blutmohnmilchoriginal.pdf

August 30, 2017 | Author: Erica England | Category: Heroin, Wellness, Medicine
Share Embed Donate


Short Description

Download blutmohnmilchoriginal.pdf...

Description

*

Blut & Mohnmilch …die frühen Jahre

*

Erzählungen von Karlos H. INTRACEREBRAL.eu Morphinistenseite.com

* Herstellung und Verlag: INTRACEREBRAL Aachen ©2009Karlos H. INTRACEREBRAL.eu Morphinistenseite.com

1

*

Meiner kleinen Schwester Gaby gewidmet, Die liebenswert hartnäckig meine Tage Erhellt.

*

Mit Dank an die Stadt Aachen, meinen Arzt und meine Apothekerin, die mit vereinten Kräften mein Leben erhalten. Dank auch an meinen Chauffeur Farukh, der die Lasten des Alltags von mir nimmt und Dank an Nic aus Fürstenfeldbruck bei München, für ihren guten Willen.

2

*

Inhaltsverzeichnis

Geschlossene Abteilung……………5 Dorothea…………………………..23 Sylvia……………………………...26 D E A ……………………………..33 Suchtstation……………………….42 Die Strafzelle……………………...70 Albert………………………………81 Der Unfall………………………... 97 Quasimodo………………………..104 Frei??..............................................107 Adieu……………………………..125 Mit Morphin im Paradies………...137 Zurück im Paradies……………....146 Wider ein „besonderer Fall“……..173 Früchte des Hasses………………180 Agent wider Willen………………187

* 3

*

Die Ereignisse, die den Erzählungen dieses Buches zugrunde liegen, fanden statt auf dem Planeten eines weit entfernten Sonnensystems. Ähnlichkeiten mit Ereignissen, Orten, Institutionen Berufsgruppen oder Personen auf Erden, sind rein zufällig…

* 4

Geschlossene Abteilung Wurde man früher einer Straftat verdächtigt und spielte dabei auch nur im Entferntesten die Verwendung illegaler psychotroper Substanzen eine Rolle, wurde man vom Gericht nur allzu gerne in eine psychiatrische Anstalt geschickt, wo untersucht wurde, ob man während der Tatzeit auch bei Verstand und somit strafrechtlich zurechnungsfähig war. Ich war noch keine Zwanzig und wurde einer Vielzahl von Einbrüchen verdächtigt. Keine schwerkriminellen Taten, mehr so Kleinigkeiten, zu denen wilde ungezügelte Jugend neigt. Als ich festgenommen wurde, hatte ich einige Krümel geronnener Mohnmilch in meiner Hosentasche. Trank man jeden Tag fünf Liter Bier oder einige Pullen Wein, war das in Ordnung. Tranken wir nicht alle ein wenig? Rauchte man Tabak bis aus allen Löchern Krebsgeschwüre sprossen wie eitriger Blumenkohl, war man noch stets ein guter Junge. Aber wehe, man paffte gelegentlich des Abends zur Entspannung einige Hanfblüten oder etwas getrockneter Mohnmilch! Dann bestand sofort der „begründete Verdacht“, man sei nicht mehr völlig bei Verstand und müsse dringend gründlich auf seine Geistesverfassung untersucht werden. Nach einigen Monaten der Untersuchungshaft wurde ich in die psychiatrische Abteilung der Justizvollzugsanstalten gebracht. Dort sollte ein für allemal geklärt werden, ob ich noch „normal“ war. Die psychiatrische Abteilung der Justizvollzugsanstalten, war (und ist vermutlich noch) ein Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses. In einer Ecke innerhalb der eigentlichen Mauer eines ehemaligen Zuchthauses gab es ein weiteres Mauergeviert, nicht weniger hoch als die Zuchthausmauer selbst. Dahinter verbarg sich die psychiatrische Abteilung der Justizvollzugsanstalten. Im Inneren des Gebäudes war so

5

gut wie alles in beruhigenden Farbtönen gehalten, lindgrün, milchig weiß oder beige. Es gab zwei Schlafsäle mit Krankenhausbetten. Rechts des Korridors, der in einen kleinen Garten führte, gab es mehrere Einzelzellen mit großen Türspionen, durch die ich lugte, wann immer sich Gelegenheit bot. In jeder dieser Zellen lag, auf seinem Bette festgeschnallt, ein Mensch der nie aus dieser Zelle zu kommen schien. Wie es den Anschein hatte, durften diese Menschen froh sein, ließ man sie manchmal aus ihren Betten. Sie schienen dazu verdammt, einen Teil ihres Lebens, wenn nicht gar ihr ganzes Leben, festgeschnallt in einem Bette zu verbringen. Solange ich in diesem Hause weilte, sah ich nie einen dieser Menschen außerhalb seines Bettes, geschweige denn, aus seiner Zelle. Zumindest während der Zeit meines Aufenthaltes, sah keiner von ihnen das Blau des Himmels, oder fühlte die Sonne auf seiner Wange. Mein persönlicher Eindruck war, man missbrauchte diese Menschen, um neue pharmakologische Molekülverbindungen zu erproben… Einige Berühmtheiten ihrer Zeit traf man in diesem grausigen Haus, wie zum Beispiel Bruno, der „Vampir von Nürnberg“, wie die Medien ihn genannt hatten. Bruno mochte zwischen sechsunddreißig und zweiundvierzig Jahre alt gewesen sein. Zeitlebens taubstumm und entsprechend einsam, bekam er eines Tages Bücher über Vampirismus in die Hände und war bei ihrer Lektüre sofort zu der Überzeugung gelangt, er habe Blut nötig. Dazu schlich er sich zuerst nur in die Leichenhallen der Umgebung und knabberte die Toten an. Abgelagerte Tote, brachten ihm aber nicht die ersehnte Befriedigung, wie ich mir vorstellte, wegen der Leichenstarre und dem geronnenen Blut. Deshalb erschoss Bruno eines Nachts ein Pärchen, das in warmer Liebe umschlungen auf einer Parkbank saß und trank deren frisches, noch dampfendes Blut. Frischblut, war nun schon mehr nach Brunos

6

Geschmack. Es folgte ein erschossener und leer geschlürfter Landarbeiter und bald darauf Brunos Festnahme. Seitdem saß er verdrossen in einer Zelle der psychiatrischen Abteilung der Justizvollzugsanstalten und dürstete nach Blut. Bruno war des Lesens fähig, nicht aber des Schreibens. Wild gestikulierend, bat er deshalb mich um Hilfe beim Schreiben seiner zahlreichen Anträge an die Justizbehörden, in denen er wöchentliche Rationen von mindestens sieben Litern frischen Jungfrauenblutes forderte. Sollte es zu problematisch sein, an Jungfrauenblut zu kommen, so ließ Bruno seinen Untersuchungsrichter wissen, gäbe er sich auch mit sieben Litern gut gerührter Blutkonserven vom Roten Kreuz zufrieden. Erzürnt darüber, dass sein Untersuchungsrichter solche Anträge nicht beantwortete, verletzte Bruno sich mit spitzen oder scharfen Gegenständen, die er Gott weiß wo und wie geklaut haben mochte, und malte mit eigenem roten Blute höllische Verwünschungen, Motiven des Hieronymus Bosch ähnlich, an die Wände seiner Zelle. Gönnte man uns abends einige Stunden Fernsehen, saß Bruno neben mir und taute immer dann auf, sobald in den Nachrichten, etwa während eines Staatsbegräbnisses oder ähnlichem, ein Sarg gezeigt wurde. Dann grinste Bruno breit und zappelte vergnügt auf seinem Stuhle. In meinen Augen war er ein hoffnungsloser Fall. .. Es gab „Arbeitstherapie“ in diesem Haus. Man durfte mehrere Stunden des Tages, für 15 Pfennige pro hundert Stück, Schachfiguren zusammenkleistern und zum Abschluss ein grünes Filzläppchen auf ihren Boden kleben. Einen Arzt hatte ich in den Tagen meines Aufenthaltes nur zwei Mal gesehen. Am ersten Tag und drei Tage später. „Sie sind depressiv“, fand der Arzt am ersten Tage und verordnete ein Antidepressivum. Ich erhielt es morgens und abends in einem Kunststoffzahnputzbecher, in Form einer halbwegs in Wasser

7

gelösten Tablette. Eine halbe Stunde nach Einnahme sah ich aus wie einfaches Volk sich Geistesgestörte vorstellte. Ich kam daher wie ein sabbernder Idiot, konnte meinen Mund nicht mehr schließen, mein Unterkiefer hing herab als gehörte er mir nicht mehr, ich konnte meinen Kopf nicht mehr heben, meine Halsmuskulatur versagte und ich litt Gleichgewichtsstörung die mich zwang, nur noch mit nach vorne gestreckten Armen zu laufen. Schlucken musste ich dieses „Medikament“. Es war immerhin, wie mir versichert wurde, „ärztlich verordnet“. Schluckte ich es nicht, bekäme ich es deshalb mit Gewalt injiziert. Nach drei Tagen ließ ich mich zum Arzt bringen und bat ihn, mein „Medikament“ wieder abzusetzen. „Wie ich sehe“, fand der Arzt, „geht es ihnen schon bedeutend besser“. Die Wahrheit war freilich, ich empfand die verheerende Wirkung dieses „Antidepressivums“ weniger heilsam als vielmehr wie eine Strafe die ich erhielt weil ich es gewagt hatte, in unserer fröhlichen Gegenwart depressiv zu wirken. Ich wäre jedenfalls viel lieber zutiefst depressiv gewesen, als weiterhin unter dem Einfluss dieses Teufelszeugs zu bleiben. Vier Wochen war ich in dieser psychiatrischen Abteilung der Justizvollzugsanstalten. Danach wurde ich zur „weiteren Beobachtung“ in das Landeskrankenhaus Vogelsang gebracht. Dort landete ich in der geschlossenen und besonders gesicherten Abteilung für geisteskranke Kriminelle, Haus 42, „Die Festung“ genannt. Das Landeskrankenhaus Vogelsang durfte man sich nicht als gewöhnliches Krankenhaus vorstellen. Es war vielmehr eine Ortschaft mit über 100 Häusern. Haus 42, „Die Festung“, ein einstöckiges Gebäude mit spitzem rotem Ziegeldach, war nur eines davon. Auch in der Festung gab es mehrere Einzelzellen mit großen Türspionen im Korridor zum Hof. In diesen Zellen lagen ebenfalls Menschen, die ihr Leben vorerst festgeschnallt auf einem Bette zubringen mussten. Hoch lebe die Psychiatrie und ihre heilsamen, menschenwürdigen Methoden! In meinen Augen waren Psychiater

8

politische Folterknechte die Menschen mit Qualen zwangen, unerwünschtes Verhalten zu unterdrücken und durch erwünschtes zu ersetzen. Auch unter der Belegschaft der Festung gab es einige Berühmtheiten ihrer Zeit, wie etwa den berüchtigten „Äthermörder“. Dieser „Äthermörder“ war ein unscheinbarer Knilch mit frisch-fröhlichem Jungengesicht. Wer ihn sah käme niemals auf die Idee, er stecke hinter den zahlreichen Frauenmorden von denen die Medien wochenlang berichteten. Mit einem Fläschchen Äther in der Tasche, war dieser „Äthermörder“ in Wälder gegangen und hatte dort Frauen aufgelauert. Er überwältigte sie und trieb Gott weiß was mit ihnen. Hinterher war jedenfalls noch jede von ihnen tot und aufrecht an einen Baum gebunden aufgefunden worden. (...wollte der Täter sich damit vielleicht der Illusion hingeben, sie stünden aufrecht, folglich lebten sie noch?) Natürlich hatte ich diesen „Äthermörder“ einige Male befragt, was er so im Einzelnen mit den Damen getrieben hatte. „Nichts“, war seine schlichte Antwort, „Nichts“, und dabei sah er einen an als könne er kein Wässerchen trüben, als wisse er gar nicht, wovon die Rede war. Warum die Frauen alle tot und aufrecht stehend an einen Baum gebunden waren, fragte ich verschiedene Male. Das wisse er nicht, erklärte er aufrechten Blicks. Als er sie verließ, lebten alle noch. Und was es mit dem Äther auf sich hatte, bohrte ich weiter. Dieser Frage wich er stets auffallend aus und es war weiter nichts darüber in Erfahrung zu bringen. Da es in einem System, dass Menschen aufgrund ihrer Geistesverfassung einschloss, nie eindeutig war, weshalb sie eingeschlossen wurden, konnte ich mir kein schlüssiges Urteil darüber erlauben, ob der Knilch tatsächlich getan hatte, was man ihm vorwarf.

9

Auch den damals Schlagzeilen machenden „Kellermörder“ traf ich in der Festung. Dieser „Kellermörder“ war ein zierlicher, kultivierter und höchst sympathischer Mann mittleren Alters, mit einer schneeweißen Stirnlocke im ansonsten rabenschwarzen Haar. Er hatte den Liebhaber seiner Frau oder Freundin in einem Keller erschossen. Das bestritt er auch nicht. Ich stellte mir vor, er wird triftige Gründe gehabt haben, diesen Mann zu erschießen. Meiner Ansicht nach war dieser „Kellermörder“ jedenfalls unschuldig, selbst hatte er tausendmal geschossen. Am Ende war er wegen Totschlags zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ich begegnete ihm einige Jahre später in der Haftanstalt L. wieder. Einen mächtigen, Bärenhaften Kerl gab es auf der Festung, mit dem Verstand eines Kleinkindes und tiefen Dellen beiderseits des Kopfes. Die Dellen mochten Folge einer allzu brutalen Zangengeburt gewesen sein. Er schien harmlos und war, wie ich hörte, schon sein ganzes Leben in diesem Krankenhaus. Weshalb man ihn in der Abteilung für geisteskranke Kriminelle hielt, konnte ich nie erfahren. Ich fand es jedenfalls beunruhigend, wenn er hinter mir stand, schwer atmend wie ein verausgabtes Tier, und niemand begriff was in ihm vorging. Was gab es nicht alles für Käuze im Haus 42? Manche Leute kamen einem wochenlang völlig normal vor, bis sie eines Morgens mit Schaum vor dem Munde erklärten, sie seien eine rosarote Schildkröte und mehr. Kuno war schon seit Kindesjahren in einer geschlossenen Abteilung. Weshalb, wurde einem deutlich wenn man ihn eine Weile beobachtete. Kuno lief vor sich hin brummend und die Arme vor sich gestreckt an den Wänden entlang. Plötzlich änderte er seine Richtung, packte Einen der ihm am nächsten stand und versuchte seine Finger in dessen Mund zu zwängen. Gelang es ihm, versuchte er mit aller Gewalt

10

den Mund auseinander zu reißen. Kam Kuno in meine Richtung, gab ich ihm einen gut gezielten Fausthieb zwischen die Augen. Das drehte ihn auf der Ferse in eine andere Richtung, in der er seinen Unfug weiter trieb. Kuno konnte nicht sprechen. Er gab nur Grunz- und Brummlaute von sich. Er konnte keine gewöhnliche Kleidung tragen, weil er sie schon nach wenigen Minuten in Fetzen vom Leibe riss. Man packte ihn deshalb in einen Overall aus festem Segeltuch, einem Judoanzug ähnlich, der vorne eine Öffnung zum Pinkeln hatte und vom Po bis zum Nacken offen stand, aber am oberen Teil mit verschließbaren Steckknöpfen verschlossen war. Eines Tages kam einer der Bekloppten, den ich bis dahin für weniger bekloppt gehalten hatte zu mir und stellte die, wie ich dachte, theoretische Frage, wie beginge man Selbstmord so man über eine Injektionsspritze von 50cc Inhalt verfügte? Ich war gerade beim Kartenspiel um Zigaretten und schenkte der Frage nicht die gebührliche Aufmerksamkeit. Mehr so nebenbei antwortete ich, „Nimm drei Päckchen Schwarzer Krauser Zigarettentabak, koche ihn eine halbe Stunde in Wasser, dampfe hinterher das Wasser so weit wie möglich ein und jage dir die übrig gebliebene Brühe mit der fünfziger Pumpe in die Armvene“. Ich war noch mitten im Kartenspiel und hatte bereits einen Stapel gewonnener Zigarettenpackungen neben mir, als man den Kauz mit seiner merkwürdigen Frage käsebleich auf einer Bahre aus dem Schlafsaal trug. Eine Stunde später war er wieder auf der Abteilung, bleich und mit zittrigen Beinen, aber ansonsten ganz fröhlich. Gut dass ich nicht geraten hatte, einfach 50cc Luft zu injizieren. Leute gab es, die schon zwölf, zwanzig, ja dreißig Jahre und mehr auf dieser Abteilung waren. Waren sie, wie so manche, dreißig,

11

fünfunddreißig Jahre und länger dort und waren sie alt geworden, kamen sie ins Haus 92 der Abteilung B4, die Sterbestation, wo sie, vermutlich nicht ohne Hilfe seitens des medizinischen Personals, fernab aller Blicke dieser Welt, einsam verstarben. Während meines Aufenthaltes in Haus 42 erlebte ich zwei dieser Verlegungen. In beiden Fällen handelte es sich um steinalte Greise; Menschen, die den überwiegenden Teil ihres Lebens in dieser geschlossenen Abteilung für geisteskranke Kriminelle zugebracht hatten… Ein besonderer Fall wollte andauernd mit mir türmen. „Wir brauchen nur einen Bohrer“, wiederholte er andauernd. „Damit bohren wir das Schloss aus der Tür zum Hof und klettern nachts über die Mauer“. Befragt, wie er an den Schlüssel der Korridortür kommen wollte, der nötig war, um an die Tür zum Hof zu gelangen, eröffnete er seinen kühnen Plan. Er wollte nachts in das Büro des Nachtdienstes schleichen, dem eine über die Rübe ziehen und seelenruhig den Schlüssel vom Brett nehmen. Dass er dabei auch gleich den Schlüssel für die Tür zum Hof vom selben Brett nehmen konnte, entging ihm. Selbst musste das Schloss der Türe zum Hof aufgebohrt werden, bezweifelte ich stark dass der Kauz wusste an welcher Stelle eines Schlosses man bohren musste um es zu öffnen. Ohne Bohrmaschine oder zumindest einer primitiven Bohrkurbel, nur mit einem Bohrer in bloßen Händen, ginge das ohnehin nicht. Wie stellte er sich das vor? Etwa den Bohrer ansetzen und mit den Fingern trällern als bohrte man sich damit in der Nase?? Und wie der Kerl schon aussah! Bis auf seine stets sich runzelnde Stirn und seinen Lippen, schien das Gesicht dieses Mannes wie gelähmt. Sprach er, runzelte und glättete sich seine Stirn wie ein selbstständiges Lebewesen und seine nach vorne drängenden Lippen agierten dabei wie ein sprechender Rüssel. Eines seiner Beine war kürzer als das andere. Er hatte einen deformierten rechten Arm, dessen

12

Hand immer krampfhaft schräg unterhalb seines Halses zu liegen kam. Um den Arm wieder in eine günstigere Position zu bringen, fasste er diese Hand und drehte sie unter lautem Knacken um die eigene Achse, wobei er den Eindruck erweckte, es handele sich um einen makaberen Zirkusakt. Und mit dem sollte ich türmen?! Schon das Aussehen dieses Mannes verhinderte jede erfolgreiche Flucht. Wo wollte er hin, so er in Freiheit wäre? Egal wo er sich auch zeigte, er fiele sofort auf. Was er zur erfolgreichen Flucht benötigte, war kein Bohrer, sondern ein neuer Körper… Eines Abends scholl vom hintersten Ende des Schlafsaals her mächtiger Tumult. Die schrecklichen Geräusche tönten aus der Ecke, in der sich das Büro des Hauptpflegers befand. Wie sich zeigte, war der verwachsene Verrückte in das Büro des Hauptpflegers geschlichen, hatte eine schwere elektrische Schreibmaschine vom Schreibtisch genommen und dem Hauptpfleger über den Schädel geschlagen. Ich sah hinterher die Schreibmaschine. Sie war nicht nur verbogen, sie war zerknüllt. Sie sah aus wie ein verknoteter Igel, aus dem, wie bizarre Borsten, die Buchstabenhämmer der alten Büromaschine hervor sahen. Es wunderte mich dann auch sehr, dass dieser Hauptpfleger nur zwei Wochen im Krankenstand verbrachte und danach mit nur einem Heftpflaster auf der Stirn wieder erschien... Es gab freilich nicht nur Menschen auf dieser Abteilung für geistesgestörte Kriminelle, denen eindeutig anzusehen war, dass sie anders waren als gewöhnliche Leute aus der Bevölkerung. Mit anderen Worten, es gab auch eine Anzahl Menschen, allen voran einige, die wie ich wegen der Verwendung, dem Besitz, dem Erwerb oder dem Verkauf von verbotenen psychotropen Substanzen in dieser Abteilung gefangen gehalten wurden, denen nichts weiter fehlte als absoluter

13

Gehorsam gegenüber der Regierung. Nach meiner Einschätzung war gewiss ein Drittel der Belegschaft nicht verrückter als der durchschnittliche Bürger auf den Straßen der Städte. Rossberger war seit zwölf Jahren in der Abteilung für geisteskranke Kriminelle. Der wollte aber auch gar nicht weg, was mir anfangs Rätsel aufgab, bis ich dahinter kam, Stationsarzt Wladislovsky belohnte ihn mit Morphininjektionen für Informationen, was sich auf der Abteilung alles zutrug. Lief zufällig Stationsarzt Wladislovsky durch den Aufenthaltsraum, rannte flugs Rossberger hinter ihm her und flehte, “Bitte, Herr Doktor! Nur noch eine Spritze! Bitte, Herr Doktor, nur noch eine“! Brachte man Rossberger gegen seinen Willen von der geschlossenen Abteilung in eine halboffene, fügte er sich sofort furchtbare Verletzungen zu um die Ärzte zu bewegen, ihn wieder in die geschlossene Abteilung, in Doktor Wladislovskys Nähe, zu bringen. Dazu schnitt er mit Rasierklingen so schreckliche Wunden in seine Arme, dass man erblasste, wenn man sie sah. Zentimeter breit klaffende Schnitte, von der Schulter bis hinab zum Handgelenk. Oder aber, er verschluckte Gegenstände. Einmal verschluckte er eine stählerne Bettfeder und tags darauf ein gläsernes Fieberthermometer. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen auf einem Röntgenfoto gesehen, ich hätte es nie geglaubt. Das Fieberthermometer war in Rossbergers Magen genau in die Öffnung der Bettfeder gefallen! Ging es nicht anders, wurden solche Gegenstände operativ entfernt. Kreuz und quer verlaufenden Narben auf Rossbergers Oberkörper zeugten von einer Vielzahl vergangener Operationen. Eines Tages klaute er aus dem Arztzimmer eine Packung Tabletten, kam damit zu mir gerannt und wollte wissen, was das für Tabletten seien. Ich warf einen Blick auf die Packung, las, „Skopolamin“ und sagte, „Die sind gut. Davon kannst du ruhig die ganze Packung einnehmen“. Rossberger vertilgte auf der Stelle den

14

gesamten Packungsinhalt. Als Doktor Wladislovsky den Diebstahl bemerkte, ging er kurz vor der Nachtruhe im Schlafsaal seelenruhig von Bett zu Bett und sah sich jeden Patienten genau an. Als er bei Rossbergers Bett ankam, bemerkte er sofort dass Rossberger halluzinierte. Das war aber auch schwer zu übersehen. Unter dem Einfluss des Skopolamins glaubte Rossberger, Insekten krabbelten an seinem Blickfeldrand. Fixierte er sie, waren sie weg und wieder am Rande seines Blickfeldes. Rossberger lag im Bett und warf den Kopf hin und her, sah einmal hier hin einmal dort hin, im verzweifelten Versuch, endlich die vermaledeiten Insekten in die Mitte seines Blickfeldes zu bekommen. „Soso“, sagte Wladislovsky ruhig. „Hier also, sind meine Tabletten abgeblieben. Gegenmittel, bekommst du keines. Es geschieht dir nur recht. Und bis die Wirkung abgeklungen ist, bleibst du im Bett“. Drei Tage lag Rossberger daraufhin festgeschnallt im Bett und warf vergebens seinen Kopf hin und her, um die vielen Insekten endlich genauer zu sehen. Wäre Stationsarzt Wladislovsky nicht zufällig Stationsarzt dieser Abteilung, er wäre mit Sicherheit einer der Insassen. Wladislovsky war an Amphetaminen gewöhnt, was allen seinen Kollegen sowie den Patienten zu entgehen schien. Ich kannte aber die Nebenwirkungen, den unnatürlichen Rededrang und die Stimmungsschwankungen von Amphetamingewöhnten nur allzu gut. Auch die Flocken von Speichelschaum in Wladislovskys Mundwinkel kamen mir bekannt vor. Sie waren typische Folge des Amphetaminkonsums und entstanden durch beständiges Reden und Mahlen mit den Kiefern. Wladislovsky, verrückt wie er war, nahm sich als Maßstab geistiger Gesundheit. Wich jemandes Meinung auch nur ein Jota von der seinen ab, sah er darin den Ausdruck einer Geisteskrankheit und verordnete stärkste Medikation. War ein Patient in einer Sache anderer Meinung und ließ sich auch

15

durch Wladislovskys Drängen nicht davon abbringen, wurde er einige Wochen lang ans Bett gefesselt und bis er „mehr Verstand“ zeigte, mit täglichen Injektionen stärkster Medikamente „behandelt“. Dabei handelte es sich meist um so genannte „Gummihämmer“ oder „Cocktails“, Gemische verschiedener „Medikamente“, wie etwa Megafen, Atosil und Neurocil. Ich hatte diese Mischungen zu Versuchszwecken oral verwendet und auch die Wirkung der einzelnen Bestandteile oral erprobt. Schon oral, war die Wirkung umwerfend. Alleine Neurocil, verabreicht in einer Dosis von nur 30-40 Tropfen, warf innerhalb von 30 - 40 Minuten den stärksten Mann vom Hocker. Mit Megafen verhielt es sich ähnlich, nur benötigte man davon ein wenig mehr. Stationsarzt Wladislowsky war gefährlich. Er konnte einen Patienten töten ohne dafür im Geringsten belästigt zu werden. Einen Mann, der unter Klaustrophobie litt, hatte er in den fünfunddreißig Zentimeter schmalen Zwischenraum zweier Doppeltüren schließen lassen. Als man ihn nach zwei Stunden wieder befreien wollte, war er inzwischen vor Angst gestorben und kein Hahn krähte jemals danach. Das Personal, das den Vorfall miterlebt hatte, wagte dem Herrn Stationsarzt nicht zu widersprechen. Sie fürchteten um ihre Stellung. Als ich zu Wladislovsky sagte, „Ich habe gesehen was sie mit diesem Mann getan haben und ich werde sie dafür anzeigen“, sah er mich nur ruhig an und ging wortlos und gelassen weiter seines Weges. Er wusste, es gab ein Gesetz das besagte, solange ich nur zur Beobachtung auf seiner Abteilung war, durfte er mir gegen meinen Willen keine Medikamente verabreichen. Sollte ich aber durch ein Urteil meiner bevorstehenden Gerichtsverfahrens als Patient wieder in seine Abteilung zurückkehren, konnte mein großer Mund mich das Leben kosten. Ich hatte wegen vorsätzlicher Tötung Strafantrag gestellt. Die Ermittlungen wurden aber

16

wegen „Mangel an Beweisen“ eingestellt. Wladislovsky würde nie vergessen und nie verzeihen, dass ich versucht hatte, ihm so gründlich ans Bein zu pissen. Ich war noch jung und viel zu unerfahren um zu begreifen, spielte ich mit diesem Mann, spielte ich mit meinem Leben. Nur noch ein wenig Pech bei meinem Gerichtsverfahren und mein Leben könnte verspielt sein... Das am häufigsten verwendete Medikament in dieser Abteilung war ein Zeugs namens Haloperidol, heute eher als Haldol bekannt. Um dessen Nebenwirkungen zu unterdrücken, benötigte man ab einer gewissen Dosis die zusätzliche Gabe von Akineton. Ließ man es weg, stellten sich Kieferkrämpfe ein, Krämpfe im Rückgrat und Gott mag wissen was noch alles. Eines Tages war es uns Irren gelungen, aus der Medikamentenstation im Aufenthaltsraum ein Fläschchen Haloperidol Tropfen zu klauen. In einem unbeobachteten Moment schütteten wir den Inhalt der ganzen Flasche auf das Abendessen des Hauptpflegers. Haloperidol hatte kaum Eigengeschmack. Der Mann aß ahnungslos seinen Teller leer und machte sich danach auf den Nachhauseweg. Weit, kam er nicht. Schon fünfzehn Minuten später war er wieder zurück, die Augen verdreht und voller Panik, sein Rücken nach hinten gebogen, so dass er gerade noch laufen konnte, das Maul aufgesperrt, der Unterkiefer seitlich verschoben, fast schon ausgerenkt. Seine Kollegen verabreichten ihm sofort Akineton. Kurz danach war er wieder fit, wennschon ein wenig benommen... Die Festung hatte eine Abteilung im Erdgeschoss und eine im oberen Stockwerk. Oben waren die gefährlicheren geistesgestörten Kriminellen untergebracht, wie beispielsweise ich. Die Festung war von einem sechs Meter hohen Maschenzaun umgeben, der eine lang gezogene Rolle NATO-Stacheldraht trug. An der hinteren Breitseite des

17

Gebäudes und innerhalb dieses Maschenzauns, war ein kleiner Hof, umgeben von einer etwa fünf Meter hohen Mauer. Auf diesem Hof durften sich die Patienten eine Stunde des Tages die Füße vertreten. Auf der Mauer des Hofes gab es ebenfalls eine lang gezogene Rolle aus NATO-Stacheldraht. Durch diese Rolle lief ein zweiadriges Schwachstromkabel, alle paar Meter mit der Ober- und Unterseite der Rolle verknüpft und in ihrer Mitte durch Bananenstecker verbunden. Wollte man die Mauer überwinden, musste man sich, um hoch zu kommen, notwendigerweise an diese Stacheldrahtrolle hängen. Dadurch übte man Zug auf den unteren Teil der Rolle, wodurch die Bananenstecker in ihrer Mitte auseinander glitten und einen Stromkreis unterbrachen. Das veranlasste ein Funksignal zu einem starken Sender im Zimmer des Stationsarztes, der seinerseits ein Signal zur nächsten Polizeidienststelle sandte und an alle Häuser der Anstalt. Wurde dieser Alarm ausgelöst, heulten sofort in weitem Umkreise alle Luftschutzsirenen. Ärzte und Krankenpfleger trugen im Brusttäschchen ihrer weißen Kittel ein kleines Gerät von Kunststoff, etwa halb so groß wie eine Zigarettenpackung und etwa von selben Gewicht. Tippte man mit den Fingern auf dieses Kästchen, wurde derselbe Alarm ausgelöst wie an der Hofmauer. Zu all diesen Sicherheitsvorkehrungen kamen noch bewaffnete Wachleute der Bewachungsfirma Siedeier. Gekleidet in schwarze Uniformen wie ehemals die SS, trugen sie geladene Trommelrevolver des Kalibers .38 am Gürtel. Sie waren aber nur während der Besuchszeiten anwesend, bewachten den Besuch und durchleuchteten die Besucher mit Metalldetektoren. Es war nicht einfach, aus dieser geschlossenen Abteilung für geisteskranke Kriminelle zu fliehen… Eines Tages lernte ich, wie die gesamte Alarmanlage des Krankenhauses lahm gelegt werden konnte. Einer der nicht ganz so

18

Geistesgestörten hatte einem Pfleger das Alarmkästchen aus der Brusttasche gemopst und gab damit andauernd Alarm. Tippte er auf das Kästchen, heulten sofort alle Luftschutzsirenen der Umgebung. Danach musste der Hauptpfleger der Festung über hundert Häuser einschließlich der Polizeistation telefonisch davon unterrichten, dass es sich um einen Fehlalarm handelte. Nach einigen Fehlalarmen war es allen zu viel geworden und man schaltete die ganze Alarmanlage einfach aus. Der Zufall zeigte mir, wie man den Alarm an der Hofmauer deaktivieren konnte. Gleich neben der Tür zum Hof gab es eine kleine Toilette, die nur vom Hof aus zu betreten war. Während ich dort pinkelte, blieb mein Blick hoch oben an der Wand an einem runden Deckel hängen, der von derselben Farbe war wie die Wand. Es war eine Unterputzstromverteilerdose. Ich öffnete sie und fand zwei Schwachstromdrähte darin, die farblich identisch waren mit den beiden Schwachstromdrähten die durch die NATO-Stacheldrahtrolle der Mauer liefen. Man musste folglich nur die beiden Drähte der Verteilerdose in der Toilette mit dem Feuerzeug abisolieren und miteinander verbinden. Dann konnte man sich getrost an die Stacheldrahtrolle der Mauer hängen und dabei auch die Bananenstecker auseinander ziehen, es gäbe keinen Alarm weil der Stromkreis geschlossen bliebe. Die Alarmanlage der Hofmauer war damit ausgeschaltet. Danach brächte man an einem sonnigen Tage, an dem die Irren alle ihre Wolldecken mit in den Hof schleppten um sich darauf in die Sonne zu legen, nur ebenfalls eine Wolldecke mit. Die würfe man an den NATO-Stacheldraht an der Mauer, sie bliebe an den Zacken des Drahtes hängen und man konnte sich daran auf die Mauer ziehen. Oben angekommen, entschärfte man die Stacheln des Drahtes indem man die Decke darüber warf und man konnte unbeschadet

19

darüber hinweg klettern. Auf der anderen Seite spränge man einfach von der Mauer. Dann stünde man zwar noch vor dem hohen Maschendrahtzaun, aber es wäre ein Kleines dafür zu sorgen, dass jemand von außen an der Innenseite des Zaunes eine Kneifzange im Boden verscharrte. Damit wäre man im Nu durch den Zaun. Stünde ein Auto bereit, man wäre unterwegs bevor die Spinner auch nur ahnten, was geschehen war. Damit zum Zeitpunkt der Flucht keine Bewaffneten anwesend wären, müsste man einen Tag wählen, an dem kein Besuch stattfand. Die zahlreichen großen Fenster der Aufenthaltsräume waren mit Gittern aus runden Eisenstäben gesichert. Diese Gitterstäbe verliefen aber nicht einfach senkrecht von oben nach unten. Sie hatten am unteren Teil vielmehr eine tiefe, hohe Wölbung nach außen, die ursprünglich für die Aufnahme eines Blumenkastens gedacht war. Es gab aber keine Blumenkästen in dieser Abteilung. Es gab nur die dafür vorgesehene Ausbuchtung am Gitter der Fenster. Das Fenster war breit und die Ausbuchtung tief genug, man konnte sich der Länge nach hinein legen und die Fenstervorhänge hinter sich schließen. Damit war man vom Aufenthaltsraum nicht mehr zu sehen, sah selbst aber alle Leute, die unten auf der Straße liefen und einem eventuell beim sägen zusahen. Nahm man zwei gewöhnliche Speisemesser mit gerundeten Spitzen und schlug sie mit den Schneiden aufeinander, entstanden im Stahl beider Messer Kerben. Diese Kerben im Messerstahl wirkten auf das weiche Eisen der Gitterstäbe wie die Zähne einer primitiven Metallsäge. Damit konnte man an sonnigen Tagen in aller Ruhe bequem auf einer Wolldecke in der Gitterausbuchtung des Fensters liegen, die Vorhänge schließen und seelenruhig unbeobachtet an den Gitterstäben sägen.

20

Vom Fenster im ersten Stock hatte man noch einige Meter hinab auf den Rasen zu überwinden. Das könnte mit Bettlaken geschehen die einfach aus den Schlafsälen zu holen waren. Notfalls konnte man aber auch springen und sich unten auf dem weichen Rasen abrollen. Unten stünde man wieder vor dem hohen Maschendrahtzaun. Dort müsste dieselbe Tour mit der hinterlegten Kneifzange und wartendem Auto dienen, wie bei dem Fluchtplan an der Hofmauer. Eines Tages, ich traute meinen Augen kaum, lief eine Frau durch die Abteilung. Es war die neue Assistenzärztin Wladislovskys. Diese Assistentsärztin las während meiner Gerichtsverhandlung das Gutachten vor, das über mich erstellt worden war. Als sie vorlas, mein IQ betrage 156, senkten die Anwesende betreten ihre Blicke. Vermutlich fanden sie es beschämend, aus berufenem Munde zu hören, sie wären trotz ihrer protzigen Stellungen offenbar dümmer als ich. Am Ende kam man zu dem Urteil, ich hatte mich während der vielen Einbrüche unter „Drogeneinfluss“ befunden und habe folglich für die Tatzeit als unzurechnungsfähig zu gelten. Ich wurde freigesprochen und durfte auf der Stelle nachhause. Drei Wochen später, ich lag gerade bequem zuhause auf dem Sofa und hörte Radio, wurde in den Nachrichten berichtet, aus Haus 42 seien drei Leute geflohen. Sie seien durch ein Fenster, dessen Gitter sie durchgesägt hatten, ins Freie gelangt. Es war nicht auszuschließen, dass sie die Gitterstäbe entdeckt hatten, die ich für den Fall eines ungünstigen Ausganges meiner Gerichtsverhandlung vorsorglich mit präparierten Speisenmessern teils durchgesägt, teils angesägt hatte. Damit die Schnitte nicht entdeckt wurden, hatte ich sie mit einem gut durchgekneteten Gemisch aus feuchtem Toilettenpapier und Zigarettenasche zugekleistert. Hatten die Flüchtigen etwa die bereits

21

bearbeiteten Gitterstäbe entdeckt? Die Ausreißer waren schon nach wenigen Tagen wieder eingefangen, aber sie hatten unterdessen zwei Familien ermordet. Was konnte ich dafür? War ich der Hüter aller Verrückten, aller Hasserfüllten, aller fragmentierten Geister, solitär sich quälend in eiskalter Einsamkeit? Schloss man Menschen ein, musste man davon ausgehen dass sie zu fliehen versuchten. Gelang es ihnen, war Freiheit ihr gutes Recht. So man Vorwürfe anzumelden hat, oder sich beschweren möchte, wende man sich bitte an Wladislovsky. Der lebt davon, der wird dafür bezahlt, den Wahnsinn zu verwalten!

*

22

Dorothea Wie bitte hätte ich wissen können, dass Dorotheas Vater ein Polizeikommissars bei der Abteilung zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität war? Sie jedenfalls, erwähnte es nie. Sie hatte wohl vage durchschimmern lassen, er sei Beamter. Deshalb war ich davon ausgegangen, er sei vielleicht ein hohes Tier bei der Stadtverwaltung, Oberhäuptling der Müllabfuhr oder ähnliches. Hätte ich gewusst, dass er Polizeikommissar war und noch dazu in der Abteilung zur Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität, ich hätte mich nie mit Dorothea eingelassen. Doch unwissend wie ich war, hatte ich ihr von meinem Material gegeben und das nicht zu knapp. Ich verfügte damals über eine Menge sonderbaren Materials aus den Stammesgebieten an der Pakistanisch-Afghanischen Grenze. Es war Heroinbase, der nach der Herstellung gepulvertes Rohopium beigefügt worden war. Dieses Rohopium ging beim Aufkochen zum Teil in Lösung über und zum Teil zurück in seine ursprüngliche knetbare Form. Man sog die Flüssigkeit in die Pumpe, nahm sie intravenös, kratzte hinterher den klebrigen, knetbaren Opiumrückstand vom Grund des Löffels und bewahrte ihn für schlechte Zeiten. Ein zweites Mal aufgekocht, gab er noch beträchtlich her. Davon nun, hatte Dorothea in den vierzehn Tagen die ich sie kannte, sicher vierzig Gramm verbraucht. Dorothea gelang es, lange Zeit immer nur in dieselbe Stelle ihrer Armbeuge zu injizieren. Dadurch entwickelte sie nie die für intravenöse Konsumenten so typischen Narben. Diese Narben, im Jargon „Straßen“ genannt, entstanden, sobald man Venen streckenweise verwendete, also der ganzen Länge nach, und nicht 23

punktweise, wie Dorothea, möglichst immer an derselben Stelle. Es darf getrost gesagt werden, Dorothea war ein Flittchen. Um an Geld für ihre Medizin zu kommen lief sie, gerade erst siebzehn geworden, den Straßenstrich auf der Dachauerstraße. Morgens rannte sie in irgendeine Schule, nachmittags stand sie in der Dachauerstraße und prügelte sich mit den alteingesessenen Huren um die besten Standplätze. Ich gab ihr kostenlos und so ging Dorothea, anstatt in die Dachauerstraße, fortan mit mir Tanzen. Ließen wir den Freunden des Opiats nur grundsätzlich ihre Medizin und ihre Ruhe obendrein, das „Drogenproblem“ löste sich geschwinde in Wohlgefallen auf... Als ich eines Abends mit Dorothea die Leopoldstrasse entlang lief, rannte plötzlich, wild gestikulierend, dieser Kerl auf und zu. Er riss Dorothea von meinem Arm und brüllte, „Ich bin ihr Vater“! Er schlug beide Arme um Dorothea und wollte sie wie eine Schaufensterpuppe zu seinem Wagen tragen. Doch diesen Plan hatte er schlecht mit seiner Tochter koordiniert. „Ich bin ihr Vater!“, rief er neugierig gewordenen Passanten entgegen. Dorothea, das liebe Mädchen, fauchte wie eine zornige Raubkatze, spukte und trat nach ihm. Sie kämpfte sich schließlich frei und trat ihrem Vater geschmeidig wie ein Panther und einer Wucht, die man dem zierlichen Geschöpf nie zugetraut hätte, punktgenau zwischen die Beine. Pfeifend, entwich Papa der Atem. Er wurde blass, verdrehte die Augen, krallte mit verzerrtem Gesicht die Finger um sein schmerzendes Gehänge, sackte durch die Knie und sank schließlich, langsam wie in Zeitlupe, zu Boden. Dorothea war sofort über ihm. Sie krallte ihre Finger in seine Haare, beugte sich zu ihm und biss sich lange und ausdauernd in 24

seinem Ohr fest. Heiß und rot, troff der Saft von Papas Wange. Aber er gab nicht auf. Auf bebenden Beinen, mit zerzausten Haaren und beblutetem Gesicht kam er wieder in die Höhe. Schließlich gelang es ihm doch, Dorothea wie ein widerborstiges Bündel unter Stößen und Püffen auf den Rücksitz seines Wagens zu befördern. Unter dem entnervenden Gekreische eines schleifenden Keilriemens fuhr er schließlich mit seiner Tochter davon. Ich sah dem Wagen noch hinterher, bis er in die Giselastrasse einbog, wo Dorothea mit ihren knallroten Plateauschuhen durch die Hinterscheibe trat und sie meinem Blick entschwanden. Es fing an zu regnen. Die bunten Leuchtreklamen entlang den Straßen gewannen an Farbintensität in der zunehmenden Nässe. Ich stellte mich schützend in einen Hauseingang und drehte eine Zigarette. Als der Regen nachließ, lief ich zur Giselastrasse und trat die Splitter von Papas geborstener Rückscheibe von der Fahrbahn. Danach schlenderte ich, nachdenklich und einsam wie ein Stein, zu meinem Hotel zurück...

* 25

Sylvia Sylvia war eine reizend aussehende junge Frau. Als ich sie zum ersten Mal, traf wollte sie wissen, was ich „so mache“. In Deutschland bedeutete diese Frage meist, „Wie kommst du an dein Geld“? Ich unterhielte eine unabhängige Produktion begehrter Pharmazeutika mit integriertem Vertrieb, erzählte ich und gab die Frage zurück, „Und was machst du so“? Fotomodell sei sie, erzählte Sylvia lächelnd. Ich war schon zu lange auf dieser Welt um nicht zu begreifen, „Fotomodell“ bedeutete in ihrem Falle, sie arbeitete als Prostituierte. Ich hatte schon mit genügend Prostituierten zusammengelebt und immer wenn sie fragten, „Was soll ich als Beruf angeben?“, hatte ich empfohlen, „Sag einfach, du seiest Fotomodell“. Nach einigen Tagen der Bekanntschaft lernte ich Sylvias „Fotostudio“ kennen. Es war ein dicht mit Bepflanzung umstandener und nachts im Schein der Straßenbeleuchtung reizend aussehender kleiner Kreisverkehr, unweit der Dachauerstraße, an dem sie so ziemlich jeden Abend tippelte. Mädchen wie Sylvia verdienten nicht schlecht, bräuchten sie nicht all ihr Geld zum Erwerb ihrer Medizin. Dadurch behielten sie selten genug übrig, um beispielsweise neue Schuhe zu kaufen. Ende der siebziger Jahre lebten Sylvia und ich schließlich einige Zeit zusammen… Es war die Zeit, da es prominenten, einflussreichen Medizinern gelang, angeführt von einem ehemaligen SS Mann & Arzt und damaligem Deutschen Ärztepräsidenten, die Betäubungsmittelrechtssprechung im Lande so zu beeinflussen, dass

26

ein mörderisches Klima für morphinbedürftige Menschen entstand. War man hinsichtlich seines Medikamentes in Not oder wollte man aus welchen Gründen auch immer davon entwöhnen, konnte man sich an keinen Arzt und keine Institution um Hilfe wenden. Zum Entwöhnen gab es allenfalls die Klapsmühlen der Landeskrankenhäuser oder die Suchtstationen der Gefängnisse, wo man grundsätzlich mit der unnötigen Folter abrupter Morphinunterbrechung entwöhnt wurde. Ärzte die helfen wollten, bekamen es mit der Staatsanwaltschaft zu tun und endeten nicht selten selbst im Gefängnis, oder ohne Approbation oder sie begingen in ihrer aussichtslosen Situation Selbstmord. Es war eine Hölle geschaffen worden, für pflichtbewusste Ärzte und für morphinbedürftige Menschen. Eine Hölle, ganz im Sinne und Geiste eines alternden SS Mannes & Arztes und seiner Gilde zwar prominenter, doch heimlich im Hintergrunde ideologiegetreu eugenisch tätiger Mediziner. Mediziner, die auch davor nicht zurückschreckten, als Sachverständige im Dienste von Geheimdiensten Morde des Staates fachkundig in „Selbstmorde“ zu wandeln, oder in „Drogentote“... Unter diesen Umständen versuchte man zu überleben. Bald stand nur noch streng verbotenes Schwarzmarktopiat, nur noch Heroin, zur Verfügung. Die Polizei war angewiesen worden, ihre Tätigkeit verschärft auf kleine Handeltreibende und Konsumenten zu richten. Größere Händler, die im Dienste geheimer staatlicher Organisationen arbeiteten, blieben freilich verschont. Schließlich gab es so viele „Btm Täter“, es mussten neue Gefängnisse gebaut und alte Gefängnisse mit Neubauten erweitert werden. Die Bevölkerung begriff unterdessen wenig von der Menschenhatz in ihrer Mitte. Ist es nicht verwunderlich, wie Bürger mit einigem bunten Konsumflitter über die Schrecken und die Finsternisse ihrer Zeit hinweggetäuscht werden konnten?

