Blumenmilch Oiginal

August 30, 2017 | Author: Anonymous tZAknJi | Category: N/A
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Carlitos Amsel vom Holunderstrauch...

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Blumenmilch …die Amsterdamer Jahre

Erzählungen von Carlitos Amsel vom Holunderstrauch

[email protected] ©2013 Karlos Hutterer. Printed and published by epubli Verlag Germany. www.epubli.de

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Gewidmet, meiner kleinen Schwester und meinem Kindheitsund Jugendfreund Viktor A.

Mit Dank an die Stadt Aachen, meinen Arzt und meine Apothekerin, die mit vereinten Kräften mein Leben erhalten. Dank auch an meine Nachbarin Marion, die einige der Lasten des Alltags von mir nimmt.

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Inhaltsverzeichnis

Unterwegs………………………………………………………...…….7 Amsterdam……………………………………………………………26 Bijlmermeer……………………………..............................................34 Kokainexzess …………………………………………………………37 Gefangen…………………………………………...............................47 Im Amsterdamer Gefängnis……………………..................................53 Nachspiel……………………………………………………………...67 An der Grenze……………...................................................................71 Szenen einer Ehescheidung…………………… ……………….....79 Im Sexclub ........................................................................................... 87 Beim Amsterdamer Arbeitsamt……………………………………….93 Zweiter Teil……………………………………….. ………………...97 Annas Story………..............................................................................99 Von Ratten Joe und anderen Menschen……………………….........110 Der alte Hassan…………………..………………............................114 Robert und Jakes Wohnbus…………...…………............................119 Das Partyschiff……………………………………..........................127 Annette und die Asylantenstad…………………..............................132 Paranoia im Park………..…………………………………..............137 Klausens Reichtum………………………………………………....140 Das Moormädchen…………………………….……………………147 Abschied von Amsterdam………………………..............................152 Dritter Teil…………………………………………………………157 Konzert mit neuronaler Orgel…………….……...............................159 Qualle…………………………………………………………..-----169 Wieder frei…………….…………………………............................171

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Geehrte Leserin, geehrter Leser. Der Autor dieses Buches ist gesetzlich blind und arbeitet mit technischen Hilfsmitteln. Er bittet deshalb um Verzeihung, sollten Sie Fehler in diesem Buch finden…

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Blumenmilch …die Amsterdamer Jahre

Carlitos Amsel vom Holunderstrauch

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Ich will leben bis ich sterbe, nicht mehr, nicht weniger! Eddie Izzard

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Unterwegs Ich begegnete dem Dorfschullehrer in einem kleinen Nest außerhalb Izmirs. Der Name seiner Familie war mir von einem Kontakt in Barcelona genannt worden. Zuerst wusste der Dorfschullehrer so gar nicht, wovon ich sprach. Als er aber am Abend, als ich mit ihm und seinen Kindern im Teich hinter dem Hause schwimmen war, die Einstiche an meinem Arm bemerkte und erst recht als ich ihm nach dem Schwimmen einige Dollarnoten unter die Nase hielt, taute er auf. „Heroin“? Ja, davon habe er schon gehört. Aber vielleicht sei es besser, ich unterhielte mich mit seinem Schwager darüber… Gegen Mittag des nächsten Tages traf dann dieser Schwager ein. Sein Kommen kündigte sich schon Minuten vor seinem eigentlichen Erscheinen an, durch das Jammern und Jaulen eines losen Keilriemens. Er fuhr einen hoch betagten, hellblauen Chrysler, den er liebevoll „Mein Amerikaner“ nannte. Die Wasserkühlung der urtümlichen Karre dampfte und zischte und ihre Stoßdämpfer ächzten und stöhnten, als sie sich in die entspannte Stellung des Stillstandes begaben… Raubvögel kreisten am wolkenlosen Himmel, als wir in dem kleinen ummauerten Gärtchen hinter des Lehrers Häuschen saßen und seine Gemahlin mit einer blechernen Teekanne mit Glöckchen daran und einem Tablett voll honigsüßem Gebäck geschäftig zwischen Küche und Garten hin und her eilte. „Heroin“, murmelte der Schwager und kratzte geräuschvoll seine Bartstoppeln. Ja, davon habe er vom letzten Jahr noch einiges übrig. Viel sei es nicht, aber er habe es für alle Fälle schon einmal mitgebracht. Er hatte das Pulver in einem grünen

