wie das somatische Nervensystem, reagiert das vegetative auf Reize, die von den Rezeptoren an das Gehirn weitergeleitet werden, aber mit dem Unterschied, daß wir in diesen Regelkreis nicht willentlich eingreifen können. Wir können uns zwar zwingen, den Finger nicht aus der Kerzenflamme zu ziehen, obwohl er schmerzt, aber die Erhöhung der Herzschlagfrequenz aufgrund des Schmerzes haben wir nicht unter Kontrolle. Da das vegetative Nervensystem und seine Befehle an den Körper aber das Hauptproblem bei Streß und seiner Verarbeitung ist, soll es noch ein bißchen näher erklärt werden. Das vegetative Nervensystem ist allgemein für die Regelung der Organfunktionen verantwortlich, paßt sie den jeweiligen äußeren und inneren Umständen an und kontrolliert so das innere Milieu des Körpers. Auch die Muskulatur unserer inneren Organe und die Funktion der Drüsen wird von diesem System gesteuert. Wichtig ist noch, daß es mit zwei entgegengesetzt wirkenden Teilsystemen arbeitet: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Diese beiden Systeme arbeiten antagonistisch, das heißt entgegengesetzt. Wie sich das im einzelnen auswirkt, zeigt die schematische Gegenüberstellung auf Seite 21. Zwar ist die Gegenüberstellung der Wirkungen von Sympathikus und Parasympathikus bei weitem nicht vollständig, aber schon dieser Ausschnitt zeigt, daß das sympathische Teilsystem eher eine aktivierende und das parasympathische eher eine entspannende Funktion hat. Folgerichtig sind wir auch tagsüber - also in unserer aktiven Phase - eher vom Sympathikus gesteuert, während nachts überwiegend der Parasympathikus regiert. Aber beide Systeme sind Tag und Nacht einsatzbereit und arbeiten oft gleichzeitig. Ihre Zusammenarbeit wird im Gehirn koordiniert.

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Schaltzentrale Gehirn Alle Informationen laufen im Gehirn zusammen und werden dort be- und verarbeitet. Wenn eine Reaktion erforderlich ist, gibt das Gehirn den Befehl dazu an die entsprechenden Muskeln oder Organe weiter. Für Handlungen, die wir bewußt steuern können, wie etwa die Bewegung der Gliedmaßen, ist dieser Vorgang noch recht gut vorstellbar. Das folgende Beispiel soll ihn noch einmal veranschaulichen: Stellen Sie sich vor, Sie gehen die Straße entlang und sehen einen Bürgersteig. Diese Information gelangt über die Augen zum Gehirn, wird da verarbeitet und in den Befehl »Bein anheben!« umgesetzt. Dieser Befehl läuft dann entlang der Nervenbahnen bis zu den entsprechenden Muskeln im Bein. Die ankommenden elektrischen Impulse veranlassen die Muskelfasern, sich zusammenzuziehen, und das Bein hebt sich. Das ist zwar alles recht vereinfacht dargestellt, aber im Prinzip spielt es sich so ab. Etwas schwerer vorstellbar ist dieser Vorgang bei den vegetativen Reaktionen, also denjenigen Körpervorgängen, die wir nicht bewußt steuern können. Aber schauen wir uns zunächst einmal das Gehirn und seinen Aufbau an:

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Abbildung 5: Längsschnitt durch ein menschliches Gehirn (schematische Darstellung). Auch wenn die einzelnen Zentren des Gehirns gegeneinander abgegrenzt sind, sind sie doch miteinander verbunden, arbeiten zusammen und beeinflussen sich gegenseitig.

Für die Steuerung unserer vegetativen Reaktionen spielen Hypothalamus und limbisches System eine entscheidende Rolle. Der Hypothalamus stimmt die Tätigkeit des vegetativen Nervensystems und Teile des Zentralnervensystems und des Hormonsystems aufeinander ab. Vom Hypothalamus werden unter anderem geregelt: die Körpertemperatur, der Wasserhaushalt des Gewebes, die Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme und der Sexualtrieb. Die Befehle gibt der -2 3 -

Hypothalamus nicht nur in Form von Nervenimpulsen an die Organe, sondern auch durch Hormone. Diese Steuerungshormone beeinflussen die Tätigkeit anderer Hormondrüsen. Der Hypothalamus ist die Schaltstelle zwischen Nervensystem und Hormonsystem. Er ist Nervenzentrum und Hormondrüse in einem. Genauso wichtig ist die Rolle des limbischen Systems. Es handelt sich um eine Art vegetatives Gehirn, das dem Hypothalamus übergeordnet ist. Reiz- und Ausschaltversuche in diesem Gebiet ergaben, daß gewisse Te ile für die emotionale Tönung des Verhaltens wesentlich sind. Gefühle wie Angst, Wut oder Geborgenheitsgefühl gehen von hier aus. Auch für die gefühlsmäßige Reaktion auf einen Sinneseindruck (ob wir einem Reiz gegenüber positiv oder negativ eingestellt sind) ist das limbische System von Bedeutung. Da der Erinnerungswert eines Eindrucks von damit einhergehenden Gefühlen abhängt, wird verständlich, daß das Kurzzeitgedächtnis an das normale Funktionieren des limbischen Systems gekoppelt ist. Ohne weiter auf den komplexen Aufbau des Gehirns und die bis heute noch nicht ganz erforschten »Arbeitsbereiche« der einzelnen Teile und ihre Vernetzung untereinander einzugehen, soll hier nur noch kurz etwas zum Groß- und Kleinhirn gesagt werden. Aufgabe des Kleinhirns ist es, die Tätigkeit der verschiedenen motorischen Zentren (also die Zentren, in denen unsere Bewegungen gesteuert werden) miteinander zu koordinieren und dabei die zielgerichtete Durchführung der vom Großhirn »entworfenen« Willkürbewegungen zu gewährleisten. Im Kleinhirn findet außerdem die Feinkoordinierung der Körperhaltung, des Gleichgewichts und des Muskeltonus statt. Obwohl die Flexibilität und Präzision, mit der unser Gehirn auf die vielfältigsten Reize reagiert und die Funktionen unseres Körpers steuert und koordiniert, ein Wunder ist, ist seine Anpassungsfähigkeit doch nicht von allen Reizen anhängig. -2 4 -

Auf eine vermeintliche oder tatsächliche Gefahr hin reagiert es nämlich noch heute wie vor Jahrtausenden mit dem sogenannten »fight-or-flight-response« (kämpfe oder fliehe). Dann laufen im Körper folgende Vorgänge ab: Vom Hypothalamus geht an die Nebennieren der Befehl, verstärkt Adrenalin (und andere Stoffe) auszuscheiden, der Sympathikus wird aktiviert und der Körper in einen Alarmzustand versetzt: • Das Herz schlägt schneller, • der Blutdruck steigt, da die Blutgefäße sich verengen, • Energiereserven werden mobilisiert, Fettund Blutzuckerspiegel des Blutes steigen, • die Muskeln werden stärker durchblutet, Haut- und Verdauungsorgane erhalten weniger Blut, • die Blutgerinnungsfähigkeit wird heraufgesetzt, damit Wunden sich im Fall einer Verletzung schneller schließen. Der ganze Körper ist nun auf eine schnelle Reaktion auf eine körperliche Bedrohung vorbereitet. Eine durchaus optimale Anpassung an eine Umwelt, in der eine plötzliche Begegnung mit einem Bären zur Tagesordnung gehörte. Dieser Reflex hat sicher unseren Vorfahren oft das Leben gerettet, aber für unsere heutigen Lebensumstände ist er meist nicht mehr ganz passend. Es besteht im normalen Umgang miteinander doch selten die Gelegenheit, seinen Mitmenschen an die Gurgel zu springen oder sich einer Situation durch schnelle Flucht zu entziehen. Auch die Emotionen wie Wut, Angst oder Verletztheit können sich nicht entladen und meist müssen wir alles »herunterschlucken«. Am besten wäre es, wenn wir die Energiereserven, die der Körper bereitgestellt hat, auch nutzen würden, etwa durch einen Waldlauf oder vielleicht Holzhacken. So würde der Körper am ehesten seinen Streß - also Alarmzustand - abbauen und sich wieder entspannen können. Da dies aber in der Regel nicht möglich ist, müssen wir nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten, mit dem Streß sinnvoll -2 5 -

umzugehen.

Die Rolle des Lernens Wie die Abbildung 1 schon veranschaulicht hat, sind unsere Reaktione n auf die meisten Reize irgendwann einmal erlernt worden, also nicht angeboren. Person A aus unserem Beispiel, die Angst vor Hunden hat, hat vielleicht als kleines Kind einmal eine schlechte Erfahrung mit einem Hund gemacht, die Angst, die sie dabei empfunden hat, verinnerlicht und auf alle Hunde übertragen. Jedesmal, wenn sie jetzt einen Hund sieht, läuft derselbe Automatismus ab: Reiz: Hund = Gefahr = Alarm = Streßreaktion. Vegetative Reaktionen auf bestimmte Reize werden genauso gelernt wie etwa Lesen und Schreiben. »Gewöhnt« man sich daran, in gewissen Situationen der Angst mit erhöhtem Pulsschlag zu reagieren, so kann dies dazu führen, daß sich diese Reaktion immer mehr verfestigt. Auch bei weniger ausgeprägter Angst wird dann der Puls mit Beschleunigung, also eigentlich »unangepaßt«, reagieren! Natürlich wird eine angepaßte Reaktion genauso erlernt. Ein Kind, das beim Anblick eines Karussells zunächst noch Furcht empfindet, wird nach den ersten angenehmen Erfahrungen diesen Anblick in Zukunft freudig begrüßen. Nach heutigen Erkenntnissen sind alle Lernvorgänge in verschiedenen Teilen des Gehirns gespeichert. Träger dieser Erinnerungen sind kleine Eiweißmoleküle (Engramme), die nach dem Erlernen bestimmter Dinge im Gehirn nachgewiesen werden können. Somit gibt es für alles einmal Erlernte - ob positiv oder negativ bestimmte Gedächtnismoleküle! Es werden aber nicht nur Tatsachen, sondern auch die mit dem Erinnerten verbundenen Gefühle - ob positiv oder negativ gespeichert. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wir erinnern uns an eine schöne Urlaubssituation: Damit rufen wir den gespeicherten Inhalt im Gehirn ab. Hierdurch -2 6 -

empfinden wir ein ähnliches Gefühl wie in der Urlaubssituation selbst, wahrscheinlich nur etwas abgeschwächter. Auch der Körper reagiert dann bei der Erinnerung daran wieder ähnlich wie bei der zurückliegenden Urlaubssituation. Atmung, Puls und Muskelanspannung verändern sich ein klein wenig, und wir verspüren einen Anflug des Wohlbehagens, das wir damals empfunden haben. Unser vegetatives Nervensystem ist also nicht nur durch äußere Reize, sondern auch durch unsere Gedanken und Vorstellungen zu beeinflussen. Was einerseits mal wieder die Einheit von Leib und Seele beweist, andererseits uns den Weg zeigt, wie man mit Streß umgehen kann. Einmal, indem man das vegetative Nervensystem durch angenehme Vorstellungen beruhigt und entspannt und zum anderen, indem man versucht, unangemessene Reaktionen wieder zu verlernen. »Positives Lebensgefühl und entspanntes Lernklima gehören zusammen.« Die Informationsverarbeitung unseres Nervensystems verläuft im Zustand der Freude ohne störende Widerstände. Jeder kennt dies aus eigener Erfahrung oder vom Umgang mit seinen Kindern. Dabei weiß jeder, wie hervorragend lernfähig Menschen und gerade Kinder sind, wenn beispielsweise Informationen im Spiel und ohne Angst und Druck aufgenommen werden. Die Muttersprache ist dafür ein gutes Beispiel. Ebenso werden, vorwiegend im unbefangenen Umgang mit dem Beruf der Eltern, Fertigkeiten ohne Anstrengung übernommen. Es ist also eigentlich töricht zu sagen: »Erst Lernen, dann kannst du spielen.« Die notwendige, konzentrierte Sachbezogenheit ist auch, wie wir heutzutage wissen, spielend vorhanden. Die Erfahrungen aus solchen Situationen sind buchstäblich unvergeßlich. Demzufolge sollten wir auch davon ausgehen, daß das Erlernen von Entspannung nicht heißen kann: »Ich muß entspannen«, sondern: »Ich erlebe mich in der Entspannung.« Gerade durch die Erfahrung unserer eigenen Schulzeit haben viele von uns die Überzeugung in sich, daß Lernen Arbeit und Anstrengung sein muß. Die Auffassung -2 7 -

ist leider tief verwurzelt und führt eher zu: »Du mußt dich mehr konzentrieren« (nur nicht entspannen). Aber: Je mehr wir in unser Gedächtnis aufnehmen sollen, um so tiefer muß die Entspannung sein.

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Der richtige Umgang mit den Streßsignalen Glücklicherweise ist der Mensch keine »ReizReaktionsmaschine« oder funktioniert wie ein Computer, bei dem alles planbar und berechenbar ist. Unsere Reaktionen sind vielmehr von den Erfahrungen abhängig, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln und damit bei jedem Menschen verschieden. Wie schon besprochen, werden auch die vegetativen Reaktionen auf einzelne Reize oder ganze Reizkonstellationen erlernt. Bei starken Belastungssituationen egal ob geistiger oder körperlicher Art - kommt es zu kurzzeitigen Fehlsteuerungen, die aber in der Regel nicht krankmachend wirken. Wie schon erwähnt, sind solche Alarmreaktionen des Körpers auf Streß-Signale eine nützliche Aktivierung, um eine optimale Anpassung des Organismus an die jeweilige Situation zu gewährleisten. Auch in der Tierwelt hat eine solche Reaktion den Sinn, die Verteidigungs- oder Fluchtbereitschaft schnell herzustellen. Selbst bei uns wird ja völlig »instinktiv« ein Distreß-Reiz mit einer Körperreaktion, wie etwa Blutdruckanstieg, beantwortet. Die allermeisten, täglich anfallenden Streßreize, die einen kurzzeitigen Alarmzustand des Körpers bewirken, führen nicht zu bleibenden Fehlfunktionen, sondern der Körper entspannt sich ohne äußere oder innere Hilfe nach einer Weile wieder. Dabei muß man aber immer bedenken, daß die individuelle Belastbarkeit in Bezug auf Reizüberflutungen, also Distreß, höchst unterschiedlich ist. Unsere Belastbarkeit ist dabei in erster Linie von den im Laufe des Lebens erlernten Bewältigungsstrategien zum Streßabbau abhängig. Unter »Bewältigungsstrategien« versteht man die allgemeine Fähigkeit, auf bewußter wie unbewußter Ebene auf jede Art von Streß (Eu- und Distreß) zu reagieren. Das wichtigste dabei ist, die Körpersignale, die eine -2 9 -

Streßsituation anzeigen, zu erkennen und richtig zu deuten, um überhaupt an einer Bewältigung arbeiten zu können. Zum besseren Verständnis einige Beispiele aus dem Alltag. Wer wegen einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber, vielleicht ein Streit mit dem Chef wegen einer fälligen Gehaltserhöhung, am gleichen Abend schlechter einschlafen kann, wird sicher nicht aufgrund dieses einmaligen Ärgers bleibende Einschlafstörungen behalten. Hier wird die Reaktion »schlechter Schlaf« als Folge des Distresses am nächsten Tag bewältigt sein, wenn das Problem ›Gehaltserhöhung‹ gelöst ist. Alarmierend wird das Ganze erst, wenn die Einschlafstörungen bestehen bleiben, weil das Problem Gehaltserhöhung nicht befriedigend gelöst werden konnte. Nach einer Weile wird nämlich der Auslöser: »Ich bin ärgerlich und angespannt, weil ich mich unterbezahlt und deshalb nicht genügend anerkannt fühle!« in Vergessenheit geraten und zurück bleibt die Schlafstörung, für die dann eine organische Ursache gesucht wird. Der Griff zum Schlafmittel kann nur die Symptome mildern, aber nicht die Ursachen, die ja in der gekränkten Psyche liegen, beseitigen. Unsere körperliche Gesundheit hängt also ganz eng mit unserer seelischen Ausgeglichenheit zusammen, oder - anders herum formuliert - seelische Probleme können sich durch körperliche Störungen bemerkbar machen. Schädlich ist dabei nicht so sehr der Streß, sondern der falsche und unangemessene Umgang mit ihm, die Mißdeutung der Körpersignale und der fehlende gesteuerte Abbau der Erregung. Zwar ist unser Körper grundsätzlich ganz gut in der Lage, auch mit den Belastungen durch Streß fertig zu werden, aber nur, wenn diese Belastungen nicht zu groß und zu langandauernd sind. Erst das wiederholte, chronische Überschreiten der individuellen Reizgrenzen führt zu dauerhaften Störungen bis -3 0 -

hin zu den typischen psychosomatischen Erkrankungen wie Magengeschwür, Herzinfarkt, Bluthochdruck oder ähnlichem. Streß ist also nicht grundsätzlich schädlich, nur ein Übermaß davon verkraften wir nicht. Lassen wir zu diesem Thema den bekanntesten Streßforscher Selye zu Wort kommen, der folgende Definition von Eu- und Distreß gibt: »Streß ist die unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Anforderung, die an ihn gestellt wird.« Das Ergebnis der Reaktion unseres Organismus bezeichnet er als »allgemeines Adaptationssyndrom«. Ist genügend Energie zur Anpassung an die und zur Bewältigung der Situation vorhanden, fördert Streß sogar unser Wohlbefinden. Man bezeichnet ihn dann als Eustreß. Denken Sie dabei noch einmal an das Bild eines wiederaufladbaren Akkumulators, der ruhig einmal entladen werden soll, jedoch immer wieder aufgeladen werden muß. Selye sagt dies so: »... Streß ist nicht nur unser ständiger Begleiter, er ist auch die Würze unseres Lebens. Nur Distreß ist jedermanns Feind.« Was liegt also näher, als die Lernfähigkeit die wir haben, zu nutzen und uns nach Methoden umzuschauen, die den LeibSeele-Akkumulator durch gezielte Entspannung nachladen?