27

Gut aussehende junge Frauen, wie Sylvia, blieben vom Terror noch weitgehend verschont. Sie verkauften sich selbst und kamen somit eher an das Geld um Schwarzmarktmorphin zu bezahlen. Dabei verkauften sie sich notgedrungen aber auch an jene, die am Terror beteiligt waren. Ich erinnere mich, wie ich einige Wochen zusammen mit Schwabinger Dieter in der Zelle eines Untersuchungsgefängnisses verbrachte. Eines Tages kam Dieter verstört von seinem Besuch zurück. Seine Freundin, mit der er jahrelang zusammengelebt hatte, war zu Besuch gewesen. Sie hatte ihm erzählt, Richter Strotsky von der Großen Kammer besuchte sie neuerdings regelmäßig in ihrer (und Dieters) Wohnung. Richter Strotsky war Dieters Vorsitzender Richter. Er sollte Dieter wenige Wochen später per Amtshandlung für acht Jahre aus dem Verkehr ziehen. Während Dieter in seiner Zelle vor sich hin brütete, vögelte Richter Strotsky in Dieters Zuhause fröhlich Dieters Freundin. Dieters Freundin war freilich, wie Dieter, heroinbedürftig. Doch das focht Menschen wie Strotsky nicht an. Als Feinschmecker wussten sie, erst handfeste Heroingewöhnung, unterlegt mit ständig drohenden, furchtbaren Schmerzen, macht junge Ärsche billig und angenehm gefügig… Sylvia und ich gehörten zu den wenigen, die den Braten damals schon rochen. Wir wussten, flohen wir nicht bald aus diesem zynisch tödlichen Spiel, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis auch wir, hilflos und entrechtet, in einem Schreckenshause schmorten. Wir beschlossen deshalb, das Land zu verlassen. Inzwischen ließ man überall die Läden herab. Noch die erbärmlichsten Morphinquellen wurden zerstört. Der Feind schoss aus allen Rohren und erklärte noch windiges Mohnstroh zu „Rauschgift“. Ärzte winkten resigniert ab, sahen sie morphinbedürftiges Volk nur von weitem. Sogar die alte Kluxen, eine schwerhörige Ärztin, so alt dass man meinte, sie sei aus

28

längst vergangenen Jahrhunderten in unsere Zeit und in ihre Praxis in Schwabing gebeamt worden, wurde vom Gesundheitsamt bedrängt, Valoronverordnungen zu unterlassen. Klingelte man an ihrer Türe, rief sie aus ihrem Praxiszimmer, „Wir verschreiben kein Valoron mehr“! Danach rief man laut genug, damit sie einen auch verstand, „Nein, Frau Doktor Wo denken sie hin? Wir wollen doch kein Valoron“! Hatte man Glück, öffnete sie daraufhin die Tür. Eine Siamkatze saß auf einer Kommode im Korridor, majestätisch und wie aus Porzellan. Sie wandte den Kopf und sah einem hochmütig hinterher, bis man mit der kleinen krummen Ärztin im Praxiszimmer verschwunden war. War man erst dort, hatte man schon halb gewonnen. „Eine Rollkur bitte, Frau Doktor, gegen diese furchtbaren Leibschmerzen“. Sah Frau Doktor auch nur einen Augenblick zur Seite, griff man rasch ihren Rezeptblock und ratsch, riss ein Bündel unbeschriebener Rezepte ab. Doch auch die Verschreibung einer Rollkur stellte einen zufrieden. Frau Doktor beschrieb nämlich immer nur die obere Hälfte eines Privatrezepts. Dadurch blieb auf der unteren noch Raum genug um mit eigener Hand dazu zu schreiben, „20ml Valoron Tropfen 3x rep.“. Schrift und Unterschrift der alten Kluxen konnte ich im Schlaf. Ich kann sie heute noch, rund fünfunddreißig Jahre später. Eines Tages verstarb die gute alte Frau Doktor Kluxen. Wenige trauerten ihr so aufrecht nach wie die Morphinbedürftigen der Stadt. Mit ihr war ein Zeitalter zu Ende gegangen und eine der letzten Möglichkeiten versiegt, doch noch auf legale Weise an redliches Morphin zu gelangen. Alle Quellen wurden trockengelegt. Die letzten Oasen versiegten. Am Ende blieb nur noch Heroin vom schwarzen Markt. So war es vermutlich von mächtigen eugenisch orientierten Obermedizinmännern auch beabsichtigt. Man musste notgedrungen gegen das BtmG verstoßen, wurde notgedrungen straffällig. Damit verloren Menschen

29

die niemand schadeten und, bis sie dazu getrieben wurden, auch nicht straffälliger waren als andere Leute, grundsätzliche Bürgerrechte. War man erst straffällig geworden und entrechtet, konnte man ohne weiteres aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in die vorbereiteten Mühlen der Eugenik getrieben werden... Während Sylvia ihre abendlichen Runden um den reizend mit Pflanzenwuchs umstandenen Kreisverkehr drehte, war ich nicht untätig. Ich hatte die Kenntnis der Methadonsynthese erworben und versorgte bald halb Oberbayern mit Opiat. Als der Laden so richtig lief, stellte Sylvia ihre abendlichen Runden ein. Dreißigtausend Mark, hatten wir uns zum Ziel gesetzt. Wäre der Stapel Banknoten in unserem Küchenkasten auf dreißigtausend Mark gestiegen, wollten wir zusammen die Beine nehmen und in die weite Welt entfliehen, einem frischen, gesünderen Leben entgegen und fort, von dem tödlichen Mühlen der Heimat... Vieles, dürfte nie geschehen und geschieht vor unseren entsetzten Augen doch. Oft war es gerade das Leben, das Lebenspläne durcheinander warf. Manchmal war es sogar das Leben selbst, das unverhofft zum Tode führte… Es sollte eine groß angelegte Aktion werden, bei der ein ganzer „Rauschgiftring“ in die Falle gehen sollte. Freilich bestand dieser Rauschgiftring, wie so oft, nur aus einigen, vor Entwöhnungsschmerz sich krümmender Morphinbedürftiger. Sie warteten in einer Wohnung auf jemand der sich im Anflug aus Amsterdam, Berlin oder sonst woher befand und die erlösende Medizin bringen würde. Kommissar Majneks Leute hatten das Haus an der Giselastraße, in der sich diese Wohnung befand, bereits umstellt. Als Normalbürger vermummt, infiltrierten sie

30

das Straßenbild des Alltags und verharrten in Hybernation, um vom Beginn der Aktion geweckt zu werden. In der Erdgeschosswohnung des Hauses klingelte das Telefon. Einer der Wartenden riss den Hörer vom Apparat, lauschte und erfuhr, man befand sich bereits am Münchner Fughafen und träfe in wenigen Minuten mit dem Taxi bei der Wohnung ein. Erregt, lauschten Kommissar Majneks Leute dem Gespräch über Abhörschaltung. Minuten später hielt ein Taxi vor dem Haus. Ein junger Mann sprang aus dem Wagen und betrat das Haus. Dies war das Signal für Kommissar Majneks Leute. Sie schälten sich aus ihren unscheinbaren Positionen und rannten, Pistolen in Händen, ebenfalls ins Haus. Der junge Mann den sie im Treppenhaus stellten, war aber nur der Bruder einer jungen Frau, die im Dachgeschoss wohnte. Er wollte nur seine Schwester besuchen und war ahnungslos dabei in das Geschehen geraten. Vom Lärm im Treppenhaus alarmiert, rissen die Jungs die in der Wohnung im Erdgeschoss gewartet hatten die Fenster auf, sprangen ins Freie und rannten wie der Wind davon. Rufe ertönten, „Stehen bleiben! Polizei“! Doch keiner dachte auch nur daran, stehen zu bleiben. Alle rannten wie Hasen, nur rasch weg und rein ins erstbeste schützende Loch. Schüsse krachten in der Giselastraße, an diesem Septembernachmittag. Mit eine großen Tüte reifer Orangen im Arm, kam Sylvia um die Ecke. Wie später rekonstruiert wurde, war es ein Geschoss der Polizei, das von einem Bordstein prallte, seine Flugbahn veränderte und mitten in Sylvias Stirn schlug. Wie ein Pathologe des Gerichtsmedizinischen Institutes versicherte, war Sylvia tot noch bevor sie den Boden erreichte. In der Presseerklärung des LS (Landessicherheitsdienst) wurde Sylvia zu einer der Personen gedreht, die sich an diesem Tage in der Wohnung

31

des umstellten Hauses aufgehalten und auf den „Drogenlieferanten“ gewartet hatten. Es war ein Kleines, sie zu einem „Mitglied eines Rauschgiftrings“ zu drehen, war sie doch aus den Polizeiakten des LS als „Drogensüchtige“ einschlägig bekannt. Im Zusammenhang mit Sylvias Tod hörte ich zum ersten Mal den Namen von Dorotheas Vater, Kommissar Alfred Majnek. Der Name brannte sich tief in mein Gedächtnis ein. Eines Tages würde ich ihm wieder begegnen… Es war gegen Mitternacht, eine sternenklare Septembernacht, als ich am kleinen, reizend von Bepflanzung umstandenen Kreisverkehr in unweit der Dachauerstrasse die Hälfte unseres Geldes, rund 14.000 Mark, verbrannte. Tage später sollte ich die Asche davon in ein noch offenes Grab auf Sylvias Sarg regnen lassen. Ich war der letzte Trauergast der zu Sylvias Begräbnis kam und ich war der erste, der schweigend wieder ging…

* 32

DEA Methadonhydrochlorid, ursprünglich eine farblose kristalline Substanz, konnte gut als Heroinhydrochlorid vermarktet werden. Man konnte ihm aber auch mit einigem braunen Lebensmittelfarbstoff das Aussehen brauner Heroinbase verleihen. Es dauerte nicht lange und der überwiegende Teil von Münchens Morphinisten konsumierte Methadon in der Annahme, es handele sich um Heroin. Es war freilich besonderes Heroin, braun zwar, aber dennoch keine Base, es löste sich ganz einfach ohne Zugabe von Säure in kaltem Wasser, aber es wirkte ungewöhnlich lange. Das käme daher, erklärten wir den Leuten, dass es sich hierbei um „reines Heroin“ handele. Das bekäme man nur selten, weshalb die Wirkung so ungewohnt erschiene. Diesen kleinen Schwindel betrieben wir nicht etwa aus Profitgründen, sondern um zu verhindern dass zu rasch bekannt wurde, es gab plötzlich Unmengen kristallines Methadon auf der Straße. Wir sahen uns als eine Art pharmakologischer Rebellen, die ihr Geschäft nicht primär des Geldes wegen betrieben. Unser primäres Ziel war es, morphinbedürftige Menschen mit Morphin zu versorgen. In dieser Branche sollte man seine Anwesenheit nicht unbedingt durch große Mengen ungewöhnlicher Stoffe auf dem schwarzen Markt in die Welt hinausposaunen… Die Herstellung des Methadons dauerte in aller Regel drei Tage und weitere sechs bis vierzehn Tage, je nach Laune der Substanz, um auszukristallisieren. Ich war es, der das Produkt des ersten Ansatzes ausprobierte. Ich gab etwas von der noch nicht kristallisierten, honiggelben, etwas öligen und leicht nach Walnüssen riechenden Substanz auf einen Teelöffel und brachte sie mit etwas Ascorbinsäure in Lösung. Ich knallte das Zeug intravenös. Da ich nicht wusste was

33

mich erwartete, drückte ich den Kolben der Spritze langsam schrittweise nieder. Trotzdem hatte ich gerade noch die Zeit um hervorzustöhnen, „Oh Gott, ist das gut…“. Danach knallte ich, die Nadel noch im Arm, mit der Stirn auf die Tischplatte und blieb eine halbe Stunde bewusstlos liegen. Und ja, das Zeug war gut. So gut sogar, dass wir es gar nicht in Reinform auf den Markt bringen konnten ohne Tote zu riskieren. Wir mischten es deshalb mit Traubenzucker, Medizinaldextrose aus der Apotheke, auf einen Reinheitsgehalt herab, den man durchschnittlichen Konsumenten der Strasse zumuten konnte... Es dauerte etwa ein Jahr bis im Gerichtsmedizinischen Institut aufgefallen war, die meisten festgenommenen Morphinbedürftigen hatten anstatt Heroin, pulverisiertes und teils mit Lebensmittelfarbstoff gebräuntes Methadon in den Taschen. Das brachte schließlich die Leute vom Landessicherheitsdienst, Abteilung zur Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität, auf den Plan... Kriminalhauptkommissar Majnek war wie geschaffen für seinen Job. Sah man ihm bei der Arbeit zu, bekam man den Eindruck, seine Sorte stellte man in Laboratorien, tief in den Kellern des Bundessicherheitsdienstes her. Majneks Aussehen wirkte so durchschnittlich, man wurde nicht auf ihn aufmerksam. Stand er alleine an einer Straßenecke, glitt der Blick über ihn hinweg ohne ihn wirklich wahr zu nehmen. Stand er bei anderen Leuten, löste er sich auf, verschmolz mit seiner Umgebung und entzog sich völlig dem forschenden Blick. Man bemerkte ihn erst, wenn er einem den Lauf seiner Walther PPK gegen die Schläfe drückte und sagte, „Du bist vorläufig festgenommen. Lege deine Hände mit den Handflächen nach außen auf deinen Rücken und mache keine Dummheiten, sonst…“.

34

Majnek, gerade erst 32, war trotz dieses relativ jungen Alters schon Kriminalhauptkommissar. Sein Kollege Kriminaloberkommissar Hans Haumann, war 26. Kriminalkommissar Karneval erst 24, und die allseits verehrte Kollegin, Kriminalkommissarin Else Kellner, von Kollegen und Kolleginnen mit dem Spitznamen „Donnerelse“ bedacht, weil sie einem Verdächtigen während der Festnahme aus unmittelbarer Nähe durch den Kopf geschossen hatte, war ebenfalls erst 26. Die „Abteilung zur Bekämpfung der Rauschmittelkriminalität“ bot ausgezeichnete Karrieremöglichkeiten. Keine andere Abteilung des LS ermöglichte es, Verdächtige täglich und in beliebiger Zahl festzunehmen und den Richtern vorzuführen. Dazu brauchte man nur zur U-Bahnhaltestelle „Die Freiheit“ zu fahren, wo zu jeder Stunde des Tages Morphinbedürftige in großer Zahl sich aufhielten, von denen fast jeder etwas in der Tasche trug, was eine Festnahme rechtfertigte. Abends, gegen zweiundzwanzig Uhr, verschob die Szene sich von der Freiheit zum Wienerwald Restaurant in der Dachauerstrasse, gleich neben der Disco „Downtown“. Waren Majnek und seine Kollegen hinter jemanden her, mussten sie nur eine dieser beiden Örtlichkeiten aufsuchen und warten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Gesuchter sich einfand, notwendigerweise einfinden musste. Schmerzhafte Entwöhnungssymptome oder ein allgemeines Bedürfnis nach Morphin, trieben ihn notwendigerweise dorthin. Es war wie ein Leitstrahl, auf dem ein Gesuchter reiste, ein Leitstrahl aus warmem Wohlbefinden und extrem kleinen Pupillen, beständig drängend, auf zarter doch zwingender Schwingung singend, der Leitstrahl des Opiats. Allerdings erzeugte die Zellenknappheit der Gefängnisse einen vorübergehenden Engpass. Selbst das Bestücken von Einzelzellen mit Stockbetten reichte bald nicht mehr, es mussten Neubauten errichtet werden, um all die vielen unschuldigen und gequälten Menschen, all

35

die „Rauschgifttäter“, aufzunehmen. Von nun an hielten Majnek und Kollegen Die Freiheit und die Dachauerstrasse verschärft im Auge, auf der Suche nach Informationen, die zum Methadonlabor und den Leuten dahinter führten … Ich arbeitete, wie ich meinte, sehr vorsichtig. Nie, hatte ich Ware bei mir, nie überreichte ich welche. Nie, hielt ich mich auch nur in der Nähe der beiden genannten Orte auf. Ich hatte drei zuverlässige Soldaten, die sich mit dem Vertrieb befassten und die Einnahmen kassierten. „Zuverlässig“ war freilich relativ in dieser Branche. Jedenfalls schienen sie mir zuverlässig genug, um nicht gleich los zu plaudern, würden sie festgenommen. Ich hatte ihnen eingeschärft, das Material in leere Zigarettenschachteln zu stecken oder in leere, verbeulte Coladosen und hunderte Meter von sich und dem Kunden unauffällig in Papierkörbe zu stecken oder achtlos an den Straßenrand zu werfen. Der Kunde zahlte und bekam die Instruktion, wo er seine Ware einsammeln konnte. Das Labor, inzwischen zu mehreren fünf Liter Anlagen ausgebaut, befand sich längst nicht mehr in meiner Küche. Wir hatten es, als alles zu laufen begann, in einer Garage auf dem Hinterhof eines verlassenen Anwesens im Münchener Osten verstaut. Dort blubberten die Anlagen vor sich hin und lieferten täglich zwar feste Mengen, die aber in dieser Stadt rasch verbraucht waren... Inzwischen zog ein Heer mit Heroin bezahlter Informanten des LS durch die Straßen der Stadt. Heruntergekommene Leute meist, ständig mit dem Schmerz der Entwöhnung im Nacken. Leute wie Filter Peter, den man schließlich fand, mit einem rostigen Draht um den Hals, hängend vom Dachgebälk eines leer stehenden Hauses am Hasenberg. Oder Tinken-Inge, die irgendwann im Keller eines Abbruchhauses mit Prügeln erschlagen worden war. Um die Polizei auf eine falsche Fährte

36

zu locken wollte man den Eindruck erwecken, der Mord sei aus obskuren Gründen von Angehörigen anderer ethnischer Gruppen begangen worden. Dazu beschloss man, die Leiche mit einer Salatgurke und einem stinkenden Fisch zu dekorieren. Um den Job zu erledigen, schickten sie „Frankie den Philosophen“ los. Frankie beugte sich über die Tote und befühlte sie vorsichtig um sich davon zu überzeugen, dass sie auch tatsächlich tot war. Er kratzte sich am Ohr und rätselte, „Wie war das jetzt mit diesem Zeug? Sollte die Gurke in die Pflaume und der Fisch in den Hals, oder musste das gerade umgekehrt…“? Trotz aller Vorsicht lief ich am Ende doch in die Falle, und zwar so, wie nur die dümmsten Gimpel in Fallen liefen. Danach erinnerte ich mich zwar wieder, Australier John hatte mich vor Elvira gewarnt. „Sie arbeitet für den LS“, und er hing sogar eine Geschichte daran, aus der dies eindeutig hervor ging. Doch es war mir entfallen, einfach entfallen, als Elvira eines Abends meinen Weg kreuzte… Ich ging mit zu ihr, was sonst, ich Esel, und verbrachte die Nacht mit ihr. Hinterher hatte sich ergeben, Majnek wusste zu dem Zeitpunkt längst, ich war an dem gesuchten Methadonlabor beteiligt, aber er kam trotz seiner vielen Schnüffler, seiner Abhörapparate und anderer Schweinereien nicht an mich heran. Deshalb setzte er Elvira ein und die war gut, verdammt gut sogar. Während sie einem kunstvoll an der Eichel knabberte, konnte sie Fragen so geschickt platzieren, so subtil dazwischen schieben, man beantwortete sie wie im Traum. Sie telefonierte noch rasch, bevor wir zu Bett gingen, und schleppte dazu den Telefonapparat an langem Kabel bis ins Badezimmer … Am folgenden Morgen saßen wir zusammen am Frühstückstisch, als es an der Tür klingelte. Elvira öffnete und ließ einen kleinen, dicklichen

37

Mann herein. Sie warf sich ihm an den Hals und stellte ihn als „Lee“, vor, „ein guter alter Freund von früher…“. Während Elvira leichtfüßig in der Küche verschwand um die Kaffeekanne zu holen, setzte Lee sich schwer atmend zu mir an den Tisch. Amerikanischer Soldat sei er, erzählte er, stationiert in einer US Kaserne in Augsburg. Wie jeden Monat, hätten er und seine Kollegen aus der Kaserne Geld zusammengelegt, um für den eigenen Bedarf Heroin zu beschaffen. Eigentlich wollte ich dem „alten Freund“ Elviras gar keinen Gefallen tun und ich weiß noch heute nicht weshalb ich beschloss, Lee zu bedienen und ihm anstatt hundertfünfzig Gramm meines Methadons, auch noch hundertfünfzig Gramm tatsächlichen Heroins zu beschaffen. Ich besuchte Achmet und seinen Bruder Mehmet und erzählte den beiden, wie ich Lee kennen gelernt hatte. Am Ende fragte ich, ob sie den Handel eingehen wollten und ja, sie wollten… Es war ein Freitag, als ich Elvira anrief und mitteilte, Lees hundertfünfzig Gramm lägen bereit und konnten schon morgen, Samstag, erworben werden. Doch Lee hatte am Wochenende keine Zeit. Erst am Montag wieder, ließ er mich wissen. Hier hätte ich bereits alarmiert sein müssen. Polizisten arbeiten nämlich nicht gerne an Wochenenden. Doch ich nahm es nicht wahr, war der Gefahr gegenüber wie betäubt. Ich willigte ein, den Handel erst am Montag durchzuführen… Montagnachmittag wies ich den Taxifahrer an, am Hause Elviras vorbei zu fahren und erst zwei Straßen dahinter zu halten. War das nicht soeben Kommissar Haumann, den ich dort vor Elviras Haus gesehen hatte, in spitzen braunen Discostiefelchen und rotem Lederjäckchen, oder täuschte ich mich? Auf Umwegen, schlich ich die zwei Strassen zurück. Auf der anderen Straßenseite schlüpfte ich durch

38

den Hintereingang einer Billarthalle und spähte durch das große Vorderfenster auf Elviras Haus. Nein, dort stand niemand… Mehmet blieb in seinem Hotel. Lee und ich träfen seinen Bruder in einem kleinen Park in der Innenstadt. Während der Fahrt zur Stadt haftete Lees Blick so beständig am Rückspiegel dass man den Eindruck gewann, der relevante Verkehr spiele hinter uns sich ab. Als er, andauernd in seinen Rückspiegel blickend, eine rote Ampel übersah und weiter fuhr, latschte er sofort auf die Bremse als ich ihn darauf aufmerksam machte und sah erschrocken in den Rückspiegel. Und ich registrierte noch stets keine Gefahr. Lee trug sein Hemd offen, man sah bei nicht ungewöhnlich warmem Wetter seine schweißnasse Brust. Drei Mal fragte er während dieser Fahrt, ob ich auch ganz gewiss nicht bewaffnet sei. Dieser Mann hatte Angst, eindeutig Angst. Er befürchtete, wir könnten seine Kollegen vom LS verlieren, die in sechs Fahrzeugen hinter uns her fuhren und dabei, damit es nicht auffiel, immer wieder den vordersten Wagen wechselten und er befürchtete, ich könnte bewaffnet sein und sein kleines Leben beenden, sobald ich die Falle bemerkte… In der Innenstadt stieg Achmet zu uns. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, während ich den Rücksitz einnahm. Ich wies Lee an, aus der Innenstadt in die Außenbezirke zu fahren. Unterwegs wog ich auf einer nagelneuen batteriebetriebenen Digitalwaage, die ich extra für diese Gelegenheit gekauft hatte, Achmets Heroin. Es waren fünf Gramm mehr als gefordert worden war. Lee hatte ich gebeten, den Kaufbetrag von vierundzwanzigtausend Mark in großen Scheinen zu bringen. Was er mir reichte, war aber ein dickes, mit Angstschweiß durchtränktes Banknotenbündel kleiner Scheine. Ich zählte das Geld und fand die Summe korrekt. Inzwischen befanden wir uns außerhalb der Stadt, etwas unterhalb Schwabings. Lee steuerte eine Tankstelle an

39

und hielt an einer der Zapfsäulen. Dort stieg Achmet aus. Er wollte mit einem Taxi zurück zum Hotel. Ich setzte mich wieder auf den Beifahrersitz. Plötzlich stieg auch Lee aus, den Beutel mit dem Heroin in der Hand. Ich hörte ihn noch murmeln, er wolle den Beutel in den Kofferraum legen, da warf er auch schon die Autotür ins Schloss und ich saß alleine im Wagen. Eine dunkelblaue BMW Limousine schlich heran und hielt an einer Zapfsäule neben uns. Im nächsten Moment kamen mit kreischenden Reifen mehrere Fahrzeuge zum Stehen. Männer und Frauen sprangen heraus, umringten den Wagen in dem ich saß und zielten mit Pistolen auf meinen Kopf. Mit so vielen Pistolen auf mich gerichtet, fiel mir nichts Besseres mehr ein als die Knöpfe der Türverriegelung nach unten zu drücken. Das wurde mir später, bei der Gerichtsverhandlung, als Widerstand gegen die Staatsgewalt ausgelegt. Während Donnerelse den Lauf ihrer durchgeladenen und entsicherten Pistole kraftvoll in mein Ohr presste, legte mir Majnek persönlich Handschellen an. Zwei Fahrzeuge holten Achmet ein. Er wurde ebenfalls festgenommen. Lee war ein Agent des amerikanischen DEA, der weltweit operierenden amerikanischen „Drogenpolizei“, der in fremden Ländern, in Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei oder auch ohne, in so genannter „Feldarbeit“ ausgebildet wurde. “Just workin’ in the fields my son, just workin’ in the fields…” Während der anschließenden Vernehmung im Gebäude des LS, fand Majnek in Achmets Jackentasche die Quittung des Hotels, in dem er und sein Bruder abgestiegen waren. Dies führte noch am selben Abend zu Mehmets Festnahme. Das restliche Heroin der beiden, immerhin rund 2850 Gramm, wurde noch am selben Abend fieberhaft gesucht aber nie gefunden. Ich wusste, wo es verborgen lag. Vielleicht liegt es

40

da noch, wer weiß, zwischen den leicht erhöhten Dornensträuchern der kleinen Parkanlage, unmittelbar vor den Fenstern des Wienerwald Restaurants in der Dachauerstrasse? Ich selbst, war seit damals nie mehr dort. Es solle zwei Jahre dauern, bis ich wieder Straßenpflaster unter meinen Schuhen fühlte. Während einer Monate später stattfindenden Gerichtsverhandlung war nicht mehr von hundertfünfundfünfzig Gramm Heroin die Rede, wie ich sie gewogen hatte, sondern nur noch von hundertfünfzig. Auch die Summe des Geldes war plötzlich eine andere. Anstatt von vierundzwanzigtausend Mark, war nur noch von zwanzigtausend die Rede. Fünf Gramm des Heroins und viertausend Mark waren folglich irgendwie abgezweigt worden. Wo war es hin, das fehlende Heroin, wohin das fehlende Geld? Die fünf fehlenden Gramm waren an die morphinbedürftige Elvira gegangen, als Dank für ihre effiziente Mitarbeit. Die fehlenden viertausend Mark, hatten Lee, Majnek und einige Kollegen untereinander aufgeteilt…

* 41

Suchtstation

A3, die Abteilung einer Krankenstation in einem großen Deutschen Untersuchungsgefängnis, wurde auch „Die Suchtstation“ genannt, weil sich dort überwiegend Substanzgewöhnte Gefangene befanden. Zu der Zeit, in der diese Erzählung spielt, Anfang der siebziger Jahre, handelte es sich dabei überwiegend noch um Alkoholiker. Straffällige Morphinbedürftige gab es damals kaum. Das sollte sich aber bald durch eine Verschärfung und rigorose Anwendung des Btm - Gesetzes und einer tückisch manipulierten Btm - Rechtssprechung drastisch ändern. Es war der Anfang einer gewaltigen Morphinistenschwemme, die in der Folgezeit in der Suchtstation eintreffen sollte. Mit einem Male waren Besitz und Erwerb auch kleinster Mengen nicht ärztlich verordneten Morphins streng verboten. Die meisten Ärzte wagten es in dieser drohenden Atmosphäre kaum noch, Morphine zu verschreiben. Dadurch wurden XXX – Tausende, bis dahin völlig unschuldige und harmlose Menschen, die zum gesunden Leben lediglich eines Morphins bedurften, über Nacht extrem kriminalisiert und in Gefängnisse geworfen. Im Gegensatz zu Alkoholikern, deren Entwöhnungssymptome mit dem Medikament Distraneurin und anderen Medikamenten gelindert wurden, bekamen Morphinbedürftige zur Linderung ihrer Entwöhnungssymptome allenfalls Schikanen und Prügel, aber keine wirksamen Medikamente. Noch galt in ganz Deutschland die Abgabe von Methadon an Morphinbedürftige, und sei es nur als Hilfsmittel zur Entwöhnung durch Dosisreduktion, als „ärztlicher Kunstfehler“. Morphinbedürftige, so ging die allgemeine Auffassung, seien an ihrem Zustande selbst schuld. Somit sei es nur gerechtfertigt, ließe man sie unter ihren Entwöhnungssymptomen kräftig leiden. Weshalb derselbe Grundsatz nicht auch für Alkoholiker

42

galt, die an ihrem Zustand ja wohl auch „selbst schuld“ waren, oder für Skisportler die sich die Knochen brachen, weil sie aus „eigener Schuld“ so nötig Ski fahren mussten, oder für Motorradfahrer und Formel 1 Rennfahrer, die verunglückten, oder für Bergsteiger und Testpiloten die abstürzten, lag am kulturellen Faschismus der Zeit. Propagiert und in der Medizin etabliert wurden solche faschistoiden Grundsätze durch das Wirken eines damaligen Deutschen Ärztepräsidenten, ehemaliger SS-Mann & Arzt, Vorsitzender des Ausschusses für Psycho-Hygienische Fragen der Bundesärztekammer und bis dato mächtigster und am höchsten und vielfältigsten dekorierter Arzt Europas aller Zeiten, der keinen geringen eugenischen Einfluss auf Btm - Gesetzgebung und Btm - Rechtssprechung der Bundesrepublik genommen hatte. Wie war doch noch sein Name…? Die Zelle Fast am Ende eines langen, von staubigen Neonröhren trübe beleuchteten Korridors, betrat ich eine Zelle mit der Nummer 212. Zelle 212 war zwar für 6 Mann eingerichtet, momentan aber nur mit zweien belegt. Links der Tür standen zwei Stockbetten an der Wand, rechts davon eines. Der Tür gegenüber, knapp unterhalb der Decke, befanden sich zwei kleine Fenster mit dicken Gittern aus massivem Vierkanteisen. Unter den beiden Zellenfenstern hingen sechs schmale Sperrholzschränke, die wegen ihrer pastellenen Farben eher in ein Kinderzimmer gepasst hätten, als in eine Gefängniszelle. In der Ecke rechts der Tür befand sich die Toilette, von einem Verschlag aus Spanholzplatten umgeben, überzogen mit weißem Kunststoff. Daneben hingen zwei Handwaschbecken, darüber, polierte Blechspiegel. Ein Tisch in der Mitte des Raumes, umstanden von sechs Stühlen, vervollständigte die Einrichtung.

43

Der Professor Am ersten Tage meines Aufenthaltes in der Suchtstation, wurde ich dem Chefarzt der Krankenstation vorgestellt. Sein Untersuchungszimmer befand sich in dem Korridor, der den Ostflügel der Krankenstation mit dem Westflügel verband. Das Untersuchungszimmer des Chefarztes sah nicht viel anders aus als andere Untersuchungszimmer. Von einer hohen Decke, die noch bröckelige Überreste einstiger Stuckzierde zeigte, hingen zwei kugelige, milchgläserne Beleuchtungskörper herab. Links der Tür, halb verborgen hinter einem vergilbten Kunststoffvorhang, stand ein Untersuchungstisch, bespannt mit dunkelgrünem Gummi, von dem die Manschette eines Blutdruckmessgerätes baumelte. Darüber hing ein kleines Rotkreuzkästchen mit milchgläsernen Türen. Die Wände des Zimmers waren mit gelbgrüner, glänzender und vermutlich abwaschbarer Farbe gestrichen. Entlang der linken Wand stand ein hohes Bücherregal von Naturholz, in dem sich einige verstaubte Bücher befanden und verschiedene Arzneimittelpackungen. Ein deutlicher Geruch nach reinem Alkohol hing in der Luft. Das Untersuchungszimmer machte minder Eindruck, dominierte nicht in der Mitte des Raumes ein gewaltiger Schreibtisch aus weiß lackiertem Stahlblech. Dahinter saß, die tiefe Kerbe eines alten Schmisses auf der linken Hängebacke und Nickelbrille mit Gläsern wie Fernsehapparate im alkoholgeröteten Gesicht, die imposante Gestalt des Gefängnisarztes Obermedizinalrat Professor Doktor Joachim Egelbreit. Ein Kranz weißer Haare stand von seinem Schädel und leuchtete, vom Lichte eines rückwärtigen Fensters durchschienen, wie eine Gloriole. Neben dieser Attraktion stand, im weißen Arztkittel und mit einer Hand leger auf die Schreibtischplatte gestützt, ein Häftling in der privilegierten Stellung eines Arzthelfers. Beide, Professor und Arzthelfer, sahen mir neugierig entgegen. An einem Fußabstreifer vorbei, der im Raume am

44

Boden lag, ging ich auf die beiden zu, stellte mich vor den Schreibtisch, grüßte und nannte meinen Namen. Schwer atmend, stützte der Professor seine Fäuste auf die Schreibtischplatte. Er stemmte sich aus seinem Sessel und schrie, purpurn im Gesicht, „Gehen sie sofort drei Schritte zurück“! Ratlos, sah ich zum Arzthelfer hin und bemerkte wie er mit einer Bewegung seines Kopfes zu dem Fußabstreifer wies, der hinter mir am Boden lag. Darauf, musste ich mich stellen und dabei focht ich mit dem Drang, meine Fingerspitzen an die Hosennähte zu legen. Kaum stand ich auf dem Fußabstreifer, nickte der Professor zufrieden und wies seinen Helfer an, mir Blut abzunehmen. Der Arzthelfer führte mich hinter den vergilbten Kunststoffvorhang zum grün bespannten Untersuchungstisch. Als er eine Injektionsnadel in meinen Arm versenkte, knackte es hörbar. Wie oft hatte ich nicht schon selbst alte, unscharfe Nadeln verwendet? Es müsste Nadeln geben, die immer scharf blieben und deren Spitze sich nie verböge. War nämlich diese kleine Spitze der schräg geschärften Nadel erst gebogen und krumm wie ein Haken, ging sie wohl noch rein ins Gewebe, aber es knackt dabei, und wollte man die Nadel hinterher wieder herausziehen, hakte die krumme Spitze an der Venewand fest und man zerrte die halbe Vene mit hervor. Während ich auf dem Untersuchungstisch saß und zusah wie mein Blut in einen Zylinder floss, betrat ein schon älterer Häftling den Raum. Er stellte sich, der kannte das schon, unaufgefordert auf den Fußabstreifer und begann zu klagen, „Ich habe seit Tagen so furchtbare Kopfschmerzen, Herr Doktor“. Der Professor wurde aufmerksam. Er nahm seine Brille ab, lehnte sich in seinem Sessel nach vorne, rieb seine Augen und fragte betont liebenswürdig, „Kopfschmerzen, sagten sie? Aber dann kommen sie doch bitte näher und zeigen sie mir ganz genau, wo diese Kopfschmerzen sitzen”. Unsicher, trat der Häftling an

45

den Schreibtisch des Professors. Er tippte mit den Fingern vage gegen seine Stirn und murmelte, „Hier so in etwa, Herr Doktor“. Im Befehlston, wandte sich der Professor an seinen Helfer, der gerade einen Zylinder mit meinem Blut ins Regal stellte. „Geben sie dem Mann sofort fünf Milliliter P1 in die schmerzende Stelle und machen sie flott, der Herr hat Schmerzen“! Mit einholender Geste winkte der Arzthelfer den Kopfschmerzpatienten zu sich und griff nach einer fünf ml Injektionsspritze. An ihrer Spitze zitterte ein irisierender Tropfen. Der Arzthelfer griff seinem Patienten mit der Linken stützend an den Hinterkopf und stieß ihm dabei mit der Rechten die dicke Nadel der Spritze mitten in die Stirn. Mit dem Sitz der Nadel zufrieden, drückte er den Spritzenkolben nieder und quetschte seinem verdutzten Patienten derart fünf ml Flüssigkeit unter die Haut. Eine Beule entstand an der Einstichstelle, groß wie ein Fasanenei. Der Arzthelfer legte die leere Spritze beiseite und reichte seinem Patienten einen Wattebausch. „Drücken sie dies noch eine Weile auf die schmerzende Stelle“, empfahl er, „Sie werden sehen, in wenigen Minuten lässt der Schmerz nach“. Der Mann nahm den Wattebausch und hielt ihn sich erst unter die Nase als müsse er ihn näher untersuchen. Danach drückte er ihn gegen seine Stirn, murmelte ein bescheidenes Dankeschön und schlurfte gebeugt zur Tür hinaus. Nie würde dieser Mann erfahren, die Injektion die er soeben erhalten hatte enthielt nichts weiter als sterile Kochsalzlösung. Mit dieser Methode hielt der Professor Häftlinge mit vermeintlich belanglosen Beschwerden auf Abstand. Seine Einstellung war: „Was hat dieser Mensch? Kopfschmerzen?! Erst gestern, platzte einem meiner Patienten ein Blutgefäß in der Luftröhre. Das war des Hinsehens wert, das kann ich ihnen versichern! Der Mann verdrehte die Augen, glitt vom Untersuchungstisch und lag sprudelnd am Boden.

46

Seinen überraschten Blick hätten sie sehen müssen. An Hilfe, war natürlich gar nicht mehr zu denken. Sein Röcheln verlor sich und verstummte schließlich ganz, als er in seinem eigenen Blute ersoffen war. Und da kommen manche Leute mir mit Kopfschmerzen!?“ Auf dem Weg zurück zur Suchtstation, lief ich versehentlich in die verkehrte Richtung und landete in der Krankenabteilung A2. Dort sah es nicht viel anders aus als auf der Suchtstation. Im Korridor, derselbe knarrende und von vielen Füßen ausgetretene Parkettfußboden, an den Wänden derselbe abblätternde, schmutzig-gelbe Farbanstrich und an denselben vier Zoll dicken Zellentüren dieselben Schlösser, groß wie Suppenteller. In der Station A2 lagen hauptsächlich frisch Operierte und Leute mit Schussverletzungen, verursacht überwiegend durch Polizeikugeln. Dabei fielen naturgemäß zertrümmerte Knochen an, zersplitterte Rückgrate und zerfetzte Organe. In der Krankenabteilung A2 gewann man den Eindruck, von allen Menschen mit Schusswaffen schössen und träfen ausgerechnet Polizisten am häufigsten. Die Belegschaft der Station war beim Duschen. Die Zellentüren standen offen. Reges Treiben füllte den Gang. Männer in Rollstühlen beherrschten die Szene. „Bei mir war’s glatter Durchschuss!“, hallte es von einem Ende des Ganges, während vom anderen zurückgerufen wurde, „Dafür hast du jetzt auch einige Wirbel im Arsch“! Ich betrat eine der offenen Zellen. In einem Bette lag, mit gestrecktem und von Galgen und Gewichten hoch gehaltenem Beine, ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren. Er hatte den Ruf, „Halt! Stehen bleiben! Polizei!“, für einen Scherz seiner Freunde gehalten, die aber im Stillen schon von der Polizei festgenommen worden waren. Er war lachend weiter gelaufen. Glatter Durchschuss. Das Geschoss war von hinten in sein Bein gedrungen und hatte den Oberschenkelknochen zertrümmert.

47

„Um ein Haar wäre ich auf der Stelle verblutet“, berichtete der junge Mann, sichtlich noch unter dem Eindruck des Geschehens. Von Kugeln in die Beine Getroffene trugen zum Fixieren der Knochentrümmer dünne Stäbe von Chirurgenstahl quer durchs Bein, die zur Stabilisierung an den Enden mit Metallplatten verschraubt waren. Es erweckte den Eindruck, den Leuten wüchse eine Fernsehantenne quer durchs Bein. Von Projektilen ins Rückgrat Getroffene saßen mehr oder weniger reglos in Rollstühlen oder lagen, vollständig gelähmt, apathisch auf Gipskorsetten im Bett und klimperten mit den Augen. (Die Blicke dieser Leute: Ein Hilfeschrei, lautlos und voller Entsetzen...) Viel Gips sah man auf der Station A2, viele Rollstühle, viele blutige Verbände und aus stinkenden, eitrigen Wunden ragende Fernsehantennen... Die Nachbarn Mamuschka, oder „Die Ärztin von Stalingrad“, wie wir sie auch nannten, war eine stämmige Ärztin russischer Herkunft. Sie war auf der Suchtstation Professor Egelbreits Assistenzärztin. Manchen Patienten, die Nerven durch Entwöhnung roh und bloßliegend, reichte schon Mamuschkas Anwesenheit, ihre zufällige Berührung oder auch nur ihre geile rauchige Stimme, um spontan zum Orgasmus zu kommen. Begegnete man Mamuschka unter dem Einfluss von Entwöhnungssymptomen, man vergaß sie nie wieder. Während Mamuschka an meinem Bette stand und meinen Blutdruck maß, mopste Rudi eine zehn ml Injektionsspritze mit Nadel der Nummer eins aus der Tasche ihres Kittels. Kurz danach stürzte ein Rudel tollwütiger Wachbeamter durch die Suchtstation und suchte fieberhaft nach der geklauten Spritze. Wir in Zelle 212 waren trotz alldem guter Dinge. Die Spritze konnte nicht gefunden werden. Sie stak wohl verborgen, tief in

48

einem der hohlen Beine des Zellentisches. Als der Spuk vorüber war, injizierten wir mit dem Instrument gelöste Kodeinzubereitungen, Diazepine und eingeschmuggeltes Morphin. Eine echte Injektionsspritze galt in der Suchtstation als überaus wertvoller Gegenstand. Improvisierte Injektionsapparate dagegen, gab es einige. Die Jungs von nebenan in Zelle 210, entfernten die kleine Kugel aus der Spitze einer leeren Kugelschreibermine und schliffen die Spitze der Mine solange auf dem Beton des Toilettenfußbodens, bis sie in etwa die scharfe Schräge einer echten Injektionsnadel aufwies. Danach brachen sie die Mine oberhalb der Einbuchtung ab, die im Inneren eines Kugelschreibers die kleine Stahlfeder an ihrem Platz hielt. Dieses abgebrochene Minenstück umwickelten sie am stumpfen Ende mit Zigarettenpapier, wurmten es in die Öffnung einer leeren Shampoontube von weichem Plastik und gewannen somit eine primitive Pumpe, einen improvisierten Injektionsapparat. Damit knallten die Jungs sich die Wirkstoffe grüner, kodeinhaltiger Zäpfchen. Sie erhitzten die Zäpfchen in einem Esslöffel bis sie sich verflüssigten und das Wachs sich von den Wirkstoffen schied. Danach ließen sie die Lösung erkalten, nahmen das erstarrte Wachs von der Oberfläche, sogen die übrig gebliebene Flüssigkeit in ihre Shampootube und knallten sich die stinkende Brühe intravenös in die Armvenen. Daher stammten die großen, ekelhaften Löcher in ihren Armbeugen, die sie beim Duschen so verzweifelt zu verbergen suchten... Tätowiert Eines Tages machte auf der Suchtstation das Gerücht die Runde, Professor Egelbreit plane am Rande der Stadt eine Spezialpraxis zur Entfernung von Tätowierungen. Die nötigen Fertigkeiten wollte der Professor an tätowierten Insassen des Gefängnisses erwerben. Es dauerte nicht lange und es erschienen Plakate an den Wänden der

49

Zellentrakte und bald hörte man auch den Professor persönlich durch die Gänge tönen, er stünde fortan zur kostenlosen Entfernung von Tätowierungen zur Verfügung, „Kommt Leute! Habt Vertrauen! Ich mache euch jede Tätowierung weg und zwar kostenlos! Greift zu, Leute! Diese Gelegenheit bietet sich so bald nicht wieder“! Moderne Methoden, wie etwa das Abschleifen der betroffenen Hautpartie, Laserbehandlung oder gar Hauttransplantation, lehnte der Professor rundweg ab. Sie waren ihm zu zeitaufwendig, zu kompliziert, zu teuer. Deshalb wählte er die denkbar einfachste Methode. Er schnitt das tätowierte Hautstück einfach heraus und zurrte die entstandene Wunde mit Katzendarm so kräftig wie möglich wieder zusammen. Tony, ein Hausarbeiter aus der Station A1, hatte ein Kettchen mit einem Kreuz daran ums Handgelenk tätowiert. Als der Professor mit ihm fertig war, hatte er anstelle dieses Kettchens eine rote breite und brutal aussehende Narbe rings ums Handgelenk. Man gewann den Eindruck, ein Verrückter habe Tonys Hand amputiert und mit Katzendarm wieder an den Stumpf genäht. Oder Arthur! Arthur hatte ein tätowiertes indianisches Stirnband um den Kopf. Bald trug er, anstelle dieses Stirnbandes, eine knallrote, hohe und breite Narbe um den Schädel. Es sah aus als trüge Arthur einen roten, prall gefüllten Fahrradschlauch um den Kopf. In seinem Fall erwies sich auch das Herabkämmen der Haare als sinnlos. Kein Mensch hatte so viele Haare um darunter ein Gebilde wie diese Narbe zu verbergen. Zu allem Überfluss waren an den Stellen wo die Fäden gesessen hatten auch noch kleine, senkrecht stehende Narben entstanden. „Jetzt musst du dir nur noch zwei Knöppe an den Hals nähen“, feixte Alfred, der schwule Arzthelfer. „Oder besser noch, du drehtest ’ne dicke fette Schraube durch deinen Hals. Dann sähest du aus wie Frankenstein und das macht bestimmt 'ne Menge her, glaube mir“. „Aber Ja“, kommentierte Walter

50

trocken. „Die Idee ist nicht schlecht. Du könntest dein Aussehen als Grundlage für eine lukrative Karriere verwenden, einen klugen Akt darauf bauen und Eintritt verlangen“. Mit der Zeit bürgerte sich für diese Tätowierungspatienten des Professors die Bezeichnung „Die Frankensteine“ ein. Es dauert nicht lange und es wimmelte in der Anstalt geradezu von „Frankensteinen“. In Grüppchen standen sie auf dem Hof und in den Korridoren und zeigten einander ihre grässlichen Narben. Dabei waren manche derart über das Ergebnis ihrer Operation entsetzt, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sahen als Lobeshymnen auf den Professor zu singen. So hörte man beispielsweise einen sagen, „Weißt du, ich bin ja so froh, endlich diese fürchterliche Tätowierung los zu sein. Und sieh dir doch diese Arbeit an. Schlecht hat er das nicht gemacht, der Herr Professor, findest du nicht auch? So guck doch mal genauer hin. So übel sieht das doch gar nicht aus, oder? Die Narbe? Na ja, so schrecklich wirkt die Narbe dann auch wieder nicht, oder“? Stand man allerdings still genug neben diesen Frankensteinen, hörte man wie sie dachten, „Hätte ich Dummkopf nur meine vermaledeite Tätowierung behalten“! Neuzugang Eines Sonntagnachts hörte ich in der Schlaflosigkeit meiner Entwöhnung das Öffnen der Nachbarzelle. Sonntagnacht war eine außergewöhnliche Zeit um Zellentüren zu öffnen. Nach den Geräuschen zu urteilen, handelte es sich um einen Neuzugang. Neuzugänge am Sonntag und noch dazu nachts, waren mehr als nur außergewöhnlich. Wie ich am folgenden Tag erfuhr, litt der Neue so beängstigend an Entwöhnungssymptomen, dass man ihn nicht länger in der Zelle des Polizeibüros behalten wollte. Man brachte ihn deshalb