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Kunststoffeimer im Kofferraum seines „Amerikaners“. Sehr viel war es tatsächlich nicht, aber es schien auch nicht unbedingt wenig. Es handelte sich um beige Heroinbase. Ich wollte die guten Leute nicht mit Nadel und Injektionsspritze erschrecken und so stimmte ich dem Vorschlag des Schwagers zu, gemeinsam etwas von dem Pulver auf Aluminiumfolie zu rauchen. Der Vorschlag sagte mir auch deshalb zu, weil ich dadurch an der Reaktion des Schwagers die Qualität der Ware einschätzen konnte. Mir selbst war es nämlich nicht mehr gegeben, solche Feststellungen zu treffen. Meine Toleranz war so hoch, ich verspürte vermutlich keinen Hauch einer Wirkung, selbst wäre die Ware gut und ich injizierte ein ganzes Gramm davon… Schon nach zwei Zügen von der Aluminiumfolie wurden die Pupillen des Schwagers klein wie Stecknadelköpfe. Ich selbst verspürte, wie erwartet, nichts davon. Aber ich bemerkte während des Rauchens den guten Geruch und den feinen Geschmack der Ware und sah, wie sie sich während des Verflüssigens auf der Aluminiumfolie verhielt. Alles zusammengenommen überzeugte mich davon, dass es sich um ausgezeichnete Heroinbase handelte. Beim Wiegen ergab sich dann, es waren etwas über tausendfünfhundert Gramm… Nur dreitausend US$ verlangte der verschlafene Schwager dafür. Am Ende einigten wir uns sogar auf nur zweitausendfünfhundert. Der Mann hatte offenbar keine Ahnung von den gängigen Preisen. Ich vermutete, er hatte die Portion heimlich von einem größeren Transport des vergangenen Jahres abgezweigt… Weil das Material in Zukunft überwiegend injiziert werden würde, reinigte ich es einigermaßen, indem ich es in Methanol löste, filterte und das Methanol verdunsten ließ. Dabei blieben als Verunreinigungen

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nur etwas Staub und zwei kleine Kieselsteine im Filter zurück. Weiter zeigten sich keine in Methanol unlöslichen oder nur schwer löslichen Stoffe, wie etwa Koffein, Paracetamol oder Zuckerarten. Ich hatte, wie ich fand, einen sehr guten Kauf getan. Jetzt galt es nur noch, ungestört damit nach London zu gelangen. Weshalb gerade nach London, stand in den Sternen. Ich war noch nie zuvor in London gewesen, kannte dort weder die Marktlage, noch die gesetzliche und polizeiliche Situation. Aber London war in meinem Kopf als Reiseziel erschienen und deshalb würde es auch London werden. Es war eine Angelegenheit des Instinkts. Ein Ort tauchte ohne besonderen Grund in meinem Kopf auf und ich machte ihn zum nächsten Reiseziel. So war es mir in der Vergangenheit schon mit Colombo ergangen, mit Karachi, Peshawar, Kandahār, Malaysien, Singapur, Tanger, Barcelona, Paris und Caracas und die Reise hatte sich noch immer in irgendeiner Weise gelohnt. Ich hatte wieder ein Stück mehr von der Welt gesehen und war auch meist wieder an Geld gekommen, um meine Reisen fortzusetzen... In Singapur, hatte ich bei einem chinesischen Schneidermeister nach eigenen Angaben eine besondere Weste fertigen lassen. Der chinesische Schneider begriff sofort, wozu die Weste dienen sollte. Er lachte und ließ dabei, wie ein Kaninchen, seine letzten beiden Zähne erglänzen, zwei obere Schneidezähne von der Farbe alten Elfenbeins. Es bereitete uns Beiden viel Vergnügen, während der Arbeit stets neue raffinierte Details zu ersinnen. Die Weste war aus hautfarbenem Vinyl, demselben Material, aus dem etwas kostspieligere Sexpuppen waren. Das Material fühlte sich an wie echte menschliche Haut. Die Weste war hohl, an einer Seite offen und mit einem Klettband verschließbar. Das Klettband war so eingearbeitet, dass keine Unebenheit zu ertasten war. An der Seite, mit der die Weste am Körper auflag, war sie mit feinem Filz bespannt. Sie fühlte sich gut an, trug man sie auf nackter Haut. Diese