Stressoren Alle auftretenden Reize, gleichgültig ob sie in ihrer Wirkung zu Eustreß oder zu Distreß führen, werden als »Stressoren« bezeichnet. Ein Stressor ist also zunächst ganz wertneutral ein Reiz, der in unserem Körper den sogenannten »fight-or-flightresponse« (siehe Seite 22 ff.) auslöst. Je intensiver (oder bedrohlicher) der Reiz ist, desto heftiger fällt allerdings die Reaktion aus. Wir wollen uns im folgenden mit den Stressoren, die Distreß erzeugen, etwas näher beschäftigen. Ganz allgemein können wir drei Arten verschiedener Stressoren, die man auch als »Reize größerer Intensität« -3 1 -

bezeichnen kann, unterscheiden: 1. Stressoren aus der nächsten Umgebung, wie etwa Lärm, Hitze, Schmerz, Schlafentzug oder Sauerstoffmangel, also körperlicher Streß. 2. Innere Stressoren, wie beispielsweise psychische Daueranspannung oder ständiger Kontrollzwang des eigenen Handelns. Auch psychische Isolation und die Einsamkeit zählen hierzu. All dies fällt unter den Begriff: seelischer Streß. 3. Soziale Stressoren, die mit dem Sozialstatus gekoppelt sind wie eine Wettbewerbssituation oder gesellschaftliche Zwänge. Auch eine Veränderung des persönlichen Sozialstatus (wie Auf- oder Abstieg im Beruf) stellt einen erheblichen Stressor dar. Auch eine Eheschließung zählt dazu. Das alles bezeichnet man als sozialen Streß. Ist jemand dauernd körperlichem, seelischem oder sozialem Streß ausgesetzt, reagiert der Körper auf die ständige Überforderung zunächst mit einer Herabsetzung seiner Leistungsfähigkeit und -bereitschaft. Hört die Belastung dann immer noch nicht auf, kommt es irgendwann einmal zu psychosomatischen Erkrankungen, also zu Krankheiten, die sich zwar körperlich äußern, aber seelische Ursachen haben. Das wohl bekannteste Beispiel dafür sind Magengeschwüre. Aber auch viele allergische Reaktionen haben ihre Ursache in seelischen Leiden. Wirken gar mehrere dieser Stressoren gemeinsam, ist diese Reaktion fast unvermeidlich, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. Dann kommt es nämlich zu dem sogenannten »sekundären« Streß, der dadurch entsteht, daß sich viele primäre Streßreaktionen summieren und es durch dieses Übermaß an Belastung zu einer psychosomatischen Überlaufreaktion kommt. Die Grafik verdeutlicht diesen Prozeß:

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Abbildung 6: Schematische Darstellung der Wirkung von Dauerstreß auf den Organismus

Wichtig für uns alle ist daher, die primären Streßauslöser zu erkennen, um hier an der Wurzel des Übels ansetzen zu können. Ein Aufstauen bis hin zu einer psychosomatischen Erkrankung könnte dadurch verhindert werden.

Die Wechselwirkung von Schmerz und Streß Chronische Schmerzen sind bedeutsame Distreßfaktoren des täglichen Lebens. Umgekehrt kann aber auch extremer Streß zu körperlichen Schmerzen führen. Diese Koppelung stellt auf Dauer einen »circulus vitiosus« dar, der, je länger der Regelkreis Streß - Schmerz - Streß besteht, kaum mehr auf seine Ursprünge hin zurückgeführt werden kann. Die Frage, was zuerst da war, »Henne oder Ei?« kann nicht mehr entschieden werden. Auch -3 3 -

die behandelnden Ärzte stehen dann oft vor der Schwierigkeit, sowohl die körperliche Seite des Schmerzes wie den seelischen Anteil behandeln zu müssen. Je länger ein Schmerz gleichgültig welche Ursache er hat - aber besteht, desto wichtiger wird die psychische Seite des Schmerzes, denn die immer wiederkehrenden Schmerzattacken oder eine andauernde Pein führen unweigerlich zu Reizbarkeit und Verstimmungen. Daher sind viele chronische Schmerzpatienten depressiv, ohne daß sie dies erkennen und sich eingestehen mögen. Allzuoft vertritt der Patient auch die Meinung, daß seine Schmerzen organische Ursachen haben müssen, schon um dem Arzt gegenüber glaubwürdig zu sein. Leider wird dabei immer wieder der seelische Schmerz verdrängt und nur nach dem Organschaden gesucht. Psychosomatische Erkrankungen infolge chronischer Schmerzen sind jedoch in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Besonders die depressiven Entwicklungen, die aufgrund chronischer Schmerzen oft stattfinden, werden gerne ›weggelogen‹: Man hat es schließlich nicht an den Nerven und tut alles, um die Ursachen in den körperlichen und somit sozial akzeptierten Bereich zu verlagern. Oft bleibt dann nur noch der Griff zu Schmerz- oder Beruhigungsmitteln, um den Schmerz zu übertönen. Eine fatale Fehleinschätzung, die lediglich in einer Medikamentenabhängigkeit enden kann! Der scheinbar einfache und schnelle Weg, mit Hilfe von Tabletten Abhilfe zu schaffen, ist anfänglich auch viel bequemer als andere Wege, die Eigeninitiative und Problembewußtsein erfordern. Tabletten decken bestenfalls den Schmerz zu! Eine Heilung ist aber so nicht möglich, sondern erst, wenn die seelischen ernstgenommen und verarbeitet werden. Schmerz - welche Ursache er auch hat - ist grundsätzlich als Alarmsignal zu verstehen, hat also die wichtige Aufgabe, uns rechtzeitig zu warnen und vor größerem Schaden zu bewahren. Schmerzen sollen und müssen deshalb immer ernstgenommen werden. Aber gerade Schmerzen, die ihre Ursache in seelischen -3 4 -

Wunden haben, sollten auch auf diesem Gebiet angegangen werden.

Die Warnsignale des Körpers Die ganzheitliche Reaktion unseres Körpers auf Streß-Signale hat auch Eingang in unsere Alltagssprache gefunden. Denken wir nur einmal an bestimmte Redewendungen, die unser psychosomatisches Erleben sehr gut schildern: »Sich den Kopf zerbrechen...« »An die Nieren gehen...« »Unter die Haut gehen...« »Alles in sich hineinfressen...« »Weiche Knie bekommen...« »Ärger, der auf den Magen schlägt...« »Angst, die im Nacken sitzt...« »Der Schreck, der uns den Atem stocken läßt...« »Sich etwas zu Herzen nehmen...« »Jemandem etwas husten wollen...« Jeder sollte die Signale seines Körpers, die ihm ein Zuviel an Distreß anzeigen, kennen und deuten lernen. Eine Fehlinterpretation der nützlichen Alarmzeichen könnte nämlich fatale Folgen haben. A. T. Simons, der sich intensiv mit der Erforschung psychosomatischer Erkrankungen beschäftigte, formuliert dazu: »Wenn diese einst normalen und potentiell wichtigen Furchtreaktionen nicht mehr als solche bewußt werden, interpretiert der moderne Mensch sie als etwas Abnormes und betrachtet sie als Leiden. Er spricht von Verdauungsstörungen, wenn Furchtsamkeit ihm den Appetit raubt, und von Schlaflosigkeit, wenn Angst ihn nachts wachhält. Die plötzliche Ausscheidung überflüssiger Stoffe aus dem Körper nennt er Durchfall, das feste Zusammenziehen seiner -3 5 -

Rückenmuskulatur Hexenschuß...« Normalerweise dauern unsere natürlichen Alarmreaktionen nur kurze Zeit an, und die bereitgestellten Energien werden sehr bald durch das Abreagieren in einer Handlung verbraucht. Gerade hierbei kommt es in unserer heutigen Zeit durch die vermehrten sozialen Zwänge und die fehlende Abfuhr der daraus resultierenden Ängste zu einem »Stau«! Denn in den allermeisten Fällen kommt es heutzutage nicht mehr zu einem befreienden »Abreagieren« etwa durch das Zeigen seiner Gefühle, durch Bewegung oder durch Lachen oder Weinen. Keiner darf schreien, wenn ihm dazu zumute wäre! Genau aus diesem Grunde (Verdrängung, Aufstau und fehlendes Abreagieren) kann es aber zu den psychosomatischen Erkrankungen kommen. Bei psychosomatisch gestörten Personen stellt man ein ständig erhöhtes Aktivierungsniveau fest! Immer wieder werden trotzdem die körperlichen Signale der erhöhten Erregung ignoriert, anstatt sie als Hinweise der seelisch-körperlichen Belastungsgrenze zu akzeptieren. In unserer heutigen hochtechnisierten Zeit wirken die verschiedensten Streßreize unaufhörlich auf uns ein, sicherlich mehr und anders, als es noch vor Hunderten von Jahren der Fall war. Die meisten im späteren Leben psychosomatisch Erkrankten machen den Fehler, frühe Anzeichen für eine Fehlfunktion zu ignorieren. Statt die Sprache des Körpers ernst zu nehmen und etwas gegen den Distreß zu unternehmen, versuchen viele Menschen, sich an die Reizsituation zu gewöhnen. Sie suchen den Fehler anfänglich bei sich und stellen dann an sich selbst die Forderung, noch stärker, noch belastbarer, noch leistungsfähiger zu werden! Aus diesem Grunde kommt es dann auch im Laufe der Zeit bei diesen Menschen zu einer immer größer werdenden Spaltung zwischen Geist und Körper. Der Verstand wird eingesetzt, um die Körpersignale zu überspielen. Produktive Möglichkeiten, das eigene Verhaltens zu ändern, werden -3 6 -

ungenutzt gelassen auf Kosten der Gesundheit! Allzu oft sind es dabei die anfänglich nur schwachen Signale, die übersehen werden. Dadurch wird der Streß aufgestaut, denn steter Tropfen höhlt den Stein. Neuere Forschungen haben gezeigt, daß es eine deutliche Beziehung bestimmter Verhaltensweisen zu psychosomatischen Erkrankungen gibt. Danach gibt es bestimmte Persönlichkeitstypen mit spezifischen Verhaltensweisen, die für eine bestimmte Art von Erkrankung prädestiniert sind. Friedmann und Rosenman, zwei Herzspezialisten in San Franzisko, entdeckten bei Herzinfarktpatienten immer wiederkehrende Verhaltensmuster. Sie stellten in Untersuchungen (1974) fest, daß Herzkranke in ihrer Persönlichkeit besonders ungeduldig, aggressiv, außerordentlich zielstrebig, ehrgeizig und ruhelos sind. Diese Menschen bezeichneten sie in ihren Studien als TYP-AMenschen. Andere, die nicht die oben genannten Eigenschaften besaßen, erkrankten weit weniger am Herzen und wurden TYPB-Menschen gena nnt. Auch anderen (psychosomatischen) Erkrankungen konnten durch die Forschungen der letzten Jahre bestimmte Persönlichkeitsprofile zugeordnet werden. So gibt es auch einen Migräne- oder Kopfschmerz- Typ. Bei diesen Menschen treten im Zusammenhang mit dem Erscheinen der Kopfschmerzen Angstgefühle und unterdrückte Spannungen auf. Die Gefühle sind so gut getarnt (verdrängt), daß sich der Patient dessen gar nicht bewußt wird. Es wurde festgestellt, daß ein typischer Migräneanfall dann verhindert werden konnte, wenn es gelang, der unterdrückten Feindseligkeit Luft zu machen. Den Testergebnissen zufolge sind »Kopfschmerztypen« eher ehrgeizig, perfektionistisch, streng und ordentlich. Es konnten auch Verhaltensweisen, die krebsfördernd wirken, identifiziert werden, wobei auch hier in der Hauptsache chronischer Distreß und dessen fehlende Abfuhr zur Entstehung -3 7 -

bösartiger Tumore beitragen soll. Das Gesagte veranschaulicht uns allen in erster Linie die Gefährlichkeit der Verleugnung der Körpersignale. Die wichtigste Aufgabe eines jeden ist das Kennenlernen der eigenen Verhaltensweisen auf Distreß. Erst im nächsten Schritt können wir dann zur Vermeidung oder Minderung von Distreß-Auswirkungen nach Methoden suchen, die uns einen Ausgleich schaffen. Nehmen Sie vor allem Abstand von der Forderung an sich selbst, ein besonders hohes Streßniveau ertragen oder unterdrücken zu wollen.

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Testen Sie Ihre Streßgefährdung Den meisten Menschen ist zwar durchaus klar, daß sie - sei es am Arbeitsplatz oder zu Hause - vielen Streßreizen ausgesetzt sind, aber ihnen ist oft nicht bewußt, ob es sich noch um Eustreß oder schon um Distreß handelt. Die beiden folgenden Fragebogen sollen Ihnen bei der Bestimmung Ihrer individuellen Streßgefährdung behilflich sein. Im ersten Fragebogen geht es um aktuelle Streßsymptome, egal, ob sie sich auf körperlicher, emotionaler oder geistiger Ebene äußern. Der zweite Fragebogen befaßt sich mit Lebenskrisen, die auch einen erheblichen Streßfaktor darstellen können. Erzielen Sie in einem oder gar beiden Fragebogen alarmierende Werte, sollten Sie umgehend etwas gegen den Streß in Ihrem Leben unternehmen. Aber auch wenn die Symptome und Belastungen noch nicht so ausgeprägt sind, ist es empfehlenswert, das Erlernen einer Entspannungstechnik ins Auge zu fassen, denn solange Sie vom Streß noch nicht geschädigt sind, ist Entspannung und Streßabbau viel leichter zu erlernen. Und natürlich ist es immer sinnvoller, den Anfängen zu wehren, so daß es gar nicht erst zu einer krankmachenden Überbeanspruchung kommen kann.

Das aktuelle Streßprofil Streßsymptome sind so vielfältig und individuell verschieden wie Streßreize. Aber ein paar Anhaltspunkte, die anzeigen, daß der Körper anfängt, auf die Streßbelastung mit Leistungsabfall und eventuell auch mit Krankheiten zu reagieren, gibt es schon. Der Fragebogen auf Seite 43 ff. soll Ihnen eine Hilfe sein, Ihre ganz persönlichen Streßsymptome kennenzulernen und Ihnen über das Ausmaß der Belastung Aufschluß geben. Streß äußert sich auf drei Ebenen: der körperlichen, der -3 9 -

emotionalen (oder seelischen) und der geistigen. Für den Fragebogen wurden diese drei Ebenen zwar streng getrennt, aber in Wirklichkeit sind sie natürlich nicht unabhängig voneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Jemandem, der tagsüber oft müde und abgespannt ist (körperliche Ebene), wird vielleicht auch die rechte Motivation fehlen, die Dinge energisch voranzutreiben (emotionale Ebene) und infolgedessen mehr als früher unter Entscheidungsunfähigkeit leiden (geistige Ebene). Der Fragebogen ist ganz leicht zu bearbeiten. Vergeben Sie einfach für jeden Satz, dessen Aussage auf Sie zutrifft, einen Punkt, und zählen Sie die Punkte pro Ebene zusammen. Anschließend wird der Mittelwert berechnet, indem Sie die Punktzahl aller drei Ebenen addieren und dann durch 3 teilen. Hier ein Beispiel: Person X hat auf der körperlichen Ebene 8 Punkte, auf der emotionalen 6 und auf der geistigen 2 Punkte erhalten. Der Mittelwert beträgt (8+6+2): 3 = 16/3 = 5,3. Als Streßprofil dargestellt, sieht dieses Ergebnis dann folgendermaßen aus:

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Abbildung 7: Beispielprofil für den Fragebogen zu Streßsymptomen

Das Streßprofil zeigt deutlich, daß X auf der körperlichen Ebene viele Streßsymptome zeigt und auch im emotionalen Bereich recht belastet ist. Insgesamt ergibt sich eine mittlere Gefährdung seiner Gesundheit und in diesem Fall empfiehlt es sich durchaus, nach Methoden, den Streß zu bewältigen und zu verringern, Ausschau zu halten. Ein Gang zum Arzt ist auf jeden Fall erforderlich, nicht nur, um zusammen mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen, sondern auch, um durch ihn klären zu lassen, ob es für die vorhandene Fehlsteuerung nicht doch eine organische Ursache gibt, die natürlich behandelt werden muß. Ihr ganz persönliches Streßprofil, auch wenn es sich hier um einen statistisch nicht weiter abgesicherten, einfachen -4 1 -

Fragebogen handelt, können Sie auf zweierlei Arten nutzen. Zum einen können Sie feststellen, ob und in welchen Bereichen Ihr Körper auf Streß reagiert - je nachdem, auf welcher der drei Ebenen Sie den höchsten Punktwert erreichen. (Die Vordrucke für Ihr ganz persönliches Streßprofil finden Sie auf Seite 46 ff., weitere Hinweise zur Interpretation der Ergebnisse auf Seite 54 ff.) Des weiteren mag es auch nützlich sein, sich die Aussagen, auf die Sie mit »trifft für mich zu« geantwortet haben, noch einmal in Ruhe anzusehen. So können Sie Anhaltspunkte dafür gewinnen, wie Ihr Körper auf Streß reagiert, denn das ist ja bei jedem verschieden. Das kann Ihnen eine große Hilfe sein, denn erst die Erkenntnis, daß es sich bei einer bestimmten Störung um ein Streßsymptom handelt, macht uns für dieses Körpersignal sensibel. Die zweite Möglichkeit, dieses Streßprofil zu nutzen, besteht in der Kontrolle der Wirkung eines Entspannungstrainings. Bevor Sie mit dem Erlernen einer Entspannungsmethode, wie etwa dem autogenen Training, beginnen, sollten Sie Ihre Ausgangslage feststellen und im Streßprofil einzeichnen. Nach etwa vier Wochen können Sie sich die Fragen wieder stellen und anhand des zweiten Streßprofils überprüfen, ob und was sich geändert hat. Nach weiteren drei Monaten des Praktizierens einer Entspannungsmethode sollten sich Ihre Streßsymptome insgesamt verringert haben. Wenn das nicht der Fall ist, müssen Sie unbedingt mit Ihrem Arzt sprechen.