51

noch Sonntagnacht mit einem Streifenwagen der Polizei in die Suchtstation. Etwa eine Stunde nach Ankunft dieses Neuen, hörte man hastige Schritte und erregte Stimmen im Korridor. Am nächsten Tag erfuhr ich von Jürgen, einem der Jungs aus der Nachbarzelle, was sich nächtens zugetragen hatte. Kaum war der Neue in die Zelle getreten, hatten die Insassen stolz ihre selbst gebastelte Injektionsspritze präsentiert. Als danach alle wieder schliefen, fand der Neuling einen Aluminiumnapf voll Scheuerpulver hinter der Toilettenschüssel. Im Wahne seiner Entwöhnungssymptome bildete er sich ein, es sei Heroin. Er nahm einige Löffel des Scheuerpulvers, gab etwas Wasser hinzu, sog alles in die Shampootube des improvisierten Injektionsapparates und quetschte sich den sandigen Brei intravenös in die Blutbahn. Er brach sofort zusammen. „Er schlug mit dem Schädel so hart gegen die Kante des Waschbeckens“, wusste Jürgen zu berichten, „es klang wie ein Gong. Davon wurden wir wach. Wir zogen die Pumpe aus seinem Arm, nahmen sie auseinander, warfen die Teile aus dem Zellenfenster und drückten den Alarmknopf“. „Was ist aus dem Jungen geworden?“, wollte ich wissen. „Keine Ahnung“, antwortete Jürgen. „Die Sanitäter trugen ihn weg und er kam nie wieder...“. Die Technik des Professors Während der ersten beiden Wochen meiner Entwöhnung war es mir unmöglich, Gefängniskost, mehr nahrhaft als schmackhaft, zu mir zu nehmen. Die Wachbeamten sahen, dass meine Essensteller stets gefüllt wieder aus der Zelle gereicht wurden und meldeten mich beim Arzt. Ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren war dort vor mir an der Reihe. Ich setzte mich im Korridor auf eine Bank und sah seiner Behandlung durch die offen stehende Türe zu. Der Mann stellte sich

52

vor dem Schreibtisch des Professors auf den Fußabstreifer, jedermann schien es zu kennen, und klagte über Schmerzen in der Brust. „Besonders am Abend, Herr Doktor“, erklärte er, „und ganz besonders beim Wasserlassen“. Der Professor legte eine Zeitschrift beiseite und trat interessiert auf den Mann zu. „In der Brust, sagten sie? Und ganz besonders beim Wasserlassen? Machen sie bitte ihren Oberkörper frei“. Als der Patient mit nacktem Oberkörper vor ihm stand, bat der Professor, „Nun zeigen sie mir bitte ganz genau, wo diese Schmerzen sitzen“. Der Patient legte eine Hand auf seine Brust, drehte vage einige Kreise und meinte, „Hier so in etwa, Herr Doktor“. „Ich muss das schon genauer wissen“, knurrte der Professor und schob seine Zeigefinger unter die Achseln des Mannes. „Von hier bis hier so ungefähr“? Verunsichert, bejahte der Patient. „Und nach unten hin? Bis etwas unter das Brustbein, nicht wahr?“, informierte der Professor und rammte, wie um seine Ansicht zu unterstreichen, seinen gestreckten Zeigefinger in die Magengrube seines Patienten. Der Mann schnappte nach Luft und stöhnte, „Ja. Bis hierhin so ungefähr, Herr Doktor“. „Das hatte ich mir schon gedacht“, knurrte der Professor. Er öffnete eine Schublade und entnahm ein Kunststofflineal und einen Kugelschreiber. Seinem Assistenten rief er über die Schulter hinweg zu, „Bringen sie bitte sechzehn fünf ml P1 und machen sie schnell. Dies ist ein besonders dringlicher Fall“. Danach trat der Professor wieder zu seinem Patienten und bat ihn, die Arme zu heben. Der Professor hielt das Lineal an die Schlüsselbeine des Mannes und zog mit dem Kugelschreiber eine waagrechte Linie und darunter weitere. Danach zog der Professor mehrere senkrechte Linien. Ein Raster entstand auf der Brust des Patienten, mit sechzehn Kreuzpunkten. Unterdessen war der Arzthelfer mit einem Tablett zurückgekehrt. Darauf lagen, säuberlich aufgereiht, sechzehn fünf ml Injektionsspritzen. Der Professor nahm die erste Spritze zwischen Daumen und Zeigefinger,

53

zielte, und stieß sie in den ersten Kreuzpunkt auf der Brust seines Patienten. Der ersten Spritze folgten weitere fünfzehn. Als der Patient nach vollendeter Prozedur mit geschwollener Brust vor ihm stand, empfahl der Professor, „Nun legen sie sich in ihrer Zelle noch zwei Stunden auf den Bauch. Auf den Bauch, verstehen sie? Und zwei Stunden! Und dass sie mir ja liegen bleiben! Halten sie sich nicht an meine Vorschriften, war die ganze aufwendige Behandlung für die Katz“! Sein Hemd in der Hand und die makabere Zeichnung des Professors auf seiner Brust, verließ der Mann das Untersuchungszimmer. Er eilte an mir vorüber und verschwand am Ende des Korridors. Ich betrat das Untersuchungszimmer und stellte mich artig, man kannte das inzwischen schon, auf den Fußabstreifer. „Sie verweigern seit Tagen die Nahrungsaufnahme?“, eröffnete der Professor das Gespräch. Jetzt war dieser Mann Chefarzt der Suchtstation. Er müsste wissen dass ich mich seit Tagen in der Entwöhnung befand und dass viele Menschen in diesem Zustand nicht aßen. „Sehe ich das Essen“, erklärte ich wahrheitsgemäß, „wird mir sofort speiübel“. Der Professor rieb sein Kinn und überlegte. „Dann müssen wir ihnen etwas Schmackhafteres zu essen geben“. Er wandte sich an seinen Assistenten. „Was haben wir an Diäten“? „Wie wäre es mit Diabetikerkost?“, empfahl der Assistent. „Gut“, beschloss der Professor. „Sie können jetzt wieder gehen. Ab sofort erhalten sie andere Kost“. Von diesem Tage an erhielt ich Diabetikerdiät. Nicht zu vergleichen mit der aus Eimern geschöpften Pampe gewöhnlicher Nahrung. Den Hausarbeitern bereitete es sichtlich Spaß, beim Servieren meines Essens großen Aufwand zu treiben. Mit blauem Spültuch gefaltet über dem Arm und ein Tablett mit meinem Essen darauf balancierend, kamen sie den Korridor entlang getänzelt und erzählten unterwegs jedem, der Mann

54

dort hinten in Zelle 212 habe so viel Geld, er ließe sein Essen aus einem Restaurant jenseits der Gefängnismauer kommen… Schmerz und Wahnsinn einer Morphinentwöhnung wären weit besser zu ertragen, könnte man währenddessen zumindest ab und zu schlafen. Schlaflosigkeit war aber das Symptom, das am längsten anhielt. Waren nach Wochen der Qual die meisten anderen Symptome in den Hintergrund getreten, plagte einen die Schlaflosigkeit noch Wochen, manchmal Monate lang. Ich hatte deshalb die ganze Nacht wach gelegen, als gegen morgens endlich die Räder des Essenwagens über die losen Bretter des Parkettfußbodens im Korridor klapperten. Auf dem Korridor wiederholten sich die Worte, „Paul ist tot“. Wie ein vielstimmiges Echo klangen sie einmal näher, einmal ferner. Es war zu entnehmen, jemand namens Paul, vermutlich einer der Alkoholiker aus den Zellen im Korridor gegenüber, war tot in seinem Bett aufgefunden worden. Als die Zellentüre zur Frühstücksausgabe geöffnet wurde, lief ich zu der Zelle, vor der sich bereits eine Traube Menschen versammelt hatte. Dort lag ein Mann auf seinem Bauch im Bett. Mamuschka und ihr Assistent drehten ihn gerade auf den Rücken. Sein blasses Gesicht mit den blau angelaufenen Lippen kam mir bekannt vor. Es war der Mann, der tags zuvor im Untersuchungszimmer des Professors die sechzehn Injektionen in die Brust erhalten hatte. Sollte es einen Zusammenhang geben zwischen diesen Injektionen und dem Tod dieses Mannes, wusste außer einigen Mitgliedern des engeren Medizinerkreises nur ich davon... Leben auf der Suchtstation Die Zellen der Suchtstation waren überwiegend für sechs Gefangene eingerichtet, oft aber mit wenigeren belegt. So waren wir zum Beispiel schon seit vier Monaten nur zu dritt in einer Sechsmannzelle und das

55

war gut so. Wir waren Brüder im selben Verlangen, Brüder derselben Zukunft in langer Gefangenschaft. Dadurch unterschieden wir uns in mancherlei Hinsicht doch etwas von gewöhnlichen Bürgern. Das Personal achtete nicht immer darauf, Gefangene so unterzubringen dass Konflikte vermieden wurden. Eines Nachmittags betrat ein Neuzugang unsere Zelle. Walter Rudi und ich sahen den Neuen an, wir sahen einander an und dachten dabei alle dasselbe. Oh Mist, dachten wir. Hoffentlich ist das kein Epileptiker oder sonst was Verrücktes. Doch dieser Neue, ein Junge von etwa zwanzig Jahren, klein, mager, mit pickeliger Haut und langen strähnigen Haaren, war alles andere als ein Epileptiker. Er sollte uns beibringen, dass es weit Schlimmeres gab als einen, am Ende noch höchstsympathischen Epileptiker in der Zelle zu haben. Der Neue hieß Sven und er war Finne... Trotz unserer Bedenken begrüßten wir Sven freundlich. Rudi schwang sich sogar auf den Zellentisch und befestigte das Kabel unseres selbstgebauten Tauchsieders an den Kontakten der Deckenlampe. Solche selbstgebauten Tauchsieder waren höchst effizient, aber auch lebensgefährlich. Es dauerte nur Sekunden bis das Wasser in unserer Kanne siedete und Walter Kaffee bereiten konnte. Danach saßen wir zu viert um den Zellentisch, schlürften heißen, starken Kaffee und machten uns miteinander bekannt. Sven sprach nur leidlich deutsch und so dauerte es eine Weile bis wir begriffen hatten, er saß wegen dem Diebstahl einer Hose im Gefängnis. Eine erbärmliche Hose, die zum trocknen an einer Leine gehangen hatte, konnte er nicht hängen lassen. Er nahm sie von der Leine und wollte fort damit. Anwohner die ihn beobachtet hatten, schnappten ihn, kneteten ihn ein wenig durch und riefen danach die Polizei.

56

„Oh Gott“, stöhnte Walter und richtete den Blick zur Decke. „Eine Hose hast du geklaut? Eine gottverdammte Hose?? Mach dir deshalb bloß keine Sorgen. Dafür bekommst du allenfalls eine Backpfeife von zwei oder drei Wochen. Danach bist du wieder frei“. Kaum hatte Sven von zwei oder drei Wochen gehört, fing er leise an zu heulen und beteuerte unter dicken Tränen die über seine pickeligen Wangen rollten, „Zwei bis drei Wochen!? So lange?! Ein ganzer Monat? Das halte ich nicht durch. Nein. Lieber tot. Lieber sterbe ich. Lieber nehme ich mir das Leben“. Wir sahen einander an und schwiegen. Wir kannten solche Gefängniskoller junger Leute, die zum ersten Mal im Gefängnis saßen. Rudi versuchte Sven zu trösten. „Du musst deshalb nicht gleich losheulen. Dann bist du eben einige Zeit bei uns. Du wirst sehen, das ist gar nicht so schlimm und deine paar Tage werden rasch vorüber sein. Die wenigen Tage? Die sitzt du doch im stehen ab!“ Doch alle Versuche den kleinen Sven zu trösten, schlugen fehl. Den ganzen Tag und noch bis spät in die Nacht hinein lag er uns mit seinen Klagen in den Ohren. Dass er die lange Haftzeit nie überstehen könne, klagte er, und dass er sich lieber das Leben nähme als so lange hier zu sein. „Nun gut“, entschied Rudi schließlich. „Es ist hoffnungslos. Kommt, wir wollen uns schlafen legen. Vielleicht kommt er ja morgen ein wenig zu sich“. Auch Walter, der die letzten Tage still und nachdenklich war, erklärte, „Ich höre mir sein Gejammer auch nicht mehr länger an. Ich bin doch kein Spiegologe oder wie diese Typen heißen. Außerdem habe ich mit meinem eigenen Fall schon Sorgen genug“. Am nächsten Morgen begann Sven bereits beim Frühstück wieder zu klagen. Keine Ruhe ließ er uns. Andauernd lag er uns mit seinem Jammern in den Ohren. Ständig bohrte er, ob wir nicht vielleicht eine Möglichkeit wüssten durch die er schon morgen oder am besten noch heute und am liebsten gleich auf der Stelle frei käme. Vorbei war es mit

57

unseren Schachspielen am Tage, vorbei auch die anregenden Gespräche am Abend, bei Kaffee und dem flackernden Schein selbst gebastelter Margarinekerzen. Der dritte Tag brach an und noch stets verhinderte Sven mit seinem Jammer jede erträgliche Stimmung. „Eine Hose hat er geklaut! Bei Gott! Ich erschlage ihn!“, stöhnte Walter und warf in der Geste der Verzweiflung beide Hände in die Höhe. „Er ist noch sehr jung“, versuchte Rudi ihn zu beschwichtigen. Doch Walter blieb unerbittlich. „Wenn er so weiter macht“, meinte er, „wird er auch nicht viel älter werden“. Als am Abend dieses dritten Tages das Licht erlosch und wir uns bereits zu Bett gelegt hatten, begann Sven erneut zu klagen. „Ich halte das nicht aus“, jammert er aus seinem Kissen hervor, die weiß blau karierte Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen. „Ich will hier raus. Ich will hier weg. Ich will nicht mehr hier sein. Lieber sterben. Lieber tot. Lieber nehme ich mir das Leben“. Walter erhob sich von seinem Bett. Er ging zum Waschbecken, nahm etwas von der Spiegelablage und schlenderte damit auf Svens Bett zu. Zwischen Daumen und Zeigefinger gebogen und wie eine Stahlfeder gespannt, hielt Walter eine Rasierklinge. „Hier“, sagte er und ließ die Klinge mit hellem Singend in Svens Bett springen. „Nimm das und rede nicht immer nur davon. Tue es endlich auch einmal“. Damit drehte Walter sich um, ging zu seinem Bett und legte sich schlafen. Mein Bett, das als Stockbett über dem Bett von Sven war, erreichte man über eine kleine Leiter. Ich kletterte diese Leiter hoch, rückte mein Kissen zurecht und kroch unter meine Decke… Während der Nacht wurde ich wach und wollte zur Toilette. Schlaftrunken, sprang ich vom Bett auf den Boden hinab. Als meine Füße den Boden berührten, glitten sie unter mir weg und ich fiel.

58

Verärgert, stand ich wieder auf und ging weiter zur Toilette. Danach kletterte ich die kleine Leiter wieder hoch, schlüpfte unter meine Decke und schlief weiter… Im Halbschlaf erreichten mich die ersten Geräusche eines beginnenden Gefängnisalltags. Die kleinen Räder der Essenwagen rappelten über die losen Bretter des alten Parkettfußbodens. Große Pötte voll Tee wurden hin und her gezogen. Bald ging das Licht in den Zellen an und ich erwachte. Verschlafen schlug ich meine Bettdecke zur Seite und erschrak. Ich war mit einem Schlage hellwach. Meine Bettdecke, das Bettlaken und vor allem meine Füße waren voll rostrotem Blut. Hastig untersuchte ich meine Füße. Sie waren voll Blut, schienen aber unverletzt. Da erinnerte ich mich meines nächtlichen Ganges zur Toilette und sah auf den Boden hinab. Aus dem Bette unter dem meinen hing ein bleicher, magerer Arm mit einer klaffenden Wunde an der Innenseite seines Handgelenks. Am Fußboden darunter lag, rotbraun und von augenscheinlich halbsolider Konsistenz, ein faustgroßer Klumpen geronnenen Blutes. Daneben, ein zweiter. Er war breitgetreten und eine blutige Fußspur führte davon zur Toilette und wieder zurück. Nun kamen auch Walter und Rudi aus ihren Betten und blickten erschrocken auf die blutige Bescherung zu ihren Füßen. Während der Nacht hatte Sven sich mit Walters Rasierklinge tiefe Schnittwunden an beiden Handgelenken zugefügt. Aber er hatte quer über die Handgelenke geschnitten und somit vielleicht einige Schaltkabel verletzt, aber sicher keine nennenswerten Blutgefäße. Eine Menge Blut hatte er dennoch verloren. Ermattet und mit bleichem spitzem Gesicht lag er in seinem Kissen und sah schuldbewusst in Walters vorwurfsvolle Augen. „Bei allen Göttern!“, rief Walter aus und warf in der Geste der Verzweiflung die Hände in die Höhe. „Der Kerl ist zu dämlich, sich das Leben zu nehmen“! In dem Moment knallten

59

die Riegel der Zellentür, ein Schlüssel rappelte im Schloss und die Tür schwang zur Seite. Die Frühstücksausgabe hatte begonnen. Der Essenwagen mit Teetopf und Brotschnitten kam in Sicht, geschoben von zwei Hausarbeitern. Dahinter erschien ein Wachbeamter. Er stellte sich breitbeinig neben den Essenswagen und sah mit alkoholgeröteten Augen in unsere Zelle. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, blickte angewidert auf das Blut am Boden. „Was ist hier los!?“, rief er verärgert. Walter seufzte und wies mit einer Bewegung seines Kopfes zu Sven, der auf seiner Bettkante saß und heulte. „Dieser junge Mann hier”, erklärte Walter mit theatralischer Gebärde, „wollte sich das Leben nehmen und war zu dämlich dazu“. Der Beamte, der während Walters Erklärung verärgert dreinblickte, befahl einem Hausarbeiter, einen Eimer heißes Wasser und eine Dose voll Schmierseife zu holen. Als beides vor ihm stand, schöpfte der Beamte mit großer Pranke einen Klumpen Schmierseife aus der Dose, klatschte ihn in das heiße Wasser des Eimers und warf einen Putzlappen hinterher. Er stellte den dampfenden Eimer vor Svens Füße und befahl, „Hier. Wische dein Blut vom Boden! Aber flott“! Sven hob seine Hände um seine Wunden zu zeigen und klagte, „Ich kann nicht. Ich bin verletzt“. Da packte der Beamte ihn bei seinen mageren Armen, zerrte ihn von der Bettkante auf den Boden und tunkte seine Arme bis weit über die verletzten Handgelenke in das heiße Schmierseifenwasser. „Und jetzt sauber machen. Und flott“! Rudi nahm unterdessen die Frühstücksrationen entgegen. Danach wurde die Zelle wieder verschlossen. Der rabiate Auftritt des Beamten hatte Sven sichtlich eingeschüchtert. Mit gesenktem Kopf kniete er am Boden, den Putzlappen in der Hand, und versuchte vergebens, das viele eingetrocknete Blut von den Bodenbrettern zu wischen. Wir standen erst ratlos daneben und sahen zu, wie Svens blutrote Wunden unter der ätzenden Einwirkung des heißen Schmierseifenwassers das Rosarot von Kirschblüten annahmen.

60

Schließlich sagte Rudi, „Jetzt hör schon auf und setz dich“, und zu Walter sagte er, „Mache dem Esel bitte eine starke Tasse Kaffee“. Danach holte Rudi einen Schrubber aus der Toilettenecke, nahm Eimer und Putzlappen zur Hand und begann den Boden vom eingetrockneten Blut zu reinigen. Die halbe Zelle setzte er dabei unter Wasser dabei und es dauerte nicht lange, bis von all dem vielen Blut keine Spur mehr zu sehen war. Sven wurde im Laufe des Vormittags zum Arzt geholt. Wenige Minuten später war er mit dick verbundenen Handgelenken wieder zurück. „Hat man deine Wunden genäht?“, wollte Walter wissen. Nein. Man hatte Svens Wunden nicht genäht. Nur gereinigt und verbunden hatte man sie. Hässliche Narben wird er deshalb von diesem Abenteuer übrig behalten, der kleine Sven. Breite wulstige, sein Leben lang sichtbare Narben. Am Nachmittag wurde Sven in den Normalvollzug des Nordflügels gebracht. Wir sahen ihn nie wieder. Nach diesem „schrecklichen Erlebnis“, so fand das Wachpersonal, sei es angebracht, uns vorläufig in Ruhe zu lassen und keine Neuzugänge mehr in unsere Zelle zu bringen. Dieser Vorsatz sollte aber nicht lange anhalten…

Sterben auf der Suchtstation Walter bastelte gerade an einer neuen Tauchsiederkonstruktion, einer lebensgefährlichen Konstruktion aus blanken Stromdrähten und Rasierklingen, und ich war gerade dabei, meine erste Schachpartie gegen Rudi zu gewinnen, als Walter plötzlich ausrief, „Mensch Leute! Gerade kommt mir eine großartige Idee! Über all dem Wirbel meiner Verhaftung hatte ich völlig vergessen, dass bei mir zuhause unter dem Treppenabsatz noch ein dickes Tablettenröhrchen voll Heroin liegt. Es liegt dort genau hinter Mutters Staubsauger und wie ich Mutter kenne,

61

sie hat die Bude seit Jahren nicht gesaugt, liegt es da noch“. Walter legte einen Zeigefinger an seinen Mund, überlegte kurz und fuhr dann fort, „Angenommen, wir schrieben meiner Mutter einen Brief und erklärten ihr darin haargenau wo das Zeug liegt und wie sie es verpacken müsste um es während ihres nächsten Besuches unauffällig in meinen Hemdkragen zu stecken, ich wette, sie würde es tun. Stellt euch nur mal vor. Dann hätten wir in wenigen Tagen mehrere Gramm Heroin in unserer Zelle! Meine Mutter ist, nennen wir es, ein wenig einfach. Wir dürften ihr deshalb nicht gleich auf die Nase binden dass es sich dabei um Heroin handelt. Am besten wir erzählten ihr, es sei ein Pulver dass ich im Gefängnis für meine Verdauung bräuchte“. Zwei Tage später schmuggelte Rudis Anwalt den Brief an Walters Mutter an der Anstaltszensur vorbei, frankierte ihn und warf ihn unterwegs in einen Postkasten. In zehn Tagen wollte Walters Mutter wieder zu Besuch kommen. Ausgerechnet in den Tagen vor Mutters Besuch, betrat ein Neuzugang unsere Zelle. Robert, hieß dieser Neue. Er war zweiundzwanzig, klein und schmächtig, trug schulterlanges, blondes Haar und ein blasses Milchbärtchen am Kinn. Er sprach ein angenehmes Deutsch und gestikulierte dabei mit feingliedriger Hand zauberhafte Arabesken vor sich hin. Robert war ein aufgeweckter und angenehmer Zeitgenosse und uns Dreien auf Anhieb sympathisch. Rudi schwang sich auf den Zellentisch und vollzog das Tauchsiederritual und verwendete dazu Walters neue Tauchsiederkonstruktion. Diese Konstruktion bestand aus einem langen zweiadrigen Stromkabel, an dessen Drähten zwei Rasierklingen befestigt waren, getrennt durch ein Stück Holz. Damit alles gut zusammenhielt, war das Ganze mit Bindfaden umwickelt. Rudi befestigte die blanken Drähte des anderen Kabelendes an den 240 Volt Kontakten der Deckenlampe und ließ das

62

mit Bindfaden umwickelte Bündel von Rasierklingen und Holz in eine Kanne voll Wasser fallen. Hallo! Das fauchte, knatterte und zischte! Blaue Funken regneten von der Deckenlampe. Nicht lange, und das Wasser siedete und wir konnten Kaffee bereiten. Danach saßen wir um den Zellentisch, schlürften unser starkes heißes Getränk und machten uns miteinander bekannt. Robert saß, wie auch wir, wegen eines Betäubungsmitteldeliktes in Untersuchungshaft. Um seinen eigenen Bedarf zu decken hatte er auf den Straßen seiner Heimatstadt kleine Portionen Heroin vertrieben und war dabei festgenommen worden. Da Robert schon am nächsten Morgen in ein anderes Gefängnis gebracht werden sollte, würde er nur eine Nacht bei uns sein. Während wir um den Zellentisch saßen und uns allerlei zu erzählen hatten, dauerte es nicht lange und Robert, mit dem feinen Instinkt des Morphinbedürftigen, hatte Witterung von der Geschichte mit Walters Mutter. „Oh Mensch“, klagte er. „Und mich wollen sie morgen schon wieder von hier wegschaffen! Gibt es denn keine Möglichkeit, um noch einige Tage hier zu bleiben?“ Wir hätten dem sympathischen Robert gerne geholfen und so steckten wir die Köpfe zusammen und überlegten was man anstellen könnte, damit er noch eine zeitlang bei uns bliebe. Der Plan Mehrere Liter Kaffee wurden über dem Problem getrunken, Optionen erwogen und wieder verworfen, bis Rudi vorschlug, „Könntest du nicht irgendwie krank werden, oder wenigstens eine Krankheit vortäuschen? Wir sind hier immerhin in einer Krankenstation“. Walter meinte dazu, „Vielleicht könntest du richtig krank werden, oder dich verletzten? Dann ließe man dich vielleicht noch so lange hier bis du wieder hergestellt bist. Kürzlich hatten wir einen jungen Finnen in unserer Zelle der versucht hatte, seine Pulsadern zu öffnen. Er tat es aber nicht

63

um noch länger hier zu bleiben sondern im Gegenteil, um rascher weg zu kommen. Er hatte es ungeschickt angestellt und quer über seine Handgelenke geschnitten. Damit verletzte er vielleicht einige Schaltkabel, nicht aber die tiefer liegende Pulsader. Man verband ihn und schaffte ihn noch am selben Tag in den Südflügel. Öffnetest du dir aber tatsächlich eine Pulsader, ließe man dich vielleicht noch so lange hier bis alles wieder verheilt ist“. Robert blickte auf. „Du meinst ich sollte mir eine Pulsader öffnen?“ Walter nickte. „Warum nicht“? Robert überlegte. Rudi und ich sahen Walter an und schwiegen. Das Verlangen morphinbedürftiger Menschen nach ihrer Medizin kann überwältigend sein und auf gefährliche Wege führen. Es dauerte nicht lange bis Robert sagte, „Ist gut. Ich tue es. Es ist mir diesen Versuch wert. Allerdings kann ich euch jetzt schon versichern, alleine bringe ich das nicht zustande. Dazu fehlen mir einfach die nötigen Nerven“. Nach einigen Augenblicken der Stille stellte Robert die Frage, „Kann mir nicht einer von euch helfen? Könnte nicht einer von euch eine meiner Pulsadern öffnen“? Walter sah ihn an. „Willst du es auch wirklich“? Robert nickte. „Ja. Ganz gewiss“. Er drehte eine Zigarette, steckte sie an, nahm einen tiefen Zug und blies einige Rauchringe von sich. Danach sah er uns der Reihe nach an, bis Walter erklärte, „Ist gut Robert. Sei unbesorgt. Sobald heute Abend das Licht erlischt, werde ich dir nach allen Regeln der Kunst eine Pulsader öffnen“. Mit diesen wenigen Worten war über das Leben von Robert entschieden worden. Nur wusste zu diesem Zeitpunkt noch keiner etwas davon. „Ach ja“, bemerkte Walter. „Damit du auch ordentlich blutest und nicht alles gleich wieder gerinnt, schluckst du am besten dies hier. Ich bekam sie vor einigen Tagen von einem der Alkoholiker geschenkt“. Walter reichte Robert eine Tablettenpackung. „Sie verringern die Gerinnung deines Blutes. Am besten, du schluckst gleich die ganze Packung“. Robert öffnete die Medikamentenpackung und schluckte die zwanzig

64

Tabletten, die darin enthalten waren. Nun, da die Frage entschieden war, wandten Rudi und Robert sich dem Schachspiel zu, ich spielte dabei den unerwünschten Dritten und Walter kroch in seine Koje und steckte die Nase in einige zerfledderte Magazine… Die Durchführung Als gegen zweiundzwanzig Uhr das Licht erlosch und nur noch die Suchscheinwerfer von draußen an der Mauer ein fahles Streulicht durch die Fenstergitter sandten, ging Walter zum Waschbecken und nahm eine Rasierklinge von der Ablage. Es war eine Klinge der Marke Rekord, eine billige Sorte, die es in der Haftanstalt umsonst gab. „Eine Wilkinson wäre mir lieber“, brummte Walter und zog den Gürtel aus seiner Hose. Er setzte sich auf seine Bettkante, nahm ein Ende des Gürtels fest zwischen beide Knie, das andere am ausgestreckten Arm fest in die Hand, und zog die billige Klinge am Leder des Gürtels auf und ab. „Das müsste genügen“, entschied Walter nach einiger Zeit und legte den Gürtel beiseite. Mit der geschärften Klinge in der Hand trat er auf Robert zu. „Wir machen es in der Toilette“, erklärte er. „Dort kann man es am eindrucksvollsten gestalten. Damit die Soße auch schön an den Wänden hängt, schleuderst du dein blutendes Handgelenk ordentlich umher und vergiss nicht, auch etwas Blut ins Wasser der Toilettenschüssel laufen zu lassen. Blut mit Wasser vermengt macht sich immer gut und sieht grundsätzlich nach mehr aus“. Robert stand mit der Hand gegen die Tischplatte gelehnt und hörte Walter aufmerksam zu. „Und während du in der Toilette fleißig blutest“, fuhr Walter fort, „werde ich eine Zigarette rauchen und danach noch eine und dann noch eine. Auf diese Weise lassen wir etwa fünfundvierzig Minuten verstreichen. Danach drücke ich den Alarmknopf. Daraufhin werden Sanitäter kommen und dich verarzten“. Rudi und ich saßen

65

unterdessen auf der Kante meines Bettes und hörten Walters Ausführungen gespannt zu. Wie Gespenster, sahen Walter und Robert aus, als sie schließlich im fahlen Streulicht der Scheinwerfer an uns vorüber und zur Toilette gingen. Im engen Toilettenverschlag fragte Walter, „An welchem Handgelenk wollen wir schneiden“? Robert überlegte kurz und fand, „Ich bin Rechtshänder. Nimm also mein linkes“. Walter nahm Roberts linke Hand in die seine und drehte sie mit der Handfläche nach oben. Er setzte die Rasierklinge etwa fünfzehn Zentimeter oberhalb der Daumenwurzel an und drückte dabei so kräftig auf, dass die billige Klinge sich bog. Robert wandte sein Gesicht zur Wand und hielt den Atem an. Walter wartete noch die Spanne zweier Herzschläge, dann zog er die Klinge in einem Zug bis zur Daumenwurzel hinab. Ein Geräusch entstand dabei, als öffnete jemand einen Reißverschluss. Einen Augenblick lang geschah gar nichts, doch dann pulte Blut im Rhythmus von Roberts Herzschlag aus der Wunde hervor. „Jetzt kannst du deinem eigenen Herzschlag zusehen“, feixte Walter. „Schleudere nun den Arm umher wie wir es besprochen hatten und blute alles schön voll. Ich rauche unterdessen die erste Zigarette“. „Hast du es getan?“, fragte ich flüsternd, als Walter sich neben uns auf die Bettkante setzte. Walter zündete eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und antwortete, „Ja. Es ist ein guter gerader Schnitt geworden. Aber ein merkwürdiges Geräusch gab es dabei“. „Ja“, flüsterte Rudi, sein Gesicht grün vom Streulicht der Scheinwerfer. „Ich habe es gehört. Es hörte sich an, als öffnete jemand einen Reißverschluss“. Walter drückte seine Kippe in den Aschenbecher, stand auf und ging zur Toilette. Walters Gerinnungshemmer hatten ihre Wirkung getan. Von allen Wänden troff Blut. Blut troff sogar in Fäden von der Decke

66

herab. Die Toilettenschüssel sah aus als sei ein Ochse über ihr geschlachtet worden. Robert sah Walter eintreten. Er setzte sich auf den Rand der Toilettenschüssel und sah erschöpft zu Walter hoch. „Etwas übertrieben sieht das ja schon aus“, bemerkte er. Walter pfiff anerkennend durch die Zähne. „Etwas übertrieben vielleicht. Dafür aber auch sehr eindrucksvoll. Ich rauche jetzt die nächste Zigarette. Bleib du inzwischen ruhig so sitzen“. Walter setzte sich wieder zu uns. „Wie sieht es aus?“, wollte Rudi wissen. Walter zündete seine Zigarette an, nahm einen Zug, blies einen Rauchring von sich und meinte, „Seht es euch selbst an“. Rudi und ich erhoben uns und gingen dicht aneinander gedrängt wie kleine verängstigte Kinder zur Toilette. Wir warfen nur einen kurzen Blick in den engen Verschlag und kehrten wieder zu Walter zurück. Rudi war ein wenig blass geworden und ich musste mich beim Setzen stützen, da meine Knie so zitterten. „Das sieht aber böse aus“, murmelte Rudi... Das Ergebnis Wir saßen noch eine Weile, rauchten und schwiegen. Draußen im Korridor des Zellentraktes und in den umliegenden Zellen war alles still. Schließlich warf Walter einen Blick auf seine Armbanduhr. „Jetzt blutet er schon eine ganze Stunde“. Er drückte seine Zigarette in den Aschenbecher, stand auf, ging zur Zellentür und betätigte den Alarmknopf. Wurde dieser Alarmknopf betätigt, brannte draußen im Korridor über der Zellentür und auf dem Schaltbrett in der Wachstube am Ende des Ganges eine Signallampe, die den Wachhabenden alarmierte und auf die Nummer der betroffenen Zelle wies. Nachdem Walter den Alarmknopf betätigt hatte, setzten wir uns um den Zellentisch und lauschten auf nahende Schritte im Korridor. Doch diese Schritte blieben aus, alles blieb still und niemand kam. In dieser Nacht sahen die Diensthabenden keine brennenden Signallampen über unserer

67

Zellentür und auf ihrem Schaltbrett. Sie saßen nämlich nicht in ihrer Wachstube. Sie waren zwei Stockwerke tiefer in der Kantine versackt, spielten Skat und erzählten sich Anekdötchen aus ihren langen Dienstjahren. Inzwischen hing Robert schon kraftlos und leichenblass von der Toilettenschüssel. Er war kaum noch ansprechbar. Er wirkte schläfrig, wie ein Betrunkener, und öffnete kaum noch die Augen. Als er einige kraftlose Worte flüsterte, ging Walter neben ihm in die Hocke und legte sein Ohr an Roberts Mund. „Was sagt er?“, drängte Rudi. „Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Walter. „Ich glaube er sagt, ihm sei kalt“. Immer mehr Zeit verrann und noch stets reagierte niemand auf den ausgelösten Alarm. Rudi riss schließlich ein Handtuch in Streifen und improvisierte einen Druckverband. Unterdessen schlugen Walter und ich gegen die Zellentür, riefen, und veranstalteten möglichst viel Lärm. Auf diese Weise vergingen weitere zwei Stunden. Schließlich griff Walter zur Tischplatte. Sie war nicht befestigt und ihrem eisernen Untergestell nur aufgelegt. Mit einer Kante dieser Tischplatte schlug Walter auf die Zellentür ein und schlug mit solcher Kraft, dass die vier Zoll dicken und an der Innenseite mit Eisenblech beschlagenen Eichenbohlen der Zellentüre unter seinen Schlägen barsten. Zwischen dem schweren Dröhnen von Walters Schlägen hörten wir schließlich die ersehnten Schritte im Korridor. Sie nahten im Laufschritt… Ein Schlüssel rappelt im Schloss und die Zellentüre wurde aufgestoßen. Beschienen von der Korridorbeleuchtung, standen vier erregte Wachbeamte in der Türöffnung und richteten den Strahl ihrer Taschenlampen ins Zelleninnere. Lange Holzsplitter lagen zu ihren Füßen, die unter Walters Schlägen von der Türe gesprungen waren. Während zwei die offene Tür bewachten, führte Rudi die beiden

68

anderen Wachbeamten zur Toilette. Dort standen sie wie erstarrt und blickten entsetzt auf Robert, der gekrümmt in einer Lache von Blut vor der Toilettenschüssel am Boden lag. Über Funkgeräte riefen die Wachbeamten Sanitäter herbei. Wenig später kamen vier Sanitäter mit einer Trage den Korridor entlang gerannt. Sie legten Robert auf die Trage und eilten im Laufschritt mit ihm davon. Robert war weg und an Schlaf war gar nicht mehr zu denken. Also setzten wir uns um den Zellentisch und warteten auf Roberts Rückkehr. Wir warteten vergebens. Robert kam nie wieder. Sein Herz versagte auf dem Wege zum Behandlungszimmer. Dort verstarb er unter den nervösen Händen der Sanitäter und der Nadel einer rettenden Infusion schon im Arm… Die geborstene Zellentür wurde ausgewechselt. Einige Tage später spähte ich während des Hofganges in ein Fenster der Schreinerwerkstatt. Dort blickten die Schreiner auf die geborstene Zellentür, schüttelten die Köpfe und rätselten, wie das geschehen sein mochte…

* 69

Die Strafzelle Wir hatten Walters Mutter zum wiederholten Male dazu bewegt, ihrem Sohn während des Besuches eine Portion Heroin in den Hemdkragen zu stecken. An diesem Tage wollte sie wieder zu Besuch kommen. Doch ausgerechnet an diesem Morgen war ich zur Arbeit aufgefordert worden. Gäbe ich dieser Aufforderung nach, verlegte man mich auf der Stelle in den C-Flügel, wo die Arbeitstätigen lagen und vorbei wäre es, mit Mamas Heroin. Gäbe ich der Aufforderung nicht nach, so nannte man das „Arbeitsverweigerung“, wie der Wachbeamte erklärte, der in der Öffnung der Zellentür bereits ungeduldig mit seinem Schlüsselbund klimperte. Arbeitsverweigerung brächte mich auf der Stelle für vierzehn Tage in die Strafzelle im Keller. Folglich hatte ich die Wahl zwischen einer Zelle im C-Flügel und der Strafzelle im Keller. Die Strafzelle im Keller war für Schmuggelware leichter zugänglich als die weit entfernten Zellen des C-Flügels. Ich musste mich entscheiden. Ich sah Walter an. Walter schwieg, schloss langsam die Augen, nickte und öffnete die Augen wieder. Ich hatte verstanden. Seine Antwort war deutlich genug. Ich wies zu meinem Schrank, der angefüllt war mit Kaffee und Tabak, der Währung des Hauses. „Nimm soviel du dazu benötigst“. Ich schlug dem Wachbeamten auf die Schulter und sagte, „Komm, wir gehen“. Überrascht von der Plötzlichkeit meines Entschlusses, fragte er, „Wohin?“ und ich antwortete, „Wohin wohl? Zur Strafzelle natürlich“… So einfach kam man aber nicht in die Strafzelle. Man musste erst zum Gefängnisdirektor, der einen fragte, „Sie verweigern die Arbeit“? Ich bejahte. „Sie sind aber zur Arbeit verpflichtet“. „Ich weiß“, sagte ich. „Aber ihre Verpflichtung zur Arbeit verbirgt nur schlecht die Zwangsarbeit und Zwangsarbeit ist in unserem Lande verboten“. Dieser

70

Gedanke war zu ungewöhnlich für den Direktor und er weigerte sich, ihn auch nur zu erwägen. Routiniert beschloss er, „Dann müssen sie für zwei Wochen in die Strafzelle“. Ich nickte. Erst nach diesem Ritual wurde ich in den Keller hinab geführt, wo die Strafzellen waren. Für einfache Geister sei erklärt, verstieß man in einem Gefängnis gegen die Vorschriften, konnte man dafür nicht ins Gefängnis geworfen werden. Dort war man immerhin schon. Für solche Fälle ward die Strafzelle erfunden… Die Grundmaße der Strafzelle waren dieselben wie die einer Einzellzelle des gewöhnlichen „modernen Strafvollzugs“. Das bedeutete, vier bis fünf Schritte lang und gerade so breit, dass man mit dem Ellenbogen eines angewinkelten Armes eine Seite berührte und mit den Fingerspitzen des ausgestreckten anderen Armes die andere Seite. In der Mitte stand ein Betonklotz, etwa sechzig Zentimeter hoch, siebzig cm breit und einen Meter und fünfundsiebzig cm lang. Darauf lag eine alte vergilbte Matratze, gefüllt mit knisternden Algen, Seegras, wie es auch genannt wurde. Nach Tabak schmachtende Gefangene rauchten gelegentlich davon. Eine alte braune Wolldecke lag auf der Matratze. Sie musste schon lange dort gelegen haben, denn sie trug das Abbild eines Reichsadlers, der mit finsterem Blicke einen Lorbeerkranz mit Hakenkreuz in den Klauen hielt. An der Wand stand ein kleiner grober Holztisch, darunter, ein Schemel. In der Ecke rechts der Tür, stand eine Toilettenschüssel ohne Brille und ohne sichtbaren Spülkasten. Der Spülkasten war in die Wand eingearbeitet und konnte nur von draußen betätigt werden, Eine elektrische Klingel musste betätigt werden, damit jemand kam und durchspülte. Neben der Toilettenschüssel hingen ein kleines Handwaschbecken und ein handtellergroßer polierter Blechspiegel darüber. An der Schmalseite des Raumes, der Tür gegenüber, befand sich anstelle eines Fensters nur

71

eine kleine Metallklappe in der Größe einer Zigarettenpackung. Sie diente der Luftzufuhr. Wer glaubte, er konnte sich nach Betreten der Strafzelle entspannt auf der knisternden Seegrasmatratze ausstrecken, irrte. Erst musste noch der Arzt kommen und einen untersuchen, ob man gesundheitlich auch befähigt sei, zwei Wochen unter verschärften Haftbedingungen zu überstehen. Danach musste noch der Anstaltspfaffe erscheinen, der nirgendwo fehlen durfte, wo Macht zum Ausdruck kam… Den jungen Arzt ließ ich gar nicht erst zu Wort kommen. „Ich wiege momentan fünfundsiebzig Kilo“, erklärte ich ihm. „Sollte ich während meines Aufenthaltes in diesem Loch auch nur ein Pfund abnehmen, mache ich sie strafrechtlich wegen vorsätzlicher Körperverletzung persönlich verantwortlich“. Der Arzt erschrak. Bleich, wandte er sich an einen Wachbeamten und befahl, „Dieser Gefangene erhält täglich doppelte Rationen“. Kaum war der Arzt weg, erschien der Pfaffe. Ich kannte die Strafvollzugsordnung und wusste daher, jedem Gefangenen standen die Gegenstände zur Ausübung seiner Religion zu. „Ich bin Mohammedaner“, erklärte ich dem Pfaffen. „Ich wünsche zur Ausübung meiner Religion einen Koran in deutscher Sprache, einen Gebetsteppich und einen Kompass“. Hatte der Pfaffe schon bei den ersten Artikeln die Augen verdreht, so war ihm beim letzten der Mund aufgegangen. „Einen Kompass?“, fragte er erstaunt. „Aber ja“, sagte ich. „Einen Kompass. Oder können sie mir so auf Anhieb sagen wo genau Osten und somit Mekka liegt?“ Nein, das konnte er nicht, und so machte er sich in aller Demut auf den Weg, die erwünschten Gegenstände zu beschaffen…. Kaum war der Pfaffe weg, musste ich aus der Zelle in den Korridor treten und alle Kleidung ablegen. Man wuschelte durch meine Haare,

72

guckte in meinen Mund, in die Ohren, unter die Arme, zwischen die Zehen und in den Arsch, ob ich nicht vielleicht irgendwo eine Panzerfaust verborgen hatte. „Bücken! Backen spreizen!“, befahl der Wachbeamte. Ich gehorchte. Der Wachbeamte klemmte eine kleine leuchtende Halogenstablampe zwischen seine Zähne und ging hinter mir in die Hocke. „Wenn du jetzt scharf hinguckst“, empfahl ich, „dann wirst du meine Mandeln sehen“. Ich bekam einen frisch gewaschenen Overall und durfte wieder zurück in die Strafzelle. Kaum war hinter mir die Tür verschlossen, sah ich mir die vergilbte Seegrasmatratze etwas näher an. Links am Kopfende war die Naht ein wenig geöffnet. Nicht viel, aber doch weit genug um einen kleinen Finger ins Matratzeninnere zu quetschen. Ich befühlte die Stelle wo die Öffnung sich befand durch das vergilbte Matratzentuch. Gut verborgen zwischen Strähnen trockenen Seegrases, fühlte ich einen kleinen länglichen Gegenstand. Ich fummelte ihn aus der Matratze und hielt einen Tropfer in der Hand, an dem mit Klebestreifen der stählerne Teil einer Injektionsnadel befestigt war. So weit hatte es also geklappt, dachte ich. Hab Dank, Walter. Was diese Aktion an Tabak und Kaffee gekostet haben mochte, wollte ich mir gar nicht erst vorstellen. Nach weiterem Tasten und Stöbern im Seegras der Matratze fand ich noch etwas Tabak und ein Feuerzeug. Zigarettenblättchen allerdings, fand ich keine. Walter wird doch nicht so dämlich gewesen sein, Zigarettenblättchen zu vergessen? Vielleicht waren sie aber auch einfach nur während des Transportes irgendwo hängen geblieben oder verloren gegangen. Kaum hatte ich die Sachen wieder gut im Seegras der Matratze verstaut, als die Kostklappe an der Zellentür aufging und der schweißnasse Kopf des Pfaffen erschien. Sichtlich erschöpft versicherte er, alles, aber auch alles habe er versucht, um meine Wünsche zu erfüllen. Am Ende habe er aber doch nicht mehr weiter gewusst. Woher solle er auch einen Koran in Deutscher Sprache hernehmen, einen Gebetsteppich und einen

73

Kompass? Er habe aber, quasi als Ersatz, eine Bibel mitgebracht. Nicht etwa irgendeine Bibel, nein, weit gefehlt. Es war eine Kirchenbibel. Es war, wie Hochwürden versicherte, sogar die Kirchenbibel aus seiner eigenen Pfarrkirche. Es war jedenfalls eine ungeheure Bibel, die er schließlich durch eine etwas zu kleine Kostklappe würgte. Damit, so bat er, möge ich vorlieb nehmen. Die monströse Bibel war größer als ein Telefonbuch und sicher eine Handbreit dick. Sie hatte zwei barock gravierte Messingschnallen, die mit einem Schlüsselchen zu verschließen waren. Dass es sich bei dem Ungetüm tatsächlich um die Bibel aus einer katholischen Kirche handelte, war nicht zu bezweifeln. Man roch es nur allzu deutlich. Diese Bibel befand sich noch keine fünf Minuten in meiner Strafzelle und schon roch es überall nach Weihrauch. Durch das jahrelange Liegen in einer katholischen Kirche, wo tagtäglich die kannibalistischen Riten dieser Leute praktiziert wurden, mit Blut, Menschenfleisch und Räucherwerk, war das gute Stück regelrecht mit Weihrauch imprägniert worden. Weihrauchgeruch hing in jeder Faser dieser Bibel und bald auch in jeder, aber auch jeder Ecke meiner Strafzelle… Als gegen zweiundzwanzig Uhr das Licht erlosch, wartete ich noch etwa eine Stunde um sicher zu gehen, dass man mich auch in Ruhe ließ. Erst dann, holte ich Tabak und Feuerzeug aus der Matratze. Für die fehlenden Zigarettenblättchen hatte ich Ersatz. Gefangene in ähnlicher Situation drehten, des dünnen Papiers wegen, ihre Zigaretten oft aus Anklageschriften, Haftbefehlen oder Gerichtsschreiben. Ich dagegen drehte die meinen aus den Seiten meiner famosen Bibel. Kaum ein anderes Buch hatte so dünnes Papier wie die Bibel. Fachleute, wie etwa Buchbinder, nannten sehr dünnes Papier dann auch nicht umsonst „Bibelpapier“…

74

Nie hätte ich gedacht dass ich jemals vor der Gewissensfrage stünde, drehte ich meine Zigaretten mit Papier des Alten- oder doch lieber mit Papier des Neuen Testaments? Diese Frage gewann an Gewicht, bedachte man, sie ermöglichte ein Leben lang wahrheitsgemäß darauf hinzuweisen, man habe diesen oder jenen Teil der Bibel nicht nur gelesen, man habe ihn sogar inhaliert, ja, regelrecht in sich eingesogen. Als getaufter Christ entschied ich mich schließlich für das Neue Testament. Die Briefe der Apostel rauchte ich nicht. Sie schmeckten gewiss auch nur fade. Die abgedrehten Offenbarungen des Johannes fasste man besser auch nicht an. Puritanisch, hielt ich mich schließlich nur an die Evangelien. Durch den vielen Weihrauch im Papier, gewannen meine Selbstgedrehten etwas Orientalisches. Ihr Geruch ließ an Räucherstäbchen denken, an Zimbelklänge, an halb verdunkelte Räume voll tanzender, verschleierter Weiber. Bei der dritten Zigarette hatte ich den Eindruck, ich sei stoned geworden. Ich hörte sogar schon Stimmen. Bei näherem Hinhören ergab sich, die Jungs aus der Zelle über der meinen riefen nach mir. Walter, so erfuhr ich, hatte ihnen ein Päckchen gegeben, dass sie mir nun zukommen lassen wollten. Dazu bräuchte ich nur die Lüftungsklappe der Strafzelle öffnen, hörte ich sie erklären, und den Bindfaden ergreifen, der davor hin und her schwang. Mit einem Auge lugte ich durch die geöffnete Klappe. Ich sah den Bindfaden. Ich ergriff ihn mit Zeige- und Mittelfinger wie mit einer Pinzette und zog ihn zu mir herein. Am Ende des Bindfadens hing ein Päckchen mit fünf in Stanniol verpackten Filterzigaretten. Das konnte doch nicht alles sein, dachte ich, oder? Vorsichtig fühlte ich über die Zigaretten. Die Konsistenz von zweien schien nicht ganz identisch zu sein mit der Konsistenz gewöhnlicher Filterzigarette. Sie waren härter und wogen auch schwerer als gewöhnliche Zigaretten. Im Schein des wenigen Lichts, das von den Scheinwerfern draußen an der

75

Gefängnismauer durch die Lüftungsluke in meine Strafzelle drang, breitete ich das Stanniol in dem die Zigaretten verpackt waren, auf dem Bett aus. Ich hielt eine der beiden harten und schweren Zigaretten darüber und riss sie der Länge nach auf. Feines helles Pulver rieselte daraus hervor. Ich riss die zweite Zigarette auf und auch sie war, unter einem anfänglichen Stöpsel gewöhnlichen Tabaks, mit feinem Pulver gefüllt. Ich benetzte die Spitze meines Zeigefingers mit Speichel, tupfte mit dem feuchten Finger auf das Pulver und führte ihn zum Mund. Sofort verbreitete sich in meiner Mundhöhle der bittere Geschmack potenten Morphins. Auf dem Bette vor mir, lagen in etwa 3 Gramm feinsten Heroins. Hab Dank, Walter. Die Jungs von oben riefen erneut nach mir und wieder schwang ein Bindfaden vor meiner Luke. Diesmal hingen zwei Fingerlinge voll Tabak daran, aber keine Blättchen. Was wohl in Walters Kopf vorgehen mochte? Doch das mit den Fingerlingen hatte er gut bedacht. Fingerlinge waren unentbehrlich, wollte man Waren unter meinen Umständen gut und trocken verbergen. Für die Unwissenden sei erklärt: Ein Fingerling ist wie ein Kondom für Finger und nur kleiner und von dickerem Gummi als gewöhnliche Kondome. Fummelten Ärzte ihren Patienten aus medizinischen Gründen im Arsch, trugen sie dabei einen Fingerling. Fummelten sie nicht aus medizinischen Gründen sondern zum Vergnügen, ließen sie ihn weg. Das Essbesteck in dieser Strafzelle bestand aus einem Metalllöffel mit Kunststoffgriff und Gabel und Messer aus Kunststoff. Ich hatte Glück, dass wenigstens der Löffel von Metall und nicht auch von Kunststoff war. Wäre auch er von Kunststoff gewesen, ich müsste das Pulver schnupfen oder auf dem vielleicht löchrigen Stanniol, in dem Walters Zigaretten verpackt waren, in Lösung bringen.