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Weste ließ sich, je nach Sorte und spezifischem Gewicht, mit bis zu zwei Kilogramm Pulver füllen. Packte man mehr hinein, wirkte man ungünstig korpulent. Die Ränder der Weste, mit denen sie an den Schultern, an Kragen und Hals anlag, liefen so fein aus, dass sie keinen tastbaren Übergang bildeten. Die Weste war länger als gewöhnliche Westen und wurde mit ihrem fein auslaufenden unteren Ende wie ein Hemd in die Hose gestopft. An der Vorderseite befand sich in leichtem Relief, eine Idee des chinesischen Schneiders, Brust-, Rippen-, und Bauchpartie eines durchschnittlich athletischen jungen Mannes und am Rücken die entsprechende Schulterpartie. Trug man auch nur ein einfaches Baumwollhemd darüber, die Weste war durch bloßes Hinsehen oder Abtasten des Körpers nicht wahrnehmbar. Das einzig Verräterische an ihr war der Übergang am Hals, den man aber unter einem Schal, einem Halstuch oder unter einem Hemdkragen gut verbergen konnte. Diese Weste war ein Meisterwerk chinesischer Schneiderkunst und doch, hatte sie nur eintausend US$ gekostet... Mit der Weste wohl gefüllt, erreichte ich Paris. Dort verbrachte ich drei Tage in einem kleinen Hotel am Montmartre. Tagsüber spazierte ich durch die Straßen und nahm das Leben der Stadt in mir auf. Ein Nachtleben gestattete ich mir keines. Ich ging früh zu Bett, da ich möglichst entspannt und ausgeschlafen in England eintreffen wollte. Nach drei Tagen erwarb ich ein Ticket, das mich zuerst mit der Bahn nach Calais brächte, von dort mit der Fähre nach Dover und weiter mit der Bahn zur Londoner Victoriastation… Die Fahrt von Paris nach Calais legte ich bequem in einem französischen Ruck - Zuck - Hochgeschwindigkeitszug zurück. Zumindest kam es mir so vor, als sei es einer dieser französischen Ruck-Zuck-Hochgeschwindigkeitszüge. Die Fahrt verlief

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ausgesprochen rasant und Bäume sowie Telegrafenmasten flitzten nur so am Fenster vorüber. Während der Fahrt bot sich keine Gelegenheit, auf einer Toilette des Zuges den Sitz meiner Weste zu überprüfen und notfalls zu korrigieren. Vor jeder Toilette des langen Zuges standen zu jedem Zeitpunkt der Fahrt wenigstens acht bis zehn Leute und warteten, um an die Reihe zu kommen. Ob sie wohl auch Schmuggelwesten trugen? In Calais hatte ich bis zur Abfahrt der Fähre noch etwas Zeit. In der Toilette eines Straßencafes überprüfte ich den Sitz der Weste und verabreichte mir die letzte Injektion auf dem Europäischen Festland. Die gebrauchte Spritze, die verbogene Nadel sicher in ihrem Hohlraum geborgen, versenkte ich in einem Papierkorb am Straßenrand. Jetzt hatte ich nur noch einen Tropfer und einige Injektionsnadeln ohne Kunststoffkonus bei mir. Der Tropfer befand sich auf dem Grunde meiner Reisetasche im Kulturbeutel zwischen Rasierschaum, Seife und anderem Zeug. Von den Nadeln staken zwei in der Hülle des Kulturbeutels und zwei im Kragen meines Hemdes. Man sollte bei Grenzübertritten keine Injektionsspritzen bei sich haben. Fanden Zöllner sie, gäben sie so lange keine Ruhe, bis sie auch gefunden hatten, was hinein gehörte. Ich würde in London neue Spritzen auftreiben. So nicht, musste eben der gute alte Tropfer herhalten... (Das Injizieren mit einem Tropfer wird im ersten Band, „Blut & Mohnmilch“, unter der Überschrift „Die Strafzelle“ ausführlich beschrieben…)

Auf der Fähre nach Dover war ich so ziemlich der einzige Passagier, der nicht schwer betrunken war. Es waren überwiegend junge Engländer, die halb bewusstlos vor Trunkenheit am Boden lagen und mit dem Seegang hin und her rollten. Sie kotzten in die Ecken und hingen benommen in den Liegestühlen an Deck. Außer dem Personal