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Fragebogen zu Streßsymptomen Für jede Aussage, deren Inhalt auf Sie zutrifft, vergeben Sie bitte einen Punkt, trifft die Aussage nicht zu, gibt es keinen Punkt. Körperliche Ebene Trifft zu 1. Ich leide unter Einschlafoder O Durchschlafstörungen. 2. Ich bin tagsüber oft müde und abgespannt. O 3. Ich habe öfter Verdauungsstörungen (Verstopfung O oder Durchfall). 4. Ich bin bei nichtigen Anlässen schwindelig. O 5. Ich habe öfter Herzjagen. O 6. Bei nichtigen Anlässen bekomme ich O Atembeschwerden. 7. Ich leide öfter unter Schweißausbrüche n. O 8. Ich verspüre öfter Magendruck. O 9. Ich reagiere oft mit Kopfschmerzen. O 10. Mein Blutdruck ist erhöht oder erniedrigt. O 1. Summe: körperliche Ebene ________

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Emotionale Ebene Trifft zu 1. Ich fühle mich oft allein, verlassen oder isoliert! O 2. Meine Stimmungslage ist oft deprimiert, auch O ohne besondere Anlässe! 3. Am liebsten würde ich mich verkriechen! O 4. Ich habe wenig Gelegenheit, meine Gefühle zu O äußern oder auszuleben! 5. In letzter Zeit verliere ich öfter die Selbstkontrolle! O 6. Ich fühle mich bedroht und bin ängstlicher als O früher! 7. Ich bin oft plan- und ziellos! O 8. Mir fehlt in letzter Zeit die Motivation, Dinge O anzufassen! 9. Meine Reaktionen sind öfter unangemessen heftig! O 10. Ich bin nervöser, gehemmter als früher! O 2. Summe: emotionale Ebene ________

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Geistige Ebene Trifft zu l. Die Konzentration und Merkfähigkeit ist bei mir O in Konfliktsituationen schlechter als früher! 2. In Beruf und Freizeit hat sich eine allgemeine O Interesselosigkeit entwickelt! 3. Meine Selbstkontrolle und Disziplin hat in letzter O Zeit abgenommen! 4. Ich vergesse öfter als früher wichtige Dinge! O 5. Es fällt mir schwer, neue Dinge zu lernen! O 6. Ich spüre öfter Entscheidungsunfähigkeit und O Gleichgültigkeit! 7. Ich habe öfter das Gefühl, nicht mehr mitreden zu O können. 8. Viele Dinge beginnen mir über den Kopf zu O wachsen! 9. Ich kann weniger in Ruhe und nacheinander O Arbeiten erledigen als früher! 10. In Gesprächen verliere ich manchmal den roten O Faden! 3. Summe: geistige Ebene ________

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Mein ganz persönliches Streßprofil

Abbildung 8: Ausgangslage

Datum:_____

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Mein ganz persönliches Streßprofil

Abbildung 9: 4 Wochen nach Beginn eines Entspannungstrainings Datum:_______

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Mein ganz persönliches Streßprofil

Abbildung 10: 3 Monate nach Beginn eines Entspannungstrainings Datum: _____

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Mein ganz persönliches Streßprofil

Abbildung 11: Nach 6 Monaten Entspannungstraining

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Datum:_______

Interpretationshilfen zum Streßprofil Haben Sie anhand des Fragebogens und Ihres ganz persönlichen Streßprofils festgestellt, daß Ihre Gesundheit durch Streß gefährdet oder gar stark gefährdet ist, sollten Sie ernsthaft mit sich zu Rate gehen und etwas gegen den Streß in Ihrem Leben unternehmen. Tips für geeignete Maßnahmen finden Sie in den folgenden Abschnitten. Die dort angesprochenen Entspannungstechniken wie autogenes Training, progressive Muskelentspannung, Biofeedback, Yoga und Meditation werden im zweiten Teil des Buches erklärt. Im Grunde handelt es sich immer um denselben Maßnahmenkatalog, der vorgeschlagen wird, aber je nachdem, in welchen Bereichen die Symptomatik am stärksten ist, sind die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt. Jemand, der auf Streß in erster Linie mit körperlichen Verspannungen reagiert, muß deshalb in erster Linie versuchen, seinen Körper durch Massagen und Sport zu entkrampfen. Personen, die eher mit emotionalen oder geistigen Fehlsteuerungen reagieren, sollten in erster Linie versuchen, Geist und Seele zu entspannen. Körperliche Ebene Wenn Sie die meisten Streßsymptome auf der körperlichen Ebene haben, stehen Ihnen folgende Methoden zur Streßbewältigung zur Verfügung: 1. Physikalische Maßnahmen, die Ihre vegetativen Funktionen verbessern, wie Massagen, regelmäßige sportliche Aktivitäten (Schwimmen, Sauna, Wechselduschen, Spaziergänge) 2. Autogenes Training (siehe Seite 64 ff.) 3. Progressive Muskelentspannung nach Jacobson sowie Biofeedback (siehe Seite 57 und 58 ff.) -5 0 -

4. Yoga (siehe Seite 61 ff.) 5. Verbesserung Ihrer Ernährungsgewohnheiten (weniger fett essen, salzärmere und vitaminreichere Kost, weniger Kaffee- und Alkoholkonsum) Emotionale Ebene Wenn Ihre Streßsymptome vornehmlich auf der emotionalen Ebene liegen, sollten Sie mit einer leicht geänderten Schwerpunktverteilung, aber mit denselben Verfahren arbeiten. 1. Autogenes Training (siehe Seite 64 ff.) 2. Biofeedback (siehe Seite 58 ff.) 3. Meditation (siehe Seite 61 ff.) 4. Yoga (siehe Seite 61 ff.) 5. Verbesserung Ihrer Ernährungsgewohnheiten (vitaminreichere Kost, wie Vollkorngetreide, Rohkost und fettarme Milchprodukte) 6. Physikalische Maßnahmen wie regelmäßige sportliche Aktivitäten Geistige Ebene Wenn Ihre Streßsymptome hauptsächlich auf geistiger Ebene liegen, könnten Sie mit dem nachfolgenden Maßnahmenkatalog größtmögliche Erfolge erzielen: 1. Autogenes Training (siehe Seite 64 ff.) 2. Meditation (siehe Seite 58 ff.) 3. Biofeedback (siehe Seite 61 ff.) 4. Konzentrationsübungen, wie wieder mal ein Gedicht auswendig lernen 5. Verbesserung Ihrer Ernährungsgewohnheiten (leichte, aber eiweißhaltige Kost, Verminderung des Kaffee- und Alkoholkonsums)

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Lebenskrisen sind Streßsituationen Immer, wenn sich in unserem Leben eine Veränderung abspielt, kommt es zu Streßreaktionen. Das ist eine ganz natürliche Anpassung des Körpers an die Anforderungen der neuen Situation, die Flexibilität und erhöhte Aufmerksamkeit erfordert. Wenn aber zuviel dieser streßerzeugenden Situationen aufeinandertreffen, kann es auch hier, wie immer, wenn der Distreß zu groß wird, zu streßbedingten Fehlsteuerungen und eventuell auch zu psychosomatischen Erkrankungen kommen. Die beiden Streßforscher Holmes und Rahe haben das Verhalten in solchen Krisensituationen des Lebens jahrelang untersucht und eine Rangliste der Belastung, die von den verschiedenen Situationen ausgeht, erstellt. Diese sogenannte »Life-event«-Forschung hat zu der Entwicklung des folgenden Fragebogens geführt, durch den man Aufschluß über sein persönliches Streßniveau des letzten Jahres gewinnen kann. Gehen Sie alle Fragen nacheinander durch, und beantworten Sie sie jeweils mit einem »Trifft auf mich zu« oder »Trifft auf mich nicht zu«. Hat es in den letzten zwölf Monaten eine der Situationen in Ihrem Leben gegeben, addieren Sie die dazugehörige Punktzahl zu Ihrem Punktekonto. Hinweise zu Interpretation der Ergebnisse finden Sie im Anschluß an den Fragebogen.

Welche Streßfaktoren birgt Ihr Leben? Addieren Sie die Punkte für alle Situationen der letzten zwölf Monate, die auf Sie zutreffen! Partnerschaft und Ehe Tod eines Ehegatten 100 Scheidung 73 -5 2 -

Trennung vom Partner Eheschließung Versöhnung mit dem (Ehe-) Partner Sexuelle Schwierigkeiten Wiederholter Streit mit dem Partner Partner beginnt oder beendet Arbeitsverhältnis

65 50 45 39 35 26

Familie und Kinder Tod eines Familienangehörigen Krankheit eines Familienangehörigen Schwangerschaft (eigene oder die des Partners) Geburt eines Kindes Kind verläßt das Elternhaus Schwierigkeiten mit den Schwiegereltern Einschulung bzw. Schulabgang eines Kindes Schulwechsel eines Kindes Längere Besuche von Verwandten

63 44 40 39 29 29 25 20 15

Beruf und Arbeit Kündigung des Arbeitsverhältnisses Pensionierung Beruflicher Aufstieg Versetzung an einen anderen Arbeitsplatz Wechsel der Firma Ärger mit dem Chef Veränderte Arbeitszeiten

47 45 39 36 29 23 20

Finanzielle Verhältnisse Veränderung der finanziellen Verhältnisse -5 3 -

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Schulden über 25.000 DM Zwangsvollstreckung Kredit über 25.000 DM

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Persönlicher Bereich Gefängnisstrafe Unfall oder schwere Krankheit Tod eines guten Freundes Persönliche Überbeanspruchung Jegliche Veränderung der Lebensgewohnheiten Neue Freizeitbeschäftigung Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang Veränderte Schlafgewohnheiten Neue Eßgewohnheiten (Fasten, Gewichtszunahme) Kleinere Gesetzesübertretungen

63 53 37 28 24 19 18 16 15 10

Gesamtpunkte:________

Hinweise zur Interpretation 0 bis 150 Punkte: Ihre Streßbelastung ist gerade richtig, sie liegt noch im Bereich des Eustresses. Gesundheitliche Schäden aufgrund von Streß sind bei Ihnen kaum zu befürchten. 151 bis 300 Punkte: Wenn Sie in diesem Punktbereich liegen, gefährdet zu viel Streß schon Ihre Gesundheit. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Streß gesundheitliche Probleme bringt, liegt in diesem Bereich bei 51%. Sie sollten unbedingt einen Arzt aufsuchen und sich über Möglichkeiten des Streßabbaus - wie etwa das autogene Training - informieren. -5 4 -

über 301 Punkte: In diesem Bereich ist das Risiko einer ernsthaften Erkrankung aufgrund der hohen Belastung durch Streß 80%! Haben Sie diese Punktzahl erreicht, müssen Sie unbedingt Ihren Arzt aufsuchen, da Ihre Gesundheit vermutlich schon ernstlich angegriffen ist. Ganz wichtig ist, daß Sie eine Methode für sich finden, den übermäßigen Streß abzubauen.

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Streßbewältigung durch Entspannung Sie haben sich nun entschlossen, eine Entspannungstechnik zu erlernen, um den Streß in Ihrem Leben abzubauen. Gleichgültig, für welche der im folgenden vorgestellten Techniken Sie sich entscheiden, bedenken Sie vor Beginn des Trainings folgendes: 1. Sie sollten sich im klaren sein, daß das Erlernen einer Entspannungsmethode besonders schwierig ist, wenn Sie inmitten einer ›Krise‹ stecken. Das kann sowohl eine Erkrankung wie eine psychische Belastung sein. Idealerweise sollte daher die Lernphase nicht in einer solchen Krisenzeit liegen. Ist diese Situation nicht zu umgehen, fordern Sie nicht zuviel von sich, sondern seien Sie darauf gefaßt, daß Sie unter Umständen etwas mehr Zeit brauchen, bis auch bei Ihnen die Entspannung einsetzt. 2. In Absprache mit Ihrem Hausarzt sollte eine körperliche Abklärung Ihrer Beschwerden vorgenommen werden. Psychosomatik bedeutet ja nicht nur die Berücksichtigung der seelischen Ursachen der Fehlfunktion, sondern auch die körperliche Mitbetreuung. Oft kann hierbei auch der langsam eintretende Erfolg der Entspannung (wie etwa Reduzierung der Blutdruckmittel) durch den Arzt gemessen werden. Ein unkontrolliertes Absetzen der Medikamente ist dagegen gefährlich. Machen Sie also Verlaufskontrollen Ihrer Körperbeschwerden! Zum Beispiel mit dem Streßprofil von Seite 39 ff. 3. Zum Erlernen jeder Methode benötigen Sie Zeit und den Willen, einfache Übungen täglich durchzuführen. Und ein Soforterfolg ist kaum möglich. Wieviele Fahrstunden werden benötigt, um den Führerschein zu bestehen? Werden die Regeln dann beherrscht, wird Autofahren ein automatischer Ablauf. Für die Lernphase zum Beispiel des -5 6 -

autogenen Trainings müssen etwa drei Monate angesetzt werden, bis die Entspannungswirkung »automatisch« eintritt. Danach wird es Ihnen vermutlich so ergehen wie vielen: Eine positiv wirkende Gewohnheit der Selbstentspannung ist so verwurzelt, daß Sie gar nicht mehr darauf verzichten wollen. Immer wieder kann aber schon auch nach wenigen Wochen ein Erfolg bei den Lernenden gesehen werden, wie etwa die Reduzierung der Einnahme von Beruhigungs- oder Schlafmitteln, ein erholsamer Schlaf oder Abklingen psychosomatischer Störungen. 4. Wichtig für den Erfolg jeder Entspannungsmethode ist der Wille, kurze, 15 bis 25 Minuten dauernde tägliche Entspannungsphasen einzuschalten, um eine Besserung oder Behebung psychosomatischer Fehlfunktionen oder sogar Erkrankungen zu gewährleisten. In dieser Zeit sollten Sie sich gegen äußere Reize weitgehend abschirmen, also in ein ruhiges, unbenutztes Zimmer zurückziehen können.

Progressive Muskelentspannung Edmund Jacobson entwickelte eine Entspannungstherapie mit einem mehr physiologisch als psychologisch orientierten Ansatz. Diese sogenannte »progressive Relaxation« kennt sechs aufeinander aufbauende Übungen, durch welche der Übende lernt, sich tief zu entspannen! Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem stufenweisen Erlernen der Muskelentspannung unserer willkürlichen Muskulatur! Dabei betonte Jacobson immer wieder, daß seine Methode keine suggestive Technik sei. Systematisches Entspannen wird durch nacheinander durchgeführtes Anspannen und einige Minuten späteres Entspannen bestimmter Muskelgruppen erreicht. Der Übende liegt beispielsweise auf dem Boden, hat die -5 7 -

Augen geschlossen, hebt die Hand und ballt die Faust. Während er dies tut, muß er auf das Gefühl der Spannung im ganzen Arm achten. Dann läßt er den Arm fallen und achtet auf die Lockerung des Armes.

Abbildung 12: Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. Bei dieser Technik werden bewußt einzelne Muskeln möglichst stark angespannt, um damit im Anschluß eine besonders tiefe Entspannung zu erzielen.

Nach einigen Minuten der Ruhe wird die Übung wiederholt, wiederum mit anschließender Ruhephase! Im zweiten Schritt werden dann die Beine systematisch entspannt, dann folgt noch Atmung, die Stirn, die Augen sowie die gesamte Muskulatur. Ein gewisser Nachteil dieser Methode ist ihr relativ hoher Zeitbedarf. Es dauert 40 Minuten, bis alle Übungen vollständig durchgeführt sind. Die Wirkung ist jedoch durch das Ausnutzen des gegensätzlichen Erlebens von Anspannung und Entspannung sehr gut. Eine gekürzte Form der »progressiven Muskelentspannung«, einige Wochen lang geübt, kann das spätere Erlernen des autogenen Trainings erheblich erleichtern!