76

Manche mögen schon vom Injizieren mit einem Tropfer gehört oder gelesen haben. Bill, der Amerikaner, schrieb darüber. Man umwickelt das stumpfe Ende der Nadel mit einem Streifen feuchten Zigarettenpapiers oder Toilettenpapiers, damit ein papierener Konus entsteht. Mit diesem Konus voran, pfropft man die Nadel in die Öffnung des Tropfers. Mit Tropfer zu injizieren ist in aller Regel einfach. Da ein Tropfer nicht viel Lösung fasst, sollte man nicht ungewöhnlich hoch dosiert sein. Ist man es doch, erfordert es unter Umständen mehrere aufeinander folgende Injektionen. Man benötigt ein wenig Geschick, aber man hat den Dreh rasch raus. Man muss im Grunde nur darauf achten, dass die Lösung sich am Nadelende des Tropfers befindet und nicht etwa im Gummibällchen. Man hält den gefüllten Tropfer mit der Nadel nach oben und quetscht sein Gummibällchen zwischen Daumen und Zeigefinger platt. Man hält das Bällchen gedrückt und stochert nach einer Vene. Will man prüfen ob man auf Blut gestoßen ist, verringert man ein wenig den Druck auf das Bällchen. Schießt dabei Blut in den Tropfer, ist man am Ziel. Danach drückt man das Bällchen mehrmals, bis man redlicherweise annehmen kann, dass sich im Tropfer nur noch Blut und kein Molekül Heroin mehr befindet. Im Dunkeln eine Vene zu finden, war kein Problem. Man konnte Venen, die man nicht sah, ertasten. War es zu finster oder lagen Venen zu weit unter der Haut oder waren sie auch einfach zu klein um sichtbar zu sein, fand man sie durch leichten prüfenden Druck mit der Fingerspitze. Gewebe, unter dem sich eine Vene befand, federte rascher wieder nach oben. Auf Blut zu stoßen war und blieb ein magisches Erlebnis. Schön, wie rotes Blut in den Tropfer schoss, einen Augenblick lang starr und gerade blieb wie ein Faden, im nächsten Moment auseinander faserte wie Wolle und am Ende, wie eine Blüte,

77

den ganzen Tropfer füllte. Hinterher rauchte ich noch einige mit Bibelpapier gedrehte Zigaretten und verstaute danach alles wieder gut im Seegras der Matratze. Ein weiser Entschluss, wie sich zeigen sollte. Am nächsten Morgen wurde ich, noch vor der Frühstücksausgabe, aus der Strafzelle geholt. Im Korridor musste ich meinen Overall ausziehen und wurde erneut untersucht. „Bücken! Backen spreizen“! Derweil erzählte ich dem Wachbeamten, der mit seiner brennenden Stablampe zwischen den Zähnen hinter mir kauerte, „Heute, hat mein Arschloch etwas Spirituelles. Siehst du hinein, erkennst du dich selbst“. Unterdessen durchsuchten drei weitere Wachbeamte die Strafzelle. Sie fanden nichts. Heroin und Tropfer trug ich, wasserdicht verpackt im Fingerling, tief im Arsch. Tabak und Feuerzeug waren so gut im Seegras der Matratze verborgen, man müsste sie der Länge nach aufschlitzten, wollte man es finden. Als ich hinterher die Strafzelle wieder betrat und die Tür hinter mir verschlossen wurde, fand ich einige Glasscherben auf dem kleinen Sims unter der Lüftungsluke, die vor der Durchsuchung der Strafzelle mit Sicherheit noch nicht dort waren. Offenbar spielten die uniformierten Schelme der Wachmannschaft ein Spiel mit meinem Leben. Vermutlich hatten sie schon untereinander Wetten abgeschlossen, ob ich im Laufe der zwei Wochen in diesem Loch Selbstmord beginge und wie lange es bis dahin dauern würde. Zwei Tage später war erneut Zellenkontrolle. Als ich diesmal die Zelle wieder betrat, machte mich einer der Wachbeamten auf ein gewinkeltes Rohrstück aufmerksam, dass knapp unter der Decke aus einer Wand kam und nach einem Bogen von neunzig Grad in der anderen wieder verschwand. „Nimmt man seinen Overall als Strick“, erklärte der Wachbeamte und wies mit dem Finger zum Rohrstück hoch, „kann man sich dort gut erhängen“. Es war ein Spiel dieser Leute. Sie

78

langweilten sich und wünschten ein wenig Pfeffer in ihr fades Leben, selbst sei es auf Kosten des Lebens anderer Menschen. Es waren eben einfache Geister, die in solchen Gefängnissen Dienst taten. Als ich wenige Tage später, nach einer erneuten Zellenkontrolle und Leibesvisitation im Gang wieder in die Strafzelle kam, lag dort, wo zuvor die Glasscherben gelegen hatten, eine brandneue Rasierklinge. Sie gaben offenbar nicht so rasch auf, die Jungs vom Amt… Als die zwei Wochen vorüber waren, gab ich dem Pfaffen die dünner gewordene Bibel zurück. Der Arzt kam und fand, ich hatte während der beiden Wochen sechs Pfund zugenommen. Als ich die Strafzelle verlassen sollte, setzte ich mich auf die Seegrasmatratze und schüttelte störrisch den Kopf. „Ich will hier nicht raus und ich komme auch nicht raus“. Die Wachbeamten sahen sich an und einer brummte, „Wie, du kommst nicht raus“? „Wozu soll ich raus kommen?“, fragte ich. „Ihr belästigt mich doch nur wieder mit Arbeit und da ich sie wieder verweigern würde, stecktet ihr mich wieder vierzehn Tage in die Strafzelle. Deshalb bleibe ich doch besser gleich hier“. „SOFORT RAUS!“ schrieen die Wachbeamten im Chor. Sie stürzten in die Strafzelle und warfen sich auf mich. Ich widersetzte mich, strampelte, schrie, schlug um mich, biss und spukte, aber es half nichts. Zu viert zerrten sie mich schließlich an Haaren, Armen und Beinen aus der Zelle in den Korridor hinaus. Kurz darauf war ich wieder bei Walter in der Gemeinschaftszelle. Wieder unter Menschen, erfuhr ich, der Chef der Wachabteilung der Strafzellen im Keller, der Mann also, dessen Untergebene so eifrig meinen Selbstmord herbeiführen wollten, war tot. Er hatte Selbstmord begangen. In den Zeitungen hatte zwar gestanden, er habe sich beim Rasieren tödlich verletzt. Wie aber alle seine Kollegen zu berichten wussten, hatte er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Ich fragte mich, wäre dieser

79

Mann noch am Leben, wäre ihm und seinen Untergebenen gelungen, mich in den Selbstmord zu treiben? Hätte mein Tod genügt um seinem Leben wieder soviel Auftrieb zu geben, dass er es noch eine Weile ertragen hätte? Die Sklaventreiber kamen nicht schon am nächsten Morgen wieder, um mich mit Arbeit zu belästigen. Drei Tage lang sah und hörte ich nichts von ihnen. Doch dann wurde ich morgens gegen sechs Uhr aus der Zelle geholt und mit einem Einzeltransport, im Streifenwagen der Polizei, in ein anderes Gefängnis gebracht. Dort hoffte man, mit den richtigen Methoden doch noch einen gehorsamen Bürger, einen willigen Fliesbandsklaven aus mir zu machen…

*

80

Albert Kriton, mein Freund,. Sind nicht letztlich wir selbst es, die am besten wissen was gut für uns ist? Sokrates

Wir hatten auf den Simsen der beiden Zellenfenster, jenseits des Gitters auf der „freien Seite“, Schlingen aus Bindfäden ausgelegt, einige Brotkrümel dazu gestreut und gehofft, Tauben damit zu fangen. Eine geschlagene Stunde saßen wir schon mit hochgelegten Beinen um den Zellentisch, rauchten schweigend und schielten immer wieder zu den Zellenfenstern hoch, ob sich dort nicht schon etwas gefangen hatte... Plötzlich unterbrach Manfred die Stille, „Leute. Könnt ihr euch Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße vorstellen? Ich versichere euch, kein Mensch bei seinem vollen Verstande fräße freiwillig Gehirn mit Rührei Kümmel und Tomatensoße“. Jochen und ich sahen uns an, verwundert, bis ich schließlich fragte, „Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße?! Wovon, in Teufelsnamen, sprichst du nur?“ „Na ja, von Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße eben“, erklärte Manfred. Er steckte eine krumme Selbstgedrehte in seinen Mund und fügte erregt auf seiner Zigarette kauend hinzu, „Das hatten sie uns damals, drüben, immer zu fressen gegeben“. Manfred kramte hastig eine zerknüllte Streichholzschachtel aus seiner Hosentasche, zündete seine Zigarette an und fuhr fort, „Und ich sage euch, keiner von uns fraß das Zeug jemals freiwillig. Aber wir hatten nichts anderes. Man konnte es im Grunde noch nicht mal zu den

81

Nahrungsmitteln zählen. Stellt euch doch nur vor wie es aussieht, schwabbelige Stücke grau zerkochten Schweinegehirns, dampfend noch und nach Tod stinkend, mit fahlgelbem, halbgeronnenem Hühnerei verrührt, blutrote Tomatensoße darüber gegossen und, als reiche das noch nicht, zu allem Überfluss auch noch, wie mit winzigen Stücken Kacke besprenkelt, Kümmel darüber gestreut“! Jochen und ich sahen uns an und versuchten, es uns vorzustellen. Bilder aus Manfreds Erzählungen, von seiner Zeit, „drüben“, wo er acht Jahre wegen versuchter Republikflucht gesessen hatte, stiegen in mir empor. Plötzlich scholl vom Zellenfenster her das Geräusch wild schlagender Flügel. Erschrocken, sahen wir alle gleichzeitig zum Zellenfenstern hoch. Eine Taube, weiß wie Schnee und groß wie ein Suppenhuhn, hatte sich in unseren Schlingen verfangen. Mit heftigen Flügelschlägen versuchte sie, sich wieder daraus zu befreien. Federn, stiebten dabei in die Runde. Manfred erblasste. Er sank, wie in Trance, von seinem Stuhle auf die Knie und stammelte, „Es ist so weit, Leute. Seht, es ist so weit“. Mit verdrehten Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen war, wies er auf die Taube am Fenstersims. Speichel, troff von seinem Kinn als er verkündete, „Diese weiße Taube, so seht doch hin, ist Jesus Christus der gekommen ist um uns alle zu befreien“! Manfred war bereits wegen seiner religiösen Ausbrüche bekannt. Nicht umsonst nannte ihn jeder in der Haftanstalt den Heiligen Manni. Mit klappernden Kiefern und Schaumbällchen in den Mundwinkeln, sprang der Heilige Manni vom Boden auf. Er stürzte sich wirren Blicks auf Jochen, packte ihn beim Kragen, beutelte ihn hin und her und schrie ihm ins Gesicht, „Der Pfaffe! Wir müssen sofort den Pfaffen rufen. Der muss sich das ansehen. Der muss mit Jesus sprechen und ihn bitten, uns sofort hier raus zu lassen! Das ist seine Pflicht! Sein Job! Dafür wird er bezahlt! Oh Gott, wird der sich freuen! Kommt, lasset uns gemeinsam

82

beten“! In diesem Moment erlosch in der Zelle das Licht und wir waren mit einem Schlage in Dunkel getaucht. Es war zweiundzwanzig Uhr geworden und die Nachtruhe hatte begonnen… Die Taube, inzwischen mit ihrem Los versöhnt, saß auf dem Fenstersims, pickte verdrossen nach Brotkrumen und sah gelegentlich mit einer Mischung aus Neugier und, wie mir schien, einiger Abscheu, zu uns herein. Beruhigt mit dem Versprechen, wir riefen gleich am nächsten Morgen den Anstaltspfaffen, ließ Manfred sich problemlos zu Bett legen. Es dauerte nicht lange und auch Jochen und ich legten uns nieder. Bald darauf schnarchten Jochen und der Heilige Manni und nur ich lag noch wach mit beunruhigenden Gedanken an morgen. Morgen sollte meine Gerichtsverhandlung stattfinden und die Höchststrafe, die auf meinem Delikte stand, belief sich auf fünfzehn Jahre. Kommissare der Partei behaupteten, nicht nur hätte ich hochpotente Arzneimittel hergestellt und vertrieben und damit das Monopol mächtiger Gruppen gebrochen, ich hätte auch, und das wöge am schwersten, einem weltumspannenden Netz mächtiger Leute zuwidergehandelt, die bestrebt waren, den Fortbestand ihrer Art durch Beeinflussung des humangenetischen Pools zu sichern. Keine geringen Vorwürfe, bedachte man, ich war erst fünfundzwanzig. In diesem Alter dauerten fünfzehn Jahre länger als ein halbes Leben. Ob Manfreds Jesus so lange meine Hand hielt und mir die Zeit vertriebe? In der Asservatenkammer, im Keller des vierstöckigen Zellenbaus, legte ich die Gefängniskleidung ab und schlüpfte in meine bürgerlichen Klamotten. Wie eng sie doch geworden waren, nach all den Monaten Untätigkeit und Gefängniskost und wie muffig, in der Atmosphäre dieser Asservatenkammer, in der schon seit zweihundertfünfzig Jahren Kleidung und Gegenstände von Gefangenen aufbewahrt wurden.

83

Im Gefängnishof stand ein vergitterter Kleinbus bereit, der mich zum Inquisitionspalast brächte. Fahrer und Beifahrer, beide mit goldenem Parteiabzeichen, trugen ihre Pistolentaschen geöffnet. „Wenn du zu fliehen versuchst“, sagte einer der beiden und ließ dabei das Magazin seiner Pistole spielerisch ein und aus schnappen, „dann schieße ich dir in den Rücken, vergiss es nicht...“. Tot, oder den Rest meines Lebens querschnittsgelähmt, dachte ich, und sah dem Kerl in die Augen. Nichts, aber auch gar nichts, blickte daraus zurück. Der Kopf hinter diesen Augen war leer wie ein leer gepustetes Hühnerei. Von allen Hornochsen die man zu praktischen Zwecken mit Schusswaffen ausstattete, waren gerade diese leeren Eierköpfe am gefährlichsten, dachten sie doch weder vor noch nach der Tat über ihre Handlung und deren Folgen nach und versuchten höchstens noch, sich ihrer zu rühmen. Wie seltsam doch, selbst nach nur wenigen Monaten Gefangenschaft, wieder freie Menschen auf freien Straßen zu sehen, Verkehrsampeln und Autoverkehr. Menschen auf Bürgersteigen oder im Begriffe, Straßen zu überqueren. Teils stille, in sich gekehrte, grau und gebeugt, teils fröhliche, lärmende und bunte. Graue und Bunte, Junge und Alte und alle frei, frei zu gehen wohin sie wollten, ohne Mauern, ohne verschlossene Türen und vor allem ohne Parteifunktionäre die auf sie schießen, wollten sie woanders hin. Während ich rauchte und die Aussicht genas, fuhr der Bus zügig durch die Innenstadt. Bald erschien in der Ferne die drohende Silhouette des Inquisitionspalastes. Es war ein großflächiger Bau aus nacktem Beton, an dem nicht ein Pinselstrich Farbe verwendet worden war. Fenster waren auf Anhieb keine zu sehen, dafür aber schmale Schlitze, die sich in jedem Stockwerk wie Schießscharten um das gesamte Gebäude zogen. Die kleinen schillernden Flächen darin, die

84

man nur bei genauerem Hinsehen erkannte, waren die eigentlichen Fenster. Dieses Gebäude sah aus wie ein Luftschutzbunker und es bestand kein Zweifel dass jene, die es erbaut hatten, sich fürchteten. Wie oft hatte ich nicht schon Leuten zugehört, die sich abfällig über die „megalomanische Architektur des III Reiches“ geäußert hatten? Alles schön und gut, Leute. Alles schön und gut. Aber hier versuchte man bereits wieder, die Bevölkerung mit Droharchitektur einzuschüchtern und kein Hahn kräht danach! Die Einfahrt für Angeklagte befand sich auf der Rückseite des Gebäudes. Lautlos, glitt ein graues, elektronisch gesteuertes Stahltor zur Seite und ließ uns auf einen schattigen Hof. Wir wurden von drei uniformierten Sicherheitsfunktionären empfangen. Maschinenpistolen, die an Ledergurten von ihren Schulten hingen, baumelten leger vor ihren Bäuchen. Meine Begleiter überreichten die Überstellungspapiere. Einer der Funktionäre nahm sie entgegen und blätterte darin. Ein Zweiter trat von hinten an ihn heran, las über die Schulter seines Kollegen mit und strich dabei fast zärtlich mit dem Daumen über den Sicherungshebel seiner Maschinenpistole… Ich betrachtete unterdessen den Hof. Dunkelgrüne Moospolster und graugrüne Flechten wuchsen an manchen Stellen der Hofmauer. Gelbe Strähnen verdorrten Grases hingen vereinzelt aus ihren Fugen. An einer Stelle reckte gar ein Löwenzahn, die Wurzeln hartnäckig im Mauerwerk verankert, seine goldgelbe Blüte dem Sonnenlicht entgegen. Vögel, sangen in den Bäumen jenseits der Mauer. Aus den hohen Ecken des Hofes blickten bläuliche Kameralinsen kalt auf mich herab. Irgendwo im Keller dieses Inquisitionspalastes, so stellte ich mir vor, saß in diesen Augenblicken ein unterbezahlter,

85

schlecht ernährter, pickeliger junger Funktionär mit frühzeitiger Glatzenbildung und schlechten Zähnen und beobachtete mich auf einem Monitor. Während er meine Bewegungen studierte, tickte er nervös mit dem zerkauten Ende eines billigen Kugelschreibers auf seine Tastatur und ärgerte sich über jedes Haar, das währenddessen von seinem ohnehin fast kahlen Kopfe fiel und spöttisch auf seine Arbeitsfläche nieder sank. Fiele in diesen Augenblicken ein Haar von meinem Kopf, der junge Funktionär versähe es in Windeseile mit einer Kennziffer, katalogisierte es anhand von Farbe und Struktur, analysierte seine Bestandteile, prüfte sie auf Rückstände verbotener Substanzen, extrahierte meinen genetischen Code und stellte die gewonnenen Erkenntnisse mit dem Druck einer Taste für immer und ewig dem weltumspannenden Datennetz der „WAG“ zur Verfügung. (WAG = Wir sind Alle so furchtbar Glücklich. Eine Partei die stets mehr Lebensbelange der Bürger unter ihre Kontrolle brachte.) Kunstfertig in die Mauer eingelassene Sensoren erschnüffelten meinen Atem, analysierten ihn, zerlegten ihn in seine Bestandteile und schlossen daraus, noch bevor ich Gelegenheit hatte, schützend den harmlosen Idioten einzublenden, nicht nur auf meinen gegenwärtigen Gemütszustand, sondern sogar auf den Grad meines Widerstandes gegen die Partei. Danach glitten die gewonnenen Erkenntnisse unauslöschlich und für jeden Parteifunktionär jederzeit abrufbar, ebenfalls in die Datenspeicher der „WAG“. Eine feuerfeste Stahltür führte in ein kühles, von verstaubten Neonröhren trübe beleuchtetes Wirrwarr von Korridoren. Die bewaffneten Funktionäre hatte ich im Hof zurückgelassen. Dort zurückgelassen hatte ich aber auch den begierig vom Sonnenlichte trinkenden Löwenzahn und die singenden Vögel in den Bäumen

86

jenseits der Mauer. Wo ich nun war, umgaben mich Zwielicht und Unsicherheit und bedrängten mich, wie schlechter Atem... Holzpritschen hingen entlang den Wänden der Wartezelle, eines kleinen, fensterlosen Raumes, tief in den Kellern des Inquisitionspalastes. Beschuldigte saßen darauf, rauchten, schwiegen und blickten stoisch auf ihre Schuhspitzen. Einige standen, einige liefen langsam und schweigend umher. Kaum jemand sprach und die, welche sprachen, flüsterten. Zu sagen, gab es hier nicht mehr viel. Alles, was gesagt werden konnte, war in zahlreicher Variation schon so oft gesagt worden. An den Wänden der Wartezelle sah man Inschriften. Mit Schreibstiften hin gekritzelte, mit spitzen Gegenständen eingeritzte oder mit rußender Feuerzeugflamme hin geschwärzte Botschaften: „Hatte bereits zwölf Jahre. Bekam heute 14 Jahre Nachschlag. Gehe mich anschließend erhängen. Tschüss. Kalle aus Augsburg“. Oder: „Wegen BtmG* zu 14 Jahren verurteilt. Wir sehen uns 2012 wieder. Tschüss. Atze“. Auch an zornigen Inschriften fehlte es nicht: „Wenn ich das dreckige Richterschwein zu packen kriege, reiße ich ihm die Eier vom Bauch und stopfe sie in sein stinkendes Maul“! Auch den Spruch, den man an solchen Orten immer wieder fand, stand auf diesen Wänden: „Ob sie uns lieben oder hassen, einmal müssen sie uns doch entlassen“. Wie man sich hierin täuschen konnte, stand gleich darunter: „Zweimal lebenslang mit anschließender Sicherungsverwahrung. Sandra, sehe ich nie wieder. Tschüss ihr Arschlöcher. Schwabinger Dieter...“ . Ich war noch im Lesen der Inschriften vertieft, als hinter mir die Zellentüre geöffnet wurde und ein weiterer Beschuldigter eintrat. Erst war er unter den schlechten Lichtverhältnissen dieses Raumes nicht zu erkennen. Als er aber näher trat erkannte ich, es war Albert, ein Kollege

87

aus lange vergangenen Zeiten. Wir beide hatten einst die Ärzte des Landes nach Betäubungsmittelrezepten abgegrast. Mit der „Roten Liste“, dem Arzneimittelindex der Republik unterm Arm, Landkarten, Stadtpläne und Adressenlisten niedergelassener Ärzte im Rucksack, so waren wir ausgezogen, weitgehend unwissend noch über die Schrecken des heraufdämmernden Terrors moderner Betäubungsmittelpolitik. Das Erfinden des gesellschaftlichen Phänomens „Drogensucht“, stand noch in den Kinderschuhen. Schweißnass und mit reißendem Hunger nach Opiat in den Eingeweiden, nagend in jeder Zelle, entschlossen wie Wölfe, waren wir eingefallen in die Praxen niedergelassener Rezeptschmierer: „Bin auf der Durchreise, Herr Doktor. Handelsreisender, sie verstehen? Staubsauger, müssen sie wissen. Also, benötigten sie jemals einen Staubsauger, Herr Doktor, ich könnte ihnen Prozente geben, das glaubten sie nicht! Aber zur Sache. Ich kann nicht mehr arbeiten, verstehen sie? Diese Rückenschmerzen sind nicht mehr zu ertragen. Eine alte Geschichte aus meiner Kindheit. Chronifiziert. Hatte damals, ist ja schon so lange her, diesen furchtbaren Unfall auf dem Kinderkarussell. Seitdem sind bei mir, wie mein Orthopäde das immer so hübsch ausdrückt, „einige Wirbel im Arsch“. Ein sehr lustiger Mann, mein Orthopäde. Er sagt oft die komischsten Dinge. Doktor Seidel. Friedrich Seidl, aus Naumburg. Sie kennen ihn? Nein? Ein fabelhafter Mann. Allerdings auch nicht mehr der Jüngste. Nicht mehr zu operieren, Herr Doktor! Die gesamte Chirurgie des Landes hat mir bereits abgewinkt. Selbst Professor Krokowski. Jawohl! Sogar der! Sie haben sicher schon von ihm gehört? Deutschlands Chirurgenwunder Numero uno? Selbst der, bedauerte zutiefst und empfahl, notfalls nach gut verträglichen Schmerzmitteln zu greifen. Und nun stellen sie sich vor, Herr Doktor, hatte ich doch glatt mein Morphin im Hotel Zum

88

Kühnen Knappen in Freiburg zurück gelassen und kann es nicht mehr holen, verstehen sie, weil ich laut Reiseplan schon heute Abend in Hannover sein muss. Die Fahrkarten sind seit Wochen bezahlt, das Hotel reserviert. Und gerade im Zug, Herr Doktor, wenn das dort so rüttelt, verstehen sie, wenn es dann so wiegt und schaukelt, kriecht der Schmerz vom Arsch die Wirbelsäule hoch und über den Nacken rein ins Gehirn. Das können sie sich gar nicht vorstellen. Man kann nicht mehr stehen, nicht mehr sitzen, nicht mehr liegen, man möchte eigentlich nur noch sterben. Jawohl Herr Doktor, Morphinhydrochlorid Injektionslösung. Und, Herr Doktor, damit das Zeugs auch einige Zeit vorhält, ich bin ein viel beschäftigter Mann und kann nicht jeden Tag beim Arzt sitzen, verschreiben sie bitte gleich die große Klinikpackung ...“. Zeigte einer der Ärzte beim Nennen des Wortes „Morphin“ auch nur die leisesten Anzeichen von Unruhe, man bekam mit der Zeit Gespür dafür, lenkten wir sofort ein: „Und all das wäre ja noch zu ertragen, Herr Doktor, gäbe es da nicht auch noch diesen furchtbaren Husten. Er beginnt immer erst am Abend, müssen sie wissen. Tief in der Brust erst und flüssig, verstehen sie, um dann immer trockener zu werden, bis es einem durch den ganzen Leib raspelt. Und das die ganze Nacht, bis in die frühen Morgenstunden! Kein Auge, kann man dabei zutun, verstehen Sie? Kein Auge! Und dabei muss ich doch morgens gleich wieder raus und ran an die Staubsauger! Die verkaufen sich nicht von alleine! Den Husten? Auch schon seit vielen Jahren. Paracodin, Herr Doktor. Dehydrokodein*. Sie wissen, das einzig Wahre gegen Husten. Und, Herr Doktor, ich bin ein viel beschäftigter Mann und kann nicht jeden Tag beim Arzt sitzen, verstehen sie? Verschreiben sie deshalb bitte gleich eine Familienpackung oder besser noch, die große Klinikpackung“.

89

*Paracodin oder Dehydrocodein, wegen seiner geringeren Potenz für jeden Morphinisten ein fauler Kompromiss, aber besser noch als gar nichts und Entwöhnungssymptome in den Eingeweiden. Nicht selten verließen wir nach solchen Auftritten die Praxis mit Rezepten für beides, Morphinhydrochlorid Injektionslösung und Dehydrocodein... Besuch bei bösartigen Ärzten: Man setzt sich vor den Schreibtisch des Arztes, legt die Hände in den Schoß und beginnt zu erzählen: „Ich fühle mich seit Tagen nicht mehr so richtig wohl, Herr Doktor. Ich habe ständig Fieber, meine Muskeln schmerzen, ich verspüre ständig Übelkeit und dazu diese hämmernden Kopfschmerzen. Ich komme gerade aus Afrika zurück, müssen sie wissen. Namibia, um genau zu sein. Musste dort einige Kotproben dieser Elefantenherde untersuchen. Um der lieben Statistik willen, sie verstehen? Riesenhaufen, legen diese Biester, das können sie sich gar nicht vorstellen! Unser Trupp kam durch dieses Dorf in dem diese furchtbare Krankheit wütete. Ich werde mich doch nicht etwa angesteckt haben, Herr Doktor? Welche Krankheit ich meine? Ja, wie hieß sie doch? Etwas mit E. E..., E..., Ebi...? Ebi..., Ein merkwürdiges Wort, klingt fast wie ein Musikinstrument. Ach ja. Jetzt fiel es mir wieder ein. EBOLA hieß diese furchtbare Krankheit“! An dieser Stelle hustet man dem Arzt ein halb zerkautes und noch blutiges Stück roher Kalbsleber auf den Schreibtisch. „Oh, das tut mir aber leid. Gott, wie peinlich! Bitte gestatten Sie eben dass ich...“. Man beugt sich nach vorne und pflückt mit spitzen Fingern das blutige Stück Kalbsleber vom Schreibtisch, wischt ungeschickt mit dem Hemdsärmel über die verbliebenen Blutreste, bringt dabei sein Gesicht ganz nahe an das des Arztes heran, hustet ihm ins Gesicht und fragt besorgt: „Es wird doch nichts Ernstes sein, Herr Doktor? -und nochmals, in flehendem Ton, Oder? Herr Doktor“?

90

Wir hatten uns lange nicht gesehen, Albert und ich, und Albert begann sogleich zu erzählen. Die düsterere Beleuchtung der Wartezelle, ihre beschmierten Wände und die fatalistische, stille Ergebenheit der Anwesenden, gaben dazu die Kulisse. „Lang ist’s her“, begann Albert, „da wir gemeinsam das Land nach Rezepten abgeklappert hatten. Erinnerst du dich?“ Schon nach diesen wenigen Worten war mir klar geworden, dieser Albert der hier vor mir stand, war nicht mehr der Albert den ich von früher kannte. Er war stiller geworden, nachdenklicher, er sprach leiser, monotoner. Ohne eine Antwort auf seine Frage abzuwarten, fuhr Albert fort. „Kurz nachdem wir uns aus den Augen verloren hatten, wurde ich wegen einer Dosis Heroin in meiner Hosentasche festgenommen und zu zwei Jahren verurteilt. Als ich wieder frei kam, hatte ich kein Dach mehr über dem Kopf und kaum Geld in der Tasche. Du kennst das ja. Die erste Nacht verbrachte ich in einer Absteige in der Schillerstraße, die Nacht darauf in einer Bar in der Dachauerstraße. Dort saß ich und sann nach, wie ich mit dem wenigen Geld dass ich hatte durch die Nacht kommen konnte, es war bereits November und schon bitterkalt. Da setzte ein Fremder sich neben mich. Er kenne mich, behauptete er nach kurzer Zeit. Er hätte zur selben Zeit im Knast von K. gesessen wie ich. Ich meinerseits, konnte mich allerdings absolut nicht an ihn erinnern. Aber ich sah auch keinen Anlass ihm nicht zu glauben. Aus seinen Erzählungen ging jedenfalls hervor, dass er den Knast von K. kannte. So erwähnte er zum Beispiel Rudi, den Hundehausel und Ottoman, den Beamten der Schneiderei. Ihm ginge es wie mir, erklärte der Fremde. Auch er, wäre erst kürzlich entlassen worden und auch er, habe kaum Geld in der Tasche. Vorläufig wohne er noch bei einer Freundin, erzählte er, aber lange ginge das nicht mehr. Er lud mich zu einem Bier ein und während wir tranken erwähnte er, er wisse einige Leute, die an einem Kauf von 1500 Gramm Heroin interessiert wären aber sie wüssten nicht, wie sie an

91

solche Mengen kämen. Ich hatte noch die Telefonnummer von Karl im Gedächtnis. Du erinnerst dich an Karl? Dieser verrückte Österreicher mit dem dünnen Schnurrbärtchen und seiner Freundin, die er immer verprügelte sobald er geschäftliche Fehler machte und damit den Eindruck erweckte, sie hätte sie begangen? Ich rief also bei Karl an. Ich hatte Geld nötig, verstehst du? Karl war zuhause, aber er hatte gerade keine Ware zur Verfügung. Er versprach aber, noch im Laufe des kommenden Tages welche zu besorgen. Als der Handel am Abend des folgenden Tages stattfand, entpuppte sich mein angeblicher Knastkollege aus K. als Kommissar der Polizei. Karl und ich wurden festgenommen. Karl hatte die Schnauze gehalten und so erfuhren sie nie, von wem der Stoff stammte. Am nächsten Morgen standen aber Karl und ich als geschnappte „Heroingroßhändler“ in allen Zeitungen und ich sogar als „Unverbesserlicher Rauschgiftgroßhändler“, der gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden war. Hätte es aber diesen schmierigen Kommissar nicht gegeben, hätte dieser Handel jedenfalls nie stattgefunden. So läuft das inzwischen übrigens landesweit. Ein beträchtlicher Teil der größeren Geschäfte, wird von der Polizei selbst getätigt. Nur stellt man die nicht vor Gericht. Die werden höchstens befördert. So kam es, dass ich am dritten Tage nach meiner Freilassung schon wieder in Untersuchungshaft saß. Und deshalb bin ich heute hier, mit dir, in dieser Wartezelle, und erwarte schon wieder einen Prozess. Damals, als wir die Tour mit den Ärzten abgezogen hatten, war ich auch gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, erinnerst du dich? Solange ich denken kann, gehe ich nur noch in Gefängnissen ein und aus. Dabei habe ich noch nie etwas verbrochen, noch nie jemandem etwas angetan. Es ist alles nur, weil ich ohne Opiate nicht zu leben weiß...“ Hier endete Albert mit seiner Geschichte und wir schwiegen und rauchten...

92

Wie oft hatte ich nicht schon solche Geschichten gehört? War nicht auch mir ähnliches geschehen? Und wie oft hatte ich mich dabei nicht schon gefragt, wirkt sich unsere Drogenpolitik und das Betäubungsmittelgesetz samt der Betäubungsmittelrechtsprechung nicht weit verheerender auf die Opfer und die Gesellschaft aus, als alle Betäubungsmittel zusammengenommen? In wie vielen Fällen reichte nicht schon der Besitz einiger harmloser Krümel getrockneter Hanfblüten, um die Zerstörung einer sozialen Existenz oder gar eines ganzen Lebens zu rechtfertigen? Wurden wir nicht so lange gezielt mit schauerlichen Geschichten über „Drogen“ und „Drogensüchtige“ eingedeckt bis gerechtfertigt werden konnte, unangefochten in krimineller Weise gegen kranke, unschuldige, einfache oder auch einfach nur unbequeme Mitbürger vorzugehen? Aber wo kommen wir hin wenn wir zulassen dass unsere Gesetzeshüter Verbrechen, die sie eigentlich verhüten sollten, selbst begehen und ihre schmutzigen Praktiken im Nachhinein schamlos als Grundlage kriminalistischer Erfolge präsentieren? Zu warten, bis die Polizei freiwillig von solchen kriminellen Praktiken absieht, ist freilich vergebens, schaffen sie doch Beförderungen, gute Gehälter, gesicherte Altersversorgung und schimmernde Auszeichnungen auf die geblähte Brust. Während ich in noch darüber nachsann, schwang die Tür der Wartezelle auf und man rief unsere Namen auf. Wie es schien, fand Alberts Verhandlung etwa zum selben Zeitpunkt statt wie die meine. Vor der Tür der Wartezelle, im kühlen, schlecht beleuchteten Korridor, klemmten zwei Funktionäre Zangen an unsere Handgelenke. Eine Zange, für jene die es nicht wissen, ist ein stählernes Instrument in der Form einer Acht. Ein Ring dieser Acht lässt sich öffnen und wird um das Handgelenk eines Gefangenen geschlossen, während der andere Ring wie ein Griff fest in der Hand eines Funktionärs liegt, der mit

93

einer kräftigen Drehung dieser Zange den kräftigsten Gefangenen vor Schmerz in die Knie zwingen, oder ihm das Handgelenk brechen kann... Mein Begleiter, ein junger Mann von etwa 30 Jahren, war offenbar Rechtshänder. Er trug seine geöffnete Pistolentasche, bestückt mit einer Walther PPK, an seiner rechten Seite. Die Zange die mein linkes Handgelenk umschloss, hielt er fest in seiner Rechten. Alberts Begleiter war älter. Er mochte um die Achtundvierzig gewesen sein. Er war von schwerer Statur und Linkshänder, denn er trug seine Pistolentasche, ebenfalls geöffnet, an seiner linken Seite. Die Zange, die Alberts Rechte umschloss, hielt er in seiner Linken. Die Konstellation erinnerte mich daran, dass auch Albert Linkshänder war... Unter dem Hallen unserer Schritte, bogen wir in den schlecht beleuchteten Korridor ein, an dessen Ende sich die Aufzüge befanden die zu den Sitzungssälen führten. Albert sah mich an, kurz nur, aber eindringlich. Was folgte, geschah so rasch, dass man es kaum mit den Augen verfolgen konnte. Mit einer raschen Bewegung seiner Linken ergriff Albert die Pistole seines Begleiters. Er riss sie aus dem Futteral und zog mit einer einzigen fließenden Bewegung den Schlitten der Pistole an seiner Hüfte zurück, lud damit die Waffe. Eine Patrone sprang aus der Patronenkammer, funkelte kurz im Neonlicht und fiel mit dumpfem Geräusch zu Boden. Albert hob die Pistole an den Kopf seines Begleiters und drückte ab. Schreien, schreien sollten wir alle! Lauthals und kollektiv schreien, bis die willkürliche Kontrolle notwendiger Arzneimittel ein Ende nimmt! Der Schuss hallte gewaltig, in dieser viereckigen Röhre von Beton. Alberts Begleiter, von der Wucht des Einschlags einige Zentimeter vom Boden gehoben, schlug mit dem Kopf gegen die Wand und blieb einen

94

Augenblick dort hängen als klebte er fest. Dann rutschte er wie in Zeitlupe zu Boden, zuckte ein wenig als wolle er sich wieder erheben und blieb schließlich, die gebrochenen Augen zur Decke gerichtet, leblos liegen. Um seinen Kopf bildete sich eine schwarze, stetig zunehmende Lache. Nachdem das Projektil den Schädel des Funktionärs durchschlagen hatte, war es gegen die Wand geprallt und hatte ein handtellergroßes Stück Beton heraus gefetzt. Eine gelbgraue Masse hing an dieser Stelle, durchzogen von roten Schlieren und besprenkelt mit kleinen, dunkelbraunen Flecken. Träge, geriet die Masse in Bewegung. Langsam glitt sie an der Wand hinab und fiel mit schmatzendem Geräusch zu Boden. War das etwa des Heiligen Mannis Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße? Hatte er nicht Recht? Man konnte es tatsächlich keinem Menschen zumuten... Vom Schuss alarmiert, kam am Ende des Korridors ein junger Held in der Uniform niederrangiger Funktionäre um die Ecke gesprungen. Seine Pistole fest in beiden Händen, ließ er sich auf die Knie fallen und feuerte drei Mal in unsere Richtung. Erschrocken, griff ich meinen Begleiter bei den Haaren, ließ mich fallen und riss ihn mit meinem Gewicht zu Boden. Während wir am Boden lagen, unsere Arme schützend über unsere Köpfe gelegt, wurde Albert zwei Mal in die Brust getroffen. Von der Kraft der Einschläge nach hinten geworfen, taumelte er rückwärts, stürzte und blieb mit seinem Gesicht direkt vor dem meinen liegen. Erschüttert, blickte ich in seine Augen. ...lauthals kollektiv schreien, bis der Medikamententerror ein Ende hat…! - Albert wollte sprechen, doch anstatt Worte kam Blut aus seinem Mund hervor. Kurz darauf brachen seine Augen und er sprach nie mehr. Meine Hauptverhandlung fand trotz dieses Vorfalles statt. Wie mein Anwalt mir noch vor Beginn der Veranstaltung zuflüsterte, sei das

95

Gericht bereit, meinen Fall mit drei Jahren Haft milde zu beurteilen, vorausgesetzt ich erklärte mich bereit, nach meiner Haftentlassung für die WAG im Untergrund deutscher Städte zu operieren. Ich willigte ein, teils der drei Jahre wegen, teils aus Neugierde und teils aus Abenteuerlust. Da das Urteil bereits vor der Verhandlung feststand, verlief der Prozess wie ein Theater. Es wurde nur noch so in etwa der Strafprozessordnung genüge getan und ich bekam mein Urteil serviert. Im Namen des Volkes fielen, wie die Asche von einer Zigarre, drei Jahre von meinem Leben ab. Vor dieser heiligen Kuh muss man sich nicht beugen. Dazu ist sie nicht ehrbar genug und treibt zu viel Viehhandel… In der hintersten Zuschauerreihe des Gerichtssaals, dort wo während der kalten Wintertage die Stadtstreicher saßen, die sich solche öffentlichen Veranstaltungen nicht entgehen ließen um sich gratis ein wenig zu wärmen, saß Kommissar Majnek. Majnek, der sich so sehr bemüht hatte mich zu überlisten, einem DEA Agenten hundertfünfzig Gramm Heroin zu beschaffen. Blass, sah er aus, der Kommissar. Während der Urteilsverkündung mied er meinen Blick, griff aber automatisch zu seinem Herzschrittmacher. „Drei Jahre nur?!“, dachte er gewiss. „Nur drei Jahre!? Hängen, sollte man das Schwein...“! Blass und in sich gesunken, die Hand am schmerzenden Herzen, mochte ihm soeben bewusst werden, man hatte ihn dazu verurteilt, in naher Zukunft mit mir zusammenzuarbeiten… Zurück in der Haftanstalt erzählte ich den Jungs was vorgefallen war und bestätigte dem Heiligen Manni, Gehirn mit Rührei, Kümmel und Tomatensoße, konnte man tatsächlich keinem Menschen zumuten… *

96

Der Unfall Mit zwei Kriminalbeamten auf den Fersen, rannte ich durch die gesamte verdammte Innenstadt, doch sie gaben nicht auf. Schließlich rannte ich in einen Fußgängertunnel des Ostbahnhofs und sprang eine Treppe hoch, die zu einem Bahnsteig führte. Ein Zug, stand abfahrbereit. Kaum war ich eingestiegen, setzte er sich in Bewegung. Ich habe sie abgehängt, dachte ich erfreut. Plötzlich sah ich die beiden durch die gläserne Füllung der Abteiltür auf mich zukommen. Sie hatten es ebenfalls in den Zug geschafft. Verließe ich diesen Zug nicht sofort, ich säße in der Falle! Ich rannte zum Ende des Wagons und riss die Wagontüre auf. (Damals konnte man die Wagontüren fahrender Züge noch öffnen…) Ernüchtert, sah ich auf die unter mir vorüber rasende Erde hinab. Noch hatte der Zug seine Endgeschwindigkeit nicht erreicht, noch befand er sich in der Anfahrt. Ich hatte keine andere Wahl. Jetzt oder nie, dachte ich, und trat entschlossen ins Freie. Anstatt mich am Wagon festzuhalten und eine Strecke weit mit dem fahrenden Zug mitzulaufen, war ich ausgestiegen als stünde er still an einem Bahnsteig. Dabei hatte mein Körper gemäß den Gesetzen der Physik dieselbe Geschwindigkeit wie der Zug. Meine Füße berührten die Erde, konnten aber nicht so rasch laufen wie ich mich nach vorne bewog. Ich stürzte nach vorne, krümmte rasch meinen Körper zum Ball und rollte auf den harten, scharfkantigen Granitbrocken des Gleisbettes dahin, bis ich von einem Stahlmast, der die Oberleitungen trug, abrupt gebremst wurde. Ein Schädelbruch und eine ausgerenkte linke Schulter, waren davon das Resultat. (...vom Triangelriss in meiner teuren Lederjacke gar nicht erst zu sprechen...) Der Schädelbruch sollte rasch verheilen und keine Probleme mehr bereiten, aber die ausgerenkte und bald danach wieder eingerenkte linke Schulter, sollte den Rest meines Lebens problematisch bleiben. Von diesem Tag an sprang nämlich

97

mein linker Oberarm schon bei geringen Anlässen aus dem Schultergelenk. Mein Rat? Man steige nicht aus fahrenden Zügen... Jahre später befand ich mich in einer Gefängniszelle, die ursprünglich für eine Person gedacht, aber aus Platzmangel mit einem Stockbett kurzerhand zur Zweimannzelle umfunktioniert worden war. In dieser Zelle war es so eng, dass immer einer sich ins Bett legen musste um den anderen vorbei zu lassen, wollte der zur Toilette. Die Toilette stand als nackte Schüssel ohne Brille und Umwandung gleich neben der Zellentür. (Absatz1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt) Mieseste Zustände herrschten in den Gefängniszellen des „modernen Strafvollzugs“… Aus Langeweile balgten wir uns wie Katzen. Bewaffnet mit nassen Handtüchern, harte Knoten an den Enden, prügelten wir aufeinander ein. Wer die meisten Schläge landete, hatte gewonnen. Ich erfasste mit der Linken das Handtuch meines Gegners. Der versuchte, es mir mit einem Ruck wieder zu entreißen. Ich hielt aber fest und so riss sein Ruck meinen linken Arm aus der Gelenkpfanne. Der plötzliche Schmerz war so heftig dass ich für einige Sekunden in Schock geriet. Mir wurde schneeweiß vor Augen und mein Atem blieb weg. Um meinen Blutkreislauf zu stabilisieren ging ich rasch in die Hocke und riss mein Maul auf so weit es nur aufgehen wollte, um Luft zu bekommen. Die Gelenkkugel meines Armes hing halb dort, wo eigentlich meine Achsel sein sollte und halb, wo meine Brust begann. Mein Zellenkollege drückte den Knopf des Zellenalarms. Kurz danach erschien ein dicker Wachbeamter in der Türöffnung. „Den Arm ausgerenkt?“, murmelte er und schritt auf mich zu. „Den renke ich dir gleich wieder ein“. “Einen Schritt noch“, rief ich, „und ich reiße dir die Eier vom Bauch“! Er

98

begriff, ich war nicht in Stimmung, an mir pfuschen zu lassen. Er beschloss deshalb, ich müsse ins Behandlungszimmer der Krankenstation gebracht werden. Das Behandlungszimmer befand sich aber jenseits des Hofes im gegenüber liegenden Gebäudeflügel. Liefe man durch den Gebäudekomplex, wäre es ein weiter Weg. Man beschloss deshalb, über den Hof zu laufen. Es war Winter und im Hof lag knietief der Schnee. Barfuß und bekleidet nur mit einer blauen Arbeiterhose, doch begleitet von drei Wachbeamten, stapfte ich durch den tiefen Schnee. Wir überquerten den Hof, in dem 1934 die „Nacht der langen Messer“, der Röhm Putsch, mit der Exekution der SA Führer und einiger Regimegegner durch Nationalsozialisten seinen Abschluss fand. Da der ausgerenkte Arm den aufrechten Gang verhinderte, lief ich gebeugt, wie der Glöckner von Notre Dame. Ein Wachbeamter fasste von hinten meinen Hosenbund. „Damit du nicht stürzt, falls du das Bewusstsein verlieren solltest“. Im Behandlungszimmer wurden wir bereits vom Orthopäden der Anstalt und einigen Arzthelfern erwartet. Ich quälte mich auf den Behandlungstisch. Um die Muskulatur zu entspannen, wollte man eine Diazepaminjektion verabreichen. Man fand aber keine geeignete Vene. „Gib her das Ding“, sagte ich schließlich, nachdem ich mehreren stümperhaften Injektionsversuche zugelassen hatte. Ich fand die Vene, klein zwar, aber anwesend, auf Anhieb. Danach murksten sie abwechselnd und gelegentlich sogar zu zweit oder zu dritt, um meinen Arm wieder an seine Stelle zu drehen. Sie zerrten, zogen, drehten und bogen, sie folterten mich geradezu, aber es wollte nicht gelingen den vermaledeiten Arm wieder an seine Stelle zu biegen. Unterdessen ließ der Schmerz bunte Sterne vor meinen Augen platzen. Am Ende beschloss man, die Behandlung müsse in einem Krankenhaus durchgeführt werden.