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der Fähre, sah ich während der ganzen Reise nicht eine nüchterne Person. Dass junge Engländer außer Landes nicht zu den gesittetsten Europäern zählten, sollte ich im Laufe der Jahre noch öfter erfahren. Sie zeigten in ihrem Verhalten, deutlicher als Jugend anderer Nationen, das genaue Gegenteil des Verhaltens, dass man ihnen zuhause als wünschenswert aufzwingen wollte. Sie zeigten, wie Münzen, genau das gegenteilige Bild des Prägestempels. Von ihrem Benehmen konnte man direkt auf die politischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Zustände in ihrer Heimat schließen… Als ich auf der Fähre eine Wechselstube fand, nahm ich die Gelegenheit wahr um einige falsche einhundert Dollarnoten in englische Pfund zu wechseln. Die falschen Dollarnoten hatte ich wenige Wochen zuvor für etwas Kleingeld von einem Spanier erworben. Sie waren gut gearbeitet und sahen durchaus echt aus. Man musste nur darauf achten, zum Einlösen nur solche zu wählen, die den gleichen Grünton hatten. Sie waren nämlich nicht alle gleich grün. Die Unterschiede waren zwar nur gering, aber sie waren vorhanden. Falschen Dollarnoten mit diesem Mangel, sollte ich im Laufe der Jahre noch öfter begegnen. Spannte man einen dieser falschen Dollarscheine über einen Fingerknöchel und rieb damit über weißes Papier oder weißen Stoff, blieb darauf ein grüner Farbabrieb zurück. Man möchte meinen, dies sei von Nachteil, es war aber im Gegenteil von Vorteil. Tatsächlich färbten auch echte Dollarnoten auf dieselbe Weise ab. Färbt ein Dollarschein nicht ab, ist er entweder falsch oder schon sehr alt. Dasselbe galt übrigens auch für niederländische Gulden. Mit Euros habe ich es bisher noch nicht versucht. Ich überlasse es den Lesern… Als sich die Fähre den Kreideklippen von Dover näherte, kam mir eine Idee. Ich ginge, so dachte ich, als erster von Bord. Sahen die

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Zöllner die ruppige, besoffene Bande hinter mir von Bord gehen, ließen sie mich gewiss anstandslos vorüber und befassten sich stattdessen mit ihr. Es war, wie sich zeigte, eine dumme Schlussfolgerung. Die Zöllner von Dover waren es natürlich gewöhnt, täglich ihre jungen Landsleute in Scharen besoffen von Bord der Fähren kommen zu sehen. Ich dagegen, mit meiner Reisetasche und meiner fleckenlosen Kleidung, stach aus diesem Haufen hervor, wie ein Blutfleck im Schnee… Kam man in Dover von der Fähre, lief man auf zwei parallel verlaufende Korridore zu. Über einem brannte ein rotes, über dem anderen ein grünes Licht. Ging man durch den grünen Korridor, zeigte man damit an, dass man nichts zu verzollen hatte. Lief man hingegen durch den roten, wünschte man etwas zu verzollen. Ich hatte nichts zu verzollen, oder zumindest nichts, das ich verzollen wollte. Ich lief folglich durch den grünen Korridor und wurde am anderen Ende prompt von einem uniformierten Zöllner empfangen. „Sie verstehen Sinn und Zweck des roten und grünen Korridors?“, fragte er freundlich. „Ja“, antwortete ich. „Ich habe nichts zu verzollen“. Er bat, „Kommen sie bitte mit mir“ und wies mit einer Geste seiner Hand den Weg. Er führte mich an einen Tisch, hinter dem zwei seiner Kollegen standen. Dort musste ich meine Reisetasche öffnen. Während zwei Zöllner ruhig und bedacht durch den Inhalt meiner Tasche gingen, grölte hinter mir die gesamte besoffene Meute von der Fähre am Zoll vorbei und ins Freie. Von allen Passagieren war ausgerechnet ich der einzige, der überprüft wurde. Beim nächsten Mal, so nahm ich mir im Stillen vor, torkelte auch ich besoffen von Bord, wie der Rest der Passagiere… In Filmen, wie etwa „Midnight Express“, oder „Blow“, sieht man Schmuggelsituationen wie eben diese. In „Blow“ erklärt der Schmuggler dem Filmpublikum, er denke in solchen Situationen gerne