Biofeedback Das Wort bedeutet übersetzt »biologische Rückmeldung«. Gemeint ist damit, daß mittels kleiner elektronischer Geräte, die beispielsweise den Puls, die Muskelanspannung oder den -5 8 -

Hautleitwert registrieren, die jeweiligen vegetativen Körperfunktionen optisch oder akustisch rückgemeldet werden. So können zum Beispiel mit dem abgebildeten Gerät über die Elektroden, die an den Fingerinnenseiten aufgeklebt werden, die Veränderungen des Hautwiderstandes sieht- und hörbar gemacht werden, was ein Maß des jeweiligen Erregungsgrades ist. In Amerika sind solche Geräte, die den Hautleitwert zurückmelden, als »Lügendetektoren« sogar vor Gericht zugelassen. Bedacht werden muß jedoch dabei, daß immer nur Veränderungen des allgemeinen Erregungsniveaus abzulesen sind. Eine Wertung »Lüge« ist also mit Vorsicht zu interpretieren. Zurück zu der Anwendung solcher Geräte zur Eigenentspannung. Durch die Wahrnehmbarkeit von Körperfunktionen werden die Abläufe auch besser kontrollierbar. Beispielsweise kann die Rückmeldung der Atmung, ähnlich der Wirkungsweise des autogenen Trainings, einen tiefen Entspannungszustand fördern. So ist es also mit Hilfe dieser Geräte möglich, Körpervorgänge bewußt zu steuern. Es ist aber nicht besonders sinnvoll, irgendeine vegetative Funktion über die Sichtbarmachung zur Entspannungsförderung zu benutzen. Es zeigte sich, daß (in der Reihenfolge der Wirksamkeit aufgezählt) der Atemrhythmus, die Muskelspannung und der Hautwiderstand sich für eine tiefe Entspannung am besten eignen. Wie ist nun, ich setze voraus, Sie sind ein stolzer Besitzer eines kleinen Biofeedbackgerätes, diese Technik durchführbar? Auch wenn Sie mittels Biofeed entspannen möchten, benötigen Sie tägliche Übungen, um zum Beispiel die Muskelspannung zu reduzieren und um eine anhaltende Wirkung zu erreichen. Meine Erfahrung zeigt, daß diejenigen, die anfänglich besondere Probleme mit suggestiven oder meditativen Verfahren harten, mit Biofeedback gut und schnell entspannen lernten. Aufgrund der elektronischen Hilfsmittel wurde auch oft eine Gesamtentspannung schneller erreicht, als mit anderen Methoden. Allerdings wurde nach etwa drei bis vier -5 9 -

Monaten gerne auf die Biofeedbackgeräte verzichtet und autogenes Training oder Meditation weiter angewandt. Wer allerdings Zweifel an der Erlernbarkeit körperlichen Entspannung hat, wird durch Biofeedbackgeräte eine überze ugende Hilfe haben.

Abbildung 13: Wer ein solches Biofeedbackgerät besitzt, kann damit zu Hause trainieren. Die an die Finger angeschlossenen Elektroden messen den Hautleitwert. Das Gerät gibt durch akustische und/oder optische Signale Rückmeldung, ob dieser Wert wächst oder fällt.

Biofeedbackgeräte spiegeln den erlernbaren Entspannungszustand des Körpers wider. Dieser Spiegel kann für ungeübte Menschen eine Hilfe sein, um andere Entspannungstechniken danach einfacher zu erlernen. Der Lernprozeß selbst läuft in zwei Schritten ab: -6 0 -

Im ersten Schritt erlernt der Übende anhand der Rückmeldung über das Gerät seine veränderten Funktionen zu erleben. Dadurch wird es für viele erst einmal möglich, den eigenen Entspannungszustand zu erkennen. Danach können die meis ten Übungswilligen (nach einigen Wochen des täglichen Biofeedbacks) diesen Zustand auch ohne Gerät erreichen. In dieser zweiten Phase treten dann die gleichen Phänomene auf, die auch bei meditativen Verfahren vorhanden sind: eine innere Harmonie und Gelassenheit mittels Bildvorstellungen (Wiese, Meer, Wald), ohne daß die akustische oder optische Rückmeldung der Körperfunktionen erforderlich ist. Eine Abhängigkeit von einem Gerät, wie einige Kritiker einwenden, kann bei richtigem Gebrauch nicht auftreten. Die meisten Leute werden aber nicht bei der Biofeedback-Methode »stehenbleiben«, sondern sich später anderen, apparatelosen Verfahren zuwenden. Biofeedback ist dabei ein Mittel, durch das wir vielleicht die Kontrolle über unser Inneres erlangen können. Es kann uns durchaus helfen, die körperlichen Prozesse, durch die wir es unter Kontrolle bekommen können, zu verstehen. Es ist jedoch dabei wichtig, daß Biofeedback nicht mechanisch angewandt werden darf, sondern nur unter der Berücksichtigung der Gesamtpersönlichkeit des Menschen, seiner Psychodynamik, seiner Beziehung zu sich und seiner jeweiligen Lebensumstände. Es ist ja unmöglich, ein isoliertes körperliches Symptom wie Muskelspannung, Atmung oder Blutdruck zu behandeln, wenn nicht die gesamte persönliche Geschichte mit einbezogen werden würde.

Yoga und Meditation Beide Techniken sind aus dem Fernen Osten zu uns gekommen und haben inzwischen auch in unseren Kulturkreis Aufnahme gefunden. Es würde allerdings den Rahmen dieses Buches sprengen, die kulturellen und philosophischen -6 1 -

Hintergründe dieser fernöstlichen Versenkungstechniken zu erklären. Wer sich für diese Formen der Selbstentspannung entscheiden möchte, sollte sich durch die entsprechende Fachliteratur oder - noch besser - durch einen Lehrer einweisen lassen. Gemeinsam ist beiden Techniken, daß das Ziel eine konzentrative Versenkung in sich selbst ist, die zu einer inneren Harmonie und Gelassenheit führt. Und ist die Seele entspannt, entspannt sich auch der Körper und umgekehrt.

Abbildung 14: Yogaübungen haben sich als ein Weg zur Entspannung auch bei uns »Westlern« bewährt. Die dargestellte Übung, Baum genannt, stärkt das Gleichgewichtsgefühl, kräftigt die Beine und schenkt innere Ruhe.

Yoga geht dabei eher den Weg von außen nach innen. Durch -6 2 -

die Ausführung bestimmter Übungen, die eine jahrtausendealte Tradition haben, werden Verkrampfungen gelöst und so die innere Versenkung ermöglicht. Unter »Meditation« versteht man in erster Linie eine stille, tiefe Versenkung in sich selbst, wenn auch die Wege dahin inzwischen recht vielfältig sind, da eine Reihe von Meditationstechniken in Weiterentwicklung der traditionellen entstanden sind, die speziell auf die Bedürfnisse des westlichen Menschen zugeschnitten sind.

Abbildung 15: Traditionellerweise wird zur Meditation der hier abgebildete Lotossitz eingenommen. Wem diese Haltung zu schwierig oder zu unbequem ist, kann aber auch ohne weiteres in einer anderen Haltung meditieren.

Die bekannteste ist wohl die transzendentale Meditation (TM). Zur Technik der trans zendentalen Meditation gehört die Wiederholung eines sogenannten Mantras, das ist eine Lautkombination. Der Übende setzt sich jeden Tag 15 - 20 Minuten in einer »bequemen« Haltung (die klassische ist der Lotossitz) in eine ruhige Ecke, konzentriert sich auf seine Atmung und wiederholt im Geist ständig sein Mantra. Inzwischen ist die streßreduzierende Wirkung von regelmäßigen Yogaoder Meditationsübungen auch -6 3 -

wissenschaftlich bewiesen worden. Beiden Methoden gemeinsam ist, daß sie nicht gezielt einzelne vegetative Funktionen beeinflussen, wie das zum Beispiel beim Biofeedback der Fall ist, sondern unspezifisch auf alle Systeme einwirken, was aber in der Konsequenz genauso zu einer heilsamen Tiefenentspannung führt. Beide Techniken erfordern zudem einen recht langwierigen Lernprozeß und die innere Bereitschaft, sich auch mit den religionsphilosophischen Hintergründen auseinanderzusetzen und sind somit nicht jedermanns Sache. Wer sich aber von diesen Methoden angesprochen fühlt, dem kann Yoga und Meditation nur empfohlen werden.

Autogenes Training Da diese Entspannungsmethode im nächsten Kapitel ausführlich dargestellt wird, soll sie an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden. Diese Technik hat mit den anderen Entspannungsverfahren gemeinsam, daß über die körperliche Entspannung das vegetative Nervensystem zum Umschalten gebracht wird, so daß streßbedingte Fehlsteuerungen allmählich verschwinden. Nach einer etwa dreimonatigen Lernphase sind die meisten Menschen in der Lage, sich mit Hilfe des autogenen Trainings schnell und wirksam zu entspannen. Das autogene Training kann, im Gegensatz zu den meisten anderen Verfahren, ohne weiteres in Eigenregie erlernt werden. Die wichtigste Voraussetzung dabei ist das regelmäßige tägliche Üben. Aber obwohl nichts dagegen spricht, sich die Technik des autogenen Trainings selbst beizubringen (eine genaue Anleitung dazu finden Sie im nächsten Kapitel), fällt es den meisten Menschen leichter, in einer Gruppe zu lernen. Dort gibt es nicht nur die Möglichkeit zu Rückfragen, sondern der Erfahrungsaustausch mit anderen Gruppenmitgliedern fördert -6 4 -

auch den Lernprozeß. Autogenes Training kann jederzeit und überall praktiziert werden, denn es sind keine Apparate oder andere Hilfsmittel erforderlich. Zumindest für die Lernphase sollten Sie aber darauf achten, daß Ihnen ein ruhiger Raum zur Verfügung steht, in dem Sie nicht gestört werden. Die Entspannung selbst geschieht mit Hilfe von formelhaften Sätzen, die sich der Übende im Geist vorsagt und die helfen, den Körper allmählich schwer, warm und entspannt werden zu lassen. Das autogene Training ist eine einfache, von fast jedem erlernbare Form der Selbstentspannung, die sich in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt hat, weil sie auf der einen Seite hochwirksam und auf der anderen medizinisch fundiert ist. Diese Methode hat inzwischen auch Einzug in den Sport gefunden, wo sie den Sportlern hilft, sich optimal auf den Wettkampf einzustimmen. Auch die Astronauten im Weltraum entspannen mit Hilfe des autogenen Trainings und viele Politiker nutze n die Sitzungspausen für dieses Entspannungstraining. Von allen hier vorgestellten Entspannungsverfahren ist das autogene Training nach meiner Erfahrung am besten als Einstieg in jede Entspannungstechnik geeignet, da es leicht und relativ schnell zu lernen ist und die Basis für alle anderen Techniken darstellt.

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Übungsteil: Die Praxis des autogenen Trainings Wenn Sie sich durch das bisher Gelesene darüber klargeworden sind, daß eine Entspannungsmethode zur Stabilisierung des seelisch-körperlichen Gleichgewichtes Erfolge im Kampf gegen die Auswirkungen des Distreß hat, so haben Sie auch verstehen gelernt, daß es ja keinesfalls nötig ist, krank zu sein, um Selbstentspannung zu erlernen und zu praktizieren. Es ist geradezu vorteilhaft, in einer Phase der Ausgeglichenheit zu lernen, sich bewußt zu entspannen, um einer Erschöpfungsphase der Organismus vorzubeugen. Aber auch schon vorhandene Verspannungen, die sich in vegetativen Störungen zeigen, können durch autogenes Training in den Griff bekommen werden. Wenden wir uns nun dem autogenen Training zu, so können Sie davon ausgehen, daß es sich hierbei um ein gut erforschtes, in Eigenregie leicht erlernbares und jederzeit einsetzbares Verfahren handelt.

Zur Geschichte dieser Entspannungstechnik Schon zu Anfang unseres Jahrhunderts machte sich der Berliner Psychiater und Neurologe Prof. Dr. Johannes Heinrich Schulte Gedanken über die Selbstregulierung des Körpers durch konzentrative Übungen. Er hat damals das autogene (das bedeutet: aus sich selbst entstehend, nicht von außen eingebracht) Training als eine Entspannungsmethode und ein psychotherapeutisches Heilverfahren entwickelt, das in unserer heutigen Zeit zu einer der wichtigsten Methoden der Selbstentspannung geworden ist. Auf autosuggestivem Wege (also innerlich durch sich selbst abrufbar) werden dabei stufenweise sechs nacheinander zu lernende Konzentrationsübungen durchgeführt. Hierdurch werden die -6 6 -

sonst nicht willkürlich beeinflußbaren Körperfunktionen, wie Muskelanspannung, Körperwärmeempfindung usw., verändert. Das führt allmählich zu einer Herabsetzung des vegetativen Erregungsniveaus und damit zu einem Ausgleich von Spannungszuständen, einer Linderung oder Beseitigung von Schmerzen oder Schlafstörungen. Wer gelernt hat, sich zu entspannen und das Erlernte auch durch tägliche Übungen lebendig hält, erlebt nach einer etwa dreimonatigen Lernphase ganz »automatisch« die tiefe Entspannung. Obwohl das autogene Training keinesfalls mit Selbsthypnose gleichgesetzt werden kann, hat Schultz das Training damals aus seiner Erfahrung und der Beschäftigung mit der Hypnose entwickelt. Er hat das autogene Training dabei jedoch als alternative Methode zu der medizinischen Hypnose gesehen, da er richtigerweise annahm, daß sich jeder Mensch selbst durch Autosuggestion in einen tiefen Entspannungszustand versetzen kann, ohne auf Hilfe von außen angewiesen zu sein. Diese Selbstbeeinflussung soll durch ein einfaches Beispiel, das jeder von uns kennt, verdeutlicht werden. Denken wir beispielsweise intensiv an unsere Lieblingsmahlzeit und stellen sie uns mit geschlossenen Augen auch noch bildhaft vor und suggerieren uns, daß wir vor dieser ersehnten Mahlzeit sitzen, dann werden durch diese Vorstellung bestimmte Körperfunktionen verändert. Am auffälligsten ist, daß uns wahrscheinlich sprichwörtlich »das Wasser im Munde zusammenlaufen« wird. Ein einfaches Beispiel, das Ihnen zeigt, wie eng unsere intensiven Vorstellungen (geistig-seelische Ebene) mit vegetativen Körpervorgängen (Körperebene) gekoppelt sind. Die Möglichkeit der geistigen Selbststeuerung und der psychosomatischen Wechselwirkung nannte Schultz »Versenkung in einen hypnoiden Zustand«. Er definierte das Training wie folgt: »Die konzentrative Selbstentspannung des autogenen -6 7 -

Trainings hat also den Sinn, sich mit genau vorgeschriebenen Übungen immer mehr innerlich zu lösen, zu versenken, und so für den ganzen Organismus eine von innen kommende Umschaltung zu erreichen, die es erlaubt, Gesundes zu stärken, Ungesundes zu mindern oder abzustellen.« Schultz verlangte als äußere Voraussetzung zur Einübung der Selbstregulierung durch das autogene Training, daß man etwa dreimal täglich für ungefähr 20 Minuten die Möglichkeit haben sollte, sich zurückzuziehen, um dann allein und ungestört die Übungen durchzuführen.

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Geeignete Körperhaltungen Das autogene Training besteht im Wesentlichen aus konzentrativen Übungen, die eine positive Wirkung auf das vegetative Nervensystem haben. Für die Durchführung der Übungen gibt es zwei besonders empfehlenswerte Körperhaltungen: 1. Die Übungshaltung im Liegen und 2. die »Droschkenkutscherhaltung« im Sitzen. Da es aber wichtig ist, daß die Übungen in möglichst bequemer Haltung durchgeführt werden, ist grundsätzlich auch jede andere, subjektiv angenehme Haltung richtig. Sie werden schnell spüren, ob ein Kissen unter den Kniekehlen oder auch eine Nackenrolle eine bequemere Ausgangslage für Sie darstellt. Am einfachsten ist es, das autogene Training im Liegen zu üben, wobei jedoch nicht etwa Ihre typische Schlafhaltung eingenommen werden soll, denn das würde die Konzentration nur ablenken. Die Arme liegen während der tiefen Entspannung neben dem Körper, Handflächen nach unten. Die Fußspitzen sollen locker nach außen fallen.

Abbildung 16: Die gebräuchlichste Haltung für das autogene Training ist das Liegen. Am besten geht das auf einer bequemen Unterlage. Wer möchte, kann sich auch ein Kissen unter den Kopf legen.

Die zweite bewährte Möglichkeit ist ein bequemes Sitzen. Der Name ›Droschkenkutscherhaltung‹ ist sicher aus der Entstehungszeit des autogenen Trainings abzuleiten. Ein müder Droschkenkutscher nahm fast automatisch eine körperlich vorentspannte Haltung ein. In der Droschkenkutscherhaltung -6 9 -

liegen die Unterarme auf den Oberschenkeln; die Hände fallen nach innen. Der Kopf und die Schultern sollen dann locker nach vorne sacken. Mit dem nach vorne gebeugten Kopf und gebeugtem Rücken sollte die Körperhaltung so stabil eingenommen werden, daß man weder nach vom noch nach hinten abrutscht. Da die Beine einen etwa rechten Winkel zum Boden einnehmen, ist diese Haltung recht stabil, wenn der Schwerpunkt - auf den Armen liegend - auf den Oberschenkeln ruht. Sie brauchen als Übender also keine Rückenlehne und können nahezu auf jeder Sitzunterlage trainieren. Für diejenigen unter Ihnen, die unter Nackenverspannungen oder Halswirbelsäulensyndromen leiden, ist diese Art der Sitzhaltung allerdings nicht vorteilhaft. In diesem Fall sollte eine andere, die passive Sitzhaltung, eingenommen werden. Vielleicht benutzen Sie einen bequemen Sessel, bei dem Sie den Kopf hinten anlegen können. Der Körperschwerpunkt wird dabei nach hinten verlagert.