99

Nackt bis auf eine blaue Arbeiterhose, krumm wie ein Fragezeichen und benommen von Schmerz und Diazepam, fuhren sie mich, begleitet von zwei bewaffneten Wachbeamten, in einem vergitterten Kleinbus zum nächsten Krankenhaus. Trotz meines Zustandes, die krumme Haltung und alles andere, bestand man auf Handschellen. Als ich zusammen mit meinen bewaffneten Begleitern das hell erleuchtete Krankenhaus betrat, schob man eine Frau auf einer Trage an uns vorüber. Gnädige Frau hatte sich das Handgelenkchen ausgerenkt. Jetzt war sie zwar schon wieder hergestellt, aber um ihren zarten Leib zu schonen ließ man sie nicht laufen, man rollte sie liegend zum wartenden Fahrzeug. Hier wirst du wie ein Mensch behandelt, dachte ich erfreut, und nicht wie ein gefangenes Tier. Mit freudiger Erwartung sah ich meiner Behandlung entgegen... Krumm, halbnackt, blaugefroren, in Handschellen und kaum mehr bei Bewusstsein, scheuchten meine beiden Musketiere mich durch die Krankenhauskorridore. In einem hell erleuchteten Raum wurden wir von vier Ärzten erwartet. Einer der Ärzte forderte, „Nehmen sie dem Mann die Handschellen ab“. Doch die Schergen jammerten, „Das dürfen wir nicht. Es verstößt gegen die Vorschriften“. „Nun“, beschloss der Arzt, „dann nehmen sie ihn wieder mit. In Handschellen behandele ich keine Patienten“. Gib’s ihnen, Doktor, dachte ich bei mir, gib es diesen neuronalen Einzellern! Unter der Last des Dilemmas schwitzten die Musketiere ihre Uniformen voll. Sollten sie gegen die Vorschriften verstoßen und meine Handschellen abnehmen, oder sollten sie mich in Handschellen und unbehandelt wieder ins Gefängnis zurück bringen? Sie wagten keinen eigenen Entschluss zu fassen und riefen im Gefängnis an und ließen sich die entsprechende Erlaubnis erteilen. Wieder quälte ich mich auf einen Behandlungstisch. Dabei musste ich sichtlich in Schmerzen gewesen sein, denn einer der Ärzte bat einen

100

Kollegen, „Holen sie bitte fünfzig mg Morphin“. Das trieb die Musketiere zum Einsatz. „Diesem Mann dürfen sie kein Morphin geben“, protestierten sie im Chor. Der Arzt sah die beiden an als betrachte er vergangene Nahrungsmittel. „Wieso darf ich das nicht“? Einer der zweifelsohne Rückständigen nahm all seinen Mut zusammen und erklärte tapfer, „Dieser Mann ist rauschgiftsüchtig“. Interessiert, blickte der Arzt zu mir. Danach wandte er sich wieder an die beiden Schergen. „Überlassen sie das gefälligst mir. Wer glauben sie eigentlich, wer sie sind, mir in medizinischen Angelegenheiten Vorschriften zu machen“? Gib’s ihnen, Doc, dachte ich erfreut. Zeige den beiden neuronalen Wundern, wo sie hingehörten! Der Arzt trat zur mir. „Sie verwendeten früher Heroin“? Ich nickte. „In welchen Mengen?“, wollte der Arzt nun wissen. Aus dieser Frage schloss ich, je mehr ich jetzt angab, desto mehr würde er mir verabreichen, und so erklärte ich gelassen, „Zwischen fünfzehn und achtzehn Gramm pro Tag“. Der Arzt pfiff anerkennend durch die Zähne und sandte seinen Kollegen, der inzwischen schon mit einer Morphinspritze zurückgekehrt war, erneut los um mehr zu holen. Klasse, dachte ich, während ich auf meine Morphininjektion wartete. Jetzt ziehst du wenigstens noch ein wenig Vorteil aus diesem elenden Geschehen... „Wir geben ihm am besten eine Kurznarkose“, hörte ich einen Arzt sagen. Ich vernahm etwas von „Brombarbital“ oder so ähnlich und sah, wie der Arzt eine Injektionsspritze füllte. Jetzt kam auch der Arzt mit der größeren Morphinladung wieder, in seiner Hand eine Spritze von viel versprechendem Format. Um endlich die ersehnte Injektion zu empfangen, breitete ich die Arme aus wie Jesus am Kreuz. Der Arzt mit der Narkosespritze machte sich an meinem linken Arm zu schaffen, der mit der Morphinspritze an meinem rechten. Keiner fand eine Vene. Nach mehreren Versuchen resignierte der Arzt mit der Narkosespritze.

101

„Mir reicht es“, verkündete er entschieden und erklärte, „Ich gehe in die Leistenvene“. Unterdessen befummelte der Arzt mit der Morphinspritze interessiert mein Handgelenk. Lieber Gott, betete ich, lass den Mann eine Vene finden. Ich werde von nun an auch immer ganz brav sein. „Hier haben wir ja eine“, rief er plötzlich aus und befingerte dabei meine Pulsschlagader. „Das ist aber die Pulsschlagader“, versuchte ich ihn aufzuklären. „Und Pulsschlagadern sind Arterien, keine Venen“. Der andere Arzt versenkte währenddessen die überlange Nadel seiner Narkosespritze in meiner Leistengegend. „Aha!“, hörte ich ihn noch rufen. „Hier haben wir sie ja schon“! Er drückte den Kolben der Narkosespritze nieder und ich verlor mit einem Schlage das Bewusstsein... Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich starke Schmerzen in meiner rechten Hand. Sie brannte als läge sie in glühenden Kohlen. Ich drehte den Kopf zur Seite um hinzusehen. Die Hand war knallrot und angeschwollen auf ein Vielfache ihrer eigentlichen Größe. Wie ein roter, praller Gummihandschuh, sah sie aus. Der Arzt, der sich noch kurz zuvor mit der Morphinspritze abgemüht hatte, stand daneben und massierte das geschwollene Ungetüm. „Sie haben das gute Morphin in die Pulsschlagader injiziert“, sagte ich vorwurfsvoll und fügte enttäuscht hinzu, „Dabei hatte ich sie extra noch gewarnt, dass sie an einer Arterie beschäftigt waren“. „Oh!“, rief daraufhin der Arzt verwundert. „Und dabei geschieht dann so etwas? Das wusste ich nicht. Das tut mir aber auch furchtbar leid. Ich bin Chirurg, müssen sie wissen. Sie wissen, was ein Chirurg ist? Ich schneide die Leute auf“, erläuterte er mit ernster Mine. „Vom Injizieren habe ich deshalb gar keine Ahnung“. Genau das waren seine Worte. Erzähle ich diese Geschichte bei Gelegenheit, bemerke ich stets dabei, dass man mir nicht glaubt. Und doch war es genau so, wie ich hier beschrieben habe.

102

Bevor ich vom Behandlungstisch stieg, legte man die Handschellen wieder an. Niemand schob mich auf einer rollenden Trage durch die Krankenhauskorridore. Benommen von all dem Diazepam, der Barbitalnarkose, der versauten Morphininjektion, den Schmerzen und all den durchlittenen Strapazen, trieben sie mich wieder durch die Krankenhausgänge, hinaus in den tiefen Schnee und zum vergitterten Kleinbus. Als ich unterwegs im Schnee ausglitt und beinah stürzte, griffen meine Begleiter sofort zu ihren Schusswaffen. Sie dachten tatsächlich, ich sei noch in der Lage zu fliehen. Dabei war ich froh, noch bei Bewusstsein zu sein. Drei Wochen dauerte es, bis die Schwellung meiner Hand wieder so weit abgeklungen war, dass man sie als halbwegs normale Hand bezeichnen konnte. Hätte ich den Pinsel verklagen sollen? Ach was! Wollte man jedes Arschloch verklagen das einem in seiner Dummheit Schaden zufügt, man verkehrte bis ins siebte Glied nur noch in Gerichtssälen. Mein Rat? Man sei höllisch auf der Hut vor Chirurgen!

*

103

Quasimodo Quasimodo sah erbarmungswürdig aus. Eines seiner Beine war kürzer als das andere, wodurch er beim Gehen stets den Eindruck erweckte, er stiege mit jedem seiner Schritte über ein Hindernis hinweg. Überdies hatte er einen Buckel von famosem Format. Als reichte das noch nicht, sah auch noch jedes seiner weit auseinander stehenden Augen in zum äußersten Rande seines breiten Gesichtes hin. Quasimodo galt in der Haftanstalt als das Ausstellungsstück des Wachbeamten Hofer. „Hier, seht ihn euch an!“, rief Hofer in den Arbeitssaal hinein, wenn er Quasimodo wieder als abschreckendes Beispiel vor Augen führte. „Ja! Seht nur hin! Das kommt von all dem Hasch, dass er immer rauchte. So seht ihr auch bald aus, wenn ihr nicht aufhört, das Zeug zu rauchen“! Und Quasimodo stand daneben, krumm wie ein Haken, schief auf sein längeres Bein gestützt, schwieg und glotzte umher mit seinen verqueren Augen, wie ein katatonischer Frosch… Neuerdings rollte man im Arbeitssaal, für einige Pfennige pro hundert Stück und in Akkordarbeit, Essbestecke aus Kunststoff in blütendweiße Papierservietten und schob sie in Pappkartonhüllen. Sie waren zur Mahlzeit während der Reise für Fluggäste der Lufthansa bestimmt. Quasimodo kam schließlich auf diese Idee. Kaum vorgetragen, führte er sie auch schon aus. Er schnitt aus alten Zeitschriften bunte Buchstaben, nahm Schere und Kleister zur Hand und klebte mit auf eine der Papierservietten den Schriftzug, „Achtung! An Bord ist eine Bombe verborgen. Geraten sie nicht in Panik und verständigen sie den Flugkapitän“. Die beschriftete Serviette wickelte Quasimodo um einen

104

Satz Kunststoffessbesteck, schob es in eine Pappkartonhülle und legte das Ganze seelenruhig in den Karton zu den fertigen Produkten. Quasimodo sah es als Scherz und die anderen Gefangenen auch. Nur die Piloten des Fluges Lufthansa 264 sahen es anders. Sie nahmen die Sache bitter ernst. Sie befanden sich gerade im Anflug auf Miami Florida, als eine völlig aufgelöste Stewardess in das Cockpit stürzte und dem Flugkapitän Quasimodos Botschaft in die Hand gab. Der Flugkapitän zauderte keine Sekunde. Er ließ sofort überschüssigen Treibstoff aus den Tanks und informierte den Tower des Flughafens Havanna Kuba, er brächte dort in acht Minuten eine Passagiermaschine mit zweihundertsechsunddreißig Passagieren und einer Bombe an Bord zur Landung. Man möge, so bat er, eine abseits gelegene Landebahn bereitstellen und mit allen Sicherheitsvorkehrungen versehen. Löschfahrzeuge und Sanitätsfahrzeuge fuhren mit kreischenden Reifen und heulenden Sirenen über den Asphalt des Flughafens Havanna, hin zur Landebahn 8D, die sie, für alle Fälle, mit einer Meter dicken Schaumschicht bedeckten. Während Wachbeamte Hofer wieder einen seiner abschreckenden Vorträge hielt, mit Quasimodo neben sich als abschreckendem Beispiel, kam über Havanna Kuba, Lufthansa Flug 264 herbei getaumelt. Halb Havanna war in Alarmbereitschaft versetzt worden. Nach vollendeter Landung verließen alle Passagiere die Maschine über Notrutschen. Von Kopf bis Fuß mit Schaum bedeckt, wurden sie zu den bereitstehenden Ambulanzfahrzeugen geleitet und unter Sirenengeheul in umliegende Krankenhäuser gebracht, wo sie mit massiven Dosen Diazepam ruhig

105

gestellt wurden. Am nächsten Morgen brachte man sie auf Kosten der Fluggesellschaft zwei Tage lang in noblen Hotels der Insel unter. Unterdessen suchte man auf der Maschine, Lufthansa Flug 264, fieberhaft nach der verborgenen Bombe und fand keine. Am Ende ging der Scherz mit einem Betrag von achtzigtausend Mark zu Lasten der Lufthansa. Dort wollte man die Angelegenheit nicht ohne weiteres auf sich beruhen lassen. Man informierte die Kriminalpolizei und erstattete Anzeige gegen Unbekannt wegen groben Unfugs und Beeinträchtigung des Flugverkehrs. Zwei Wochen dauerte es, bis die Polizei im Arbeitssaal erschien. Wer diese Serviette gefertigt hatte, wollten sie wissen und legten demonstrativ eine bunt mit Buchstaben beklebte Papierserviette auf den Arbeitstisch. Unterdessen saß Quasimodo blass wie Weißbrot und mucksmäuschenstill in der hintersten Ecke des Arbeitssaales, guckte verquer und zog seinen Kopf zwischen die Schultern. Jeder Gefangene dieses Arbeitssaales wusste, wer diese Serviette gefertigt hatte, aber keiner sprach darüber. Somit blieb die Herkunft der bunt beschrifteten Papierserviette, die Lufthansa Flug 264 zur Notlandung auf Kuba gezwungen hatte, weiterhin ein Rätsel. Die Lufthansa zog ihren Arbeitsauftrag zurück. Fortan steckte man im Arbeitssaal, ebenfalls in Akkordarbeit und für nur wenige Pfennige pro hundert Stück, Playmobil Figuren zusammen. Quasimodo mochte krumm gewesen sein wie ein Haken, doch jeder mochte ihn. Er war unerschöpflich in seinen Streichen.

* 106

Frei?? Ich ging auf das letzte Jahr meiner dreijährigen Gefängnisstrafe zu, als mir eröffnete wurde, dies letzte Jahr könne auf Bewährung ausgesetzt werden so ich mich bereit erklärte, „freiwillig“* eine „Drogentherapie“ anzutreten. Mir schien es aber vernünftiger, meine Haftstrafe im Gefängnis zu beenden. Es herrschte aber Zellenknappheit im Lande, zu viele gab es von meiner Sorte, und so begann man hinter meinem Rücken zu Klüngeln, um mich dennoch irgendwie frühzeitig zu entlassen. Am Ende warfen sie mich regelrecht aus dem Gefängnis. Mit Androhung langer Führungsaufsicht und unerfüllbarer Bewährungsauflagen rangen die Füchse mir aber doch noch das Versprechen ab, ich begäbe mich direkt vom Gefängnistor zu einer Therapiestätte nach Tiefstadt… *Auf diese Weise förderte man solche Einrichtungen. Man zwang hilflos und wehrlos gemachte Leute, sich "freiwillig" dafür zu entscheiden... Ich hielt nicht viel, um nicht zu sagen nichts, von „Drogentherapien“. In meinen Augen waren sie das selbst geschaffene Arbeitsfeld junger, arbeitsloser Leute, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt in Scharen aus unseren Hochschulen quollen. Abertausend Überhebliche mit schillernden Wahnvorstellungen der Weltverbesserung, drängten mit vereinten Kräften an den allgemeinen Schweinetrog und fanden, als ihnen dämmerte sie müssten für ihren Lebensunterhalt sogar arbeiten, zu ihrem Entsetzen nichts als Wackersteine darin. In dieser Not erfanden sie den „Behandlungsbedürftigen Drogenabhängigen“ und begannen sofort, entweder an völlig verblödeten oder weitgehend hilflos gemachten jungen Menschen zweifelhafteste und unverantwortlichste

107

soziale, pädagogische und psychologische Experimente durchzuführen. Dass sich dabei eine Erfolgsquote von fast 0% ergab, verstand sich von selbst. Doch das focht diese Leute nicht an. Sie hatten Blut geleckt und witterten einfachen Broterwerb. Vor dem Volke rechtfertigten sie ihr Versagen mit der „mangelnden Motivation“ und der „schlechten Mitarbeit“ der Klientel. Ihr konnte leicht die Schuld zugeschoben werden, wehrlos wie sie durch betäubungsmittelrechtliche Bedingungen bereits gemacht worden war... Mein Aktenkoffer, gefüllt mit allem was sich zum Zeitpunkt meiner Festnahme darin befunden hatte, sterile und blutige Einmalspritzen, jede Menge bunter Tabletten, Barbiturate, Benzodiazepine, Methaqualon, eine schussbereite Gaspistole und zwei mittelalterliche Dolche zur rituellen Ermordung von Christenmenschen, war mir bei der Haftentlassung ausgehändigt worden. Diesen Koffer hatte ich bei mir, als ich am späten Nachmittag in der „Drogentherapiestätte“ Tiefstadt eintraf. Als ich ihn öffnete, sah das Personal die vielen bunte Tabletten und wollte wissen, wie viele davon ich schon eingenommen hatte. „Oh“, antwortete ich. „Viele Tausende schon“! Aber das war es nicht, was gemeint war. Wie viele davon ich während meiner Reise vom Gefängnis zu dieser Therapiestätte schon eingenommen hatte, war gemeint. „Nicht eine“, erklärte ich wahrheitsgemäß. Aber man glaubte mir nicht, denn in den Lehrbüchern dieser Leute stand, „Drogenabhängige“, konnten Tabletten nicht widerstehen. Sie fraßen sie zwanghaft. Diese Leute lasen Bücher in die ich nicht passte. Was konnte ich dafür? Sie hatten ihr Wissen rund um den „Drogenkonsum“ nicht etwa, wie vernünftige Leute, vom „Drogenkonsum“, sondern feige aus ideologisch gefärbten Büchern, die geschrieben worden waren von albernen Menschen, die ihr Wissen ebenfalls aus solchen Büchern hatten, die geschrieben worden waren

108

von Menschen die dumme Bücher lasen usw. usw. Am Ende dieser Reihe saß vermutlich ein karrieresüchtiger Kokainist aus Wien, der sich den ganzen Unsinn aus purer Langeweile und Spaß an der Freud aus der pulververkrusteten Nase gezogen hatte... Das Aufnahmegespräch in der „Therapiestätte zu Tiefstadt“ war ein Fiasko. Eigentlich hätte man mich aufgrund dieses Aufnahmegesprächs gar nicht erst aufnehmen dürfen. So tat ich beispielsweise unverhohlen meine Auffassung kund, Menschen die in Drogentherapien arbeiteten gehörten alle wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen vor Gericht. Man wollte sich aber gegenüber den Justizbehörden keine Blöße geben indem man mich wieder ins Gefängnis zurück sandte, hoffte man doch in Zukunft auf weitere lukrative Klienten aus Justizvollzugsanstalten. Deshalb war meine Aufnahme, unabhängig von dem albernen Aufnahmegespräch und schon Tage vor meiner Ankunft, beschlossen Sache... Im Laufe des Tages lernte ich die anderen zwölf zu therapierenden „Drogenabhängigen“ kennen. Sie alle waren ebenfalls erst an diesem Tage eingetroffen. Zusammen bildeten wir, wie das genannt wurde, „eine Gruppe“. Wie mir schien hatte keiner meiner „Mitpatienten“ einen IQ über 40. Auch hatte keiner jemals Heroin verwendet und die Frage stand im Raum, ob sie das Wort überhaupt schreiben konnten. Sie alle waren aus obskursten Gründen zu „Drogenabhängigen“ erklärt worden. Vermutlich hatten einige die Initiative ergriffen und sich selbst dazu erklärt. Manche hatten Hanfprodukte geraucht und wähnten sich nun, ohne Hilfe von „Fachleuten“, auf immer und ewig dem Teufel „Rauschgift“ verfallen. (...die Früchte verblödender Staatspropaganda...) Andere hatten Apothekenstoff genascht, wie etwa Mutters Schlaf- und

109

Beruhigungspillen aus dem Rotkreuzkästchen im Badezimmer. Oder sie hatten der an krebserkrankten, halb bewusstlosen Großmutter die Opioidzäpfchen aus dem Arsch gestohlen und der alten Dame stattdessen Zäpfchen aus Kernseife untergejubelt… Schon während der ersten Stunden dämmerte mir, in diesem Verein bliebe ich gewiss nicht lange. In den Schlafräumen standen Betten, wie man sie in Krankenhäusern antraf. Sie sollten helfen die Lüge zu untermauern, wir seien alle krank weil wir staatlich verbotene Stoffe zu uns nahmen. Wie in anderen totalitären Staaten galt man auch bei uns als krank, hörte man nicht absolut auf die Diktate der Regierung. Nachdem ich zwei Jahre auf einer harten Gefängnispritsche geschlafen hatte, lag ich nun in einem Hightech Krankenhausbett mit Rädern und Handgriffen überall, mit Haken für Pissflaschen und Kotzschüsseln und Hebel, die entweder nur Kopf- oder Fußteil hoben oder senkten, oder das ganze Bett hoben oder senkten. Wir waren alle um einige Tische versammelt, als die Therapeuten erklärten, jeden Morgen müsse ein anderer von uns um sechs Uhr aufstehen um die Tische zu decken und das Frühstück aus der Küche zu holen. Die Faulpelze, von denen keiner früh aufstehen wollte, murrten sofort. Es schien genau die Reaktion zu sein, die von den Therapeuten mit Freude erwartet worden war. Doch ich warf einen Schraubenschlüssel in ihr laufendes Getriebe als ich erklärte, ich übernähme freiwillig jeden Morgen diesen Frühstücksdienst. Ich kam immerhin aus einem Gefängnis und war früh aufstehen gewohnt. Nun zogen aber die Therapeuten lange Gesichter, hatten sie sich doch schon so darauf gefreut, die kindliche Meute mit ihrem Frühstücksdienst zu erschrecken und ihn dabei mit kluger Mine als „therapeutisch wertvoll“ zu erklären. Aber es half nichts. Ich erklärte die Angelegenheit zur beschlossenen Sache und fertig...

110

Am ersten Abend meines Aufenthaltes saß ich zusammen mit den „Drogenabhängigen“ vor dem gemeinsamen Fernsehgerät und guckte Nachrichten. Man berichtete, jemand habe auf den Papst geschossen. Ein Attentat auf den Papst fand ich bemerkenswert und so sah ich mich nach der Reaktion meiner Kolleginnen und Kollegen um. Da ich keine Reaktion an ihnen feststellen konnte, rief ich in den Raum hinein, „Jemand hat auf den Papst geschossen“! Nach einigen Augenblicken absoluter Stille fragte eine zaghafte Stimme, „Papst? Was ist das“? Nun behaupten Therapeuten und andere Leute die von solchem Schwindel profitierten, „Drogen“ hätten diese Kinder so verblödet. Ich bezweifelte das sehr. Wäre dem so, ich wäre der Dümmste von allen. Ich vertrat eher die Auffassung, diesen Kindern hatte man mit Politik und stupider Schulbildung so sehr den Kopf vernebelt, dass sie sich am Rande des Schwachsinns befanden. Nein, nicht „Drogen“ hatten diese Kinder verblödet, sondern die nie endenden Versuche, schon von Kindesbeinen an gehorsame brauchbare Staatssklaven aus ihnen zu machen. Dazu hinderte man sie in ungesunder Weise an freier, natürlicher Entfaltung, manipulierte sie weg vom gesunden Spiel und hin zur ungesunden, wennschon finanziell ertragreicheren Arbeit. Vielleicht sollten sie „Drogen“ verwenden? Sie expandierten zumindest das Bewusstsein und bewiesen solchen von Schulen und Staatspropaganda verdorbenen Kindern, dass es noch mehr gab, als ihre Welt der Größe einer Erdnuss. Im Gang, gegenüber unserem Aufenthaltsraum, stand ein Coca-Cola Automat. Daraus durften wir aber nicht etwa Coca Cola ziehen, wie ein Therapeut mit warnend erhobenem Zeigefinger erklärte. Es bestünde nämlich die Gefahr, wir „verlagerten unsere Sucht“ und stiegen dadurch von Heroin auf Coca Cola oder Pepsi um. So stand es in den Lehrbüchern dieser Leute und sie glaubten es. Sie waren nicht geboren, eigenständigen zu Denken, diese „Therapeuten“. Ihnen musste im

111

Gewande einer Lehre befohlen werden. War ich mir bisher noch nicht ganz im Klaren, wo ich mich befand, so dämmerte es mir immer mehr. Ich war in einer Klapsmühle gelandet, wo der Chefarzt aus experimentellen Gründen beschloss, die Rollen zu vertauschen. Er hatte gewöhnliche Leute (genormte Dummköpfe aus der Bevölkerung) nicht ganz zu Unrecht zu Irren erklärt und die Irren zu Therapeuten... Seitdem ich aus dem Gefängnis war, gefiel es mir gleich morgens nach den Frühstücksaufgaben ein wenig zu laufen. Ich rannte vom Gelände der Therapiestätte und über die Felder und Wiesen der Umgebung. Wieder zurück, weckte ich die Murmeltiere und der Tag begann. Als die Therapeuten davon erfuhren, guckten sie wie Schafe und steckten die Köpfe zusammen um eine Erklärung dafür zu finden. Es passte nämlich wieder nicht in das Schema vom „Drogenabhängigen“, wie sie es aus ihren klugen Büchern kannten. Dort stand immerhin, „Drogenabhängige“ seien faule und unsportliche Tiere. Am Ende retteten sie sich, indem sie hinter meinem Frühsport einen Ausdruck meiner „Sucht“ wähnten. Im Gefängnis hatte ich aus Leidenschaft und Langeweile und weil ich schlichtweg Spaß daran hatte, Goethes Faust der Tragödie erster Teil gelesen und auswendig gelernt. Weil ich es nicht gleich wieder vergessen wollte, saß ich nachmittags auf einer Bank im Garten und sprach das Werk leise vor mich hin. Auch davon erfuhren die Therapeuten. Anstatt sich zu freuen, dass sie einen intelligenten jungen Mann mit Gefallen an Deutschen Klassikern und einem guten Gedächtnis in ihrer Mitte hatten, wähnten sie auch hinter meiner Leidenschaft für Deutsche Klassiker und meiner Freude am Auswendiglernen einen krankhaften Ausdruck meiner „Sucht“...

112

Während meiner Haftzeit hatte ich in der Anstaltsbuchbinderei gearbeitet und dort wertvolle alte Bände restauriert. Von den sechzig Mark im Monat, die ich damit verdiente, gab ich etwa zwei Drittel für Bücher aus. Ich las sie und band sie hinterher in Naturleder. Als ich das Gefängnis verließ hatte ich gebeten, man möge meine Bücherkiste in die Therapiestätte senden. Am dritten Tag meines Aufenthaltes war diese Bücherkiste eingetroffen. Sie wurde sofort von den Therapeuten umringt und beschlagnahmt. Sie wüssten noch nicht, erklärten sie, welche dieser Bücher ich ihrer Ansicht nach haben durfte. Für mich kam allerdings gar nicht erst in Frage, Bücher nicht haben zu dürfen. Schließlich wollte ich nicht so enden, wie der Rest meiner „Gruppe“. Da verfielen die Füchse auf eine Idee. Sie beschlossen, die „Gruppe“, die geistig Umnebelten also, die Legastheniker, sollten darüber entscheiden, welche Bücher ich haben durfte. Es wurde beschlossen, noch an diesem Nachmittag fiel die lobotomierte Meute über meine Bücher her. Während meiner letzten Monate im Gefängnis war ich zu dem Schluss gelangt, ich rauchte zu viel. Ich hatte deshalb meinen Tabakkonsum von einem Päckchen Tabak pro Tag auf nur drei Zigaretten pro Tag reduziert. Diese drei Zigaretten rauchte ich aber alle schon gleich nach dem Frühstück. Eines Morgens, ich rauchte gerade die dritte und letzte Zigarette des Tages, schlenderte einer dieser Therapeuten mit brennender Zigarette in der Hand auf mich zu und erklärte, „Du rauchst zu viel“. Sie fanden kein schlechtes Haar an mir, waren aber entschlossen eines zu finden, selbst mussten sie es fabrizieren. Immerhin mussten sie mich mit dem Unsinn in ihren Lehrbüchern in Einklang bringen. Er rauche zwar auch nicht wenig, erklärte der Therapeut, aber im Gegensatz zu mir durfte er das. Er sei nämlich nicht „süchtig“, wie ich es sei. Er hatte noch nicht begriffen,

113

„Sucht“ und „süchtig“ waren keine medizinischen Begriffe. Es waren politische Schandwörter, Stigmata, mit dem Anschein von Medizin, die dazu verwendet wurden, Verhalten zu verurteilen dass man nicht verstand oder missbilligte… Zur Zensur meiner Bücher durch staatlich lobotomierte Kinder, ließ ich es an diesem Nachmittag gar nicht erst kommen. Ich versah meine Bücherkiste mit der Adresse einer Freundin in München, hinterließ etwas Geld für Porto und verabschiedete mich. Auf dem Wege zur Tür standen sie alle in einer Reihe, die propagandistisch Verdummten, sowie die therapeutisch Verdummenden. Ich richtete das Wort an die armen Teufel und sagte, „Euer Aufenthalt in dieser Therapiestätte wird euch nichts nützen. Er wird euch im Gegenteil noch schaden. Eure Verwirrung, eure Konzentrationsunfähigkeit und eure Orientierungslosigkeit, die verhindern dass ihr in der Schule lernt oder auch nur im Leben zurechtkämet, werden durch die Techniken dieser „Therapie“ noch zunehmen. Das Beste wäre, ihr verließt den Laden gleich mit mir“. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich sprach. Warum? Weil ich ein alter, mitfühlender Esel war der die Wahrheit sprach und sich das Schicksal völlig fremder Lobotomierter zu Herzen nahm. Ein empfindsamer mitfühlender alter Esel, der nicht schmerzfrei mit ansehen konnte, wie dumme hilfsbedürftige junge Menschen brutal belogen und missbraucht wurden. Drei der „Patienten“ fassten sich schließlich ein Herz und verließen den Affenstall zusammen mit mir. Ich trampte nach München und traf dort sofort Maßnahmen, die eine erneute Inhaftierung trotz „Therapieabbruches“ verhinderten. Das Fazit meiner Erfahrung mit der Therapiestätte? „Drogentherapien“ waren nichts weiter als politische Umerziehungslager für Unbeliebte und Unbequeme, wie es sie auch unter anderen repressiven Regimes gab. Nur funktionierten sie in

114

unserem kapitalistischen Lande etwas raffinierter. Man fand Dummköpfe die dafür bezahlten, indem man für den Unsinn die Rentenkassen plünderte… Der Bewährungshelfer Man gab mir zwar Bewährung und obendrein noch Führungsaufsicht, aber man vergaß in der Hast mich loszuwerden, einen Bewährungshelfer zu benennen. In der Goethestraße, unweit des Münchener Hauptbahnhofs, gab es ein Gebäude das vom Keller bis unters Dachgebälk angefüllt war mit Büros von Bewährungshelfern. Dort ging ich hin und öffnete irgendwo in den unteren Stockwerken eine Tür. An einem Schreibtisch saß, halb verborgen von einem Stapel Aktenordner, eine junge Frau. Sie blickte auf als ich eintrat und sah mir mit großen grünen Augen entgegen. „Guten Tag”, sagte ich. „Sie sind Bewährungshelferin“? Sie nickte. „Das trifft sich gut“, sagte ich daraufhin. „Ich bin nämlich ihr neuer Trabant“. „Proband“, korrigierte sie mit reizendem Lächeln. Hypnotisiert dachte ich, hier bist du richtig. Ich setzte mich und begann zu erzählen, „Mein Name ist K.“. Ich war schon mitten in meiner Geschichte, als sie mich unterbrach. „So funktioniert das hier leider nicht. Hier geht es nach Alphabet. Die Namen meiner Probanden beginnen mit A und enden bei F. Ihr Name beginnt aber mit einem K“. „Tatsächlich?“, murmelte ich und riss meinen Blick von ihren übergeschlagenen Beinen los. „Schade. Das wäre gewiss sehr reizend geworden“. „Die Büros meiner Kolleginnen und Kollegen die Buchstaben F bis K bearbeiten“, erklärte die junge Frau freundlich, „befinden sich im nächsten Stock…“ An den Wänden des schlecht beleuchteten Korridors hingen mit Reißnägel und Klebestreifen befestigte Plakate. „Drogen? Nein danke!“, stand auf einem. Ein anderes zeigte einen grün illuminierten Totenkopf,

115

der zwischen langen gelben Zähnen eine trompetenförmige Zigarette hielt. „Du machst dich kaputt“ stand darüber und darunter stand, „Und der Dealer macht Kasse“. Es waren die typischen verdummenden Hetzplakate der siebziger Jahre, die Leute vorlogen, Cannabisprodukte seien tödlich und Leute, die unten an der Straßenecke mikroskopische Mengen davon verkauften, würden davon unermesslich reich. Es war der alte primitive Neidfaktor, der hier Verwendung fand. Benötigte man verärgerte und entrüstete Bürgers, stachelte man ihren Neid an und quälte sie mit dem Gedanken, der Nachbar arbeite weniger, habe aber mehr Geld als man selbst. Ein Plakat gegen die Tabakindustrie, sah ich keines in diesem Korridor. Auch ein Plakat, auf dem junge, sportlich durchtrainierte und bewaffnete Polizisten ersichtlich kranke junge Menschen zu Tode hetzten, fehlte...Ich öffnete die Tür zu einem weiteren Büro, ein karg eingerichteter Raum mit Stuhl, Schreibtisch, grauem Aktenschrank von Blech und einem Kleiderständer. Über dem Schreibtisch hing ein Poster von Lech Walesa, der schnurrbärtig und zuversichtlich in die Zukunft blickte. Daneben hing eine Antikernkraftreklame mit grün fluoreszierenden Skeletten. Man bekam es mit der Angst zu tun, bedachte man, wie viel Intelligenz die Designer solcher Plakate beim Betrachter voraussetzten. Ein junger Mann sprang hinter seinem Schreibtisch in die Höhe, als er mich eintreten sah. Er blieb dabei an einem Kabel hängen und riss eine Kaffeemaschine zu Boden, die hinter ihm am Fenster gestanden hatte. Heißer Kaffee floss über den Schreibtisch und sickerte in einige Aktenordner. Die Kaffeekanne zerschellte am Boden. Hier bist du richtig, dachte ich wieder und blickte auf das Chaos. Ich grüßte, trat an einen Stuhl heran und fegte mit dem Handrücken einige Kaffeespritzer von seiner Sitzfläche. Danach setzte ich mich und begann erneut mit meiner Geschichte. Ich beendete sie mit den Worten, „…und sie sind ab

116

jetzt also mein neuer Bewährungshelfer“. Nach einer Pause fügte ich hinzu, „Ich sähe es allerdings gerne wenn sie nicht so steif dasäßen und sich grundsätzlich etwas lockerer gäben“. Ich blickte auf die Scherben der Kaffeekanne am Boden. „Und springen Sie vor allem nicht gleich auf, wenn ich ihr Büro betrete“. Herbert Streitfuss, hieß mein frisch gebackener Bewährungshelfer. Herbert war neu in der Bewährungshelferbranche. Ich war sein erster Proband. „Das trifft sich ausgezeichnet“, erklärte ich, als ich davon erfuhr. „Verlassen sie sich ganz auf mich. Ich habe jede Menge Erfahrung mit Kriminellen und werde sie schon einarbeiten ins Bewährungshelferfach“. Herbert freute es, als ersten Probanden gleich einen erfahrenen Mann zu haben. Er war der Meinung, wir bildeten ein gutes Team. „Aber sicher doch“, stimmte ich zu. „Davon bin ich überzeugt. Seien Sie unbesorgt und überlassen Sie getrost nur alles mir, dann kann gar nichts schief gehen“. Herbert rief bei meinem Richter an und meldete, ab sofort sei er mein Bewährungshelfer. „Herr K., so hörte ich Herbert sagen, „macht einen sehr vernünftigen Eindruck. Er scheint sehr motiviert zu sein, ein neues Leben zu beginnen“. Ich hatte mich bereits verabschiedet und war schon halb zur Tür hinaus, als Herbert noch rief, „Und einmal die Woche bei mir melden, hören sie“!? „Aber ja doch“, rief ich zurück und war zur Tür hinaus... Die Pension Ein Verein der Haftentlassenenhilfe erklärte sich bereit, für zwei Wochen die Kosten einer Pension zu tragen. Danach, so ließ man mich wissen, sei ich auf mich selbst gestellt. Suchte man nach einer klassischen schäbigen Absteige als Kulisse für einen mittelmäßigen Gangsterfilm, böte die Pension Enzian in der Lessingstraße sich an. Eine knarrende Holztreppe, zusammengehalten überwiegend von Staub

117

und Bohnerwachs, wandte sich vom Empfangstresen im Erdgeschoss in die oberen Stockwerke. Hinter dem Empfangstresen stand eine hochschwangere junge Frau, die einen steten Geruch nach sauren Gurken verströmte. Sie schrieb meinen Namen in das Gästebuch. „Polizeiliche Vorschrift“, erklärte sie, als sie bemerkte, dass ich beim Nennen meines Namens zögerte. „Sie machen hier auch Ausweiskontrollen“, fügte sie hinzu. „Meist morgens gegen sechs oder sieben“. Ein kleiner Junge schlich heran und krallte sich in ihre Hosenbeine. Er sah zu mir auf, rülpste, und ein Geruch nach Hühnersuppe aus der Tüte, moderne Speise der Armen, machte sich breit. Ein Ventilator auf dem Empfangstresen verrührte die Gerüche derweil unter rhythmischem Klappern stoisch in der Raumluft. Die losgelösten Ecken einer verblichenen Blümchentapete schwangen träge in seiner Brise… Im Zimmer Nr. 23 roch es nach frischem Bohnerwachs und Katzenpisse. Am Fenster sah man an verblichenen Vorhängen vorbei auf einen schattigen Hinterhof. Zerzauste Ratten turnten auf überquellenden Abfalltonnen. Kakerlaken, groß wie Hirschhornkäfer und überwiegend nur aus den Augenwinkeln wahrnehmbar, huschten über das Bett und die Wände. In der Schublade des Nachtkästchens fanden sich ein verrußter Teelöffel und drei Kondome, noch verpackt zwar, aber von einer krumm gebogenen, blutverkrusteten Injektionsnadel durchstochen. An einem Haken im Kleiderschrank hing, als hinterlassenes Relikt eines früheren Gastes oder als Aufmerksamkeit des Hauses, eine schlaff aufgeblasene Sexpuppe mit rund aufgesperrtem knallrot umrandetem Maul. Ein schwarzes vulkanisiertes Gummiläppchen mit orangeroten Rändern, wie man es zum Flicken von Fahrradschläuchen verwendete, klebte an ihrer Pobacke. Berührte man die Puppe, entwichen den Rändern dieses

118

Gummiläppchen sanft puffende Luftstöße. Ein honiggelber Fliegenfänger kräuselte sich von der Decke, paniert mit ausgetrockneten Fliegenleichen und umschwärmt von einem Heer blau schillernder Schmeißfliegen… Im Zimmer nebenan wohnte Rosi, eine Prostituierte in den Sechzigern. Rosis Gesicht schien als sei es mit krümeliger Farbe auf ein Stück zerknülltes Leder gemalt. Wie sie trotz ihres dramatischen Aussehens Kunden fand, blieb mir schleierhaft. Doch dass sie welche fand und das auch noch jeden Abend mehrmals, konnte ich durch die dünne Bretterwand die Rosis Zimmer von meinem trennte, deutlich hören. Lag ich nachts im Bett, hörte ich nebenan Rosis Freier stöhnen, “Aaaahh!”, während Rosi heiser dazwischen schrie, „Tiefer, tiefer! Fester, fester“! Männerstimmen grölten, „Du Schlampe! Du Nutte! Du Sau! Dir werd’ ich’s zeigen!“ und Rosi schrie beglückt dazwischen, „Jaaah! Zeig’ mir’s! Du Bock! Du Eber! Du Bär“! An Schlaf war freilich kaum zu denken, bei dem Getöse von nebenan… Die Urinkontrolle Auf dem Viktualienmarkt, gleich um die Ecke vom Marienplatz, gab es getrocknete Samenkapseln des Schlafmohns. Dabei handelte es sich um Importe, mit Schnitten der Opiumernte an den runden Samenkapseln, die von schwarzen eingetrockneten Opiumresten umgeben waren. Beladen mit drei Kartons voll Schlafmohnkapseln, begab ich mich wieder auf den Heimweg. Unterwegs kaufte ich einen Kochtopf und einen kleinen Campingkocher. Zuhause zerkrümelte ich einige der Kapseln und kochte sie auf dem Campingkocher zu redlich brauchbarem Opiumtee...

119

Einige Tage später ging ich zu Herbert, meinem frischgebackenen Bewährungshelfer, um mich zu melden. „Alles läuft ausgezeichnet“, verkündigte ich und wischte dabei mit dem Handrücken über meine schweißnasse Stirn. Warum brauchbare Opiate nur immer so schweißtreibend waren? „Die Welt könne nicht besser beschaffen sein!“, erzählte ich, schweißtriefend. Nur der Arbeitsmarkt ließe leider sehr zu wünschen übrig. Dort sei für einen jungen Mann meiner Qualitäten nichts, aber auch gar nichts zu finden. Herbert wrang die Hände vor Begeisterung. „Es freut mich ungemein, dass alles so ausgezeichnet läuft!“, rief er. Plötzlich schob er, wie nebensächlich, einige Papiere über seinen Schreibtisch auf mich zu. „Dies ist eine Anordnung deines Richters“, erklärte Herbert. „Er wünscht dass du dich sofort und auf dem kürzesten Wege von meinem Büro zum Gerichtsmedizinischen Institut begibst. Dort wirst du Urin abgeben, den man auf Spuren illegaler Substanzen untersuchen wird. Und hier ist noch etwas“. Die Schrecken nahmen kein Ende. „Auf diesem Papier trage ich den Zeitpunkt ein an dem du mein Büro verlässt. Du nimmst es mit und gibst es dem Arzt des Instituts. Der trägt deine Ankunftszeit ein und schickt es an deinen Richter der daran ersehen kann, ob du dich auch tatsächlich sofort und auf kürzestem Wege zum Institut begeben hattest. Es ist jetzt dreizehn Uhr. Du könntest den Weg zum Institut in zwanzig Minuten schaffen, aber ich denke wir wären alle zufrieden, wenn du ihn in dreißig Minuten schaffst“. Oh mein Gott! – schoss es mir durch den Kopf. Der viele Tee und all die Opiumrückstände in meinem Urin! Nicht mal mehr Tee konnte man trinken in dieser Welt! Ich nahm die Papiere vom Schreibtisch und schob sie in die Hosentasche. „Ich werde mich sofort und auf kürzestem Wege zum Institut begeben!“, rief ich und war zur Tür hinaus...