Abbildung 17: Diese sogenannte »Droschkenkutscherhaltung« kann man überall einnehmen, denn man braucht nichts weiter als einen Stuhl oder Hocker. Wichtig ist nur, daß man mit den Füßen bequem die Erde erreichen kann. -7 0 -

Abbildung 18: Die passive Sitzhaltung ist besonders für diejenigen geeignet, die unter Verspannungen im Schulterbereich oder Rückenproblemen leiden.

Ganz allgemein ist aber eigentlich jede für Sie angenehme Körperhaltung ric htig, bei der möglichst viele Muskelgruppen vorentspannt, also schon etwas gelockert sind.

Leitfaden zur Durchführung des autogenen Trainings Bevor wir nun zu den einzelnen Übungen des autogenen Trainings im Detail kommen, noch einige wichtige Grundsätze zum Ablauf der täglich notwendigen Entspannungsübungen. In dem nachfolgenden Leitfaden können Sie also immer wieder einmal nachschauen, um in Kurzform die wichtigsten Grundsätze parat zu haben. 1. Die Übungen des autogenen Trainings sollen täglich einbis zweimal durchgeführt werden. Falls möglich, nutzen Sie die Mittagspause für eine etwa 20minütige Entspannung; eine weitere Übungsphase sollte nach der -7 1 -

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Arbeit oder vor dem Einschlafen eingelegt werden. Den genauen Zeitbedarf für Ihr autogenes Training sollten Sie selbst erproben. Die meisten Menschen benötigen etwa 20 Minuten. Die Übungen sollen alleine und in ruhiger Umgebung durchgeführt werden. Störungen können durch Abstellen der Haustürklingel, des Telefons und durch Abdunkeln des Raumes verhindert werden. Sagen Sie auch Ihrer Familie Bescheid, daß Sie jetzt 20 Minuten Ruhe brauchen. Sie benötigen keine »Trainingskleidung«, müssen jedoch darauf achten, daß beengende Bekleidung gelockert und enges Schuhwerk geöffnet oder ausgezogen wird. Die Kleidung sollte nicht zu warm, aber auch nicht zu luftig sein, damit Sie nicht frieren. Probieren Sie neben den klassischen Körperhaltungen ruhig eigene, entspannende Körperhaltungen aus. Der »Großvater-Ohrensessel« oder ähnliche Möbelstücke sind sicher auc h bequeme Sitzmöglichkeiten. Lassen Sie sich Zeit für eine ein- bis zweiminütige Einstimmungsphase, in der Sie Ihre Körperhaltung optimieren können und die vorhandenen störenden Gedanken durch eine »geistige Tür« hinausschicken. Erst danach schließen Sie die Augen und gehen gedanklich die einzelnen Übungen nacheinander durch. Jede einzelne Übung sollte etwa drei bis vier Minuten in Anspruch nehmen. Das bedeutet also auch, daß Sie in der ersten Zeit nur einige Minuten üben, und erst bei allen sechs Übungen volle 20 Minuten benötigen. Wenn Sie dann die Augen geschlossen haben, lassen Sie die »Übungsformeln« mehrmals hintereinander in Gedanken ablaufen. Wenn Sie anfangen, eine körperliche Veränderung zu spüren, gehen Sie zur nächsten Übung, -7 2 -

indem Sie auch diese Formel mehrfach wiederholen usw. Bleiben Sie jeweils solange bei einer Übung, bis sich das betreffende Gefühl der Entspannung ausgebreitet und stabilisiert hat. 8. Steigern Sie allmählich die Zahl der hintereinander durchgeführten Übungen. Üben Sie zuerst die erste Lektion so lange, bis sie funktioniert, dann kann die nächste Übung im Anschluß an die bereits funktionierende hinzugenommen werden. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal: Jeder, der den Willen aufbringt, regelmäßig täglich zu üben, wird nach einigen Wochen Erfolg haben. Aber es ist wichtig, die Lernphase von der Anwendungsphase zu trennen, auch wenn der Übergang fließend ist. Wer nach einer Woche regelmäßigen Übens bemängelt, er spüre noch keinen Erfolg, der hat nicht verstanden, daß er in einem Lernprozeß steckt, für den etwa zwei bis drei Monate gerechnet werden müssen. Ein Olympiasportler trainiert ja auch nicht nur eine Woche, um Bestleistungen zu erbringen und beizubehalten. Geben Sie Ihrem Körper also auch ein klein wenig Zeit, sich auf das Entspannungsgefühl umzustellen. Der Wunsch nach einem »Soforterfolg« kann durch das autogene Training nicht erfüllt werden. Es ist kein »Wunder«, an das man glauben, sondern eine medizinisch fundierte Selbstentspannung, die erlernt und geübt werden muß. 9. In dieser Lernphase sind Sie am besten in einer Gruppe aufgehoben, die sich wöchentlich einmal trifft, um gemeinsam zu üben und die gemachten Erfahrungen auszutauschen. Das ist zwar keine Bedingung für das Erlernen des autogenen Trainings, aber nach meiner Erfahrung für viele Leute sehr hilfreich. 10. Auch wenn Sie bereits bei der dritten oder vierten Übung sind, kann das Gefühl der Schwere und Wärme aus den ersten beiden Übungen bestehenbleiben und Ihnen bewußt -7 3 -

werden. Verharren Sie dann ruhig ein wenig bei dem angenehmen Gefühl, um sich erst dann wieder auf die weiteren Übungen zu konzentrieren. Sie müssen nicht zwanghaft alle Übungen durchgehen. Wenn Sie sich beispielsweise nach der dritten Übung schon völlig entspannt fühlen, genießen Sie es eine Weile und verzichten für diesmal auf Übung vier bis sechs. 11. Es macht nichts, wenn die einzelnen Übungen nicht immer alle gleich gut funktionieren. Die wohltuende Gesamtentspannung ist entscheidend. 12. Die Reihenfolge der Übungen sollte anfänglich, zumindest in den ersten Wochen, eingehalten werden. Danach stellen sich dann oft Schwere und Wärme oder auch andere Phänomene gemeinsam ein. Wichtig ist also nicht das zwanghafte Abspulen einer vorgegebenen Übungsreihenfolge, sondern das Ergebnis: die tiefe Entspannung. Wenn Sie also zum Beispiel mit der Atemübung den besten Einstieg in das tiefe Entspannungsgefühl finden, kann die Reihenfolge der Übungen auch dahingehend geändert werden. 13. Am Ende jeder Entspannung, gleichgültig, ob Sie anfangs nur einige Minuten entspannen oder später länger, steht die »Rücknahme« durch kräftiges Anspannen der Hände und Arme beziehungsweise Recken und Strecken mit tiefem Luftholen und erst dann die Augen öffnen.

Beginn der Übungen Die Augen werden während der Entspannungsübungen üblicherweise geschlossen. Machen Sie jedoch kein übertriebenes Ritual daraus, denn entscheidend ist ja, daß das autogene Training eine »passive« Selbstentspannung darstellt, und sich in eine bestimmte Haltung »hineinzuzwingen«, widerspräche dem Anspruch, ein passives Sichfallenlassen zu -7 4 -

praktizieren. Zu Beginn der Entspannung erfolgt stets eine »Ruheeinstellung«, in der dem Organismus für ein bis zwei Minuten eine Umstellung von Anspannung auf Entspannung ermöglicht wird. So könnten Sie durchaus, wenn Sie gerade am Schreibtisch sitzen, zur Einstimmung Ihren Kopf auf die Arme legen oder auch kurze Gymnastikübungen durchführen, um das danach folgende Abschalten zu erleichtern. Danach sagen Sie sich im Geist langsam und ruhig vor: »Ich bin ganz ruhig und entspannt.« oder auch: »Ich bin ganz ruhig und gelassen.« Auch wenn Sie das anfangs ja noch gar nicht sind, wiederholen Sie innerlich ruhig ein paar Mal diese Hilfsformel. Es gelingt natürlich auch nicht von Anfang an, sofort alle Gedanken, die kurz vorher noch durch unseren Kopf gingen, abzuschalten. Demnach ist es auch ganz normal, daß in den ersten Übungsphasen der Selbstentspannung unsere Gedanken immer wieder abschweifen. Wenn Sie dieses bemerken, gehen Sie einfach wieder zurück zu der konzentrativen Entspannungsübung, bei der Sie vorher gerade waren. Schultz hatte damals die Einstimmung auf die entspannte Selbstversenkung sowie das allmähliche Abschalten als »Ruhetönung« bezeichnet. Beachten Sie also immer, daß anfängliche Schwierigkeiten, die mir immer wieder berichtet werden, wie: »... meine Gedanken sind noch so ganz bei der Sache...«, kein großes Problem darstellen. Nach einigen Wochen des täglichen Übens wird jeder, der das autogene Training ernsthaft übt, spüren, wie sich nach und nach die Entspannung ganz automatisch (also autogen) einstellt. Lassen Sie sich anfangs ruhig Zeit, diese Ruhetönung zu erreichen, und fangen Sie mit der ersten Übung erst an, wenn Sie einigermaßen ruhig sind.

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Beenden der Übungen Jede Entspannungsphase, die ungefähr 15 - 20 Minuten dauert, wird mit der sogenannten »Rücknahme« beendet. Diese Zurücknahme ist deshalb erforderlich, weil der durch das autogene Training erzeugte Entspannungszustand im Organismus einen dem Schlaf ähnelnden Zustand erzeugt. Erst durch die Rücknahme wird wieder die Bewußtseinslage des erfrischten Wachzustandes erreicht. Die meisten Menschen recken und strecken sich auch erst einmal, wenn sie aus dem Schlaf erwachen. (Ausnahme: Wenn das autogene Training zum Einschlafen benutzt wird, soll nicht zurückgenommen werden.) Wenn Sie also beispielsweise bei anstrengenden Autofahrten zur schnelleren Erholung autogen trainieren, steht am Schluß der Übungen jeweils die Zurücknahme. Die Rücknahme erfolgt folgendermaßen: 1. Hände zur Faust ballen, die Arme für einige Sekunden fest anspannen. 2. Dann einmal tief Luft holen. Danach können Sie die Augen wieder öffnen. Das angenehme Entspannungsgefühl noch etwas nachwirken lassen. Diese Rücknahme ist vor allem bei Menschen wichtig, die einen niedrigen Blutdruck haben. Oft wird mir in Gruppen über kurzzeitig auftretenden Schwindel berichtet. Diese kleine, harmlose Nebenwirkung tritt immer dann auf, wenn nicht kräftig genug zurückgenommen wurde und der Blutdruck etwas niedriger bleibt. Gerade ein kurzes aber kräftiges Anspannen der Armmuskulatur kann dieses zuverlässig verhindern. Eine Hilfsformel könnte sein: »Arme fest, tief Luft holen, Augen öffnen!«

Übung 1: Schwere Jeder von uns kennt das Gefühl von müden und schweren Beinen, beispielsweise nach anstrengenden Wanderungen. -7 6 -

Immer dann, wenn unsere Muskulatur besonders gefordert wurde, brauchen die Muskeln eine Erholungsphase. Die jeweilig beanspruchten Muskelgruppen empfinden wir dann oft als »schwer«. In Wirklichkeit nimmt bei der Erholungsphase der Muskeln die Muskelanspannung ab, und dieses »Schlaffwerden« vermittelt uns ein Gefühl der Schwere, welches uns von den Nervenenden in den Muskeln zum Gehirn übermittelt wird. In dieser ersten Übung wird also der natürliche Vorgang, daß sich entspannte Muskeln »schwer« anfühlen, genutzt, damit wir uns bei der Konzentration auf das Schweregefühl noch tiefer entspannen können. Allein die Vorstellung bewirkt hierbei eine merkbare Herabsetzung der Muskelspannung. Wir können uns jedoch nicht auf alle Muskelgruppen des Körpers gleich gut konzentrieren. Besonders viele Informationen über den Zustand der Muskelspannung erhalten wir von unseren Nerven in der Arm- und Beinmuskulatur sowie über die Schultermuskulatur. Deshalb fangen wir mit den Armen und Beinen an und sagen uns die Formel:

Abbildung 19: Stellen Sie sich vor, daß Ihre Arme und Beine so schwer werden, daß sie immer tiefer in die Unterlage einsinken.

»Meine Arme und Beine sind ganz schwer!« langsam im Geiste vor. Genauso wie die Muskeln bei Anspannung unserer Willkür zugänglich sind, lernen wir nun durch die erste Übung die Muskelspannung willkürlich herabzusetzen. Da das angenehme Gefühl der Schwere eine wohltuende Schläfrigkeit hervorruft, wird die Übung auch gerne als Einschlafhilfe genutzt. Viele -7 7 -

autogen Trainierte, die ihre Übungen abends im Bett durchführen, schlafen dann bereits bei dieser ersten Konzentration ein. Nach dem Schließen der Augen und der mehrmaligen Einstimmung durch die Ruhetönung »Ich bin ganz ruhig und entspannt«, gehen wir also mit den Gedanken zur ersten Übung über mit der Formel: »Meine Arme und Beine sind ganz schwer!« Denken Sie stets daran, daß durch autogenes Training nichts erzwungen werden soll. Es wird etwa eine oder zwei Wochen dauern, bis sich die Muskulatur wirklich spürbar entspannt, aber es passiert ganz sicher! Nur ohne ein zwanghaftes »Ich muß jetzt aber entspannen« werden Sie nach einiger Zeit stetigen Übens das angenehme Schwere- und Entspannungsgefühl empfinden. Die Schwere in den Armen und Beinen breitet sich auch ganz automatisch auf andere Muskelgruppen aus, so daß allmählich der ganze Körper wohltuend entspannt und gelockert wird. Maßgeblich ist von der ersten Übung an unsere innere Einstellung zur Erreichung des Zieles Entspannung. Passive Konzentration bedeutet dabei, eine gelassene Einstellung zum gewünschten Ziel zu haben. Um ein passives »Fallenlassen in die Entspannung« zu fördern, sollen die Hilfsformeln immer in der Gegenwartsform benutzt werden: »Ich bin ganz ruhig und entspannt; Arme und Beine sind ganz schwer.« Einerseits hat diese Formulierung eine höhere suggestive Wirkung, zum anderen werden damit auch eigene Kontrollfragen weitgehend vermieden, die eine passive Entspannungsentwicklung auf den ganzen Körper behindern würden: »Werden meine Arme und Beine denn nun schwer? Wann sind denn jetzt meine Muskeln schwer genug?« Die objektive Schwere der Muskeln ist nämlich nicht wichtig, sondern das Empfinden des sich einstellenden allgemeinen Entspannungsgefühles! Während der ersten Tage des Übens, bevor die Entspannung -7 8 -

also automatisch funktioniert, erleben viele Übende, daß ihre Arme und Beine nicht gleichzeitig schwer werden, sondern zum Beispiel erst nur eine Hand oder ein Arm und später die anderen Muskeln. Diesen Phänomenen sollte keine große Aufmerksamkeit geschenkt werden, da sie immer nur vorübergehend auftreten. Wer die erste Übung lieber in kleine Schritte teilen möchte, um weniger mit seinen Gedanken abschweifen zu können, kann die Übung auch so gestalten, daß er zuerst mit einem Arm beginnt mit: »Mein rechter Arm ist ganz schwer!«; dann nach einigen Minuten: »Beide Arme sind ganz schwer!«; und dann weiter mit: »Meine Arme und Beine sind ganz schwer!« Rechtshänder sollten mit ihrem rechten Arm beginnen, da sie hier schneller ein angenehmes Gefühl empfinden, bei Linkshändern trifft das auf den linken Arm zu. Dieses Vorgehen stellt eine kleine Hilfestellung für diejenigen unter uns dar, die ihre übrigen Gedanken schlecht abschalten können. Auch während der Schwereempfindung sollten Sie die Formel: »Ich bin ganz ruhig und entspannt« einfließen lassen. Diese Formeln stellen dabei nur eine Anregung dar. Auch eigene Entspannungsformeln können benutzt werden. Nur sollten diese immer gleich bleiben und nicht ständig gewechselt werden, um die Wirkung schneller »automatisch abrufbar« zu machen. Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit: Immer wiederkehrende Sätze lernte man quasi automatisch, und viele sind einem bis heute im Gedächtnis geblieben.

Übung 2: Wärme Bereits bei der Schwereübung und der daraus resultierenden Muskelentspannung kommt es erfahrungsgemäß bei vielen Übenden zu ›Kribbelgefühlen‹ in Armen und Beinen. Wenn -7 9 -

nämlich, nach etwa zweiwöchigem Üben der Schwere, die Lockerung der Muskulatur eintritt, stellt sich das Gefühl der Wärme (welches sich mit Kribbeln bei Mehrdurchblutung ankündigt) automatisch ein. Medizinisch gesehen ist eine bessere Durchblutung bei entspannten und lockeren Muskeln immer vorhanden. Das kommt daher, weil unsere Blutgefäße, ebenso wie die Muskelspannung, durch das vegetative Nervensystem gesteuert werden und bei Entspannung ebenfalls entspannen. Die Wandspannung unserer Blutgefäße nimmt, ähnlich einem elastischen Fahrradschlauch, also ab. Dadurch wird der Durchmesser der Adern größer und es fließt auch ein klein wenig mehr Blut in die Arme und Beine, die hierdurch etwas wärmer werden. Übrigens fördert eine zunehmende Mehrdurchblutung der Muskeln auch noch zusätzlich unsere Wärmeempfindung und das Entspannungsgefühl. Umgekehrt kennen Sie ja sicher auch das Gefühl, wenn ein in unsere Glieder fahrender Schreck oder Angst die Durchblutung in Armen und Beinen drosselt. Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes ›blaß vor Schreck‹! Die Durchblutung des Körpers ist also direkt mit der Wärmeempfindung gekoppelt. Bei der Konzentration auf Wärme erreichen wir in Wirklichkeit eine Mehrdurchblutung in den Gefäßen. Da der Vorgang von Mal zu Mal etwas gesteigert wird, spüren wie auch anfangs ein ›Prickeln‹ in den Fingerspitzen, wenn sich die Blutgefäße erst ein klein wenig dehnen und die Nervenenden (die auch an den kleinen Blutgefäßen liegen) die veränderte Wandspannung zum Gehirn weiterleiten. Die Formel zur Wärmeübung lautet: »Meine Arme und Beine sind strömend warm!«

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Abbildung 20: Genießen Sie das sich allmählich ausbreitende Gefühl wohliger Wärme in Armen und Beinen.