120

Als erstes eilte ich zum nächsten Supermarkt und erwarb ein Glas saurer Gurken und eine gelbe Gummizitrone, gefüllt mit Zitronensaft. Wieder auf der Straße, goss ich die Gurken und den Zitronensaft in einen Straßenabfluss und eilte weiter. Mein nächstes Ziel war der Hauptbahnhof, wo erfahrungsgemäß Alkoholiker saßen. Auf einer kleinen Mauer neben dem Haupteingang saßen einige beieinander. Sie ließen eine dickbauchige Rotweinflasche zwischen sich kreisen. Ich ging auf sie zu und sagte zu einem, „Komm mal bitte mit um die Ecke“. Um die Ecke, hielt ich dem Kerl einen zehn Mark Schein und mein leeres Gurkenglas unter die Nase. „Wenn du dieses Glas voll pisst, gebe ich dir dafür diese zehn Mark“. Er sah mich an als sei ich ein Perverser der anderer Leute Urin trank, aber die zehn Mark gaben den Ausschlag. Mürrisch nahm er das Glas aus meiner Hand und ging damit, leise vor sich hin fluchend, zur Bahnhofstoilette. Als er einige Augenblicke später wiederkam, war das Gurkenglas bis an den Rand mit Urin gefüllt. Ich nahm es entgegen, füllte vor den Augen des verblüfften Trinkers etwas davon in die Gummizitrone und goss ihm den Rest vor die Füße. Mit der gefüllten Gummizitrone und dem leeren Gurkenglas raste ich zur Bahnhofstoilette. Dort füllte ich das Gurkenglas mit warmem Wasser und legte die uringefüllte Gummizitrone hinein. Auf dem Wege zum Institut rannte ich in ein Laborbedarfsgeschäft und erwarb einen Meter Gummischlauch und einen darauf passenden Kunststoffhahn. Mit dem ganzen Krempel unter der Jacke, eilte ich schließlich zum Gerichtsmedizinischen Institut… Das Institut Halb verborgen hinter dunklen Tannen, erhob sich die finstere Silhouette des Institutsgebäudes. Eine Seite des roten, im neoklassizistischen Stil errichteten Backsteinbaus grenzte an einen Friedhof. Ein grüner, schmiedeeiserner Zaun umgab

121

bezeichnenderweise beide, Friedhof und Institutskomplex. Ausgehobenen Gräbern entstieg ein Duft nach frisch aufgeworfener Erde. Krähen flogen vom Dach des Instituts, umkreisten krächzend einige Tannenwipfel und landeten mit klatschenden Flügelschlägen auf dunkelgrün bemoosten Grabsteinen. Dies war ein Ort für Christopher Lee, Bela Lugosi, Boris Karloff und einige Deutsche Mediziner, aber nicht für mich... In der Abgeschiedenheit des Friedhofs und vor spähenden Blicken aus den Institutsfenstern wohl verborgen hinter den ausgebreiteten Flügeln eines marmornen Grabsteinengels, stöpselte ich die uringefüllte Gummizitrone auf ein Ende des Schlauchs und den Hahn auf das andere. Diese Konstruktion stopfte ich unter meine Kleidung, klemmte die Gummizitrone unter meine linke Achsel, fummelte den Schlauch in meine Hose hinab und platzierte den Hahn hinter meinem Hosenreißverschluss. Derart ausgerüstet betrat ich schließlich das schauerliche Innere des Gerichtsmedizinischen Instituts. In der hohen Empfangshalle roch es nach Feuchtigkeit und Schimmel, ein echter Treffpunkt frustrierter Männer. Mit hallenden Tritten und wehendem weißen Kittel, kam ein Onkel Doktor den Gang entlang. Ich grüßte und reichte ihm meine Unterlagen. Er riss sie an sich, warf einen Blick auf die Papiere und einen verächtlichen auf mich, sah auf seine Armbanduhr, zückte einen Kugelschreiber und trug meine Ankunftszeit ein. Danach forderte er mich mit der Geste seines Kopfes auf, ihm zu folgen. Wir liefen an einer Rezeption vorbei und betraten am Ende eines Korridors eine Herrentoilette. Dort ging es zur eigentlichen Erprobung meiner Konstruktion. Onkel Doktor reichte mir schweigend ein Laborglas. Er stellte sich direkt neben das Pissbecken und gab gut Acht, dass auch ja nicht mit dem Urin geschummelt wurde. Am Ende

122

gab noch jemand den Urin von anderen Leuten als den eigenen aus! Wo käme man da hin? Routiniert öffnete ich meine Hose und friemelte, anstelle meiner Nudel, den Kunststoffhahn hervor. Ich bedeckte ihn keusch mit einer Hand, öffnete ihn mit der anderen und sah Onkel Doktor dabei schnurgerade ins Gesicht. So genau, wollte der das dann auch wieder nicht wissen. Er blickte zur Seite, nahm die Brille vom Gesicht und polierte ihre Gläser mit einem Stück Toilettenpapier. (Ein verkappter Homosexueller. Jede Wette,...) Ich drückte mit dem Oberarm auf meine verborgene Gummizitrone und es funktionierte. Geräuschvoll und warm, lief die Sache aus der Zitrone, durch den Schlauch, aus dem Hahn und plätscherte ins Glas. Stolz, überreichte ich Onkel Doktor mein Produkt. Der hielt das gefüllte Glas, um zu sehen ob es auch beschlug, misstrauisch gegen das Licht der Deckenlampe. Es soll nämlich Schlingel geben die fremder Leute Urin mitbrachten und ihn als den eigenen ausgaben. Das bemerkte Onkel Doktor aber, der Fuchs, weil nämlich durch die zu geringe Temperatur des mitgebrachten Urins das Glas nicht beschlug. Aus diesem Grunde hatte ich meine uringefüllte Gummizitrone sorgfältig in warmem Wasser transportiert. Folglich beschlug das Glas, dass Onkel Doktor so misstrauisch gegen das Licht hielt, wie es sollte. Onkel Doktor war zufrieden. Ich auch. Zufrieden verließ ich diese düstere Stätte, in der man so weit korrumpiert wurde, dass man für den Staat schamlos im Urin fremder Menschen schnüffelte. Befreit trat ich wieder hinaus an die frische Luft... Trinke du nur tapfer weiter deinen Mohntee, dachte ich bei mir, während ich nachhause eilte. Er tut dir gut, er hält dich gesund und er hält dich vor allem von den Drogenszenen fern, wo Drogenbullen sorgfältig wie Gärtner ihre Fälle ziehen, um sie im Bedarfsfalle als Erfolge zu ernten. Aber was, wenn Herbert mir noch öfters mit solchem

123

Schweinekram kam? Was wenn eines Tages auffiele, dass ich mit dem Urin schummelte? Aber was, zum Teufel, hatten diese Pinsel auch in meinem Urin zu schnüffeln? Schnüffelte ich etwa in dem ihren? Hätte ich nicht genauso gut das Recht, etwa einen Blick in die Unterwäsche dieser Leute zu tun um zu sehen, ob sie darin nichts Anrüchiges verbargen, wie etwa Bremsspuren, Flecke vom Sperma fremder Leute oder gar vor der Steuer verborgene Diamanten? Wer weiß, vielleicht verbargen Onkel Doktor, mein Richter und der Staatanwalt ihre Diamanten gar in gerüschter, reinseidener Damenunterwäsche...?

* 124

Adieu Ich hatte mein Wort gegeben, für die WAG* zu arbeiten. Brach ich es, fänden die Ratten mich auf einem der weiten Gelände im Westen der Stadt, wo man Landsenken mit Müll auffüllte. * WAG = „Wir sind Alle so furchtbar Glücklich“. Eine Partei, deren Organe immer mehr um sich griffen und stets mehr Aspekte des Lebens der Bürger unter ihre Kontrolle brachten. Ich rief aus dem Hotel im Büro des Sicherheitsdienstes an und ließ mich mit Kommissar Majnek verbinden. „Ach, bist du schon wieder frei?!“, rief der Kommissar überrascht aus. „Yes“, antwortete ich. „Time flies like an arrow and fruit flies like a banana...“. “Wo bist du?“ fragte Majnek. „Im Enzian, Lessingstraße“, sagte ich. „Bleibe dort", erwiderte der Kommissar, „Ich bin gleich bei dir“. Keine zehn Minuten später hörte ich unten auf der Straße die Bremsen seines roten Sportwagens kreischen und gleich darauf seine hastigen Schritte, unten am Empfang und auf der hölzernen Treppe. Der Kommissar setzte sich und schaltete mein Radio aus. „Du arbeitest für uns?“, fragte er und schabte nervös an seiner Nase. „Habe ich eine andere Wahl?“ Majnek sah auf seine polierten Fingernägel. „Eine kleine hättest du schon“. „Oh ja? Und wie sähe die aus“? „Du könntest das Land verlassen und das Weite suchen“. „Ja, um mich für die nächsten zwanzig Jahre kreuz und quer über den Planeten jagen zu lassen“? „Es gibt Wege", sagte der Kommissar, "und du kennst sie“. „Ja“, sagte ich. „Ich kenne sie. Vergiss es und lass uns zur Sache kommen“. Majnek zündete eine Zigarette an. „Das Spiel ist einfach“, begann er und blies einige Rauchringe von sich. „Es heißt, nun siehst du mich, jetzt siehst du mich nicht. Und dass man dich einmal sieht und einmal nicht, wird deine

125

Aufgabe sein. Du gehst in den Untergrund, dein Milieu, und gibst dich als Käufer verbotener Medikamente aus. Beißt einer an und will verkaufen, informierst du uns. Wir geben dir die nötige Kaufsumme, umstellen den Ort und schlagen im geeigneten Moment zu“. „Klingt einfach genug“, fand ich. „Ihr lasst mich leben, das ist das eine. Aber habe ich auch genug um am Leben zu bleiben“? „Wir zahlen den Schwarzmarktpreis für jede Menge illegalen Arzneistoffes den wir mit deiner Hilfe aus dem Verkehr ziehen“. Ich überlegte. Der Schwarzmarktpreis von Diacethylmorphin lag derzeit bei 150 Mark pro Gramm. Lieferte ich auch nur 500 Gramm, reichte der Ertrag aus um mich zu verabschieden. Ich willigte ein, wenn schon nicht ganz freiwillig, so doch zuversichtlich und mit dem Kopf voll eigener Pläne... Majnek hinterließ die Nummer seines Direktanschlusses und ging. Jetzt war es Zeit, den Freund Elviras von der Straße zu fegen. Ihn hatte ich am Tage vor meiner Festnahme noch getroffen. Ihm hatte ich erzählt, dass ich mich im Kreise Elviras auf ein Geschäft einlassen würde. Das Geschäft war mithilfe Elviras vom Landessicherheitsdienst gesteuert worden. Es führte zu meiner Festnahme und kostete mich drei Jahre meines Lebens. Norbert wusste von Elviras Agententätigkeit. Er hätte mich warnen können, aber er hatte mich nicht gewarnt. Ich traf Norbert im „Kinky“, ein Laden worin Leute verkehrten, die den ganzen Tag damit beschäftigt waren so zu tun als hätten sie Geld. Ich kaufte ein Päckchen von Norberts verschnittenem Heroin und fragte beiläufig, ob er außer kleinen Päckchen noch mehr liefern konnte. Und ja. Er konnte. Und wie viel? Einhundert Gramm? Einhundertfünfzig? Nein. Soviel auch wieder nicht. Aber achtzig seien durchaus möglich. Im Geiste sah ich Norbert bereits in seiner Küche stehen, wo er einige Krümel Heroin mit Milchzucker auf achtzig Gramm hochstreckte.

126

Doch das spielte keine Rolle. Die Regeln der WAG besagten, jede Menge einer Substanz, in der sich auch nur ein Krümel illegalen Arzneistoffes befand, galt insgesamt als illegaler Arzneistoff. Mochte Norbert mir neunundsiebzig Gramm Milchzucker andrehen mit nur einem Gramm Heroin darin, man verurteilte ihn für achtzig Gramm Heroin und bezahlte mir trotzdem achtzig x hundertfünfzig Mark. Wir verabredeten uns für den Nachmittag des nächsten Tages, gegen fünfzehn Uhr, im Restaurant „Zum Roten Ochsen“. Am Vormittag rief ich Majnek an und erzählte ihm von der bevorstehenden Transaktion. Kurz darauf erschien er in meinem Hotel. Er legte zwölftausend Mark auf den Tisch. Sie bestanden aus unterschiedlich großen Banknoten, umfasst von einem gewöhnlichen Gummiband. Als Majnek bemerkte, dass ich nachdenklich auf das Geld blickte, warnte er, „Du denkst doch nicht etwa, du könntest dir Dummheiten erlauben? Mit unserem Geld bei dir, lassen wir dich keinen Augenblick mehr aus den Augen“. Ich war beeindruckt. Seine Berufsnase ließ den Mann nicht im Stich. „Wir machen es folgendermaßen“, erklärte Majnek. „Sobald das Geschäft gelaufen ist und Ware und Geld den Besitzer gewechselt haben, gibst du uns ein Zeichen. Lass dir etwas einfallen“. "Ich nehme meine Sonnenbrille ab“, sagte ich. „Ausgezeichnet. Nach diesem Zeichen schlagen meine Leute zu. Du entkommst dabei. Laufe einfach weg und rufe eine Stunde später in meinem Büro an…“ Um vierzehn Uhr dreißig saß ich im "Roten Ochsen". Entgegen aller Gewohnheit, schien das Restaurant an diesem Tage nahezu leer. Es befanden sich nur wenige Gäste in dem weiten Raum. In der hintersten Ecke saß ein junges Pärchen. Sie waren vollauf miteinander beschäftigt, scherzten und lachten. Am Tisch daneben saß ein beleibter älterer Herr

127

mit dicken Brillengläsern und las in einer Zeitung. Am Tisch nebenan saßen zwei Arbeiter in verschmutzten blauen Arbeitsanzügen. Um vierzehn Uhr fünfzig erschien Norbert und setzte sich an meinen Tisch. „Hast du es bei dir?“, fragte ich. „Ja“, antwortete Norbert. „Lass mich erst bestellen“. Er bestellte ein Glas Bier. Als es auf dem Tisch stand, schob er eine in Zeitungspapier gehüllte Kunststofftüte über den Tisch. Ich öffnete sie. Sie enthielt braunes Pulver. Ich steckte einen feuchten Finger in das Pulver und führte ihn zum Mund. Auf meiner Zunge verbreitete sich der bittere Geschmack von Heroin. „Okay“, sagte ich. „Hier hast du du’s“. Ich schob Majneks Banknotenbündel über den Tisch und nahm dabei meine Sonnenbrille ab. Was dann geschah, war geradezu phänomenal. Jeder Gast im Restaurant sprang plötzlich von seinem Stuhl, hielt und rannte mit einer Pistole in der Hand auf uns zu. Ich stand auf, stieß einen Agenten beiseite und rannte ins Freie. Dort hielten gerade mehrere Streifenwagen der Polizei. Ich rannte an ihnen vorüber und in einen Fußgängertunnel. Hinter mir hörte ich den Ruf, „Halt! Polizei! Stehen bleiben oder ich schieße“! Die Jungs spielten das verdammt echt, fand ich. Da knallte hinter mir ein Schuss und fast synchron damit zog ein bösartiges Brummen an meinem Ohr vorbei. Es klang wie eine dicke fette Hummel im Überschallflug, wie ein zur Murmel komprimierter Wirbelsturm, es klang wie ein gottverdammtes 9mm Pistolenprojektil! Ich blieb stehen, steif wie ein Brett. So echt, musste es dann auch wieder nicht sein. Zwei Agenten kamen in den Tunnel gerannt. Einer hielt eine rauchende Pistole in seiner Hand. Sie warfen mich zu Boden, bogen meine Hände auf meinen Rücken und fesselten mich mit Handschellen. Danach führten sie mich aus dem Tunnel und zu einem Streifenwagen. Kommissar Majnek trat aus dem Restaurant. Er sah mich in Handschellen und fragte, „Warum habt ihr ihn festgenommen? Er gehört doch zu uns“. Aber davon, hatten die einfachen Jungs in Uniform nichts gewusst. Sie waren nicht darüber

128

informiert worden, dass ich Teil des Spiels war. Sie hatten gedacht, ich wolle tatsächlich fliehen und hatten hinter mir her geschossen. Nur dem Umstand, dass sie schlechte Schützen waren, verdankte ich mein Leben. Die Partei ging offensichtlich sehr leichtfertig um mit dem Leben inoffizieller Mitarbeiter. Hätte der Schuss getroffen, es stünde in der Zeitung, bei der Festnahme eines "Rauschgiftringes" sei einer der Täter auf der Flucht erschossen worden. Kaum hatten sie mir die Handschellen abgenommen, holte ich aus und schlug dem Agenten, der hinter mir her geschossen hatte, kräftig ins Gesicht. „Du bist wohl nicht mehr richtig bei Verstand“, rief ich, zornig wie eine Viper. „Du erschießt Menschen wegen eines Häufchens lächerlichen Pulvers? Man sollte dich erschießen“! Ich schimpfte noch, als Kommissar Majnek mich zu meinem Hotel fuhr. „Komme gegen siebzehn Uhr zum Dienstgebäude“, sagte er, „und bringe deinen Ausweis mit. Zeige ihn dem Pförtner und frage, ob etwas für dich bereit liegt“. Gegen siebzehn Uhr dreißig war ich auf dem Wege zum Dienstgebäude und staunte über die Anordnung der Kameras, die einen schon drei Straßen davor erfassten und ohne Unterbrechung bis in den Vorraum und an den Tresen des Pförtners verfolgten. Ich reichte dem Pförtner meinen Ausweis und fragte, ob etwas für mich bereit läge. Der Pförtner legte meinen Ausweis mit der Innenseite auf einen Scanner und reichte ihn zurück. Danach drehte er sich um und öffnete eine Schublade die länger war als jede Schublade, die ich bisher gesehen hatte. Sie war gewiss einen Meter lang und angefüllt mit hellgrünen Briefumschlägen. Mit geübten Fingern ging der Pförtner die Reihe der Umschläge durch und zog schließlich einen hervor der meinen Namen trug und reichte ihn mir. Er ließ mich eine Empfangsbestätigung unterschreiben und wünschte einen schönen Tag. Draußen, um die Ecke, auf den Weiten des Marienplatzes, riss ich den Umschlag auf. Er

129

enthielt, ohne jeglichen Kommentar, zwölftausend Mark. Sollten all die vielen Umschläge in der langen Schublade des Pförtners, die ich soeben gesehen hatte, Zahlungen an inoffizielle Parteimitarbeiter sein? Eine Woche nach der Festnahme Norberts präsentierte ich Majnek einen fingierten Fall. Ich rief an und erzählte, am folgenden Tage träfe ich mich mit einem „Unbekannten“, der zweihundertfünfzig Gramm verkaufen wolle. Treffpunkt sei vor dem Eingang eines Restaurants im Osten der Stadt. Dieser Mann, und das sei besonders wichtig, bestünde darauf, dass die Summe ausschließlich aus fünfhundert Mark Scheinen bestand. Als Majnek das Geld brachte, sah ich zu meiner Überraschung, es bestand tatsächlich nur aus fünfhundert Mark Scheinen und war wieder mit einem gewöhnlichen Gummiband umfasst… Mit der Kaufsumme in einem Aktenkoffer stand ich vor dem Restaurant im Osten der Stadt und wartete auf einen Verkäufer der nie kommen würde weil es ihn nicht gab. Ich studierte die Umgebung. Das Restaurant befand sich an einer kleinen, kaum befahrenen Seitenstraße. Am Straßenrand, direkt vor dem Restaurant, hatte jemand Motorpech. Ein Mann hantierte mit hoch gekrempelten Ärmeln und ölverschmierten Armen unter der geöffneten Motorhaube eines VW Golfs. Jenseits der Straße erstreckte sich ein kleiner Park, den ich von meiner Position aus fast völlig einsehen konnte. Links davon standen einige Parkbänke, rechts gab es eine Wiese, die etwa die Hälfte des Parks einnahm und von alten Bäumen umstanden war. Auf einer Bank des Parks räkelte sich ein junges Pärchen. Im Grase, spielte ein älterer Herr mit einem Hündchen. An einem der alten Bäume lehnte ein Mann und las die Zeitung. Wo wohl Majneks Leute staken, fragte ich mich?

130

Ich stand etwa eine halbe Stunde an meinem Platz und wartete. Schließlich schlich Majnek an mich heran. „Er kommt wohl nicht?“, murmelte er. „Nein. Offenbar nicht“. „Macht nichts", erklärte Majnek. "Das kommt vor“. Majnek nahm ein kleines Sprechfunkgerät aus seiner Jackentasche, drückt eine Taste und sprach hinein, „Kommt Leute, wir gehen“. In diesem Moment klappte der Mann am Straßenrand seine Motorhaube zu, fuhr mit seinem Wagen an die Seite des Parks und nahm den Herrn mit dem Hündchen auf. Der Kerl, der an einem Baum gelehnt die Zeitung gelesen hatte, löste sich vom Baum. Er warf seine Zeitung in einen Papierkorb. Er ging zu dem Pärchen, das auf der Parkbank saß und sie verschwanden miteinander. Die gesamte Straßenszene hatte sich aufgelöst. Alle, die in meinem Blickfeld gestanden hatten und vermutlich noch einige die mir entgangen waren, arbeiteten für Majnek und dem Sicherheitsdienst. Ich lief einige Straßen weit und traf schließlich auf Majnek. Ich öffnete den Aktenkoffer und reichte ihm die Kaufsumme. „Pech“, sagte ich. „Egal", sagte Majnek, während er das Geldbündel wegsteckte. „Das nächste Mal klappt es wieder besser“, rief er mir noch über seine Schulter hinweg zu und verschwand am Ende der Straße, ein wenig schäbig, wie ein bedürftiger Morphinist. Huey, ein Chinese mit einer selbst gebastelten Beinprothese aus Kunststoffen, war ein hochbegabter Künstler. Es gab kein bedrucktes Papier, das er nicht nachahmen konnte. Huey saß an seinem Arbeitstisch, in einer Hand eine Pinzette, zwischen ihren stahlblauen Spitzen eine funkelnder Edelstein und eine Diamantlupe im Auge. „Zu viel Perfektion“, murmelte Huey und drehte den Edelstein vor seiner Lupe. „Zu viel Perfektion verdirbt die Fälschung. Nimm zum Beispiel diesen wunderschönen einkarätigen Brillanten ". Huey ließ den funkelnden Klunker aus der Pinzette auf ein Samtbespanntes Brettchen

131

fallen. „Dieser Stein ist perfekt. Er ist ohne Einschlüsse und seine Kristallstruktur wirkt wie mit dem Lineal gezogen. Er stammt aus Russland. Oh ja, es ist ein echter Diamant, kein Zweifel. Aber es ist kein natürlicher Diamant. Er wurde nicht in der Erde gefunden, er wurde von Menschen künstlich erzeugt. Seine Perfektion verrät ihn. Mit bedrucktem Papier verhält es sich ähnlich. Kein echtes Dokument ist jemals perfekt. Sie alle zeigen kleine Fehler, die auf die Technik ihrer Herstellung zurück zu führen sind. Damit ein Produkt nicht allzu perfekt erscheint, ahmt ein guter Fälscher solche Fehler nach“. Huey nahm die Lupe aus seinem rabenschwarzen Auge und sah mich an. „Was kann ich für dich tun, mein Freund“? „Ich brauche dringend Geld“, erklärte ich. Hueys Gesicht verfinsterte sich. „Kein echtes Geld“, fügte ich rasch hinzu. Hueys Gesicht erhellte sich wieder, aber nur um eine Nuance. „Es ist für einen guten Zweck, Huey“, versuchte ich ihn zu erweichen. „Ehrenwort. Es wird niemand dabei zu Schaden kommen. Was ich brauche sind vierzig Scheine zu je eintausend Mark und achtzig zu je fünfhundert Mark“. Ich wusste, Huey würde nicht ablehnen. Er konnte nicht ablehnen. Er fühlte sich in meiner Schuld, weil ich einige Jahre zuvor mitgeholfen hatte, seine Schwester aus einem Bordell in Marseille zu befreien. „Ich müsste erst Papier beschaffen“, sagte Huey schließlich und kratzte die Stelle an seinem Bein, wo die Prothese begann. „Tue das Huey“, sagte ich zuversichtlich. „Noch hat es keine Eile, aber lasse mich andererseits auch nicht allzu lange warten“. Menheer Van Veen, der im Diamantgeschäft nicht nur ergraut, sondern auch schon zwei Mal Pleite gegangen war, war bei allen Mitgliedern der Antwerpener Diamantbörse als Künstler bekannt und beliebt. Menheer Van Veen verstand es Koffer zu bauen, in denen sicher achtzig Prozent aller Anlagebrillanten der Börse, an den Zöllen

132

der Welt vorbei und in die Wohnzimmer der Kunden geschmuggelt wurden. Man brachte Menheer Van Veen einen gewöhnlichen Aktenkoffer und hinterließ eintausend Mark. Eine Woche später holte man den Koffer wieder ab. Dann enthielt er ein Geheimfach, so raffiniert verborgen dass ich es nicht fand, obwohl Menheer es mehrmals vor meinen Augen öffnete und schloss. „Bester Menheer Van Veen“, sagte ich. „Was ich benötige, ist nicht nur einen ihrer Koffer mit Geheimfach. Ich benötige vielmehr einen Zauberkoffer wie Zauberer sie auf der Bühne haben. Er muss von beiden Seiten zu öffnen sein, ohne dass es auffiele, dass er an beiden Seiten Deckel hat. In der Mitte müsste ein Scheinboden eingearbeitet sein, der bei geöffnetem Deckel von beiden Seiten wie der eigentliche Kofferboden erscheint. Können sie einen solchen Koffer fertigen?“ Menheer Van Veen überlegte. „Eintausendfünfhundert Mark“, sagte er schließlich. „Ist gut“, sagte ich. Aber ich brauche ihn noch vor Ablauf dieses Monats“. „Zweitausend“, knurrte Van Veen kalt. „Ist gut“, sagte ich und legte tausend Mark Vorschuss auf den Tisch. Danach verließ ich Menheer Van Veen und sah mich vor der Heimreise ein wenig an der Börse um… Zwei Wochen später rief Huey an. Er war ein Genie. Er hatte zwar das richtige Papier zum Fertigen der falschen Banknoten nicht bekommen, dafür hatte er es aber verstanden, qualitativ minderwertigem Papier durch Behandeln mit Kartoffelstärke und einigen anderen Stoffen, zumindest für einige Zeit die Steifheit und das Knistern echter Banknoten zu verleihen. Befingerte man Hueys falsche Scheine, fühlten sie sich an wie echt. Ihr Aussehen war, wie immer bei Hueys Arbeit, tadellos. Huey hatte sich sogar die Mühe gemacht, jeder Banknote eine individuelle Nummer aufzuprägen...-

133

„Kommen sie näher“, sagte Menheer Van Veen und schleuderte mit einem Schwung den man dem alten Herrn nie zugetraut hätte, einen kleinen braunen, unscheinbaren Aktenkoffer auf den Tisch. „Sehen sie“, erklärte Menheer mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme, „Der Koffer hat trotz seiner zwei Deckel nicht vier Verschlüsse, sondern nur zwei. Es kommt darauf an, wie sie die Verschlüsse handhaben, um entweder den Deckel der einen Seite zu öffnen, oder den der anderen“. Menheer erklärte den Mechanismus. Die Verschlüsse hatten in ihrer Mitte ein unsichtbar verarbeitetes Scharnier, durch das man entweder das untere Ende, oder aber das obere Ende des Verschlusshebels eindrücken konnte. Je nach dem welches Ende des Verschlusshebels man drückte, öffnete sich entweder der eine oder der andere Deckel. Der doppelte Boden im Innern des Koffers war so gearbeitet, dass er an den Rändern durch Ziehharmonikafalten aus feinem Leder am Koffergehäuse befestigt war. Legte man den Koffer hin und öffnete ihn, wurde dieser doppelte Boden automatisch durch die Schwerkraft nach unten gezogen und erweckte dadurch den Eindruck, man blicke auf den Grund eines leeren Koffers. Menheer Van Veen war, wie Huey, ein Genie seines Fachs. „Er will achtzigtausend Mark für drei Kilogramm und er will das Geld in vierzig Scheinen zu je tausend und achtzig zu je fünfhundert“, erklärte ich Kommissar Majnek. „Und er scherzt nicht. Ich habe die Ware gesehen und getestet. Es handelt sich um feinstes weißes Heroinhydrochlorid von pharmazeutischer Qualität. Es ist lange her, dass ich solcher Qualität begegnete“. Ich fühlte förmlich, wie Majnek anbiss. Egal, ob es sich um Kommissare handelt oder um Gemüsekrämer. Spiegelte man ihnen die Erfüllung eines großen Wunsches vor in einem Ausmaß, wie sie es bisher nur aus ihren Träumen kannten, sie werden aller Realität entsagen. Es ist das uralte

134

Spiel des Betrügers, ein Spiel so alt wie die Menschheit selbst. Die Erregung in der Stimme des Kommissars war unüberhörbar. „Wo wollt ihr euch treffen"? Ich genas das Spiel und erklärte, „Wir treffen uns um siebzehn Uhr auf dem freien Platz im Winkel des Sheraton Hotels und des Barbarellahauses. Der Platz ist gut gewählt. Er ist gut einsehbar und hat nur wenige Zugänge. Wer sich dort aufhält, kommt nicht ungesehen wieder weg“. Majnek rieb sich die Hände. Er witterte Blut und hatte sichtlich Freude an seinem Beruf. Ich hatte schon alles geregelt was zu regeln war. Ein Flugticket und einen gültigen Reisepass hatte ich in der Tasche und meine gepackte Reisetasche stand in einem Schließfach des Flughafens bereit. Nun hing alles nur noch an einem ganz gewöhnlichen Gummiband. Sollte Majnek die Kaufsumme, immerhin 120 Scheine, wieder wie bisher in einem Bündel bringen, umfasst von einem einfachen Gummiband? So nicht, müsste ich in gefährlicher Weise improvisieren und konnte dabei gesehen werden. „Um siebzehn Uhr sagtest du“? „Ja“, bestätigte ich, „Um 17 Uhr auf dem Platz im Winkel des Sheraton Hotels und des Barbarellahauses“. Die Wärme eines wolkenlosen Hochsommertages staute sich auf dem Platz, im Winkel des Sheraton Hotels und des Barbarellahauses. Ich saß auf einem der vielen kleinen Betonpfeiler die den Platz aufteilten und Kraftfahrzeuge an der Zufahrt hinderten. Menheer Van Veens Zauberkoffer hatte ich auf dem Schoss. Darin befanden sich auf der einen Seite Majneks achtzigtausend echte Mark, säuberlich in ein Bündel gepackt und umfasst von einem gewöhnlichen Gummiband und auf der anderen Seite Hueys falsche achtzigtausend Mark, ebenfalls in einem Bündel und von einem gewöhnlichen Gummiband umfasst. Schweiß, rann mir vom Kragen den Rücken hinab. Ein Scheitern meines Vorhabens zog ich nicht in Betracht. Man dachte in solchen Augenblicken nicht an Scheitern, sondern nur an Gelingen. Dreißig

135

Minuten saß ich schon auf dem kleinen Betonpfeiler und wartete auf jemand, der nie kommen würde weil es ihn nicht gab. Schließlich wurde es siebzehn Uhr fünfundvierzig und ich hatte nur noch vierzig Minuten Zeit. Wenn Majnek nicht bald käme um die Sache abzublasen, versäumte ich am Ende noch meinen Flug.... Aber ich hatte diesen Platz im Winkel des Sheraton Hotels und des Barbarellahaus nicht umsonst gewählt. Von hier waren es nur fünf Minuten bis zum Flughafen. Majnek hatte sich von hinten an mich herangeschlichen. „Er kommt wohl nicht“, hörte ich ihn sagen. „Nein“, sagte ich. „Offenbar nicht“. „Macht nichts“, erwiderte Majnek und fügte hinzu, „Das kommt vor. Wir treffen uns in zehn Minuten auf der anderen Seite des Gebäudes“. Majnek bat um Feuer für seine Zigarette, was wohl Teil seiner Tarnung war für den Fall dass uns jemand zugesehen hatte. Ich gab ihm Feuer, er dankte und ging. zehn Minuten später trafen wir uns auf der anderen Seite des Barbarellahauses. Dort, im Schatten einer Einfahrt, öffnete ich Menheer Van Veens Zauberkoffer und reichte Majnek Hueys falsche achtzigtausend Mark. „Ruf mich bitte morgen im Büro an“, bat Majnek, während wir zusammen auf seinen roten Sportwagen zuliefen. „Es kann sein, dass du in Frankfurt eingesetzt wirst“. „Ist gut“, antwortete ich. „Ich rufe dich morgen gegen fünfzehn Uhr an“. Ich sah seinem roten Schlitten hinterher, bis er aus meiner Sicht verschwunden war. Danach winkte ich ein Taxi herbei und bat den Taxifahrer, „Zum Flughafen bitte. Und fahren sie bitte rasch. Ich bin schon ein wenig verspätet“. Eine halbe Stunde später bestieg ich eine knallrote Boing 707 der russischen Aeroflot. Nach einem Flug von zwölf Stunden schwang die Tür der Maschine zur Seite und die feuchte Tropenluft Sri Lankas schlug mir ins Gesicht wie ein nasses Handtuch...

136

Mit Morphin im Paradies Dem jungen Mann des Münchner Reisebüros war mein Anliegen merkwürdig erschienen. Ich wollte ein Flugticket nach Asien, aber keines zurück. „Es kann geschehen“, erklärte er, „dass sie bei der Einreise im Flughafen ein Rückflugticket oder zumindest eine Hotelreservierung vorweisen müssen. Verfügen sie über keines von beiden, lässt man sie vielleicht nicht ins Land“. Man konnte, wie es schien, nicht mal mehr fliegen wie man wollte, selbst verfügte man dazu über genügend Geld. Überall engten einen kleine miese Vorschriften und Regeln ein. Ich sah den Tag kommen, an dem wir alle an kleinen miesen Vorschriften und Regeln erstickten. „Ich schreibe ihnen eine unechte Hotelreservierung aus“, entschied der junge Mann des Reisebüros. „Es ist keine echte Reservierung. Sie dient nur zum Vorzeigen bei der Einreise“. Als ich das Reisebüro verließ, hatte ich ein Einwegticket nach Sri Lanka und eine falsche Hotelreservierung der Hotelkette „Global Travel“ in der Tasche. Am Ende zeigte sich, ich benötigte weder das eine noch das andere. Ich hatte den Rat eines Bekannten befolgt und massenweise Kugelschreiber und Wegwerffeuerzeuge mitgenommen. Ein roter Kugelschreiber und ein blaues Wegwerffeuerzeug öffneten mir die Pforten von Sri Lanka. Bei der Passkontrolle hatte ich beides neben meinen Pass gelegt und artig geguckt. Dafür bekam ich einen roten Einreisestempel in meinen Pass und ein breites Lächeln des Imigrationsbeamten. Als ich die weite Flughafenhalle betrat, fiel mein Blick auf drei junge europäische Frauen, die in einer Ecke beieinander standen und abwechselnd mit einem Schild in der Hand auf und ab sprangen. „Hotel Global Travel“, stand auf diesem Schild. Ich zeigte den Dreien meine falsche Hotelreservierung. „Kommen sie“, sagte die junge Frau. „Unser Bus steht auf dem Parkplatz vor dem Flughafen und im Hotel wartet bereits

137

ihr Essen auf sie“. Ich ließ mich ins Hotel Global Travel bringen. Was sollte ich auch anderes tun? Es war später Nachmittag, bald Nacht, und ich befand mich ohne Kontakte in einem Land, in dem ich noch nie zuvor war. Am nächsten Morgen saß ich mit einem Deutschen Ehepaar im Garten des Hotels Global Travel und nuckelte vergnügt an Kokosnusscocktails. Herr Schwertfeger war Mercedeshändler. „Und Sie“, fragte Schwertfeger neugierig. „Ich arbeite für einen Schweizer Pharmakonzern und bin auf der Suche nach neuen Rohstoffquellen“. Schwertfegers Gattin hustete und hörte nicht wieder auf. „Sie husten trotz dieses heißen Klimas?“, fragte ich. Danach konnte ich mir eine ellenlange Geschichte über ihren chronischen Husten anhören, unterbrochen von furchtbaren Hustenanfällen. Als es mir zu viel wurde, griff ich zu einem Kugelschreiber und schrieb auf eine Papierserviette des Hotels, „100 codeinum phosphoricum comp. a’ 20mg“, und unterschrieb forsch mit „Dr. med. phil. hc. Karlos“. Ich winkte einen Lakaien des Hotels herbei, drückte ihm die beschriebene Serviette und einige speckige Rupiescheine in die Hand und schickte ihn zur Apotheke. Eigentlich hatte ich es mehr getan um Madams endlich zum Schweigen zu bringen. Meine Überraschung war groß, als der Lakai wenige Minuten später mit einem Silbertablett neben mir stand. Auf dem Tablett lagen, ordentlich aufgereiht und von blütenweißer Serviette unterlegt, fünf Packungen mit jeweils zwanzig Kodeintabletten zu je zwanzig mg. Sieh an, dachte ich, du giltst als Arzt in diesem Lande und kannst vielleicht sogar Morphinampullen verordnen. Am nächsten Morgen lief ich zur Hauptstraße und erwarb in einem Trödelladen einen kleinen Schreibblock und einen chinesischen Tintenfüller, der am Ende Papier mehr zerriss als darauf zu schreiben. Zurück im Hotel, schrieb ich auf die erste Seite des Blocks, „10 x 1ml amp. Inj.

138

Morphinhydrochloricum a' 20 mg“, und unterschrieb wie gehabt mit „Dr. med. phil. hc. Karlos“. Damit rannte ich zur nächsten Apotheke. Wer Doktor Karlos sei, wollte eine zierliche, rehäugige Apothekerin wissen. Ich hätte antworten müssen, „Sie kennen Doktor Karlos nicht? Den berühmten Deutschen Nobelpreisträger? Er sitzt gerade drüben, im Garten des Deutschen Hotels in seinem Rollstuhl und wartet auf seine Medizin“. Stattdessen sagte ich Esel, überheblich geworden durch meinen Erfolg vom Tage zuvor, „Doktor Karlos bin ich selbst“. „Es tut mir leid“, sagte daraufhin die zierliche rehäugige Apothekerin. „Solche Rezepte akzeptieren wir grundsätzlich nur von Ärzten, die wir schon länger kennen“. Die Sache hatte aber auch einen gewaltigen Haken. Wäre ich tatsächlich Arzt, ich stellte kein Rezept aus, ich ginge in eine Apotheke, wiese mich irgendwie als Arzt aus und forderte Morphin. Aber ich war eben noch neu in der Branche, musste noch eine Menge lernen und mich einleben in meinen neuen Beruf… Vielleicht wäre es aber auch grundsätzlich vernünftiger, überlegte ich, man besuchte nicht die Apotheken der Hauptstadt, sondern solche irgendwelcher abgelegenen Nester, fernab großer Städte und aller Rauschgifthysterie? Ich mietete ein Motorrad und tuckerte damit einige Stunden immer die Küstenstraße entlang Richtung Süden. Ich hielt schließlich in einem Fischerort namens Hikkadua und nahm ein Zimmer im "Sea side Hotel". Am kleinen Strand des Hotels setzte ich mich in den Sand und schrieb ein neues Rezept. Merkwürdige Krebse gab es in diesem Land. Sie wühlten sich neben einem aus dem Sand, rannten rasch eine Strecke weit und vergruben sich gleich wieder. Der Direktor des Hotels hatte mich vor dem Schwimmen an diesem Strandabschnitt gewarnt. Gerade an dieser Stelle, so erfuhr ich, sichte man öfters Haie. Ich lachte die Warnung des Direktors beiseite und planschte fröhlich im warmen transparenten Wasser der Arabischen See.

139

Als ich hinterher wieder am Strand lag und in der Sonne trocknete, fiel mein Blick auf eine Flosse, die einen knappen halben Meter aus dem Wasser ragte und pfeilschnell in zornigem Zickzack durch die Wellen pflügte. Gleich danach verschwand sie wieder in den Weiten des Meeres. Von der Tropensonne getrocknet, setzte ich mich auf die Terrasse des Hotels und bestellte ein Glas eisgekühltes Coca Cola. Im offenen Dachgebälk über mir sprangen Geckos umher, kleine eidechsenartige Akrobaten, auf der Jagd nach Insekten. Der Hoteldirektor lachte schallend, als ich mein Bedenken äußerte hinsichtlich der unmittelbaren Nähe solcher Tiere. Er lachte noch stets, als einer der Geckos einem vorüber fliegenden fetten Käfer hinterher sprang, im Jagdfieber die Orientierung verlor und mit einem Platschen, den fetten Käfer im Maul, in meine Cola fiel. Mit meiner eisgekühlten Coca Cola zum Teufel, machte ich mich auf den Weg zu einer Apotheke des Ortes. Als der Apotheker mein Rezept sah, lachte er laut, zerriss es in kleine Fetzen und ließ sie genüsslich in einen Papierkorb regnen. Danach sah er mir lächelnd ins Gesicht und fragte, „Nur zehn Ampullen? Darf es nicht auch ein wenig mehr sein“? Er öffnete eine Schublade und mein Blick fiel auf hunderte glitzernder, sanft hin und her rollender Morphinampullen. Ich erwarb auf der Stelle fünfzig Stück. Der Apotheker steckte die fünfzig Ampullen fein säuberlich eine nach der anderen in ein Papiertütchen und reichte es mir. Der Apotheker nahm eine frische Einmalspritze und einen Abbindgurt aus einem Regal und bat mich, ihm zu folgen. Er führte mich in sein Wohnzimmer, bot mir den besten Sessel an und schaltete ein Radio an, ein altes Röhrengerät mit Elfenbeintasten, Stoffbespannung und grünem, magischen Auge. Zu entspannender Musik, legte er die Spritze und den Abbindgurt an meine Seite und forderte mich höflich auf, „Bitte, Sir, nehmen Sie sich alle Zeit der Welt“. Damit verließ der

140

Mann den Raum und schloss von außen sachte die Tür. Hier bist du zuhause, dachte ich erfreut und schnürte den Abbindgurt um meinen Oberarm. Und während Morphin wonnewarm durch meinen Körper floss, dachte ich, von hier gehst du nie wieder weg. Nach Bedarf Morphin HCL Ampullen, ein wolkenloser Himmel, weiße Strände und das warme, transparente Wasser der Arabischen See vor dem Haus? Wie ein sorglos dahin stolpernder Dummkopf, war ich mitten im Paradies gelandet! Morphin HCL in die Vene geknallt, steht der Wirkung von iv. injiziertem Heroin nur in wenig nach. Es erzeugt nahezu das gleiche sanft aufwallende Gefühl von Wärme in der Magengrube, als bekäme man einen warmen Ball komprimierter Watte auf den Bauch geworfen, es erzeugt dasselbe Gefühl von, Lege du dich nur zurück, mein Sohn, und lasse die wonnigen Wogen über dich rollen. Im Grunde verläuft alles nur ein wenig langsamer als bei Heroin, doch im Endeffekt ist die Wirkung sehr ähnlich. Morphin HCL verursacht zweifelsohne auch dieselbe hartnäckige Verstopfung wie Heroin. Vernachlässigt man als Morphin HCL Gewöhnter seine Dosis, treten Entwöhnungssymptome etwas rascher auf als bei Heroin. Es scheint, als fließe Morphin HCL mit weniger Widerstand durch den Körper. Durch die regelmäßige Einnahme von Morphin begann mein Körper zu blühen wie eine Sommerwiese. Mein Appetit wurde gesteigert, ich nahm zu, jedoch nicht auf ungesunde Weise. Ich wurde nicht etwa übergewichtig, ich wurde stark und kräftig. Mein blonder Haarschopf leuchtete und meine Haut schimmerte wie Perlen. So war es mir mit Morphinen schon immer ergangen. Ich blühte unter ihrer Wirkung schon immer auf, und keineswegs nur einige Zeit mit folgendem verheerenden Verfall, wie man den Leuten gerne vorlügt, sondern

141

dauerhaft, über Jahre hinweg. Verfügte ich lange genug über ausreichend Morphin, kam bald der Tag an dem ich neue Kleidung kaufen musste weil die alte zu eng geworden war. Die destruktive Drogenpolitik der Welt war ausschließlich darauf gerichtet, den Menschen mit Gewalt zum absoluten Gehorsam gegenüber den Lügen des Staates zu zwingen. Selbst das hochpotente Heroin war in Wahrheit harmlos. Man durfte nur nicht damit umgehen wie ein Dummkopf. Um aber den Umgang mit Morphinen zu erlernen, musste man erst über ausreichend Morphin verfügen. Doch welcher einfache Mensch, in beispielsweise Europa, verfügte schon über ausreichend Morphin? Deshalb waren sie wie Halbverhungerte, die ständig über zu wenig Nahrungsmittel verfügen. Saßen sie plötzlich unverhofft vor üppig gedeckten Tafeln, fraßen sie sich zu Tode. Während Machversessene an den Schaltzentralen der Macht in Europa, den USA und anderswo, heftig die Lüge propagierten, Morphine seien schädlich und ihre Verwendung führe zu Siechtum und Tod, bewies ich, fröhlich und gesund am Strande der Insel liegend zum wiederholten Male, sie logen! Morphine waren keine „Rauschgifte“. Morphine waren, im Gegenteil, edle Stoffe, außerordentlich vielfältig wirkende Medikamente, die all jenen Fröhlichkeit, Gesundheit und langes Leben schenkten, die ihrer dazu bedurften. Morphine aber als schnöde „Freizeitdroge“ zu verwenden, wie es vielfach in westlichen Ländern geschah, war ein Sakrileg, das Bestrafung in sich trug… Drei Apotheken gab es am Ort und alle verkauften problemlos Morphinampullen. Aber nicht lange. Schon nach wenigen Wochen waren in der ersten Apotheke alle Ampullen ausverkauft. Der Apotheker musste in die Hauptstadt reisen um Nachschub zu beschaffen. Bald reisten, während ich unbekümmert am Strand lag, alle drei Apotheker durchs Land um Morphinampullen aufzukaufen. Es

142

dauerte etwa fünf Monate, bis alle drei resignierend die Schultern hoben und versicherten, auf der ganzen Insel gäbe es kein Morphin mehr. Nachschub vom indischen Festland, war erst in sechs Monaten wieder zu erwarten. Wie es schien war es mir gelungen, in nur wenigen Monaten den gesamten erhältlichen Morphin HCL Vorrat eines Landes groß wie Bayern zu verbrauchen. Mein Gewissen drückte, dachte ich an die vielen Menschen der Insel, die jetzt trotz quälender Schmerzen und wuchernder Krebsgeschwüre, anstelle von Morphin nur Paracetamol erhielten. Doch mein Gewissen drückte vergebens. In Krankenhäusern und Arztpraxen mit festem Patientenstamm war noch genügend Morphin HCL und auch andere Morphine, wie etwa Methadon, Pethidin Hydromorphon, Oxycodon oder Fentanyl vorhanden. Diese Morphine wurden aber nicht veräußert. Sie waren ausschließlich für die eigenen Patienten gedacht. Wie schnell doch Paradiese ihren Reiz verloren, fehlte es an brauchbarem Morphin. Pethidin, ein kurz wirkendes synthetisches Opioid, war dagegen noch reichlich erhältlich und so wich ich notgedrungen auf Pethidin aus. Pethidin eignete sich aber nicht zur dauerhaften Verwendung. Zum einen war es nur kurz wirksam, zum anderen erzeugte es sehr rasch tückische Nebenwirkungen. Angstzustände traten auf und Panikattacken raubten einem den Atem. So wurde ich zum Beispiel mitten in der Nacht wach in der festen Überzeugung, jeden Moment raffte mich ein kardialer Arrest dahin. Auch am Tage, zum Beispiel während des Schwimmens, hunderte Meter weit draußen im Meer, bei haushohen Wellen, aus heiterem Himmel, Panikattacke. Für den dauernden Unterhalt einer gesunden Morphinbedürftigkeit, erwies Pethidin sich als völlig ungeeignet.