Vielleicht haben Sie jetzt verstanden, daß es sich bei der Wärmeübung also um eine willentliche Verbesserung der Durchblutung in den Armen und Beinen handelt durch passive Konzentration. Eindrucksvoll ist für Ungeübte immer wieder die meßbare Erhöhung der Oberflächentemperatur, beispielsweise der Handinnenflächen. Sie könnten das übrigens auch selbst versuchen durch ein Thermometer, mit dem Sie vor und nach dem Üben die Handflächentemperatur messen. Hierzu gibt es auch spezielle Thermometer mit empfindlichen Sensoren, die auf die Haut aufgeklebt werden können. In den Entspannungsgruppen benutze ich diese Form des ›Beweises‹ gerne, um die objektiven Veränderungen während der autosuggestiven Selbstentspannung auch zu demonstrieren und zu veranschaulichen. In den meisten Fällen wird durch die Konzentration auf Wärme eine Temperaturerhöhung von einigen Zehntel Grad bis zu zwei Grad erreicht. Vergessen Sie jedoch bitte nicht, daß die Erhöhung der Oberflächentemperatur ja nicht der eigentliche Sinn der Entspannungsübung, sondern nur das körperliche Anzeichen der tiefen Entspannung ist. Die folgende Grafik zeigt einen typischen Verlauf der Oberflächentemperatur während einer Entspannungsübung: Bei dem Erlernen der Wärmeübung können Sie genau wie bei der Schwereübung vorgehen: Nach der Konzentration auf die Schwere, die sich ja dann auch eingestellt hat, können Sie mit der Konzentration langsam zur Wärme übergehen, indem Sie sich zuerst wieder auf das Wärmegefühl im rechten Arm -8 1 -

konzentrieren, sodann auf beide Arme, dann auf das Wärmegefühl in den Armen und Beinen gleichzeitig. Schon nach einigen Tagen spüren Sie dann das Wärmegefühl in Ihren Gliedern. Die meisten Menschen brauchen für die Hinzunahme der Wärme etwa zehn Tage, bis es wirklich klappt.

Abbildung 21: Die Kurve beginnt mit der Ausgangstemperatur von 30° Celsius, gemessen an der Haut der Hände. Im Laufe der Wärmeübung steigt die Temperatur deutlich an und erreicht ihren höchsten Wert von 30,9° Celsius auf dem Höhepunkt der Entspannung. Nach Beenden der Übung und der Rücknahme fällt die Temperatur wieder leicht ab und erreicht allmählich wieder den Ausgangswert.

Wer allerdings oft mit kalten Händen oder Füßen zu tun hat, gleichgültig, ob dies ein Zeichen einer vegetativen Fehlregulation oder durch einen niedrigen Blutdruck bedingt ist, -8 2 -

wird vielleicht etwas mehr Zeit brauchen. In diesem Falle nutzen Sie ruhig die äußere Wärme einer Decke, die Sie über die Beine legen. Diejenigen jedoch, die höheren (vielleicht generell zu hohen Blutdruck haben) profitieren besonders gut bei diesen beiden ersten Übungen zur Muskel- und Gefäßentspannung. Der Blutdruck wird nämlich mild gesenkt, so daß dann unter ärztlicher Kontrolle sogar blutdrucksenkende Medikamente nach Beherrschen der Übungen reduziert oder teilweise sogar gänzlich weggelassen werden können.

Zusätzliche Hilfen für die ersten beiden Übungen Gerade beim Einstieg in die Selbstentspannung und bei den ersten beiden Übungen des autogenen Trainings können bildhafte Vorstellungen zu einer Vertiefung des Entspannungsgefühles beitragen. Auch beruhigende Musik kann dies bewirken. Wichtig dabei ist der Hintergrundcharakter der bildhaften Vorstellung oder der Musik. Sie können zum Beispiel bei der Ruhetönung »Ich bin ganz ruhig und entspannt« die Vorstellung, an einem Meeresstrand zu liegen, nutzen. Allerdings sollten Sie immer darauf achten, daß die entspannungsverstärkenden Bilder oder Musikstücke keine »aktive Auseinandersetzung« erfordern. Dann laufen Sie nämlich Gefahr, sich nicht mehr auf die einzelnen Übungen des autogenen Trainings konzentrieren zu können, sondern vielleicht den letzten Urlaub oder das letzte Konzert erneut zu durchleben. Es müssen daher immer »stehende« Bilder sein, wie der Meeresstrand, die Waldlichtung oder die Wiese, auf der Sie entspannt liegen. Im übrigen erfüllen diese kleinen Hilfsmittel noch einen anderen Zweck. Die bildhaften Vorstellungen oder die entspannungswirksame Musik (welche Musik sich eignet, ist ganz unterschiedlich, da der eine bei moderner Musik und der andere bei klassischer Mus ik entspannen kann) helfen, ein anfänglich häufig auftretendes Phänomen zu reduzieren, -8 3 -

nämlich die zu intensive Auseinandersetzung mit den fehlgesteuerten Funktionen! Es kann anfänglich durchaus sein, daß dem Übenden die kalten Füße, die Verspannung der Nackenmuskulatur, der Magendruck, die Rückenbeschwerden stärker bewußt werden. In einigen Gruppen wurde dann von einzelnen Mitgliedern gesagt: »Das autogene Training funktioniert nicht! Meine Füße sind immer noch kalt!« Das Gegenteil ist der Fall. Es braucht aber unter Umständen einige Wochen, bis der Körper sich umgestellt und wieder einen ausbalancierten Normalzustand erreicht hat. Es ist völlig normal, daß Fehlfunktionen wie kalte Füße uns in den ersten Tagen des Einübens der Selbstentspannung bewußter werden. Es bedarf dann eben einer Zeit der Umstellung. Hier wird nochmals deutlich, daß autogenes Training keine Wunder bewirken kann, sondern eine langsame und fortschreitende Entwicklung in einen harmonischen und ausgeglichenen Allgemeinzustand von Geist und Körper ermöglicht. Gerade weil das Training auf einem natürlichen Lernvorgang beruht, können wir nicht erwarten, daß eine vorher entstandene Fehlsteuerung sofort verschwindet. Im ersten Schritt muß die erlernte Fehlsteuerung wieder verlernt werden und das braucht etwas Zeit. Die verbreitetsten vegetativen Fehlsteuerungen sind Schlafstörungen, wie Einschlaf- oder Durchschlafstörungen. Immer wieder suchen die Betroffenen nach organischen Ursachen für das Problem und greifen nur allzu oft zur medikamentösen »Keule«, um zu schlafen. Aber der künstlich erzeugte Schlaf ist in seinem Erholungswert nicht mit dem natürlichen zu vergleichen, und eine regelmäßige Einnahme von Tabletten ist auch nicht gerade gesund. Gerade in solchen Fällen hilft das autogene Training nachhaltig und dauerhaft, da es die Ursachen der Störung - streßbedingte Verspannungen - beseitigt. Schlafstörungen sind schließlich nicht angeboren, sondern immer ›erlernt‹ oder Ausdruck anderer psychischer Störungen! -8 4 -

Oft können schlafgestörte Menschen auch anfänglich keine bildhaften Vorstellungen in ihre Entspannungsübungen einbeziehen, da sie das »passive Fallenlassen« verlernt und Hilfestellungen dieser Art verdrängt haben. In diesem Falle sollte man, auch in der Lernphase des autogenen Trainings, die Übungen nicht als Einschlafhilfe benutzen. Erst nach einigen Wochen werden die Betroffenen merken, daß Bilder oder beruhigende Musik ihre Entspannung verstärken kann. Wenn dieses Stadium erreicht ist, können die autogenen Übungen auch vor dem Einschlafen als Einschlafhilfe genutzt werden. Es wird aber nie möglich sein, vegetative Fehlsteuerungen mit Zwang zu verändern. Liegen Sie beispielsweise im Bett und fordern von sich: »Ich muß jetzt einschlafen!«, bleiben Sie garantiert wach! Wenn Sie aber ihre Aufme rksamkeit ablenken oder entspannen, wird es klappen, und der Schlaf kommt von selbst. Das Akzeptieren der eigenen Fehlsteuerung ist also immer die Voraussetzung für eine Veränderung! Außerdem braucht kein Mensch Angst zu haben, nie mehr schlafen zu können. Unser Organismus holt sich von ganz allein irgendwann einmal den nötigen Schlaf, denn schlafgestörte Menschen sind eher subjektiv als objektiv unausgeschlafen.

Übung 3: Atmen Wenn Sie sich schon einmal mit Entspannungstechniken beschäftigt haben, werden Sie festgestellt haben, daß in fast allen Verfahren die Atmung eine zentrale Rolle spielt. Auch innerhalb der Übungen des autogenen Trainings gehört entspanntes Atmen zu den wichtigsten Übungen. Wir wissen heutzutage, daß nahezu alle geistigen oder körperlichen Spannungen des Organismus mit Atemveränderungen einhergehen. Allerdings nehmen wir diese nicht immer wahr! In extremen Situationen jedoch kann jeder von uns die Veränderung der eigenen Atmung registrieren. -8 5 -

Beispielsweise wird es uns bewußt, daß sich Freude oder Angst und Schrecken auf die Atmung auswirken, wenn sie »einem den Atem stocken lassen«! Unsere Atemmodulation, das ist die Art und Weise, in welcher Form wir ein- und ausatmen, stellt einen empfindlichen Indikator der Leib-Seele-Vorgänge dar. Dieser psychophysische Zusammenhang gilt für alle emotionalen Spannungen. Deshalb nimmt der Atemrhythmus innerhalb der Vielzahl der sich ändernden vegetativen Größen (wie etwa: Muskelspannung, Blutdruck, Herzfrequenz, hormonelle Steuerung) eine Sonderstellung ein. Medizinisch begründbar ist diese Sonderstellung vor allem dadurch, daß unsere Atmung sowohl bewußt wie auch unbewußt reguliert wird. Wir können beispielsweise auf ein Kommando hin eine bestimmte Zeit lang die Luft anhalten. Auf der anderen Seite ändert sich die Atmung eben auch bei Streß, ohne daß wir darauf bewußt einwirken. Die besondere Sensibilität der Atmung nutzen wir in der Atemübung aus, indem wir passiv, als schauten wir uns selbst von außen zu, den eigenen Atemrhythmus beachten. Die mögliche Formel für diese dritte konzentrative Übung lautet: »Die Atmung geht ganz ruhig und regelmäßig!« oder »Es atmet mich!«

Abbildung 22: Wenn Sie ganz entspannt atmen, wird sich die Bauchatmung ganz von allein einstellen.

Die von Schultz vorgeschlagene Formel: »Es atmet mich« soll verhindern daß der Übende aktiv versucht, die Tiefe oder Schnelligkeit der Atmung zu beeinflussen. Wir sollen uns also wieder völlig passiv auf den Atemrhythmus konzentrieren und das gleichmäßige Aus- und Einatmen innerlich beobachten. -8 6 -

Dabei brauchen wir uns eigentlich nur auf die Bewegungen des Bauches, der sich ja immer mitbewegt, zu konzentrieren. Entspannte Menschen praktizieren die ›Bauchatmung‹, die auch im Tiefschlaf stattfindet, wohingegen wir im Wachzustand eher mit dem Oberkörper, das heißt, mit den Muskeln des Oberkörpers, armen. Eine vertiefte Entspannung kann also durch die Konzentration auf die Bauchdecke erheblich gefördert werden. Ebenso wie es »Magentypen« gibt, die Ärger eher herunterschlucken wollen, gibt es sogenannte »Atemtypen«, deren Anspannung sich eher durch unregelmäßiges Atmen äußert. Diese Menschen werden anfangs versuchen, bewußt langsamer oder tiefer zu atmen! Aber genau das ist falsch!

Abbildung 23: Die Auswirkung eines Streßreizes auf die Atmung. Die Versuchsperson eine mit ausgeprägter Spinnenangst, reagiert auf das Einblenden eines Dias, das eine Spinne zeigt, mit einer deutlichen Erhöhung der Atemfrequenz. -8 7 -

Allein das passive Erleben des Atemrhythmus läßt uns tief entspannen. Die Grafik auf Seite 87 zeigt zur Verdeutlichung das Atemverhalten einer Versuchsperson mit ausgeprägter Spinnenangst. In der siebten Minute wurden Fotos von Spinnen gezeigt, die bei der Versuchsperson als Distreß wirkten und zu deutlichen Änderungen der Atemfrequenz führten. Als die Person im nachhinein befragt wurde, war ihr die Änderung des Atemrhythmus nicht bewußt geworden!

Abbildung 24: Herabsetzung der Atemfrequenz im Laufe des autogenen Trainings -8 8 -

Es gibt auch eine Reihe von Menschen, wie etwa Asthmatiker, die bisher die eigene Atmung als angstbesetzt erlebt haben. Diese Menschen könnten in den ersten Tagen des Einübens der Selbstentspannung mit der Atemübung Schwierigkeiten haben. Auch sie müssen erst lernen, daß die passive Hinwendung zur eigenen Atmung etwas Angenehmes bedeutet und nicht mit Luftnot gekoppelt sein muß! Die unmerkliche Stabilisierung der Atemfrequenz während des autogenen Trainings zeigt die Grafik auf Seite 88. Auch bei der Atemübung helfen die schon besprochenen bildhaften Vorstellungen (siehe Seite 83). Sie könnten sich beispielsweise vorstellen, am Meer zu liegen, um die Brandung der Wellen in ihrem auf- und abschwellenden Rhythmus zu erleben. Untersuchungen haben ergeben, daß langsames, periodisches Rauschen sehr entspannungsvertiefend wirkt. (Hier gibt es kleine elektronische Geräte, die periodische Rauschsignale, sogenanntes »weißes Rauschen«, erzeugen und dadurch bereits Entspannungsreaktionen des Körpers einleiten.) Allerdings wirken solche Bilder oder Rauschsignale nicht auf die Menschen, die Angst vor Wasser haben. Das ist aber höchst selten. Durch die Atemübung ist es sogar möglich, beginnende Asthmaanfälle in ihrer Entstehung zu verhindern. Viele Betroffene berichteten mir immer wieder, daß sie gelernt haben, Asthmaanfälle (für den Heuschnupfen gilt gleiches) in ihrer Häufigkeit extrem zu verringern. Dies liegt vor allem daran, daß die ersten Übungen des autogenen Trainings bereits eine Gesamtentspannung des Organismus gewährleisten und somit auch in akuten Streßsituationen das Erregungsniveau herabsetzen.