143

In dieser Not erfuhr ich, jeder Apotheker des Landes erhielt ein Mal im Jahr eine Ration Rohopium zugeteilt. Wie sich zeigte, besaßen meine Apotheker ihre Rationen noch. Doch es dauerte nicht lange und meine Apotheker durchreisten die Insel um die Rohopiumrationen ihrer Kollegen aufzukaufen. Das Zeug schmeckte scheußlich, aber man konnte damit leben. Von einigen Jugendlichen des Ortes erfuhr ich, sie importierten Opium von der Südspitze Indiens. Sie verkauften es in Stücken zu zehn Gramm, in etwa der Größe einer Streichholzschachtel. Diese Opiumstücke waren in violettes japanisches Seidenpapier gepackt, kreuzweise mit einer feinen hellblauen Kordel verschnürt und am Kreuzpunkt der Kordel versiegelt mit einem knallroten Klecks Siegelwachs, darauf, eine Schwalbe im Relief. Kein propagandistisch verseuchter Deutscher Tourist hätte in dieser hübschen Verpackung "Rauschgift" vermutet. Und korrekt, denn sie enthielt auch keines. Sie enthielt feines, wertvolles Opium von der Südspitze Indiens. Die kommenden Wochen lag ich am Strand und nuckelte auf bitterem, teerschwarzem Opium. Eines Tages wunderte ich mich, weshalb oben an der Hauptstraße trotz strahlenden Wetters jeder einen Regenschirm bei sich hatte. Bei näherem Hinsehen ergab sich, es waren keine Regenschirme, es waren Gewehre. Während ich mit Opium in der Backe vergnügt und sorglos am Strand gelegen hatte, war stillschweigend um mich her der Bürgerkrieg ausgebrochen! Zur Zeit der englischen Kolonialisation wollten die Engländer die einheimischen Singhalesen auf Teeplantagen zur Zwangsarbeit treiben. Aber die Singhalesen waren kluge Leute und stellten sich bei der Arbeit so dämlich an dass die Engländer den Eindruck gewannen, sie taugten

144

nicht zur Arbeit. (Gut gemacht, Singhi!!) Deshalb schafften die Engländer von der Südspitze des Indischen Festlandes Tamilen herbei, die klüger und arbeitsfähiger schienen. Inzwischen verweilten die Tamilen schon so lange auf der Insel und empfanden sich von den einheimischen Singhalesen derart unterdrückt, dass sie ihren eigenen Teil der Insel forderten. Das war, in einer Nussschale, in etwa der Kern dieses Bürgerkrieges. Als ich nach Einbruch der Dunkelheit auf ein Fischrestaurant zulief um dort das Abendbrot einzunehmen, traf ich auf eine johlende Menge, im Begriff, das Fischrestaurant abzufackeln. Am nächsten Morgen flog die Polizeistation in die Luft. Es schien dringend an der Zeit dieses Paradies zu verlassen, wandelte es sich doch vor meinen Augen in eine echte Hölle. Ich ließ mich zum Flughafen bringen und erstand ein Ticket nach Peschawar. Ich verließ die Insel noch in derselben Nacht. Nicht dass es zu der Zeit in Peschawar friedlicher zugegangen wäre. Im Gegenteil. Gleich nebenan, in Afghanistan, kämpfte die Rote Armee gegen Afghanische Freiheitskämpfer. Dafür floss aber Heroin in den Straßen Peshawars billiger und reichhaltiger als anderswo...

*

145

Zurück im Paradies Zwei Jahre waren vergangen, seitdem ich die Insel verlassen hatte und noch stets wütete Bürgerkrieg im Paradies. Aber man hatte mir versichert, die Kampfhandlungen fänden mehr im Norden des Landes statt. Im Süden der Insel, so sagte man, sei ich verhältnismäßig sicher. Also mietete ich, wie auch damals, ein Motorrad und knatterte damit Galle Road, die Küstenstraße, entlang in Richtung Süden. Während der Fahrt waren Meer, weiße Strände, Steilküsten und Palmen auf der einen Seite und Dschungel, kleine Dörfer und rauchende Kohlenmeiler auf der anderen. Kleine, vom Rauch geschwärzte Kerle sprangen auf den Meilern umher und öffneten oder verstopften, um die Luftzufuhr zu regeln, hier oder da eine Öffnung. Viele eigensinnige Verkehrsteilnehmer gab es auf dieser Strecke. Je größer ihr Fahrzeug, desto dreister ihr Fahrstil. Viele extrem gammelige und Wolken stinkenden Dieselrauchs speiende Lastautos traf man unterwegs. Und das bei Linksverkehr, wie in England! Kleine Ortschaften und vereinzelt stehende Häuser standen so nahe an der Fahrbahn, dass die Fußabstreifer vor den Türen, auf der Fahrbahn lagen! Tropennächte fielen wie Vorhänge. Gerade war es noch taghell, patsch, im nächsten Moment war es stockfinster. Straßenbeleuchtung, kannte man keine in diesem Land und die Lampe meines Motorrads funktionierte nicht. Fuhr ich über eine holprige Erhöhung, flackerte sie nur kurz auf und erlosch gleich wieder. Sie taugte allenfalls zur zweifelhaften Positionslampe. Dazu Mönche! Kahl geschorene, in orangene Gewänder gehüllte, Sandalen tragende Wahnsinnige mit Regenschirm. Sie genasen den Schutz Buddhas und der Bevölkerung, der ihnen eine Art Idiotenimmunität verlieh, wodurch sie bei Tage und bei schwärzester Tropennacht ohne jedes Licht völlig unbesorgt mitten

146

auf der Fahrbahn wandelten. Wehe, man fuhr einen dieser selig Verrückten über den Haufen! Rammte man einen, die aufgebrachte Bevölkerung risse einen in Stücke! Und dazu noch Elefanten! Große, breitärschige Ungeheuer, die Tag und Nacht, träge die Rüssel schwenkend, seelenruhig mitten auf der Fahrbahn schlenderten. Man fahre doch einem dieser Kolosse mit einer 750er Suzuki und hundertfünfzig Kilometern pro Stunde bei Nacht von hinten zwischen die Beine...! Nach vier Stunden anstrengender und sehr vorsichtiger Fahrt, kam ich in dem kleinen, malerischen Fischerort Hikkadua an. Die erste Nacht verbrachte ich, wie schon während meines ersten Aufenthaltes, im Sea Side Hotel. Tags darauf ging ich los um eine dauerhafte Bleibe zu finden. Ich sprach eine junge Frau an, die am Rande der Hauptstraße einen Bananenstand unterhielt. Aufgeweckt erzählte sie, sie wisse einige Gästezimmer. „Ein Stück hinter dem Dorf im Wald wohnt ein pensionierter Schuldirektor. Der hat in seinem großen Haus immer Gästezimmer frei. Der Weg dorthin führt über die alte Bahnstrecke durch den Dschungel. Gehe immer nur gerade aus, folge einfach dem Pfad und du stößt ganz von alleine auf sein Haus”… Es war ein schmaler Pfad der sich streckenweise durch überhängende Vegetation in einen grünen Tunnel verwandelte. Links des Wegs wurden zwei schiefe, augenscheinlich baufällige Häuser sichtbar. Einige nackte Kinder planschten davor in einem grünlichen Wasserlauf. Auf einer Lichtung sägten zwei Männer Bretter aus einem mächtigen Baumstamm. Der Stamm lag auf einem hölzernen Gerüst, unter dem eine Grube ausgehoben worden war. Einer der Männer stand oben auf dem Gerüst breitbeinig über dem Stamm, der andere in der Grube darunter. Beide hielten das Ende einer ungewöhnlich langen Säge in

147

Händen. Ihre Oberkörper glänzten von Schweiß, während einer die Säge zu sich hinab in die Grube zog und der andere auf dem Gerüst sie zu sich nach oben zerrte. Dabei fraßen die Zähne der Säge sich langsam aber beständig den langen Stamm entlang … Der Pfad weitete sich und eine Gabelung wurde sichtbar. Immer nur geradeaus, hatte die Bananenfrau gesagt. Immer nur geradeaus. Eine Gabelung, erwähnte sie dabei keine. Der linke Pfad der Gabelung schien schmäler als der rechte und weniger ausgetreten. Ich entschied mich deshalb für den rechten. Hoch über mir zog ein Schwarm Fledermäuse hinweg, ihre Zahl so groß, sie verdunkelten für einige Augenblicke die Sonne. Beiderseits des Pfades stand, schillernd in allen Grüntönen und abweisend wie eine Wand, die undurchdringliche Vegetation des Urwaldes. Dort standen Bäume, dick wie Arme oder Beine erwachsener Menschen, keine zehn Zentimeter nebeneinander. Wollte man mit einem Hackmesser hindurch, man hätte keine Chance. Man bräuchte Dynamit. Auf einer Lichtung im Sonnenschein, erglänzte schließlich ein weißes, in englischem Kolonialstil erbautes Haus. Es war das Haus des pensionierten Schuldirektors… Der pensionierte Schuldirektor, ein kleiner, auffallend magerer Mann mit einigen schlohweißen Haaren auf seiner braun gebrannten Kopfhaut, hieß Hakadiwala. Schneeweiße Tropenkleidung hing an dem mageren Mann wie an einem drahtenen Kleiderbügel. Sein Gesicht war faltig und ledern und erinnerte sehr an Dörrobst. Ich erschrak, als ich ihm die Hand gab. Wie ein Kondom voll Vogelgerippe, fühlte die seine sich an. Man befürchtete, sie zerfiele unter schon geringem Druck einer jungen gesunden Männerhand zu Staub…

148

Hakadiwala war wie ein Geist, der sich immer erst dann materialisierte, wenn er lächelte. Lächelte Hakadiwala, blitzten einhundertfünfzig schneeweiße falsche Zähne in seinem dunklen, vertrockneten Altmännergesicht. Dadurch bemerkte man ihn. Lächelte er nicht, schwebte er als amorphes Weiß dahin wie eine Nebelsträhne… Hakadiwala führte mich durchs Haus und zeigte mir die Räumlichkeiten. Das Gästezimmer, ein einfaches Zimmer, der Boden von Stein, an den Wänden pastellfarbene Tücher mit indischen Mustern, lag in einem Nebenflügel. In der Mitte des Raumes, etwa einen Meter voneinander, standen zwei Betten und jeweils daneben ein altertümliches Nachtkästchen mit grüner Marmoroberfläche. Eine schmale Flügeltür führte vom Gästezimmer in einen Garten voll Kokospalmen. Hakadiwala winkte einen Diener herbei, ein kleiner, drahtiger Mann, barfuß und in Lendenschurz. Auf Befehl Hakadiwalas klemmte der Diener ein Hackmesser zwischen seine Zähne, krallte die nackten Füße um den Stamm einer Kokospalme und kletterte geschwind wie ein Äffchen daran empor. Oben angekommen, schlug er mit dem Hackmesser eine Kokosnuss aus der Palmenkrone, groß wie ein chinesischer Lampion. Mit dumpfem Schlage, fiel die Nuss neben mir zu Boden. Geschwinder noch als er empor geklommen, sauste der Akrobat von der Palme wieder herab. Er nahm die goldgelbe Kokosnuss vom Boden, schlug mit wohl gezieltem Hiebe seines Hackmessers den oberen Teil davon hinweg und reichte mir die geöffnete Frucht zum Getränk. „King Kokonut“, erklärte er dabei nicht ohne Stolz. „King Kokonut“, und seine Augen blitzten vom Wissen um die vielen Qualität dieser Frucht. Die Kokosmilch schmeckte wie die Essenz aller Kokosnüsse dieser Welt. Man müsste versuchen, Heroin in Kokosmilch zu lösen und intravenös zu injizieren. Dabei schmeckte man Kokosaroma noch in den Bronchien. Das fühlte sich gewiss gut an

149

und wäre sicher auch gesund. Der Diener Hakadiwalas nahm die leer getrunkene Nuss aus meiner Hand und hieb mit dem Hackmesser eine ovale Scheibe von ihrer Schale. Danach reichte er mir Nuss und ovale Scheibe und bedeutete mir, das Scheibchen als Löffel zu verwenden um damit das Kokosfleisch aus der Nuss zu schaben. Das Kokosfleisch war weich und zart, schmeckte süß und so intensiv nach Kokos, man errötete dabei vor Scham, dachte man an die ausgetrockneten, braunen und haarigen „Elefanteneier“, die einem in europäischen Geschäften als Kokosnüsse angedreht wurden... Vier Rupies pro Nacht, rund 25 Pfennige, kostete Hakadiwalas Gästezimmer. Gegen Abend spazierte ich nochmals ins Dorf. Bevor ich aufbrach, fragte ich den Gastherrn, ob man sich im Urwald vor Skorpionen in Acht zu nehmen hatte. Hakadiwalas Gesicht legte sich in Lachfalten. Er winkte lachend ab und versicherte aufrechten Blicks, über fünfzig Jahre lebe er schon in diesem Hause mitten im Urwald, aber einen Skorpion habe er während all dieser Zeit noch nie zu Gesicht bekommen. (Diese europäischen Touristen aber auch immer, mit ihren irrationalen Ängsten...!) Keine Skorpione also. Beruhigt, machte ich mich auf den Weg ins Dorf... Als ich bei den schiefen baufälligen Häusern vorüber kam, mit den nackten Kindern, planschend im grünlichen Wasserlauf, kroch links des Weges ein kohlrabenschwarzer Skorpion von sicher fünfunddreißig Zentimeter Länge aus dem Dickicht. Wie ein Betrunkener, torkelte er schwergewichtig direkt vor meinen Füßen über den Pfad. Dabei zog er, im trocknen Laube raschelnd, seinen Schwanz hinter sich her, mit einem Giftstachel daran, länger als ein Streichholz und einer Giftblase, größer als ein Taubenei. Jetzt sahen ihn auch die Kinder. Kreischend vor Vergnügen, rannten sie herbei und trampelten das Scheusal vor

150

meinen entsetzten Augen mit ihren nackten bloßen Füßen zu Tode. Hinterher rissen sie dem breitgetretenen Scheusal den Stachel samt Giftblase vom Schwanz und stritten sich lautstark darüber, wer die Trophäe behalten durfte. Als sie lärmend wieder davonzogen, blickte ich verstört auf das plattgetretene und verstümmelte Ungeheuer. Damit es dem armen Mann wenigstens ein Mal im Leben gegönnt sei, einen Skorpion zu sehen, fühlte ich mich für einige Augenblicke versucht, das Scheusal mit zu nehmen um es Hakadiwala in den Schoss zu werfen oder an seine Haustür zu nageln. Aber schon die Vorstellung, dazu müsse ich diesen breitgetretenen Albtraum vom Boden schälen und einsacken, ließ mich davon absehen. Ich verbrachte noch eine Stunde am Strand und besuchte hinterher die drei Apotheken des Ortes. Ich lief von einer zur anderen und überall war es dasselbe. Keiner an diesem Orte hatte mich nach den Jahren meiner Abwesenheit wieder erkannt. Meine Apotheker dagegen, sprangen sofort aus ihrer entspannten Haltung hoch, als sie mich eintreten sahen. Vermutlich hatten sie die vergangenen Jahre kniend vor ihren kleinen Buddhaschreinen verbracht, Räucherstäbchen verbrannt und gebetet, Buddha möge mich wieder zu ihnen senden. Jetzt, da ich zurück war und wieder Morphinampullen kaufte, konnten die Kinder wieder zur Schule, das lecke Dach konnte endlich repariert werden und vielleicht reichte es gar für Opas falsche Zähne, damit man nicht mehr alles für ihn vorkauen musste. Ob ich Morphin wolle, fragten die Schelme. „Jajaja!“, rief ich und um allen eine Freude zu bereiten, kaufte ich von jedem gleich fünfzig Ampullen... Als es spät geworden war, ging ich zum Sea Side Hotel um meine Sachen zu holen. Das Motorrad ließ ich vorerst dort. Es stand gut und sicher in einer kleinen Garage neben dem Auto des Hotelbesitzers. Die

151

Nacht war kohlrabenschwarz, als ich den schmalen Urwaldpfad betrat. Ich sah buchstäblich die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht mehr. Nur dort, wo der Mond ein wenig durchs Blätterwerk schimmerte, erkannte man den Weg. Gerade dachte ich, jetzt fehlte nur noch, dass dir vom Blätterdach her einer dieser Riesenskorpione in den Kragen fällt, da stolperte ich mitten auf dem Wege über einen Gegenstand. Erst dachte ich, es sei vielleicht ein besonders schwerer Fußball. Doch dann bewegte der Fußball sich und ich erkannte, es handelte sich um eine Schildkröte. Ich nahm das Tier auf um es auf der anderen Seite des Weges abzusetzen. Als ich es anhob, begann das Biest so bösartig zu fauchen und stank plötzlich so entsetzlich, dass ich es erschrocken wieder fallen ließ. Hatten Schildkröten Stinkdrüsen oder litt dieses Exemplar an einer besonders bösartigen Erkrankung? Und, seit wann fauchten Schildkröten eigentlich? Über die Biologie von Schildkröten nachgrübelnd, kam ich an eine Stelle an der das Mondlicht durchs Blätterwerk schimmerte. Plötzlich schien mir als bewege der Pfad sich vor meinen Füßen. Ich sah genauer hin und prallte zurück. Eine Schlange, dick wie ich selbst und sicher doppelt so lang, kroch träge vor mir über den Weg. Wo Mondlicht auf den windenden Schlangenleib traf, irisierten seine Schuppen in metallischen Farben. Wollte ich weiter, müsste ich über diesen Lindwurm steigen, doch das wagte ich nicht. Stattdessen wartete ich eine halbe Ewigkeit bis das Ende des monströsen Wurms in Sicht und schließlich auf der anderen Seite des Weges im dichten Unterholz verschwunden war. Endlich kamen die Lichter von Hakadiwalas Haus in Sicht. Erleichtert, eilte ich auf die Haustür zu. Insekten, groß wie Hühnereier, umkreisten lärmend die elektrische Beleuchtung über dem Hauseingang. Der Diener Hakadiwalas öffnete

152

die Tür. Im Empfangsraum des Hauses sprangen Geckos durchs Dachgebälk, kleine eidechsenartige Akrobaten mit scheinbar klebrigen Füssen, die problemlos und ohne zu fallen an den Wänden hoch und sogar die Decken entlang liefen. Blitzschnell sprangen sie aus den Winkeln des Gebälks und schnappten nach Insekten, doppelt so groß wie sie selbst. Ich grüßte den Hausherrn und wollte mich sogleich in mein Zimmer begeben. Doch der alte lederne Hakadiwala heftete sich an mich und blieb mir hartnäckig auf den Fersen. Er ließ selbst dann nicht von mir ab, als ich schon im Bett lag und gerne noch in Ruhe eine Gutenachtinjektion bereitet hätte. Hakadiwala stellte sich neben mein Bett und begann Schauergeschichten von Dieben zu erzählen, von bösen Buben aus den Dörfern, die vor nichts zurückschreckten und mit langen Stangen, Haken an den Enden, mucksmäuschenstill das Gepäck ahnungslos schlafender Touristen durch offen stehende Fenster angelten. Hakadiwalas Diebesgeschichten nahmen kein Ende. Sie wurden immer ausgebreiteter, dreister, waghalsiger. Schließlich wurde mir mulmig zumute. Hakadiwalas Schauergeschichten, kombiniert mit seinem Aussehen und die Aussicht mit ihm die ganze Nacht in einem Haus mitten im Urwald zu verbringen, beunruhigten mich. Auch gewann ich zunehmend den Eindruck, der alte gewitzte Hakadiwala erzählte mir all die vielen Diebesgeschichten nur, um mich darauf vorzubereiten dass am nächsten Morgen mein Gepäck verschwunden sein würde. Tatsächlich hätte aber er, der alte gewiefte Hakadiwala, es selbst geklaut! Ich stand auf und drängte das leichtgewichtig ausgetrocknete Gestell Hakadiwalas zur Tür hinaus. Rasch, verabreichte ich mir eine Morphininjektion. Danach nahm ich meine beiden Reisetaschen, packte alles von Wert, wie Papiere, Geld, Fotoapparatur, Medizin und Zubehör, in eine Tasche und füllte die andere mit zerknülltem Zeitungspapier. Als Indikator für Hakadiwalas Charakter, schob ich eine Brieftasche mit zwei zehn US$ Scheinen

153

zwischen dazwischen. Dann suchte ich Hakadiwala auf und erklärte, ich hätte im Sea Side Hotel etwas sehr Wichtiges liegen lassen. Etwas, das keinen Aufschub duldete. Etwas, das ich noch diese Nacht und sogar noch gleich auf der Stelle holen musste. Hakadiwala legte einen Finger an sein Kinn und überlegte. Schließlich meinte er, „Sicher sehr wichtige Medizin“? „Ja“, bestätigte ich. „Verteufelt wichtige Medizin sogar“. Ich drückte Hakadiwala die Reisetasche voll zerknülltem Zeitungspapier in die Hand, „In dieser Tasche befinden sich alle meine Wertsachen. Ich vertraue sie ihnen an. Geben sie bitte gut darauf Acht. Ich bin nicht lange weg und gleich wieder zurück“. Danach klemmte ich die Reisetasche mit meiner eigentlichen Habe unter den Arm und verließ Hakadiwalas Haus. Ich tastete mich den Pfad entlang zum Dorf zurück und übernachtete dort im Sea Side Hotel. Am nächsten Morgen ging ich zu Hakadiwalas Haus, um meine Tasche zu holen. Die zwei zehn US$ Scheine, die ich in die Reisetasche gesteckt hatte, waren weg. Du magst sie behalten, Hakadiwala, alter lederner Schurke. Zwanzig US$ war ein geringer Preis für das rasche Bloßlegen deines Charakters… Ich besuchte die junge Bananenverkäuferin an ihrem Stand an der Hauptstraße und erzählte, in Hakadiwalas Haus gäbe es zu viele Skorpione und fragte, ob sie nicht eine andere Bleibe wisse? „Aber ja“, antwortete die junge Bananenfrau aufgeweckt. „Eine Beamtenwitwe. Selber Pfad wie zu Hakadiwalas Haus, aber dann an der Gabelung nicht rechts, sondern links ab“. Merkwürdige Frau, diese Bananenverkäuferin, dachte ich bei mir. Diesmal erinnerte sie sich plötzlich an eine Weggabelung… Das Haus der Beamtenwitwe war ebenfalls ein weißes, in englischem Kolonialstil erbautes Haus. Anstatt aber nur Garten hinten, wie bei

154

Hakadiwala, gab es hier auch einen Garten vor dem Haus. Der vordere Garten mit sattgrünen englischen Rasen, war von einem Lattenzaun umgeben, der erst kürzlich mit grell-weißer Farbe gestrichen worden war. Als ich durch das Gartentürchen trat, fiel mein Blick auf ein Grab. Ein Grab im Garten? Und wie es aussah! So sahen Gräber für gewöhnlich ja nicht aus. Es war mit denselben weißen Fliesen gekachelt, wie bei uns zuhause die Badezimmer. Dort lag, wie ich später erfuhr, der Witwe verblichener Gatte, der auf dem Nachhauseweg am unbeschrankten Bahnübergang den herannahenden Zug übersehen hatte. Ob davon noch was im Grab liegt, überlegte ich? Und so ja, was und wie viel davon? Und wie übersah man eigentlich einen alten, in Schrittgeschwindigkeit fahrenden Zug? Die Beamtenwitwe war die weibliche Ausgabe Hakadiwalas, ebenso alt, ebenso mager, ebenso braun und ebenso faltig. Der gibst du besser nicht die Hand, dachte ich weise und hob zum Gruße nur den kleinen Finger. Die Frau war Mutter dreier Kinder, die alle bei ihr im Hause wohnten. Das älteste Kind war eine Tochter von einundzwanzig Jahren. Sie hieß Amely. Als ich Amely zum ersten Mal sah, zogen sich meine Hoden zusammen. Das sollte danach nie wieder geschehen. Amely studierte Altgriechisch, Hebräisch und Latein im nahe gelegenen Gall. Sehr klug sah sie aus, mit ihrer randlosen Brille auf ihrer feinen spitzen Nase. Es dauerte nicht lange und ich wagte in Amelys Anwesenheit kein Wort mehr zu sprechen. Kaum machte ich den Mund auf, schon lächelte Amely und sah mich an als wolle sie sagen, „Meine Güte! Was bist du doch dämlich! Und wie du sprichst! Wie ein Tier. Typisch Mann. Zu viel Hoden, kein Gehirn“! Die beiden anderen Kinder, zwei sympathische Jungs, einer siebzehn, der andere achtzehn, betrieben an Gall Road eine Snackbar, in der ich einige Tage später meine erste

155

wirklich gefährliche Lebensmittelvergiftung bekommen sollte. (Der Milkshake…) Das Gästezimmer der Witwe kostete fünf Rupies. Im Zimmer nebenan war ein junges Paar aus England einquartiert. Er hieß Ralf, sie Linda. Ralf litt an Gelbsucht höchster Qualität. Er war gelb wie eine Zitrone. Woher die Gelbsucht? „Vom elenden Brunnen im Garten hinter dem Haus“, greinte Ralf, so man ihn fragte. „Gehe hin, schöpfe ein Glas voll Wasser aus dem Brunnen und sehe selbst. Es wimmelt darin nur so von Keimen“. Der alte Ziehbrunnen hinter dem Haus sah aus wie die Abbildung eines Brunnens aus einem Märchenbuch, rund und aus roten, grün bemoosten Backsteinen gebaut. Daneben stand ein Blecheimer mit Tau. Ich ließ den Eimer in die schattige Tiefe des Brunnens scheppern und zog ihn wohl gefüllt wieder hervor. Ich füllte etwas Wasser in ein Glas und hielt es gegen das Sonnenlicht. Ralf hatte Recht. In diesem Glas befand sich fast mehr Leben als Wasser. Darin schwamm gewiss auch Ralfs Gelbsucht. Ich nahm mir vor, nur noch abgekochtes Wasser zu trinken… Eines Tages ergriff die Witwe meine Hand, schnatterte wild erregt in ihrer Sprache, gestikulierte zur Rückseite des Hauses hin und zerrte mich in den Garten. Dort angekommen, entstand wildes Geschrei in den Kronen der Palmen und der Obstbäume. Äste, Früchte und Kokosnüsse fielen herab und prasselten zu Boden. Kreischend floh eine Affenherde aus dem Garten und verschwand zeternd und schimpfend im dichten Urwald. Hinterher erklärte ein Sohn der Witwe, die Affen hatten noch nie einen hellhäutigen Menschen zu Gesicht bekommen. Als sie mich sahen, flohen sie vor Schreck. Auf diese Weise rettete ich an diesem Tage die Früchte im Garten der Witwe...

156

Eines Abends lief ich mit offenem Hemd durch den Garten. Ein kleines Christenkreuz von Gold, hing gut sichtbar an einem Kettchen um meinen Hals. Das Kreuzchen erregte die Aufmerksamkeit der Witwe. Mit ausgestreckten Armen, die Finger krümmend und streckend, kam sie auf mich zugeeilt. Erschrocken, wich ich zurück, doch sie kam unbeirrt weiter auf mich zu, die Arme ausgestreckt, die Hände wie Klauen öffnend und schließend. Schließlich erschien ihr Sohn, hielt sie zurück, beruhigte sie und führte sie, tief betrübt und mit gesenktem Haupt, ins Haus. Hinterher erklärte er, seine Mutter wollte mein goldenes Kreuzchen. Nicht etwa des Goldes wegen, sondern als eine Art zusätzlicher Versicherung im Falle ihres Ablebens. Auch war man noch so buddhistisch, es konnte nie schaden, holte man sich anderweitig ein wenig Rückversicherung. Beim Begleichen der nächsten wöchentlichen Rechnung legte ich das Halskettchen samt goldenem Kreuzchen als Geschenk oben auf die Rupiescheine… Die Toilette der Familie befand sich unweit des Brunnens. Es war ein leidlich aus Brettern zusammen genagelter Verschlag von etwa der Größe einer Telefonzelle. Eine Toilettenschüssel im eigentlichen Sinne gab es keine. Wollte man seine Angelegenheiten verrichten, musste man sich breitbeinig über ein Keramikteil stellen, das ebenerdig im Boden eingelassen war. Wie man mir erzählte, handelte es sich dabei um eine französische Konstruktion. War die Sache glücklich ins Keramikteil gezielt, lief man mit einem Blecheimer zum Brunnen um Wasser zu schöpfen. Damit eilte man zurück zur Toilette und schwemmte mit schwunghaft ausgeführtem Gusse die Sache aus dem Keramikteil in die Kanalisation. So jedenfalls die Theorie. Doch gelegentlich erwies sich das Objekt im Keramikteil als zu groß und zu schwer und blieb trotz kunstvoll ausgeführter Wassergüsse störrisch im liegen. Einen Eimer Wasser nach dem anderen schleppte ich herbei und

157

goss ihn mit kraftvollem Schwung in das Keramikteil. Vergebens. Das Objekt blieb unbewegt. Schließlich versuchte ich es mit einem Stock. Doch wie ich auch manövrierte, der Mist wollte nicht durch die enge Röhre. Entweder, die Toilettenröhren dieses Landes waren grundsätzlich zu eng bemessen, oder Europäer schissen einfach gewaltiger. Sicher zehn Mal, war ich schon mit dem Blecheimer von der Toilette zum Brunnen gerannt und wieder zurück. Alles umsonst. Inzwischen hatten sich die gesamte Familie und einige Nachbarn im Garten eingefunden. Sie standen in respektvoller Entfernung beieinander, sahen meinen Bemühungen zu und kommentierten sie mit großem Interesse. Sie steckten die Köpfe zusammen und schnatterten, als erläuterten sie einander den Sinn meines Unternehmens. Schließlich war es mir zu viel geworden. Wütend, trat ich gegen die Toilettentür dass sie in den Scharnieren krachte. Scheppernd warf ich den Blecheimer in den Toilettenverschlag und stapfte zornig ins Haus. Die Versammlung im Garten sah verängstigt hinter mir drein. Eine halbe Stunde später wurde ich neugierig. Ich ging zur Toilette um nachzusehen, was aus der Geschichte geworden war und siehe da, das Keramikteil im Toilettenverschlag war leer. Ich kratzte mich am Hinterkopf und überlegte. Was war geschehen? Ich kam zu dem Schluss, sie hatten meine schwere Geburt voller Bewunderung aus dem Keramikteil gehoben und unter ehrfürchtigem Gemurmel einheimischer Bannsprüche tief im Garten vergraben... Mike war Amerikaner aus der Motorstadt Detroit. Wir lernten uns am Strand kennen. Er hatte Burma durchreist und von diesem Abenteuer einige Kilogramm Heroin mitgebracht. Da er es billiger verkaufte als meine Apotheker ihr Morphin oder die jugendlichen Importeure ihr Opium, vernachlässigte ich von diesem Tage an beide und verwendete nur noch Mikes Heroin. Bis Mike eines Tages plötzlich verschwunden

158

war. Über Umwege erfuhr ich, die Polizei des Ortes hatte sein Heroin geraubt (…solchen Raub nennt man weltweit Beschlagnahmung…) und ihn mit dem nächsten Flugzeug außer Landes geschafft. Wenige Tage nach Mikes Verschwinden fragte ein dickbäuchiger Einheimischer, ob ich am Kauf von Heroin interessiert sei. Er beschrieb sein Haus und lud mich ein, ihn zu besuchen. Erkundigungen ergaben, bei diesem Mann handelte es sich um einen Polizisten des Ortes. Gegen Abend besuchte ich den Kerl… Der Dorfpolizist saß zusammen mit einem etwas geistig behinderten Kollegen in einer dunklen, rauchigen Stube. Auf dem Tisch brannte eine rußende Petroleumlampe, deren Schein über die Gesichter der Anwesenden flackerte. „Lass sehen was du anzubieten hast“, sagte ich. Der Dorfpolizist verschwand in einem Nebenzimmer und kam wenige Augenblicke später mit einer Papiertüte wieder. Ich besah mir das Zeug. Es war Heroinbase und zwar dieselbe Base, die ich noch vor einigen Tagen von Mike gekauft hatte. Sieh an, dachte ich, hatten die Strolche doch glatt Mikes Heroin beschlagnahmt um es selbst unter die Leute zu bringen. Der Dorfpolizist besaß keine Waage. „Ich kenne mich aus mit den Mengen“, sagte ich und holte ein leeres, gläsernes Tablettenröhrchen aus der Tasche. Ich malte mit Filzstift einen Strich darauf und erklärte, „Füllst du dieses Röhrchen bis zu diesem Strich, sind es genau zwei Gramm“. Tatsächlich waren es eher fünf Gramm, aber der Dorfschupo ließ sich darauf ein. Von diesem Tage an kaufte ich vom Dorfpolizisten fünf Gramm Heroinbase für den Preis von zweien und weil er auch hinsichtlich der gängigen Preise im Dunkeln tappte, erwarb ich fortan rund fünf Gramm für nur fünf US$. Wie der Zufall es wollte, sollte ich Mike wenige Wochen später in Malaysien wieder begegnen. Dabei würde ich erfahren, auf der Insel

159

hatte man ihm nur dreihundert Gramm abgenommen. Er war aber gerissen genug gewesen, sich mit seinem restlichen Heroin im Gepäck, fast zwei Kilogramm, abschieben zu lassen. Dass er damit in Malaysien einreiste, in ein Land, in dem auf den Besitz von Heroin die Todesstrafe stand, zeugte von einem verwegenen Unternehmungsgeist... Das Land unter der Tropensonne war ungewöhnlich fruchtbar. Spukte man auch nur auf den Boden, man konnte daneben stehen und zusehen, wie sich Keime aus der Erde drehten. Alles, gedieh in diesem Lande gut. Leider auch Infektionskrankheiten. Ralf war noch stets gelb wie eine Grapefruit und damit sei gemeint, so richtig GELB! „Lass uns doch in die Hauptstadt fahren“, nervte seine Freundin Linda ununterbrochen. „Dort gibt es europäische Ärzte mit moderner Medizin, die dir sicher helfen“. Doch Ralf wollte von europäischen Ärzten und moderner Medizin nichts wissen. Der hatte in der benachbarten Stadt Galle einen einheimischen Medizinmann aufgestöbert, dem er all sein Vertrauen schenkte. Sechs große bauchige Flaschen empfing Ralf von diesem Medizinmann, gefüllt mit farbigen Flüssigkeiten. Kräuterextrakte, wie der Mann versicherte. Sehr übel riechende Kräuterextrakte, wie ich fand. Unter Lindas abwertenden Blicken, sie hielt nicht viel von einheimischer Medizin, hielt Ralf sich strikt an die empfangenen Vorschriften und nahm das Zeug in festen Intervallen und in vorgeschriebenen Mengen zu sich. Doch während Linda noch über die farbigen Kräuterextrakte lästerte, wandelte Ralfs Gesicht sich zunehmend von Gelb zu einem frischen Rosarot. Schließlich dauerte es keine sechs Wochen und Ralf hatte seine Gelbsucht mithilfe der natürlichen Arznei des einheimischen Medizinmannes überwunden… Kaum wieder frisch und gesund genug, fuhr Ralf mit mir in die Hauptstadt zum Duty free Shop, dem steuerfreien Laden des Landes.

160

Einheimischen war der steuerfreie Einkauf untersagt. Das war nur Ausländern gestattet, die ihre erworbenen Waren aber außer Landes bringen mussten. Erwarb ein Ausländer im Duty free Shop beispielsweise eine Waschmaschine oder einen Farbfernseher, drückte der Verkäufer einen entsprechenden Stempel an den Rand einer Seite seines Reisepasses. Hatte man bei der Ausreise die erworbenen Artikel nicht bei sich, musste man sie nachträglich versteuern. Aus diesem System zogen Ausländer wie Einheimische Vorteile. Vor dem Geschäft standen täglich Scharen Einheimischer und versuchten, Ausländer zum Kauf begehrter Waren zu bewegen. Nicht wenige ließen sich gegen redliche Bezahlung darauf ein. In einem Lande, in dem Strom nur zwischen zwanzig Uhr und ein Uhr Nachts zur Verfügung stand und kein Fernsehsender existierte, der auch nur ein Testbild ausstrahlte, von Farbfernsehprogrammen gar nicht zu sprechen, schleppten Ralf und ich zahlreiche Waschmaschinen und Farbfernsehgeräte aus dem Laden, aber auch Sinnvolles, wie etwa Stromaggregate, und überreichten sie den strahlenden neuen Besitzern. Schließlich kam es so weit, dass die Verkäufer des Duty free Shops unsere Gesichter kannten und sich erinnerten, wir hatten schon so viel gekauft dass unmöglich alles für uns selbst gedacht sein konnte. Am Ende weigerten sie sich, uns auch nur noch einen Lolly zu verkaufen. Doch die Tour hatte uns bereits redlich Geld geliefert. Dreckige Dollar- und Rupiescheine quollen aus allen unseren Taschen. Dafür hatte aber auch jeder die Seitenränder seines Reisepass voller Stempel. Doch dagegen wussten wir eine Lösung... Wieder zurück im Fischerdorf, saßen wir auf der Terrasse der Witwe und entfernten beim Geschrei von Affen und tropischer Vögel die Duty free Shop Stempel aus unseren Reisepässen. Wir nahmen feine Pinsel,

161

tauchten sie in Bremsflüssigkeit, wie man sie in Bremsen von Kraftfahrzeugen verwendete, und fuhren damit vorsichtig entlang den Konturen der Stempel. Dadurch verschwanden sie, wie von Feenhauch hinweg geweht. Man durfte nur nicht zuviel Bremsflüssigkeit auftragen, da sonst auch die Farbe des Papiers unter den Stempeln verblich. Während wir im Mondenschein und beim Lichte zischender Benzinlampen saßen und künstlerische Arbeit verrichteten, kam uns eine Idee… Wir vereinbarten, ich versuchte es als erster. Hätte ich Erfolg, wollte auch Ralf es versuchen. Ich erwarb in der Hauptstadt versicherte Reiseschecks im Wert von zwölftausend US$. Da Banken einen am laufenden Band betrogen und von ihrem Betrug noch gut existierten obendrein, hatte ich keinerlei Bedenken, sie ihrerseits zu betrügen. Aber zuerst betrogen sie nochmals mich. Um meine Deutschen Mark in US$ zu wechseln, musste ich nämlich erst Rupies kaufen und die dann in US$ wechseln. Bei den gängigen Wechselkursen verlor ich dabei nicht wenig. Doch das sollte sich wieder ausgleichen, sobald mein Plan sich verwirklichte. Was ich vorhatte, nannte man Scheckbetrug. Dafür wurde man am Ende von der Polizei gesucht. Da die Polizei mich ohnehin schon suchte, und bislang ohne Erfolg, machte ich mir darüber keine Gedanken… Im Nachhinein weiß ich, es war unklug, in diesem Restaurant Fisch zu essen. Während ich aß, warf ich der Hauskatze ein Stück des Fisches zu. Sie roch kurz daran und wandte sich gleich wieder ab. Sie war klüger als ich. Tags darauf hatte ich die erste ernsthafte Fischvergiftung meines Lebens. Die nächsten drei Tage verbrachte ich mit Fieberhalluzinationen wie im Traum. Als ich schließlich wieder halbwegs hergestellt war, ging ich zu dem Restaurant und konfrontierte

162

die Besitzer, vier Brüder, sie hatten mir verdorbenen Fisch serviert. Sie leugneten alles. Sie hatten noch nie vergammelten Fisch angeboten, beteuerten sie und mehr noch, ich sei schon seit Wochen nicht mehr in ihrem Restaurant gewesen. Weil sie so enorm logen, machte ich sie in Gedanken zum Bestandteil meines Planes. Sie durften mir dabei helfen, ihn zu verwirklichen… Zwei Wochen später betrat ich das Restaurant der vier Brüder. Ich setzte mich an einen leeren Tisch und bestellte Früchtesalat und ein Glas Kokosnusscocktail. Das Restaurant war gut besucht an diesem Abend. An den Tischen saßen Touristengruppen aus aller Welt. Sie schnatterten erregt miteinander, tranken und aßen und riskierten dabei ohne es zu ahnen lebensgefährliche Fischvergiftungen. Nach einer Weile ging ich zur Außentoilette, einem überdachten, übel riechenden Verschlag voll winziger, russschwarzer Ameisen, die angriffen, sobald man die Hose herabließ. Ihre Bisse waren so schmerzhaft, brannten so höllisch, dass man geschwind wieder in die Hosen kam und die Toilette verließ. Von der Toilette zurückgekehrt, stand ich kurz, für jedermann gut sichtbar, ratlos an meinem Tisch und rannte anschließend, sichtlich erschrocken, erneut in die Richtung der Toilette. Anstatt zur Toilette, verschwand ich durch eine offene Seitenwand und ging zum Strand… Der samtschwarze Sternenhimmel sah so bezaubernd aus, er nahm einem den Atem. Einzelne Sterne wirkten wie zum greifen nahe. Das Kreuz des Südens funkelte in all seiner Pracht. Ich setzte mich in den Sand, nahm einen Beutel voll Marihuana aus meiner Tasche und drehte eine Zigarette. Während ich saß und rauchte, bemerkte ich eine große runde Gestalt, die in einiger Entfernung aus dem Meer zu kommen schien. Gleich daneben erschien eine weitere und noch eine und noch eine. Bald fand ich mich von großen runden Gestalten umringt.

163

Plötzlich kam eine direkt vor mir aus dem Meer und auf mich zu. Es waren Meeresschildkröten, Kolosse der Weltmeere, die diesen Strand schon seit Urzeiten zum Ablegen ihrer Eier aufsuchen mochten. Die Schildkröte arbeitete sich durch den Sand, sichtlich nicht ihr Element, und schob ihren schweren Leib dabei so nahe an mir vorüber, dass ich sie berühren konnte. Sie verströmte den salzigen, organischen Geruch der Meere. Meine Anwesenheit schien die Schildkröten in keiner Weise zu stören. Sie beachteten mich nicht. Unbeeinflusst von meiner Anwesenheit schoben sie ihre schweren Leiber weiter den Strand hoch als wollten sie mir vermitteln, „Du magst sein wer immer du sein magst und du wirst uns verzeihen dass wir dich ignorieren, aber wir haben keine Zeit für dich, wir haben zu tun, wir müssen Eier legen“. Ich folgte den mächtigen Tieren einige Meter den Strand hoch. Dort blieben sie stehen, warfen mit den Hinterbeinen Sand beiseite und schufen eine Grube. Danach manövrierten sie ihre Hinterleiber darüber und deponierten darin in aller Seelenruhe ihre Eier. Ich setzte mich neben eine der legenden Schildkröten in den Sand, sah ihr ins Gesicht und erschrak. Diese Meeresschildkröte, ihr Kopf stellenweise feucht noch vom Meere und glänzend im Mondenschein, sah so ruhig und tief in meine Augen, ihr Blick so wissend und voll Weisheit, dass mir die Tränen kamen. Am Ende dachte ich, diese Tiere bereisten schon seit Jahrmillionen die Weltmeere, ohne Banken ohne Reiseschecks und ohne Betrügereien. Mit diesem Gedanke war ich wieder auf der Erde zurück... Gestärkt vom uralten Geiste des Meeres, begab ich mich zur Hauptstraße, spazierte zum Ortsrand und lief zur Polizeistation. Sollte ich meinen Plan gelingen, musste ich den Verlust meiner Reiseschecks und meines Reisepasses bei der Polizei anzeigen...

164

Verlor man versicherte Reiseschecks oder wurden sie gestohlen, stellte man Verlustanzeige bei der Polizei. Mit der Durchschrift dieser Verlustanzeige ging man zur Bank und erhielt innerhalb von vierundzwanzig Stunden neue Schecks. Hatte man die angeblich verloren gegangenen Schecks aber in Wirklichkeit noch, sollte man sich klugerweise auch gleich einen neuen Reisepass besorgen, denn den brauchte man beim Einlösen von Schecks. Danach löste man die neuen Schecks mit dem neuen Reisepass ein und die alten Schecks mit dem alten Reisepass. Damit hatte man seinen Einsatz verdoppelt. Man musste nur acht geben, nie aus Versehen die alten Schecks mit dem neuen Reispass, oder umgekehrt, die neuen Schecks mit dem alten Pass einzulösen. In dem Falle ginge früher oder später der Hut hoch und das Kaninchen wurde sichtbar… Der Polizeichef saß zusammengesunken in einem altertümlichen Ohrensessel und hielt die Augen geschlossenen. Über ihm klapperte ein rostiger Deckenventilator. Hinter einigen Gitterstäben vor einem Loch in der Wand, kauerten im Halbdunkel einige Gefangene. Neben dem Gitter hingen Handschellen an eisernen Haken, Ledergurte verschiedner Länge und Breite und einige unbekannte Folterwerkzeuge. „Ich möchte eine Verlustanzeige aufgeben“, sagte ich bescheiden und lächelte. Der Polizeichef öffnete ein Auge. „Ich war im Restaurant „Zum quirligen Kraken“ und hatte meine Tasche entweder kurz unbeaufsichtigt im Restaurant zurück gelassen, oder auf der Toilette vergessen. Jedenfalls war sie plötzlich weg“. Der Polizeichef hob seinen Kopf. Sein Gesicht schwoll und wurde purpurn. Die Haut seines Halses stülpte sich über seinen speckigen Hemdkragen. Er stützte sich mit den Fäusten auf seinen Schreibtisch, wuchtete sich aus seinem Ohrensessel und röhrte, dass es gewiss bis an den Strand zu hören war, „Das Restaurant der vier Brüder!? Diese Bastarde?! Aber diesmal

165

kriegen sie was sie verdienen“! Nach dieser anstrengenden Einleitung ließ der Polizeichef sich schwer atmend und sichtlich erschöpft, wieder in seinen Ohrensessel fallen. „Was haben diese Bastarde diesmal gestohlen?“, keuchte er. „Nun“, antwortete ich, „In meiner Tasche befand sich mein Reisepass, Zigaretten, ein Feuerzeug, meine Taschentücher, eine Taschenlampe und Reiseschecks im Wert von ungefähr zwölftausend US$“. Ein Polizist, Kragen und Ärmelmanschetten seines Uniformhemdes ausgefranst, schrieb eifrig mit. Als der Polizeichef die Summe von zwölftausend US$ hörte, drohte er erneut aus seinem Ohrensessel zu kommen, hielte ihn nicht ein Untergebener mit sanftem Druck und beruhigenden Worten davon ab. „Gehen sie bitte sofort zu diesen vier Bastarden“, stöhnte der Polizeichef, „und sagen sie ihnen, ich will sie morgen früh um acht Uhr hier in meinem Büro sehen, und sie, Sir, kommen dann bitte auch“. Ich sagte, „Ist gut, Chef. Ich werde es ausrichten. Sie können sich auf mich verlasen. Ich wünsche ihnen noch einen angenehmen Abend“. Mit diesen Worten war ich zur Tür hinaus und stand aufatmend im Hof unter dem Sternenzelt und in einer frischen salzigen Brise, die vom Meere herüberwehte… Gelassen schlenderte ich die Hauptstraße wieder hoch und zurück zum Restaurant „Zum quirligen Kraken“. Ich hatte Glück, die vier Brüder standen gerade beieinander. „Guten Abend“, begrüßte ich sie. „Ich soll vom Polizeichef ausrichten, er will euch alle vier morgen früh um acht Uhr in seinem Büro sehen“. Ihre Gesichter verfinsterten sich. Es begann beim Kleinsten und arbeitete sich hoch bis zum Ältesten. Am Ende standen sie fast schwarz im Gesicht vor mir. Komisch war, es kam ihnen gar nicht in den Sinn zu fragen, weshalb der Polizeichef sie sehen wollte. „Wir gehen nicht hin“, erklärte der Älteste trotzig. Zwischen diesen Vier und dem Polizeichef schien es eine alte

166

Feindschaft zu geben, deren Ursache mir unbekannt war. Sicher war, sie mochten einander nicht. In ruhigem Ton sagte ich, „Ich habe euch ausgerichtet, was der Polizeichef mir aufgetragen hatte. Alles weitere, geht mich nichts an. Guten Abend“. Ich verließ das Restaurant durch den Hinterausgang und begab mich zum Strand um nachzusehen, ob die Schildkröten sichtbare Spuren hinterlassen hatten. Ja, das hatten sie. Im Sand sah man deutlich, vom Meeressaum den Strand hoch und wieder zurück, die Spuren ihrer schweren Leiber. Ich fürchtete, diese Spuren führten noch diese Nacht Eierräuber zu den Gelegen. Ich lief noch eine Strecke weit am Saum des Meeres entlang bis an die Stelle, wo ein Pfad zum Haus der Witwe führte… Ich verschlief meinen Termin beim Polizeichef und erwachte erst gegen zehn Uhr. Ich schlüpfte rasch in eine Badehose, schob eine Sonnenbrille auf meine Nase und warf das gemietete Motorrad an. Als ich bei der Polizeistation eintraf, standen die vier Brüder in der prallen Sonne im Hof, aufgereiht wie Zinnsoldaten. Sie waren pünktlich um acht Uhr erschienen. Da ich noch nicht anwesend war, hatte der Polizeichef sie bis zu meiner Ankunft in die Sonne gestellt. Sie hatten sich fein gemacht zu dieser Gelegenheit, die vier Brüder. Schick, sahen sie aus in ihren schwarzen Anzügen, mit gesteiften weißen Hemden, bis oben hin zugeknöpften Krägen und diszipliniert geknüpften Krawatten. Unter den Achseln und auf den Rücken, vom Kragen abwärts bis zur Gürtellinie, sah man große dunkle Schweißflecke auf ihren Anzügen. Sie waren regelrecht aufgeweicht vom langen Stehen in praller Tropensonne. Jetzt, da ich eingetroffen war, durften sie ins Büro kommen. Wie geprügelte Hunde, schlichen sie herbei, die Helden vom Abend zuvor. „Soll ich sie verprügeln lassen?“, rief der Polizeichef und blickte drohend auf die vier Brüder. Er wies mit einer Geste zur Wand, wo Handschellen hingen, lange Ledergurte und andere

167

Folterinstrumente. „Warte Chef“, sagte ich, „Wir wissen doch gar nicht, ob sie es auch gewesen sind. Vielleicht hatte ein Gast meine Tasche mitgenommen“. Doch davon wollte der Polizeichef nichts wissen. „Sie waren es, diese elenden Bastarde! Ich kenne sie schon seit Jahren und weiß, sie haben die Tasche gestohlen“! Während der Polizeichef sprach, drangen aus dem vergitterten Loch in der Wand unterdrückte Schmerzesschreie von Gefangenen. Die vier Brüder zogen ängstliche Gesichter. „Soll ich sie auch ganz gewiss nicht verprügeln lassen“, drängte der Polizeichef. Zu seiner Enttäuschung lehnte ich wieder ab. „Nein Chef. Wir wollen es diesmal dabei belassen. Sollten sie aber in ähnlicher Situation wieder vor dir stehen, dann Chef, walke sie ordentlich durch und gebe ihnen bei der Gelegenheit auch gleich einige Hiebe in meinem Namen mit dazu“. Der Polizeichef gab sich damit zufrieden. Er reichte mir ein Dokument zur Unterschrift. Es war die ersehnte Verlustanzeige. Ich unterschrieb und empfing eine Durchschrift. Ich steckte sie in meine Badehose, dankte und verabschiedete mich. Auf Befehl des Polizeichefs durften die vier Brüder sein Büro erst verlassen, nachdem ich außer Sichtweite war. Tags darauf fuhr ich mit der Durchschrift der Verlustanzeige zur Bank… Der Knappe der Bankfiliale zog ein langes Gesicht, als er meine Geschichte hörte und die Durchschrift der Verlustanzeige sah. Er wusste aus Erfahrung, meine Geschichte vom Verlust der Schecks war gelogen. Er kannte das alles längst von den vielen Italienern, die alle auf derselben Tour ritten und die zu allem Überfluss auch noch alle im selben Fischerdorf lebten und ihre Verlustanzeigen aus demselben Polizeibüro hatten wie ich. Diese Tour lief bereits kräftig aus der Hand, doch was sollte ein einfacher Bankangestellte dagegen tun, außer zähneknirschend zu sagen, „Ihre neuen Schecks liegen morgen gegen

168

Mittag für sie abholbereit“? Die neuen Schecks fühlten sich wertvoll an, steif und frisch. Jetzt benötigte ich nur noch einen neuen Reisepass. Den bekam man bei der Botschaft. Dort traf ich an die zwanzig junge Leute an, die im Garten im Grase saßen und den Eindruck erweckten, sie wohnten da. Verschlafen, sahen sie aus, wirkten ungewaschen, hatten lange, verworrene Haare, dunkle Ringe unter den Augen und schwarze Ränder unter den Fingernägeln. Einer schrammte elend auf einer Klampfe, der mehrere Saiten fehlten. „Guten Tag“, sagte ich zu dem jungen Klampfenspieler. „Was treibt ihr alle im Garten der Botschaft?“ Der junge Mann wies mit ausholender Geste in die Runde und erklärte, „Wir warten alle auf unseren neuen Reisepass“. Ein furchtbarer Verdacht keimte in mir. Sollte es am Eine doch nicht so einfach sein, an einen neuen Reisepass zu kommen? „Wie lange wartet ihr schon?“, erkundigte ich mich. Der junge Mann legte sein Klampfe beiseite und ließ seinen Blick über die Menge schweifen. „Olaf dort hinten“, sagte er schließlich und zeigte auf einen mageren jungen Kerl, der flach auf dem Rücken im Grase lag, „wartet schon seit acht Wochen. Aber die meisten von uns warten noch nicht länger als drei Wochen“. Acht Wochen?! Drei Wochen?! Solange wollte ich nicht warten. Ich wollte meinen Reisepass sofort. Ich strich mein Haar glatt und marschierte auf den Eingang der Botschaft zu. In der Vorhalle trat mir eine adrett gekleidete junge Frau entgegen. „Sie wünschen…?“, fragte sie unbeteiligt. „Ich wünsche in einer dringenden Angelegenheit den Herrn Konsul zu sprechen“, sagte ich. „Folgen sie mir bitte“. Sie führte mich in ein klimatisiertes Büro und bat mich, vor einem mächtigen Mahagonischreibtisch Platz zu nehmen. „Der Herr Botschafter wird gleich bei ihnen sein“, sagte sie und zog von außen die Tür ins Schloss. An den Wänden dieses Büros hingen gerahmte Fotoaufnahmen von

169

Kampfflugzeugen des zweiten Weltkriegs. Junker, Focker, Messerschmidt, alle waren sie vertreten und alle trugen ein Hakenkreuz am Heck. Die Tür öffnete sich und ein groß gewachsener, sportlich aussehender älterer Herr mit kurzen grauen Haaren trat ein. Ich erhob mich und reichte ihm die Hand. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Herr Konsul waren im Krieg Kampfflieger?“ eröffnete ich das Gespräch. Jawohl. War er. Da ich nicht nur jeden Flugzeugtypen auf den Fotos kannte, sondern auch die Geschichte der deutschen Luftwaffe von ihrem Beginn während des ersten Weltkriegs bis zum Ende des zweiten und auch die Biographie Hermann Görings, Chef der Deutschen Luftwaffe und somit ehemaliger Vorgesetzter des Herrn Konsuls mit nicht unbekannt war, hatte ich genug Gesprächsstoff für die nächste Stunde. Wir schwätzten über die Abwurfhalterung von Stukas und freilich auch über Hermann, der seinen Namen ändern wollte, gelänge es auch nur einem feindlichen Flugzeug, Deutschen Luftraum zu erreichen. Es war ein interessantes und für beide anregendes Gespräch, bis der Botschafter nach etwa einer Stunde fragte, „Sagen sie, weshalb sind sie zu mir gekommen“? „Mein Reisepass, Herr Oberst. (Er war Oberst während des Krieges …) Mein Reisepass wurde gestohlen und ich benötige dringend einen neuen“. Der Botschafter drückte auf einen Knopf an der Unterseite seines Schreibtisches und sofort trat die junge Frau ein. So schnell wie sie, konnte kein Mensch auf das Klingelsignal reagieren, es sei denn, man stünde bereits an der Tür. Kein Zweifel, die adrette Zicke hatte an der Tür gelauscht. „Haben sie ein Foto bei sich?“, fragte der Botschafter. Ich reichte dem Mann ein Passfoto. Er öffnete eine Schublade und holte einen unbeschriebenen Reisepass hervor. Mit den Worten, „Nieten sie dies hier bitte zusammen“, reichte er Pass und Foto der jungen Frau. Sie verließ das Büro, kam aber schon nach wenigen Augenblicken wieder und reichte dem Botschafter den Pass der nun mein Foto enthielt.

170

Der Botschafter legte den Pass vor sich auf den Schreibtisch, griff einen Kugelschreiber, fragte nach meinen Personalien und trug sie ein. Danach drückte er noch einige Stempel hinein und reichte mir meinen neuen Reispass. Der Botschafter stand auf, drückte meine Hand und wünschte gute Weiterreise. Als ich aus der Gebäude in den Garten trat und durch die Meute verschlafener junger Leute lief, hielt ich triumphierend den nagelneuen Reisepass in die Höhe und rief, „Hoch lebe der Führer, Jungs! Hoch lebe der Führer“! Mit wirren Haaren und hängenden Augen, sahen sie hinter mir her. Fliegen, summten um ihre Köpfe... Die Witwe und ihre Kinder waren Tamilen. Besonders die beiden Jungs von siebzehn und achtzehn, waren mit jeder Faser ihres Seins Tamilen. So war es nur eine Frage der Zeit bis sie sich eines Tages entschlossen, sich ihren kämpfenden Volksgenossen anzuschließen. Jeder bewaffnet mit einer AK 47 und dem Auftrag, zwei von der Schulter abzufeuernde Boden-Luft Raketen zur Truppe zu bringen, verabschiedeten sie sich eines Tages von ihrer Mutter, ihrer Schwester und auch von mir und verschwanden im Urwald. Keiner sollte sie jemals wieder sehen. Wie ich Monate später erfuhr, waren sie während eines Luftbombardements der Regierungstruppen ums Leben gekommen. Auch für mich kam schließlich die Zeit der Abreise. Das Leben und die Not trieben mich weiter nach Malaysien, in die Türkei und von dort über Paris und Calais nach London. Nachhause, konnte ich nicht mehr. Dort erwarteten mich nur Morphinmangel und Krankheit, Terror und Unterdrückung, Haftbefehle und Gefängnisse und ein verbitterter Kriminalkommissar mit einem Bündel Falschgeld in der Hand. Das

171

grüne Paradies allerdings, diese Insel an der Südspitze Indiens, mit ihren freizügigen Apothekern und den vielen fantastischen Menschen, sollte ich nie wieder sehen…

*

172

Wieder ein „besonderer Fall“ „Morphin zu verwenden und davon auszugehen, es stelle sich keine Gewöhnung ein, ist ebenso naiv wie anzunehmen, nackte Hände würden nicht nass, so man sie unter strömendes Wasser hielte“. Ein Motorrad sollte es sein, was Werner sich aus dem Ertrag seines kleinen Heroinhandels gönnen wollte. Nur ein Motorrad. Danach wollte er den Handel wieder sein lassen. Er hatte mir die Broschüren schon unendliche Male vorgelegt. Eine Honda mit 750 Kubikzentimetern sollte es werden. Und knallgelb, sollte sie sein. Gelb wie Butteblumen, wie Löwenzahn, gelb wie die Post, gelb wie die Sonne selbst…Wie er immer wieder bekräftigte, konnte Werner sich nicht an einen Konsum der eigenen Handelsware gewöhnen. Er habe immerhin ein Ziel vor Augen, wie er jedem versicherte der ihm mit Bedenken kam. Wer ein Ziel vor Augen hatte, so Werner, gewöhne sich nicht so leicht an Heroin, denn das stünde einem Erreichen des Zieles im Wege. Dadurch sei ein Ziel vor Augen gewissermaßen der rettende Mast, an den man gefesselt sei um allen Versuchungen zu widerstehen. Eine kühne Theorie, kein Zweifel, nur wusste ich es besser und Werner sollte mein erster Fall werden, dem ich in keiner Weise dazwischen reden wollte. Ich hatte schon bei vielen die Entwicklung einer Morphingewöhnung beobachtet, hatte mich eingemengt und erfahren dass jede Einmengung sinnlos war. Manchmal schien mir, als wäre das Drehbuch für die Zukunft mancher Leute längst geschrieben und im Studio zur Verfilmung abgegeben worden, lange bevor sie selbst es ahnten. Es war die flüsternde Stimme des Morphins, die wie subtiler Sirenengesang

173

aus dem Hintergrund klang, die Stimme, die noch den listigsten Odysseus von den Masten riss und auf die Klippen warf. Nicht jeder Mensch verfiel diesem Gesang. Es war immer nur eine gewisse Art Mensch, die unwiderstehlich davon angezogen wurde. Mit der Zeit hatte ich gelernt, sie an ihren Attributen zu erkennen. Es waren Menschen mit unscharf umrissener Persönlichkeit. Es waren Menschen, deren Persönlichkeit nie so recht in den Fokus geriet. Menschen, mit amorpher Persönlichkeitsstruktur, Persönlichkeiten mit ausgefransten Rändern… Werner war also mein erster Fall dem ich nicht dazwischen reden wollte, dem ich keine Warnung zukommen lassen würde, wenn er zum Beispiel wieder bei mir zuhause am Küchentisch saß, seine Handelsware in kleine Briefchen verpackte und selbst schon davon naschte. Anfangs wischte er daneben gefallenes Heroin noch mit dem Hemdsärmel vom Tisch. Dann nahm er es schon vorsichtig mit angefeuchtetem Finger auf und hielt es sich unter die Nase. Von da an dauerte es nicht lange und er schöpfte hin und wieder etwas von dem Pulver mit seinem Haustürschlüssel und zog es in seine Nase. Werner war das Musterbeispiel eines Menschen auf dem Wege in die Morphingewöhnung. Aber noch wusste er das nicht, ahnte es vielleicht noch nicht mal. Und ich? Ich schwieg dazu. Das war nicht völlig so. Einige Male war ich dazwischen gegangen, wenn er zum Beispiel wieder vor seiner ausgebreiteten Handelsware zum Haustürschlüssel griff. „Lass das jetzt sein“, hatte ich dann gesagt. „Du brauchst das jetzt nicht“ Und Werner gab mir Recht. Tatsächlich, er bräuchte das jetzt nicht. Und doch hatte er noch jedes Mal bevor er das Haus verließ, mithilfe seines Haustürschlüssels davon genascht. Klar, brauchte er es nicht. Es war ja nicht so, dass er es schon bräuchte. „Aber sieh mal. Es ist ja nur so wenig. Schaden, wird das sicher nicht“.

174

Was Menschen in Werners Situation sich oft nicht vergegenwärtigten war, noch jedes Molekül Morphin dass sie zu sich nahmen, förderte die Gewöhnung. Mangelte es irgendwann an Morphin, schrie der schmerzende Körper mit jeder Zelle danach… Kam Werner auf Besuch oder traf ich ihn auf der Straße, achtete ich auf die Größe seiner Pupillen. Ich erkannte von Opiat kontraktierte Pupillen. Zogen Pupillen sich unter der Wirkung von Opiat zusammen, bis sie nur noch die Größe eines Stecknadelkopfes hatten, trieben die Pigmente der Iris auseinander und die Farbe des Auges wurde heller. Bei blauäugigen Menschen konnte das geradezu dramatisch wirken. Ich bin selbst blauäugig und erinnere mich noch gut daran, wie ich eines Tages um eine Ecke lief und dabei um ein Haar mit einem Bürger zusammengestoßen wäre, der von der anderen Seite gekommen war. Wie der Zufall es wollte, blickte er mir schnurgerade in die Augen und prallte dabei vor Schreck gut und gerne einen Meter zurück. Der Anblick meines eiskalten Blickes, mit dem strahlendhellen Blau der Iris und der nadelfeinen Pupille, war zu viel für ihn. Werner hatte immer öfter kontraktierte Pupillen… Die Motorradmesse in Hannover war etwas, dass Motorradfreunde wie Werner sich nicht entgehen ließen. Ich fuhr mit. Nachts im Hotel wurde Werner wach und lief unruhig im Zimmer auf und ab. Er könne nicht schlafen, klagte er. Gedanken an das Motorrad, das er bald erwerben würde, hielten ihn wach, glaubte er. Ich wusste es besser. Seine unruhig werdenden Opiatrezeptoren waren es, die nach Futter schrieen und ihn nicht einschlafen ließen. Da ich den ganzen Tag über bei Werner war und er wusste, kleine Pupillen erweckten meine Aufmerksamkeit, hatte er sich geschämt von seinem Pulver zu naschen und hielt sich zurück. Doch jetzt in der Nacht, da auch der letzte

175

Krümel Morphin durch seine Nieren gespült war, machte sich ein körperliches Unbehagen bemerkbar, Unruhe, zunehmendes Verlangen und die Unmöglichkeit einzuschlafen. Ich gestehe es. Nur weil sein hin und her Gerenne im Zimmer mich ebenfalls am Schlaf hinderte, riet ich schließlich, „Nimm etwas von deinem Pulver und du wirst sehen, gleich schläfst du wie ein Lämmlein“. Keine zwanzig Minuten später schnarchte Werner, fest in Morpheus’ Armen… Während wir an den verschiedenen Ständen der Motorradmesse vorüber liefen, bemerkte ich, Werner brachte längst nicht mehr das Interesse für Motorräder auf wie noch vor wenigen Tagen. Getrieben, lief er von Stand zu Stand und nahm die ausgestellten Waren kaum wahr. Ich hatte ihn überredet, sein Pulver im Hotel zu lassen. Dort verweilten nun auch Werners Gedanken, dorthin zog es seine Konzentration. Ab einem gewissen Grade der Gewöhnung, und dieser Grad war mit Diacethylmorphin unter Umständen rasch erreicht, wurde Morphin so sehr notwendiger Bestandteil normaler Körperfunktionen, dass ein morphinfreies Funktionieren nicht mehr möglich war. Ein Teil dessen, was notwendig gewesen wäre um einen reibungslosen Ablauf von Werners Körperfunktionen zu ermöglichen, lag in einem kleinen durchsichtigen Plastikbeutel in Werners Reisetasche im Hotel. Werners Geschäft lief gut, was nicht zu verwundern war. Geschäfte mit Heroin liefen meist gut, weil die Nachfrage stets größer war als das Angebot, was auch so bleiben wird, solange man die Prohibition von Heroin aufrechterhält. Über die Hälfte des Geldes für sein Motorrad, hatte Werner schon, wie er stolz erzählte. Doch während er noch davon erzählte, wusste ich schon, er kaufte das Motorrad entweder nie, oder aber, kaufte er es, er ließe es in einer Ecke dahinrosten bis er es schließlich verkauft werden musste um Werners Körper das zu geben,

176

wonach ihn schmerzhaft verlangte. Ich hatte mir vorgenommen, sinnlose Einmengungen zu unterlassen… Eine Ernüchterung kam für Werner rascher als zu erwarten war. Sein „Dealer“, von dem er die ganze Zeit über zu relative guten Großhandelspreisen kaufen konnte, war verschwunden, vermutlich von der Polizei festgenommen. Werner besaß nur noch wenig Ware, die er überwiegend für sich selbst benötigte. Hier sah ich zum ersten Mal das so typische Flackern von Panik in seinen Augen. Sein Körper ahnte was ihm bevorstünde, ginge das so lebenswichtige Pulver aus. In dieser Not kam Werner mit einem kühnen Plan. Er wollte nach Amsterdam fliegen, dort eine größere Menge Heroin erwerben und über die Grenze nachhause schmuggeln. Werner flog nach Amsterdam. Nach zwei Tagen war er wieder zurück. Während er erregt von seinen Abenteuern in Amsterdam erzählte, packte er seine frisch erworbene Handelsware auf meinen Küchentisch. Ich warf einen Blick auf das leicht glitzernde braune Pulver und stutzte. Noch nie zuvor war ich Heroinbase begegnet, die so auffallend glitzerte. Ich befeuchte einen Finger, nahm damit etwas von dem Pulver auf und gab es auf meine Zunge. Danach eröffnete ich Werner, „Gratuliere. Du hast dir pulverisierte Hustenbonbons andrehen lassen“. Und tatsächlich. Werner hatte mit aller Finesse achtzig Gramm fein gemahlener Hustenbonbons über die Grenze ins Land geschmuggelt. Werner lief nervös zur Tür hinaus und ich wusste, nun begann der graduelle Abbau seiner Ersparnisse… Werner war bei weitem nicht der erste „Dealer“, den ich vom Vertrieb in die Kundenebene wechseln sah. Tatsächlich war es irgendwann auch mir so ergangen. Werners Werdegang zum

177

Morphingewöhnten glich in Vielem meinem eigenen. Weshalb nur war es erfahrenen Menschen so unmöglich, werdenden Morphingewöhnten Ratschläge zu erteilen? Was war es, das noch jeden glauben ließ, bei ihm verliefe alles anders als bei anderen, er sei ein besonderer Fall, vielleicht psychologisch anders gestrickt, jedenfalls aber so geartet, dass er nie morphingewöhnt werden konnte? Dabei war es so einfach zu begreifen. Jeder, der sich auf die regelmäßige Verwendung hochpotenter Morphine einließ, wird sich über kurz oder lang daran gewöhnen. Es war so sicher wie man nass wurde, sobald man die Hände unter laufendes Wasser hielt. Und dennoch gab es immer wieder Menschen die davon überzeugt waren, dabei nicht nass zu werden, weil sie etwas Besonderes seien. Dass Morphinrezeptoren mit jeder Einnahme eines so hochpotenten Morphins wie Heroin an Toleranz zunehmen und an Sensibilität verlieren, ist fast schon ein Naturgesetz. Weshalb nur fanden sich stets aufs Neue Vermessene ein die glaubten, für sie gelte dieses Gesetz nicht? Wie ging es weiter mit Werner? Werner hatte sich rasch vom stolzen zukünftigen Motorradbesitzer zum demütigen Morphingewöhnten gewandelt. Doch weil Werner Intelligenz besaß gelang es ihm noch einige Zeit, sich trotz widriger gesetzlicher und gesellschaftlicher Umstände mit seiner Morphinbedürftigkeit zu arrangieren. Aber am Ende lief auch er den in unserer Gesellschaft so unerbittlich diktierten Weg des illegalen Morphingewöhnten. Schließlich hatte Werner drei Jahre Gefängnis hinter sich, hatte voll der Hoffnung auf eine Rückkehr seines früheren Selbst sogar zwei völlig sinnlose „Drogentherapien“ über sich ergehen lassen. Danach nahm er an einem Projekt teil, in dem Morphinbedürftigen versuchsweise Heroin gereicht wurde. Unter dieser stressfreien, geregelten Morphinzufuhr begann er schließlich eine verspätete Ausbildung als Zweiradmechaniker. Wer

178

begriffe im gegenwärtigen politischen Klima, Werners Persönlichkeit hatte sich durch seine Morphingewöhnung nicht verschlechtert? Sie wurde dadurch im Gegenteil sogar gestärkt. Auch Werner fiel es vorerst schwer zu begreifen, Morphin tat ihm einfach gut. Nicht relativ harmloses Morphin war es, was ihn zu Boden drückte, sondern menschenfeindliche Gesetze und eine Gesellschaft, die ihn um jeden Preis zu einem Leben ohne seine Medizin zwingen will…

*

179

Früchte des Hasses Was Jason in dieser Gaststätte antraf war nicht gerade was man eine angenehme Atmosphäre nannte. Aber er hatte sie auch nicht aus Gründen des gastlichen Aufenthaltes aufgesucht. Nur eben telefonieren wollte er und dass er hinterher auch noch ein Glas Coca Cola bestellte, war nur der Hitze dieses Augustnachmittages zu verdanken. Als Jason bezahlen wollte und dazu seine Brieftasche aus der Jacke nahm, war eine kleine Kunststoffeinmalspritze aus seiner Tasche gerutscht und vor den Augen der Gäste zu Boden gefallen. Als Jason sich bückte um sie vom Boden zu nehmen, stellte sich ein Fuß darauf. Knirschend, zerbrach das kleine Kunststoffgebilde unter seinem Gewicht. „Bist du einer von denen?“, hörte Jason eine barsche Stimme fragen. Als er aufblickte sah er, dass mehrere Gäste sich von ihren Plätzen erhoben hatten. Noch bevor Jason sich aufrichten konnte, traf ihn ein Tritt mitten ins Gesicht. Jason versuchte auf die Beine zu kommen, doch es trafen ihn Fausthiebe von allen Seiten. „Er kann noch nicht mal bezahlen!“, hörte Jason die höhnende Stimme des Gastwirts. Natürlich konnte Jason bezahlen, gäbe man ihm nur Gelegenheit dazu. Nach diesen Worten des Gastwirts trafen Jason weitere Tritte und Hiebe. Er blutete bereits aus seiner Nase und einem Riss in der Unterlippe. Auch fühlte er sich plötzlich sonderbar atemlos. Da öffnete sich die Tür der Gaststätte und ein Polizist trat ein. Es war der Polizist der Nachbarschaft, der auf seiner Runde auch der Gaststätte einen Besuch abstattete. Wortlos, hielt einer der Gäste Jasons zerquetschte Injektionsspritze in die Höhe. Die Anwesenheit des Gesetzeshüters hinderte die Gäste nicht daran, weiterhin auf Jason einzuschlagen. „So helfen sie mir doch!“, rief Jason zwischen den Tritten dem Polizisten zu. Doch der lachte nur ein sonderbares Lachen, wobei sein Leib auf und nieder bebte. „Leuten wie dir kann man nicht helfen!“, sagte er, drehte

180

sich um und verließ die Gaststätte. Kaum hatte die Türe sich hinter dem Polizisten geschlossen, verlor Jason das Bewusstsein und blieb reglos am Boden liegen. Die Gaststättengäste ließen ihn eine Weile liegen um zu sehen, ob er nicht von selbst wieder auf die Beine käme. Als das nicht geschah, nahmen zwei von ihnen Jason in ihre Mitte und schleppten ihn auf die andere Seite der Straße zu einem kleinen Park. Dort setzten sie ihn auf eine Bank und ließen ihn alleine. Zuschauern war es erschien, als hätten Gäste der nahe gelegenen Gaststätte einen betrunkenen Freund an die frische Luft gebracht... Als Jason zu sich kam, war es bereits später Abend. Er fühlte, etwas war mit ihm nicht in Ordnung und Angst befiel ihn. Durch die Bäume des Parks sah er die Hauptstraße und eine Telefonzelle, die an der Straße stand. Dorthin wollte er. Von dort wollte er die Polizei rufen, einen Notarzt, oder auch nur irgendeinen Menschen, der ihm helfen würde. Ein heftiger Schmerz in seinen Nieren verhinderte dass er aufrecht lief. Auch nur aufrecht zu stehen, war zu schmerzhaft. Es blieb Jason keine andere Wahl als die Strecke bis zur Telefonzelle auf allen Vieren zurückzulegen. Derart auf allen Vieren, erreichte er die Hauptstraße. Dort war der breite Bürgersteig voller Menschen. Die meisten eilten zu den vielen Bushaltestellen vor dem Bahnhofsgebäude. Komisch, wie diese Menschen auf Jason reagierten, der mit beblutetem Gesicht und bebluteter Jacke auf allen Vieren zwischen ihnen dahin kroch. Sie reagierten überhaupt nicht, oder nur, indem sie vor Jason zur Seite wichen und ihm Platz machten, damit er ungehindert weiter kriechen konnte. Es waren etwa sechzig Meter bis zur Telefonzelle. Als Jason sie erreicht hatte, öffnete er die Türe und setzte sich in der Telefonzelle auf den Boden. So sehr er sich auch bemühte, es wollte und wollte ihm keine der Notrufnummern einfallen. Nachdem er schon mehrere Nummern vergebens versucht hatte, öffnete sich plötzlich die

181

Tür der Telefonzelle und zwei Polizisten standen davor. „Was bin ich froh, euch zu sehen“, brachte Jason hervor. „Ich versuchte schon die ganze Zeit, euch zu erreichen“. Wortlos, sahen die beiden Polizisten einander an. Einer griff in seine Hosentasche, holte einige Latexhandschuhe hervor und reichte ein Paar seinem Kollegen. Beide Polizisten streiften die Gummihandschuhe über ihre Hände, ergriffen Jason und zerrten ihn aus der Telefonzelle. Jason konnte nicht dagegen protestieren. Gänzlich von Schmerz konsumiert, konnte er nicht mehr sprechen. Die Polizisten bemerkten nichts von seinem Zustand. Sie schleiften Jason über die Erde und zu einer Bank. Sie hielten ihn wohl für einen Betrunkenen oder für einen Junkie der nahe gelegenen Drogenszene. Sie setzten Jason auf die Bank. „Und wenn du dich hier hinlegst“, sagte einer der Polizisten drohend, während beide sich bereits abgewandt hatten um sich zu entfernen, „dann bekommst du es mit uns zu tun“. Es war in dieser Stadt verboten, auf öffentlichen Bänken zu liegen, nur sitzen durfte man. Die Worte des Polizisten hörte Jason wie durch eine dicke Schicht von Watte. Er war kurz davor, vor Schmerz das Bewusstsein zu verlieren und nur die Angst vor den beiden Polizisten hielt ihn noch bei sich. Diese Angst war berechtigt. Prügelten die beiden Polizisten auf ihn ein, er hätte in seinem Zustand allen Grund um sein Leben zu fürchten. Jason setzte alle Kraft daran, aufrecht sitzen und bei Bewusstsein zu bleiben. Während er saß und gegen Bewusstlosigkeit kämpfte, strömten hunderte von Passanten an ihm vorüber und gewiss eine Stunde verging, bis sich einige Menschen aus dieser Menge lösten und auf Jason zutraten. Es war eine Familie, offenbar Vater Mutter und Tochter. „Ihnen geht es nicht gut“, erkannte die Mutter. Jason saß auf einer Bank ohne Lehne, auf der man von beiden Seiten sitzen konnte. Der Vater setzte sich hinter ihn, drückte seinen Rücken gegen den Jasons und hielt

182

ihn auf diese Weise entspannt und im Gleichgewicht. Die Tochter setzte sich neben Jason und ergriff seine Hand. „Drücken sie bitte hin und wieder meine Hand“, sagte sie, „damit wir wissen, dass sie noch bei uns sind“. Die Mutter stand unterdessen in der Telefonzelle und rief eine Ambulanz herbei. Jetzt, da er sich anlehnen konnte und die Spannung des krampfhaften aufrecht Sitzens von ihm gewichen war, verlor Jason endgültig das Bewusstsein. Als Jason wieder zu sich kam, lag er in einem weichen Bett das von Menschen umstanden war die weiße Kittel trugen. „Man hat sie übel zugerichtet“, sagte ein Arzt zu Jason. „Sie haben Risse in beiden Nieren, einen kollabierten Lungenflügel und einen noch nicht näher diagnostizierten Schaden an der Wirbelsäule“. Haben sie irgendwelche Allergien, Unverträglichkeiten oder Krankheiten oder nehmen sie regelmäßig Medikamente auf die wir zu achten hätten“? Jason dachte nach und antwortete benommen, „Ich bin gegen Salatgurken allergisch und ich bin Diabetiker“. Kurz darauf trat eine Krankenschwester an Jasons Bett, stach ihm mit einem kleinen Instrument in den Finger und nahm mit einer Glaskapillare etwas von dem austretenden Blut auf. „Wir müssen ihren Zuckerstatus bestimmen“, sagte sie, als müsse sie sich für ihr Tun entschuldigen. Doch Jason war bereits wieder von Bewusstlosigkeit umfangen und hörte sie nicht mehr… Als Jason während der Nacht wieder zu sich kam, wurde er einer weißen Gestalt gewahr die still neben seinem Bett auf einem Stuhle saß. „Wer bist du?“ fragte Jason benommen. „Ich bin Arzt“, gab die Gestalt zur Antwort. „Was tun sie hier?“, fragte Jason. „Ich wache über sie für den Fall, dass sie in ein Koma geraten“, gab der Arzt zur Antwort... Jason lag einige Augenblicke still, dann sagte er, „Ich habe so starke Schmerzen dass ich befürchte…“ Jason konnte den Satz nicht zu Ende

183

sprechen. Er hatte ihn kaum begonnen, als der Arzt sich erhob und das Zimmer verließ. Kurz darauf kam er mit einer Injektionsspritze in seiner Hand wieder. „Was ist das“, fragte Jason und wies auf die Spritze. „Es ist Morphin. Verwandten sie jemals Morphin“? Jason verneinte. „Ich muss sie das fragen“, erklärte der Arzt. „In dem Fall reichte vielleicht die Dosis nicht, die ich ihnen gebe“. „Ich weiß weshalb sie mich das fragen“, sagte Jason. „Ich studiere Medizin“. Der Arzt stach die Nadel der Injektionsspritze in Jasons Oberschenkel und drückte den Kolben nieder. Sekunden später spürte Jason wie ein warmes wohliges Gefühl über ihn kam und alle Schmerzen in den Hintergrund drängte. Gegen Mittag des nächsten Tages erschienen zwei Herren der Kriminalpolizei an Jasons Bett. Da offensichtlich eine Straftat vorlag, waren sie vom Diensthabenden Arzt herbeigerufen worden. Jason erzählte den Beiden in allen Einzelheiten was vorgefallen war. Er erstattete Anzeige gegen die Gäste der Gaststätte und gegen den Gastwirt wegen schwerer Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung. Doch diese Anzeige sollte keine Folgen haben. Die Gäste der Gaststätte sowie der Gastwirt und auch der Polizist der Nachbarschaft schützten sich gegenseitig in ihren Aussagen. Jason hätte seine Zeche nicht bezahlen wollen, erzählten Gastwirt und Gäste, aber er habe die Gaststätte gesund verlassen. War er Stunden später verletzt aufgefunden worden, so erklärte man, hatte er sich diese Verletzungen nach seinem Besuch der Gaststätte zugezogen. Vier Wochen verbrachte Jason im Krankenhaus. Danach durfte er wieder nachhause. Einen kleinen Haltungsfehler hatte er von seinem Abenteuer übrig behalten. Ein Schaden an seiner Wirbelsäule hinderte ihn daran, aufrecht zu stehen. Ansonsten war er eigentlich wieder

184

weitgehend hergestellt. Seinen Zuckerhaushalt solle er gut im Auge behalten, hatte der Arzt des Krankenhauses ihm geraten. Dazu hatte er Jason ein elektronisches Gerät gegeben, das automatisch aus einem Tröpfchen Blut den Zuckerstatus las. Zwei Monate nach seiner Krankenhausentlassung, es war unterdessen November geworden, unternahm Jason einen Abendspaziergang durch den städtischen Park. Abendkühle durchzog den Park. Es waren nur noch wenige Menschen anwesend. Jason fühlte sich ein wenig unwohl. Er spazierte noch am Restaurant des Parks vorbei, das um diese Jahreszeit geschlossen war, und setzte sich schließlich am Ufer des kleinen Sees hinter dem Restaurant erschöpft auf eine Parkbank. Dort saß er eine Weile und wurde müder und müder. Was wohl los sei mit ihm, fragte er sich in Gedanken. Ob die Kälte ihm so zusetzte oder ob sein Zuckerspiegel nicht in Ordnung war? Jasons Hände wurden weiß wie Schnee, blutleer und taub. Ich fühle meine Hände nicht mehr, dachte Jason. Auch seine Füße erschienen ihm plötzlich als wären sie von Holz. Matt und kraftlos, sank Jason schließlich in Schlaf und während er schlief, schwand ihm das Bewusstsein. Spät in der Nacht kamen drei junge Leute des Weges. Sie waren im Dunkel des Parks unterwegs um Ausschau zu halten nach Menschen, die sie überfallen und ausrauben konnten. Dabei trafen sie auf einen vermeintlichen Stadtstreicher, der zusammen gesunken und vermutlich stark betrunken auf einer Parkbank saß. Die Jugendlichen durchsuchten seine Taschen und fanden eine Brieftasche mit etwas Bargeld und einigen persönlichen Papieren. In einer Jackentasche fanden sie ein Etui mit Injektionsspritzen und weiteren fremdartigen Dingen. Angewidert, zeigten sie einander den ekligen Fund. Einer der Jugendlichen rannte los, um etwas aus ihrem Auto zu holen. Als er zurückkam, trug er einen

185

Reservekanister voll Benzin in der Hand. Die jungen Leute zerrten den, wie sie meinten, "schlafenden Junkie" von der Bank auf die Erde, übergossen ihn mit Benzin und warfen eine Anzahl brennender Streichhölzer auf das nasse, reglose Bündel. Als die Flammen empor fauchten, rannten die Drei davon. Sie verließen den Park, suchten ihr Auto auf und fuhren in die Stadt. Der Große Geist war Jason gnädig. Im Zustand der Bewusstlosigkeit spürte er nichts von den Flammen und nichts von deren Hitze, die sein Fleisch von den Knochen schmorte. Übergangslos, glitt er von seiner Bewusstlosigkeit hinüber in die gnädige Umnachtung des Todes...

* 186

Agent wider Willen Schicksale sind selten eindeutig. Manche haben eines, manche haben keines, manche sind eines, manche sind anderer Leute Schicksal. Widerwillig, war ich von Anbeginn Agent, unterwegs in fragwürdiger Mission. Grundsätzlich hinter feindlichen Linien operierend und in ständiger Lebensgefahr, war ich zwar mit modernster Waffentechnologie ausgerüstet worden, musste aber am dritten Tage meines Einsatzes feststellen, man hatte mich mit Munition des falschen Kalibers ausgerüstet. Also musste ich improvisieren. Gezwungen, mich auf die Verwirrungen der Zeit einzulassen, stellte ich eines Tages fest, mir war während meiner Improvisationsversuche Sinn und Zweck der eigentlichen Mission entfallen. Dringende Nachfragen über geheime Kanäle blieben unbeantwortet, doch ging mein Sold noch stets in penetranter Regelmäßigkeit bei meiner Familie ein. Was blieb mir unter diesen Umständen anderes übrig, als abzuwarten, unter jedem sichtbaren Niveau zu bleiben und auf eindeutige Instruktionen zu warten? Diese Instruktionen erreichten mich schließlich, vom Winde getragen und als Gerüchte getarnt aus Fetzen veralteter Zeitungsartikel und Dialogbruchstücken alter Spielfilme… Kader, so hieß es, sollte ich bilden. Kampfgruppen aus Gruppen störrischer Jugendlicher, die sich wie Tintenflecke verbreiteten, in den Straßen, den Gassen und den Winkeln der Städte. Störrische, unkontrollierbare Jugend bildete von jeher Säuren, die veraltete Grundfesten korrodierten. Sie schufen den Humus für neue Welten und waren noch die Triebe neuer Welten! Müde, ständig von ihren Thronen geschossen zu werden, ersannen

187

Fürsten eine List. Wenige maßgebende Individuen schufen aus vielen Entbehrlichen amorphe Organisationen. Schoss man einen über den Haufen, nahm flugs ein anderer seine Position ein und alles war rasch wieder wie zuvor. Man musste neue Strategien ersinnen. Doch gerade dazu, befand ich mich nicht im Einsatz. Gerade dafür, war ich nicht ausgebildet worden. Ich war nur einfacher Agent und das wider Willen, nur Fußsoldat, arbeitete nur hier, und so wartete ich auf weitere Instruktionen… Während eines Spazierganges durch die Fußgängerzone einer Innenstadt erhielt ich schließlich die ersten entscheidenden Nachrichten. Ich zwängte mich durch die Menschenmassen eines verkaufsoffenen Abends und hörte, wie jemand im Gespräche sagte, „…raubten ihre Seelen“. Einige Meter weiter fing ich den Gesprächsfetzen auf, „…zu befreiendem Gelächter“. Diese Worte enthielten meine Instruktion. Dechiffriert, ergaben sie die nötige Strategie. Die Unruhe nahm zu in den Städten. Horden Jugendlicher verweigerten zunehmend jede Form der Kontrolle, besuchten keine Schulen und pfiffen heiter auf Ausbildung, Arbeit und Karrieren. Die Umstände bargen ungeahnte Möglichkeiten… Als Gegenmaßnahme entließ die Regierung Ströme auf absoluten Gehorsam gestimmte, zur „alten Ordnung“ mahnende Memes. Sie quollen aus Zeitschriften, klangen aus Radios und Fernsehgeräten, sangen verlockend aus populärer Musik und schillerten verführerisch hinter Kino- Video- und Fernsehfilmen hervor. Auf den Straßen traf man zunehmend merkwürdigere Leute. Verworren und desorientiert durch massiven Memebeschuss, taumelten Bürger als Karikaturen von

188

Idolen und gestriger Fernsehfilme durch Kneipen, Verwaltungsgebäude und aus den Türen von Wettbüros… Angesichts solcher Memeangriffe, war die totale neuronale Blockade durch Heroin die einzige Verteidigung. Doch dazu mussten die Nachschubwege gesichert werden. Sie waren die natürliche Achillesferse jeder neuronalen Blockade. Würden sie kompromittiert, die Nervensysteme aller Agenten stünden sofort jedem feindlichen Angriff weit offen. In feuchten Abbruchhäusern und stillgelegten UBahnschächten synthetisierten wir schließlich Dehydroheroin und brachten es auf jede erdenkliche Weise unter die Leute. Damit wurde die totale neuronale Blockade Wirklichkeit... Vom Staate erzeugte Memes, gestern noch virulent wie pulmonale Pest, standen hilflos vor abweisenden Synapsen die jeden Zutritt verweigerten. Tausende erwachten unter befreiendem Gelächter und fanden sich wieder in silbrig frischer Morgenluft… Uninformierte Mitstreiter, wie etwa störrische Jugendliche, waren grundsätzlich unkontrollierbar. Die Kunst bestand darin, sich jedes Kontrollversuches zu enthalten und völlig auf das interne Verweigerungs- und Zerstörungspotenzial gesunder Jugend zu vertrauen. Man beanspruchte vorhandene Potenziale, arbeitete mit den Strömungen und steuerte mit natürlichen Impulsen auf sein Ziel zu. Alles andere schuf störenden Widerstand und führte unweigerlich zur Selbstzerstörung. Dort fand sich schließlich die Regierung. Durch die zunehmende Verwendung von Antimemetika, verflüchtigte sich der Boden auf den sie baute. Das manipulierbare Bewusstsein der Massen, auf das so lange vertraut worden war, wandelte sich und schwand. In letzter Verzweiflung mordete ihre Häscher, kaum noch verdeckt, auf

189

offener Straße, in Gefängnissen, Altenheimen und Krankenhäusern… In diesem Tumult fanden wir schließlich, geschützt durch neuronale Schirme, die Einstiege zu den Schaltzentren. Wir entdeckten geheime, weltumspannende Machtstrukturen, fanden Bankverbindungen geraubten Volkseigentums, erschlossen die Verknüpfungen herbeimanipulierter Kriege, entdeckten die Fabriken künstlich erzeugter Hungersnöte, Viren verseuchter Impfstoffe, infizierter Blutbanken, Krebs erzeugender Krebsforschungsinstitute und Krankheiten schaffender Gesundheitsinstitute… Begeistert, klemmten wir die Sprengsätze an Energiezufuhr und Kühlaggregate. Wir justierten die Timer, entsicherten die Zünder und suchten eiligst das Weite… Die staubbedeckten Häupter schüttelnd, stiegen wir schließlich aus den rauchenden Trümmern. Zerstörung, so weit das Auge reichte. Staubschwaden verwehrten den Blick zum Horizont. Doch neuartige, nie gekannte Stille herrschte rings umher und über allem schwebte, von Staub getrübt und milchig noch, aber nach wie vor still und unerschütterlich, die wärmende Scheibe der Sonne...

Schluss

©2009Karlos H. INTRACEREBRAL.eu Morphinistenseite.com

190

View more...

Comments

Copyright ©2017 KUPDF Inc.
SUPPORT KUPDF