Übung 4: Herzschlag Mit den drei bisher beschriebenen Übungen haben Sie bereits das Rüstzeug für eine Selbstentspannung in allen Lebenslagen erworben. Die nächste Übung integriert nun weitere vegetative -8 9 -

Funktionen. Sonderbarerweise ist das Spüren des eigenen Herzschlages für viele Menschen eher angstbesetzt, weshalb diese Übung vielen Leuten zunächst Schwierigkeiten macht. Unser Herzschlag wird ebenso »automatisch« von körperlichen wie seelischen Faktoren gesteuert, wie die bereits besprochenen vegetativen Funktionen innerhalb der anderen Übungen. Ob es bei sportlichen Aktivitäten, bei Freude oder Distreß passiert, überall wirkt sich die Ausgangslage unseres Organismus auch auf die Frequenz des Herzschlages aus. Aber die Veränderung des Herzschla ges ist uns dabei, ähnlich wie ja bereits bei der Atemübung beschrieben, nicht immer bewußt! Wenn uns das Herz schon mal (vor Freude oder Angst) bis zum Halse hüpft, spüren wir es aber natürlich doch recht gut. Wie sehr unser Herzschlag auch von der seelischen Verfassung abhängig ist, mag Ihnen ein typisches Beispiel erläutern: Der Sprinter konzentriert sich, in seinen Startlöchern kniend, auf den bevorstehenden Start! Und was passiert nun? Sein Puls (= Herzschlagfolge) wie auch andere vegetative Funktionen des Körpers (also auch die Atmung, die Muskelspannung usw.) reagieren bereits so, als sei er schon gestartet! Die Regelkreise seines Organismus laufen schon mit 80% der Leistung, obwohl eigentlich noch nichts passiert. Ebenso reagiert unser Herzschlag schon bei dem Gedanken an eine zukünftige freudige Situation! Oder wie geht es Ihnen, wenn Sie an die »jungverliebten Zeiten« zurückdenken? Dabei ist übrigens aus medizinischer Sicht das Erleben eines erhöhten Herzschlages aufgrund von Freude keineswegs ungesund. Unser Herz darf also ruhig einmal »vor Freude hüpfen!« Aber eine kurzfristige Erhöhung des Herzschlages aus Angst oder Wut ist ebenso unbedenklich. Lernen wir in unserem Leben aber zu oft den erhöhten oder unregelmäßigen Herzschlag in angstmachenden Situationen kennen, kann daraus eine -9 0 -

sogenannte »Phobie« entstehen. Phobie bedeutet dabei, daß diejenigen Menschen auch in völlig unangemessenen Situationen aus übergroßer, ungerechtfertigter Angst ihr Herz rasen fühlen. Oft kreisen dabei die Gedanken nur noch um den zusätzlich angstmachenden Herzschlag. Ein negativer Lernprozeß verfestigt sich dann immer mehr, und die Phobie entsteht, weil der Herzschlag ängstlich beobachtet wird. Auch kleinste Reize (Stimuli) lösen dann immer wieder das quälende Herzrasen aus! Während des autogenen Trainings dagegen versuchen wir, diese negativ eingeschliffenen Regelungen durch ›passives Erleben‹ des eigenen Herzschlages zu normalisieren. So erlernen wir wieder, die Pulswelle des Herzens als eine ganz natürliche und ausbalancierte, angenehme Empfindung zu spüren. In tiefer Ruhe und Entspannung spüren wir unseren Herzschlag deutlich in Armen und Beinen. Eigentlich spüren wir dabei die Pulswelle, die sich in den elastisch entspannten Blutgefäßen ausbreitet. Bei jedem Herzschlag pflanzt sich diese vom Herzen über alle Blutgefäße hin fort. Auch die kleinen Dehnungsänderungen, die dabei in den Blutgefäßen der Hände und Füße eintreten, verstärken das allgemeine Entspannungsgefühl beträchtlich. Bestimmt werden viele, die das autogene Training erlernen, schon bei den ersten Übungen die Pulswelle des Herzens spüren. Bei der Herzübung gehen wir also speziell zu dieser spürbaren Pulswelle in den Händen und Füßen. Die Konzentration auf Hände und Füße soll verhindern, daß eine Verunsicherung durch das Spüren des Herzschlages in der Brust oder vielleicht am Hals entsteht. Wir können wieder eine Formel zur Unterstützung nutzen: »Mein Puls (Herz) geht ruhig und regelmäßig!« oder: »Mein Puls geht ruhig und kräftig!«

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Abbildung 25: Bei der Herzübung ist es für die meisten Menschen einfacher, sich auf die Pulswelle, die in Armen und Beinen zu spüren ist, zu konzentrieren, als auf den Herzschlag selbst.

Auch für diese Übung benötigen wir etwa wieder zwei Wochen des täglichen Übens, bis sie ›automatisch‹ klappt! Wie bei den anderen Übungen soll nicht etwa aktiv die Herzschlagfolge in irgendeiner Form verändert werden. Wir brauchen uns nur ganz passiv auf die regelmäßigen Pulswellen in Armen und Beinen zu konzentrieren. Mit diesem Prozeß des positiven Umlernens sollten Menschen, die einen Herzinfarkt erlitten haben, übrigens sehr behutsam umgehen. Ist die Angst nämlich zu groß, kann es passieren, daß sie sich nicht entspannen können und statt dessen noch mehr Angst bekommen. Das kommt aber nur bei denjenigen vor, die aktiv ihre Herzschlagfolge verändern (meist erniedrigen) wollen. In dem Falle ist der Erfahrungsaustausch in der Gruppe besonders hilfreich und verhindert die Verfestigung der Angst. Im übrigen sollte in den ersten Wochen nach einem erlittenen Herzinfarkt die Herzübung am besten ausgelassen oder nur unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt werden. Die übrigen autogenen Übungen sind dagegen auch in diesem Fall angezeigt. Für ein anderes Symptom ist die Herzübung dagegen besonders hilfreich. Wir wissen inzwischen, daß Herzrhythmusstörungen gehäuft bei erhöhten Dauerbelastungen (Distreß) auftreten! Wenn dann zu einer solchen Dauerbelastung auch noch Gefühle wie Ärger, Wut, Angst oder andere große Erregungen hinzukommen, ist eine Herzrhythmusstörung noch wahrscheinlicher. Das vegetative Nervensystem reagiert in solchen Situationen nämlich mit einer Beschleunigung der -9 2 -

Herzfrequenz. Letztlich ist diese Regelung auch sehr sinnvoll, denn bei allen Lebewesen bedeutet das eine gesteigerte Sauerstoffversorgung der Muskeln und Organe und sichert die Bereitschaft zum sofortigen Kampf oder zur schnellen Flucht! Durch eine solche Hochspannung in Gefahrensituationen stellt unser Organismus die höchstmögliche Energie bereit. Kommt es dann im folgenden aber gar nicht zur Spannungsabfuhr, kann die aufgestaute Spannung eben zu einem Ungleichgewicht der Seele-Körper-Balance führen. Schon ist der Teufelskreis geschlossen, und bei längerer Dauer können psychosomatische Krankheiten entstehen. Auf das Herz- und Kreislaufsystem bezogen kann es auch bei dieser Form der verdrängten Anspannung zum Bluthochdruck oder zur Herzrhythmusstörung oder gar zum Herzinfarkt führen. Andere Risikofaktoren, die uns bei dieser Verdrängung »helfen«, verstärken noch die Risiken (Nikotin, ungesunde Ernährung, fehlende Bewegung usw.). Die Herzübung kann hier im Vorfeld helfen, Spannungen im Herz-Kreislaufsystem zu verringern oder abzubauen. Der Effekt auf lange Sicht ist, daß wir in Streßsituationen weniger überschießend reagieren und so einen Spannungsstau und dessen anschließende Verdrängung verhindern können. In der folgenden Grafik sehen Sie zur Veranschaulichung die gemittelte Herzschlagfrequenz zweier Personengruppen. Die eine Gruppe ist autogen trainiert (alle acht Mitglieder übten dabei bereits länger als ein halbes Jahr), wohingegen in der Vergleichsgruppe noch niemand ein Entspannungsverfahren ausprobiert hat. Beiden Gruppen wurde von der 3. bis 5. Minute eine spannende Kampfszene per Video gezeigt; über die gesamte Zeit von 10 Minuten wurde die Herzfrequenz gemessen und ausgewertet. Ein Anstieg der Herzfrequenz beim Ansehen des Videofilms ist bei den trainierten wie untrainierten Personen deutlich zu sehen. Genauso klar ist zu erkennen, daß die autogen Trainierten weniger überschießend reagieren. Natürlich haben -9 3 -

sie dabei nicht während des Experimentes geübt, sondern seit sechs Monaten regelmäßig täglich zu Hause! Auch das Zurückgehen des Herzschlages in den Ausgangsbereich vor Beginn des Video findet bei entspannteren Personen schneller statt. Die Folgerung aus dem Experiment: Auch außerhalb der Übungen, während des Tages, verhilft das autogene Training zu einer schnelleren Erholung und bietet Schutz gegen Distreß! Sie brauchen dafür also nicht etwa während einer Streßsituation autogen trainieren, das gelänge auch höchst selten! Stellen Sie sich nur einmal vor, daß Sie in einen Autounfall verwickelt werden! Dann werden Sie sich kaum als erstes auf die Straße legen können, um das autogene Training zu praktizieren! Vor anstrengenden Autofa hrten jedoch wäre eine Entspannung geradezu ideal! Wenn Sie nämlich das autogene Training beherrschen, wird Ihr Körper wieder ganz automatisch reagieren und von selbst in einen entspannten Zustand zurückfinden, wenn der Distreß beendet ist.

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Abbildung 26: Auswirkung des autogenen Trainings auf die Reaktion auf einen Streßreiz (Kampfszene). Die Mitglieder der Gruppe A sind autogen trainiert und ihr Herzschlag beschleunigt sich deshalb deutlich geringer, als es bei den Mitgliedern der Vergleichsgruppe B der Fall ist.

Übung 5: Sonnengeflecht Die fünfte Übung des autogenen Trainings erzielt, gemeinsam mit den vorhergehenden, den tiefsten Punkt der Versenkung innerhalb der vegetativen Entspannungsübungen mit der Konzentration auf die Leibesmitte, also das »Sonne ngeflecht«. -9 5 -

Das Sonnengeflecht (eine Übersetzung des lateinischen Namens ›Plexus solaris‹) besteht anatomisch aus einem etwa handtellergroßen Nervengeflecht, welches etwa drei Zentimeter oberhalb des Bauchnabels in der Körpermitte liegt. Dieses Nervengeflecht bildet eine vegetative »Umschaltzentrale«, die in erster Linie die Funktionen der Bauchorgane reguliert und steuert. Von diesem Knotenpunkt ziehen dann die verschiedenen Nervenbahnen zu den Organen des Unterbauches und den Beinen. Während des autogenen Trainings gelingt es uns durch die Konzentration auf die Leibesmitte, eine besondere und spezifische Entspannung aller inneren Organe zu erreichen. Ein kleines Problem sollte Ihnen dabei aber bewußt sein. Wir können uns ja eigentlich nicht auf das Nervengeflecht selbst konzentrieren, da es dort keine geeigneten Rezeptoren gibt, sondern wir müssen zu den jeweiligen Nervenfunktionen gehen, für die wir ein Empfinden besitzen. Beispielsweise können wir uns auf den Magenbereich sehr gut konzentrieren. Stellen Sie sich nur einmal vor, wie angenehm warm sich der Magen und der gesamte Unterleib anfühlen, wenn Sie in der Badewanne sitzen. Und wie oft hat eine Wärmflasche »auf den kalten Bauch gebracht, alles wieder gut gemacht«! Während des autogenen Trainings konzentrieren wir uns bei der Sonnengeflechtsübung auf eine angenehme Wärme sowie die Entspannung der Bauchmuskulatur. Die autosuggestive Formel für diese fünfte Übung lautet: »Sonnengeflecht strömend warm!« oder »Mein Leib ist angenehm warm und entspannt!«

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Abbildung 27: Zwar können wir uns nicht direkt auf das Sonnengeflecht konzentrieren, aber eine Entspannung der Bauchmuskulatur und das Empfinden von Wärme in diesem Bereich tut dieselbe Wirkung.

Wie die Entspannungstiefe bei den Übungen allmählich zunimmt, zeigt die Abbildung 28. Aufgeführt sind die verschiedenen Bewußtseinszustände während des Trainings. Der tiefe Entspannungszustand stellt ein Zwischenbewußtsein dar. Wir schlafen nicht, sind jedoch auf der Schwelle zum Schlaf. Wir nehmen in diesem Zustand zwar noch alles um uns herum wahr, aber die Gedanken sind »eingeengt«, und Störungen haben kaum einen Einfluß.

Abbildung 28: Schematische Darstellung der Veränderung der Bewußtseinslage während des autogenen Trainings. Die ersten drei Übungen machen angenehm schläfrig, und ab der vierten Übung ist der tiefe Entspannungszustand, der kurz vor dem Schlaf eintritt, erreicht. -9 7 -

Aus der Grafik ersehen Sie das langsame Absinken in einen tiefen Entspannungszustand schon während der ersten drei Übungen des autogenen Trainings. Die drei letzten Übungen vertiefen den Entspannungszustand noch. Wie wichtig es ist, gerade den Magen-Darm- Bereich in das autogene Training mit einzubeziehen, ist vielen Menschen nicht klar! Doch Magengeschwüre, chronische Stuhlverstopfungen (Obstipation) oder auch geschwürige Erkrankungen des Darmes sind oft auf Dauerbelastungen (Distreß) zurückzuführen. Ertappen Sie sich nicht auch manchmal dabei, den anfallenden Arger an einem Arbeitstag »hinunterzuschlucken«? Denken Sie dann immer daran: einmal »schlucken« macht noch kein Magengeschwür! Aber ein jahrelanger Aufstau in dieser Form ist immer schwerer »verdaulich« und kann zum Beispiel ein Geschwür verursachen. Die Sonnengeflechtsübung kann bereits nach einigen Übungswochen zur Beschwerdefreiheit bei Verdauungsstörungen und kolikartigen Schmerzen (krampfartige Unterbauchbeschwerden) führen. Immer wieder berichten mir Frauen mit Dysmenorrhöen (schmerzhaften Periodenblutungen) über eine wohltuende Erleichterung aufgrund des autogenen Trainings. Sic her ist Ihnen auch bekannt, daß Entspannungsübungen zur Erleichterung der Geburt hervorragende Dienste leisten. In vielen Kliniken konnte nachgewiesen werden, daß entspannte Frauen während der Geburt weit weniger oder gar keine Schmerzmittel benötigten, seltener Komplikationen hatten und die gesamte Geburt als deutlich einfacher und streßfreier erlebten. Eine Reihe von Entspannungsübungen (etwa die nach Read) wurden daher speziell zur Geburtsvorbereitung entwickelt. Wer jedoch lange genug vorher (und nicht erst einige Wochen vor der Geburt) entspannt, fährt mit dem autogenen Training noch am besten! Auch die Autosuggestion der strömenden Wärme im Unterleib kann bildhaft unterstützt werden. Das Bild der »Sonne« bietet sich hier geradezu an, denn wer erlebt nicht gerne das -9 8 -

angenehme Wärmegefühl, das einen durchströmt, wenn einem die Sonne auf den Bauch scheint, während man entspannt auf einer Wiese liegt. Wenn Sie ein ausgesprochener »Magentyp« sind (übrigens neigen Männer zum Magentypus, Frauen mehr zum Kopfschmerztyp! Schlucken Männer lieber Ärger, weil sie Gefühle weniger zeigen dürfen? Geht Frauen mehr durch den Kopf?), erleichtern Sie sich die Übung anfangs vielleicht auch mit einer Decke oder einer Wärmflasche auf dem Bauch. Eine Decke, die Sie sich während des autogenen Trainings ruhig über die Beine legen sollten, dient auch zur allgemeinen Förderung des Entspannungsgefühls. Bei autogen trainierten Menschen kommt es während der Sonnengeflechtsübung zu einer meßbaren Mehrdurchblutung der gesamten Bauchmuskulatur und zu einer weiteren Herabsetzung der Muskelanspannung. Während der Gruppensitzungen kommt es immer wieder zu »Glucksern« und »Gurgelgeräuschen« aus dem Bauchraum bei den Übenden! Wenn dieses Phänomen nicht ein verständliches Gelächter ausgelöst hat, bleibt mir nach den Übungen noch die Möglichkeit der Erklärung dieses »Bauchrumorens«. Die Entspannung der Leibesmitte führt nämlich auch, neben der muskulären Lockerung und Entspannung sowie der bereits erklärten Erwärmung, zu Bewegungen der glatten Darmmuskulatur. Der Parasympathikus erhöht seine Aktivitäten während einer tiefen Entspannung genauso wie in der Nacht! Diese Geräusche bedeuten dann nichts anderes, als ein Gelingen der Übung. Keine Angst, auch wenn Sie es nicht bei sich glucksen hören, gelingt die Entspannung. Vielleicht haben Sie nur zuvor weniger im Bauch gehabt, das weitertransportiert wurde!

Übung 6: Stirnkühle Aus den vorigen Seiten haben Sie durch die nacheinander liegenden Übungen des autogenen Trainings eine stetige Vertiefung der Eigenentspannung erlebt! Ein Schwerpunkt war -9 9 -

dabei jeweils die passive Muskel- und Gefäßentspannung im Zusammenhang mit der regelmäßigen Atmung sowie des Herzschlages! Nun werden Sie staunen, wenn Sie bei der sechsten Übung Stirnkühle erzeugen sollen! Warum soll der gesamte Körper erwärmt und entspannt werden, die Stirn aber kühl bleiben? Wenn auch für alle anderen Körperregionen eine Muskelentspannung und die damit verbundene Wärme von den meisten Menschen als sehr angenehm empfunden wird, so gilt das nicht für unseren Kopfbereich! Aus dem Volksmund ist Ihnen das schon geläufig! Dort wird die Koppelung an ein Wärmegefühl im Kopfbereich als negativ bewertet. Ein »hitziger Kopf«, oder »... mir platzt der Kopf vor Hitze...« beschreibt das bildhaft. Auch in der medizinischen Forschung wird belegt, daß eine übermäßige Durchblutung des Kopfes leicht zu Kopfschmerzen führen kann. Hier zeigt die Migräneforschung beispielsweise, daß zu Beginn eines Kopfschmerzanfalles zuerst die Blutgefäße im Kopfbereich verengt werden, und daß sie sich dann, zusammen mit den auftretenden pulsierenden Schmerzattacken, übermäßig erweitern. Diese Erweiterung erzeugt dann den typischen Migränekopfschmerz. Es handelt sich also auch bei dieser Körperreaktion um eine vegetative Fehlsteuerung, die durch autogenes Training gelindert wird. Der Wirkmechanismus des autogenen Trainings ist in diesem Falle eine »Tonisierung« der Blutgefäße, das bedeutet, die kleinsten Blutgefäße im Kopfbereich dürfen weder zu eng noch zu weit einreguliert werden. Die Regulierung funktioniert wie immer über das vegetative Nervensystem, welches die Wandspannung der Gefäße steuert. Um darauf Einfluß nehmen zu können, hat Schultz die Konzentration auf eine angenehm kühle Stirn empfohlen. Übrigens wird hierbei auch die Ta tsache genutzt, daß wir im Gesichtsbereich besonders viele Rezeptoren, also aufnehmende und weiterleitende Nervenbahnen, besitzen, die -1 0 0 -

auch kleinste Temperaturdifferenzen auf der Hautoberfläche wahrnehmbar machen! Machen Sie hierzu ruhig einmal ein kleines Experiment: Bringen Sie etwas Speichel auf die Fingerspitze, und ziehen Sie damit eine Spur über ihre Stirn. Sie werden eine angenehme Kühle dort spüren, wo der Speichel die Spur hinterließ. Nun brauchen wir das natürlich nicht während des autogenen Trainings zu tun. Es klappt in tiefer Entspannung allein durch die Konzentration. Die Formel für die Übung lautet dabei: »Stirn angenehm kühl!« oder »Mein Kopf ist frisch und frei!«

Abbildung 29: Das Erlebnis der Stirnkühle hilft Ihnen, einen »kühlen Kopf« zu bewahren. Diese sechste Übung sollte allerdings nicht durchgeführt werden, wenn Sie das autogene Training zum Einschlafen nutzen wollen.

Wenn Sie aber zu den 30% der Übenden gehören, für die Wärme im Kopfbereich sehr angenehm ist und keinerlei negative Gefühle hervorruft, könnten Sie auch eine Stirnwärme, die ebenso erreichbar ist, hervorrufen mit: »Auch der Kopf (Stirn) ist angenehm warm und entspannt!« Die Konzentration auf die Stirnkühle hilft außerdem, das Erfrischungs- und Erholungsgefühl, welches ja nach dem Beenden anhält, zu fördern. Nach der tiefen »Leib-SeeleErholung« hilft die Stirnkühle also wieder »einen kühlen Kopf zu bekommen«. Sie bessert auch Müdigkeit und trägt zur anschließenden Konzentrationssteigerung bei. Die bildhafte Vorstellung für diese Übung ist, daß Sie sich in Gedanken eine kühle Kompresse auf die Stirn legen. -1 0 1 -

Nach dieser sechsten Übung werden Sie vielleicht 20 Minuten geübt haben und stellen sich jetzt auf die Zurücknahme ein mit: »Arme fest anspannen, tief Luft holen, Augen öf fnen«! (siehe Seite 76 ff.). Die sechste Übung sollte übrigens nicht mit in Ihr Programm einbezogen werden, wenn Sie das autogene Training als Einschlafhilfe einsetzen. Sie kennen nun alle Übungen des autogenen Trainings, die Sie einige Monate einüben sollten. Die Intensität des Entspannungserlebens wird sich von Mal zu Mal steigern, und es wird Ihnen später auch möglich sein, örtliche Spannungs- und Krampfzustände gezielt aufzuheben, wie etwa Verspannungen im Bereich der Schultern und des Nackens. Das dauernde tägliche Üben bringt also im Laufe der Zeit ein müheloseres Erleben des Entspannungsgeschehens mit sich, auf das Sie gar nicht mehr verzichten wollen!

Der Ablauf des autogenen Trainings im Überblick Die folgende Übersicht soll Ihnen die Durchführung eines Übungszyklus erleichtern. Nähere Einzelheiten zu den einzelnen Übungen finden Sie unter den jeweiligen Überschriften. 1. In ruhiger Umgebung die körperliche Ausgangslage in bequemer Haltung einnehmen, und nach etwa ein bis zwei Minuten der inneren Umstellung die Augen schließen. 2. Beginn der Übungen: Mehrmaliges gedankliches Wiederholen der »Ruhetönung«: »Ich bin ganz ruhig und entspannt« 3. Jede der folgenden Formeln sollte einige Male innerlich wiederholt werden. Lassen Sie dabei jede Übung drei bis vier Minuten wirken, und genießen Sie das sich einstellende, allmählich wachsende Entspannungsgefühl. Nacheinander gehen Sie die Übungen mit folgenden Formeln durch: -1 0 2 -

Übung 1: Schwere »Meine Arme und Beine sind ganz schwer!« Übung 2: Wärme »Meine Arme und Beine sind strömend warm!« Übung 3: Atmen »Meine Atmung geht ruhig und regelmäßig« Übung 4: Herzschlag »Mein Puls geht ruhig und regelmäßig« Übung 5: Sonnengeflecht »Mein Leib ist angenehm warm und entspannt« Übung 6: Stirnkühle »Meine Stirn ist angenehm kühl« 4. Beenden der Übungen: Zurücknehmen durch: »Arme fest anspannen, tief Luft holen, Augen öffnen« Denken Sie immer daran (mit der Ausnahme, wenn Sie vor dem Einschlafen üben), daß gerade ein kurzes und kräftiges Zurücknehmen dazu beiträgt, daß Sie nach dem angenehmen tiefen Entspannungsgefühl erfrischt und erholt aufstehen. Ansonsten könnte es passieren, daß Sie sich etwas benommen und schläfrig fühlen nach dem autogenen Training. Gerade diejenigen, die eher zu niedrigem Blutdruck neigen, sollten besonders kräftig zurücknehmen, da sonst ein leichtes, aber ungefährliches Schwindelgefühl auftreten kann. Dieser einzige harmlose Nebeneffekt kann so verhindert werden.

Autogenes Training im täglichen Leben Das bisher Besprochene klingt einfach, aber die tägliche Praxis kann ganz anders aussehen. Immer wieder wird mir in den Entspannungsgruppen gesagt: »Es ist ja alles gut und schön, ich verstehe auch wie wichtig es ist, sich täglich zu entspannen, aber wie setze ich das in meinen Alltag um? Wie schaffe ich mir -1 0 3 -

Zeit und Raum für die Entspannung?« Versuchen wir deshalb gemeinsam, einige Hilfestellungen zu erarbeiten. Eine drastische Änderung des eigenen Lebensstils kann nicht die Forderung sein! Viele Menschen glauben zwar, daß nur massive Veränderungen des täglichen Lebens ihr Wohlbefinden bessern könnten, aber das ist falsch! Der Utopie »ab morgen mache ich alles anders« darf keiner erliegen! Es sind vielmehr die vielen kleinen Schritte, die dann jedoch konsequent eingehalten werden müssen, die eine dauerhafte Selbsthilfe durch Entspannung gewährleisten. Kommen wir zu den kleinen Schritten! Machen Sie zunächst ein geistiges (schriftlich ist noch besser) Bestandsprotokoll Ihres Tagesablaufes: Gehören Sie auch zu den Menschen, die das morgendliche Aufstehen so knapp berechnen (bis zum Arbeitsbeginn), daß keine fünf Minuten Zeit bleiben, um »nichts« zu tun? Sie müssen schließlich nicht über alle Zeitungsartikel des morgens auf der Arbeit referieren! Und auch Ihre schulpflichtigen Kinder können den Bus sicherer erreichen, wenn die Familie morgens ein klein wenig mehr Luft hat. »Timen« Sie also ein klein wenig reichlicher. Bereits morgens setzen Sie sich sonst unter einen Druck, der unnötig ist! Wer seinen Wecker zehn Minuten früher stellt und nicht (fälschlicherweise) glaubt, der Schlaf wäre die gesündere Form der morgendlichen Streßvermeidung, wird sich bald wohler fühlen. Aus medizinischer Sicht kommt es nämlich keinesfalls auf die morgendlichen zehn Minuten Schlaf an. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie morgens ein paar Minuten (ohne übertriebene Anstrengung, veranstalten Sie keinen Wettkampf mit sich selbst!) Gymnastik machen! Aber gönnen Sie sich unbedingt auch noch fünf Minuten »Nichtstun«, bevor Sie in den Tag starten, um den eben aufgeladenen Akku Ihres Organismus wieder zu entladen. Lassen Sie nun Ihren weiteren Tagesablauf Revue passieren. Gönnen Sie sich auch während des Arbeitsablaufes kurze -1 0 4 -

Pausen? Beachten Sie dabei, daß Sie zumindest um die Mittagszeit noch einmal eine Zeit zum Abschalten haben! Viele antworten dann: »Das geht in unserem Büro aber nicht!« Wenn Sie ehrlich sich selbst gegenüber sind, werden Sie einen Zeitpunkt finden, an dem Sie allein sein können (das ist wichtig für ein kurzes seelisch-körperliches Entspannen). Keine Angst, Sie isolieren sich schließlich nicht von den anderen, sondern schaffen sich nur eine gezielte Ruhepause, um Ihr autogenes Training zu machen. Wenn Sie dann zu ihren Kollegen (vielleicht waren Sie in einem Nebenraum, notfalls tut’s auch das »stille Örtchen«) zurückkehren, sind Sie erholter als diejenigen, die gähnend und lustlos im Nikotinqualm sitzend ein Bett zur Entspannung fordern! Haben Sie einen ruhigen Raum an Ihrer Arbeitsstelle gefunden? Es gibt ihn zweifellos! Auch vielgeplagte Mütter mit Kleinkindern bestätigen mir nach einigen Wochen, daß es bei richtiger Überlegung (auch das Kind schläft mittags oder spielt bei Nachbarn) einen mittäglichen Zeitraum zum Abschalten gibt! Für die ersten Wochen dieses ersten kleinen Schrittes brauchen Sie auch noch nicht spezielle Entspannungsübungen durchführen. Es ist viel wichtiger, daß sie sich an die Entspannungsphase (vielleicht 10 - 15 Minuten) gewöhnen. Machen Sie sich klar, daß Sie in dieser Zeit »nichts zu tun« brauchen. Also vermeiden Sie zum Beispiel Planungen für den Nachmittag oder das Überdenken des Vormittags; das können Sie anschließend noch ausreichend. Sie täten es ja sowieso, nur können Sie es erfrischter, wenn Sie mit Ihren Gedanken vorher nur die eigene Körperentspannung abgerufen haben! Vor allem machen Sie sich klar, daß tägliches Entspannen kein neuer Zwang sein darf, den Sie sich auferlegen. Abschalten darf kein neuer Termin werden. Unvergeßlich bleibt mir ein streßgeplagter und gleichermaßen magengeschädigter Managertyp, der es mit der Formel versuchte: »Ich muß mich zwischen 14.00 und 14.12 Uhr entspannen!« Diesen kleinen -1 0 5 -

Merkzettel hatte er sich daher an seinen Schreibtisch geklebt. Sicher können Sie sich denken, was sein ›Magen‹ dazu sagte! Die Zeit, die Sie für das autogene Training vorsehen (vielleicht zur Mittagszeit und nach Beendigung der Arbeit am späten Nachmittag), muß günstig liegen. Auch wenn das Training einmal ins Wasser fallen sollte, ist das dann kein Beinbruch; es sollte aber die Ausnahme sein. Passives Fallenlassen erfordert nur, »alle geistigen und körperlichen Aktivitäten« abzuschalten. Stellen Sie sich vor, durch eine geistige Tür alle Aktivitäten herausgehen zu lassen. Wenn Ihnen noch etwas durch den Kopf geht, schicken Sie die Gedanken vor die Tür! Lassen Sie sich von den Gefü hlen, tief entspannt zu sein, überkommen, anstatt aktiv nach ihnen zu streben! Dies ist ein Zustand offener Passivität, der auch für alle Formen der Meditation grundlegend ist. Erst nachdem Sie gelernt haben (in ruhiger, abwartender Haltung), diesen passiven Zustand bei sich abzurufen, sollten Sie mit den Entspannungsübungen beginnen. Sie werden sehen, daß sich für Ihre Entspannungsübungen mit etwas gutem Willen auch in Ihrem Leben geeignete Zeiten finden lassen. Viele meiner Patienten berichten mir auch, daß sie sich auf ihre tägliche Entspannungszeit richtig freuen und nicht mehr darauf verzichten möchten.

Weitere Einsatzmöglichkeiten Wer die Technik des autogenen Trainings erst einmal beherrscht, kann diese Methode auch nutzen, um bestimmte Dinge in seinem Leben zu verändern. Das geschieht mit Hilfe der sogenannten »formelhaften Vorsätzen«. Darunter werden kurze Merksätze verstanden, die in die tiefe Entspannung integriert werden. Diese Vorsatzbildung kann ein persönliches Problem, dessen Bewältigung bishe r auf größere Schwierigkeiten gestoßen ist, beseitigen oder zumindest -1 0 6 -

verringern. Wichtig ist der tägliche Einbezug in das Üben. Dies führt zu einer verstärkten Bewußtwerdung des Problems. Die Vorsätze sollen sehr kurz und prägnant gehalten werden. Stichwo rte oder kurze Sätze sind ratsam. Besonders wichtig ist, daß die Formulierungen nicht negativ sind oder Zweifel offen lassen. Also: »Ich schaffe es« und nicht: »Ich möchte es schaffen« oder »Hoffentlich geht’s gut!« Dies bedeutet, zuerst das Problem zu erkennen, dann das Ziel als positive Formel auszudrücken. Hierzu einige notwendige Beispiele: Besonders ängstliche, verspannte Menschen sollten vielleicht wählen: »Ich bin überall sicher, entspannt und ganz ruhig!« Nicht: »Ich habe keine Angst mehr, ich bin nicht mehr verspannt oder unsicher!« Auch sollten negativ wirkende Worte wie Angst, Schmerz, Hemmung, Unruhe, Störung, Problem usw. vermieden werden. Zur Nikotinentwöhnung könnte eine Formel lauten: »Ohne Rauch geht’s auch«. Zielformulierungen sollten also immer positiv sein; hier noch einige Beispiele, die von Übenden mit Erfolg verinnerlicht wurden: »Ich fühle mich ruhig, ganz sicher und frei!« »Die Ruhe kommt von allein!« »Ich bin ganz locker, gelöst und frei!« »Ruhe, Gelassenheit, Geborgenheit tut gut!« Dieses Ziel (in Form eines geeigneten Satzes) muß dann in die täglichen Entspannungsübungen einbezogen werden, bis das Problem gelindert ist. Meine Erfahrung über die Vorsatzbildung in den letzten Jahren innerhalb der Gruppenkurse, in denen immer wieder Formeln erarbeitet wurden, zeigten verblüffende Wirkungen bei den Übenden. Der Funktionsmechanismus ist folgender: Die einmal gewählten Vorsätze in der Entspannung beeinflussen unser bewußtes und unbewußtes Verhalten und -1 0 7 -

Denken auch den Tag über. Ähnlich wie beim »Superlearning«, bei dem ja ebenfalls die erhöhte Lernbereitschaft in der Entspannung ausgenutzt wird, kann ein positives Ziel so eher erreicht werden, als durch »normales« Lernen. Durch die allmähliche Beseitigung von Problemen werden weitere Streßreize ausgeschaltet und das Leben wird auch aus dieser Sicht leichter. Daraus kann eine erhöhte Konzentrationsfähigkeit, ein besseres Durchhaltevermögen und ein verstärktes Selbstvertrauen hervorgehen. 1. Die wachsende innere Ausgeglichenheit führt zu einer gezielten Distanzierung in Streßsituationen. 2. Entspannte Menschen haben einen gesunden, erholsamen Schlaf. 3. Das autogene Training fördert die körperliche Erholung, führt zur Leistungs- und Konzentrationssteigerung. 4. Bei den folgenden psychosomatischen Störungen wird das autogene Training mit Erfolg eingesetzt: • zur Reduzierung von Angstzuständen, Prüfungsängsten, Phobien, • bei Kreislaufstörungen, Blutdrucknormalisierung, Behebung kalter Hände und Füße, Kopfschmerzsyndromen, • bei Magen-Darm-Störungen, • zur Schmerzlinderung, • zur Behebung nervöser Atembeschwerden wie asthmatischen Beschwerden und • zur Behebung depressiver Verstimmungen.

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Schlußbemerkung Obschon das autogene Training bei richtiger Anwendung viel zu leisten vermag, stellt es doch kein Allheilmittel dar! Aber es bietet so viele Vorteile für unsere größeren und kleineren Sorgen des Alltags, daß Sie den Versuch machen sollten, zu dem Kreis der erfolgreichen Anhänger zu gehören. Auch der Ruf nach immer wieder neuen Methoden zur Selbstverwirklichung mußte relativiert werden. Ein Wort von Schulte, dem »Erfinder« des autogenen Trainings, soll am Ende stehen: »Die Entspannung des autogenen Trainings ist nicht als Rezept für Weltanschauungen gedacht. Leben verlangt Polarität. Auf unseren Stoff angewandt: höchste Kampf- und Wirklichkeitsspannung auf der einen, tief aufbauende, von innen quellende Entspannung auf der anderen Seite. Hierfür ist das autogene Training als konzentrativ-seelische gymnastische Hilfe gedacht.« Jeder von uns besitzt eine natürliche Selbstheilungskraft, mit deren Hilfe wir uns von gefühlsmäßigen wie körperlichen Dingen erholen können. So können wir uns vom Schock eines Unfalles wie von einer erheblichen psychischen Anspannung nach einer gewissen Zeit lösen und uns wieder Entspannen lernen. Wir sind durchaus mit der Fähigkeit geboren, unsere emotionalen Wunden selbst beheben zu können. Wir besitzen auch die natürliche Fähigkeit zur Weiterentwicklung unserer eigenen Persönlichkeit und erfahren im Laufe unseres Lebens immer wieder neue Ebenen des Verstehens und gewinnen damit neue Eindrücke. Da wir aber auch wissen, daß allzuoft die Ängste und Hemmungen unseren Erfahrungsschatz im Leben negativ prägen, sollten wir uns darauf konzentrieren, unser LeibSeele-Gefüge durch positive Erfahrungen zu bereichern. Gerade hier stellt das autogene Training für jeden von uns die Möglichkeit dar, wieder positive dynamische Ansätze aufzuzeigen. -1 0 9 -

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