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an etwas Schönes, um sich abzulenken und nicht nervös zu werden. Solche Gedankenspiele gestattete ich mir nie. Für mich war es wichtig, stets scharf anwesend zu bleiben, dabei aber ruhig und entspannt zu wirken. Der Schmuggler im Film „Midnight Express“, kam als Schmuggler gar nicht erst in Frage. Er hatte zu viel Angst und zu viel schlechtes Gewissen. Wer so viel Angst und schlechtes Gewissen hat, schmuggelte besser nicht. Hatte man ein schlechtes Gewissen, tut man etwas, womit man im Grunde seines Herzens selber nicht einverstanden ist. Man sollte aber nie gegen das eigene Einverständnis handeln. Außerdem war der Fall von Midnight Express so dämlich, seine Schmuggelware in Aluminiumfolie zu verpacken, die von Metalldetektoren angezeigt wird, wie es sie an allen Flughäfen gibt. Ich war jedenfalls mit meinem Schmuggeln voll einverstanden. In meinen Augen versorgte ich Menschen mit wichtigen Arzneistoffen, die ihnen aus ideologischen, politischen und finanziellen Gründen von einflussreichen Interessenverbänden geraubt worden waren und ich verwendete zum Verpacken meiner Waren auch nie Aluminiumfolie… Zöllner sind geschult, auf alle Anzeichen von Angst, Unruhe und Nervosität zu achten. Schlug die Halsader sichtbar, schwitzte man, oder atmete man zu rasch, wurden sie aufmerksam. Es galt, sich gut unter Kontrolle zu haben und das gelang noch am besten mit einem günstigen Heroin-Blutspiegel… Schmuggeln bedeutet, Grenzübertritte mit verbotenen Waren wagen. Das kann nervenaufreibend sein. Vor allem, wenn es sich um Flughäfen oder Schiffshäfen handelt. Man braucht eine stabile Psyche dazu und einen wachen Intellekt. Wird man angehalten und das Gepäck wird durchsucht, ist es ratsam, die Aufmerksamkeit der Zöllner subtil dorthin zu lenken, wo es nichts zu finden gibt. Hat man die Ware

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beispielsweise am Körper, lenkt man die Aufmerksamkeit auf den Koffer. Ich hatte eine Zeitlang diesen gigantischen knallroten Dildo bei mir, einen halben Meter lang und dick wie der Arm eines Mannes. Öffnete man meinen Koffer, lag dieser Dildo gut sichtbar auf einigen Pferdemagazinen. Zöllner, öffnet den Koffer, sieht den gigantischen Dildo liegen und weicht erschrocken zurück. Schmuggler zum Zöllner: „...Das ist aber nicht, was Sie jetzt denken“. Zöllner: „Oh nein“? Schmuggler: „Nein. Der ist nämlich für Pferde“. Zöllner: „Für Pferde also“!? Schmuggler: „Ja. Für Pferde. Zur künstlichen Befruchtung von Pferden“. Zöllner: „Aha“. Schmuggler: „Sehen Sie diese beiden kleinen Bälle am unteren Ende“? Zöllner, zaghaft: „Ja…“? Schmuggler: „Die arbeiten wie Pumpen“. Zöllner: „Wie Pumpen…“!? Schmuggler: „Ja. Wie Pumpen. Drückt man darauf, sehen Sie, so, dann quillt oben an der Spitze eine Kelle Pferderotze hervor. Ich kann es Ihnen gerne demonstrieren“. Schmuggler greift entschlossen zum Dildo. offenbar bereit, zur Tat zu schreiten... Zöllner, weicht angewidert zurück: „Nein nein! Ich bitte Sie, lassen Sie nur! Ist schon gut! Schließen Sie Ihren Koffer und gute Weiterreise...“! Verwirrungstechniken wende man besser nicht an, wo man mit Kameras beobachtet wird. Die Menschen hinter den Monitoren sind zu distanziert um mit Verwirrungstechniken manipuliert zu werden. Ihnen fällt sofort auf, dass man bewusst zu manipulieren versucht. Verwirren, und damit von vorneherein die Kontrolle über die Situation zu ergreifen,

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kann in Zügen hilfreich sein. Sitzt man etwa im Schnellzug von Amsterdam nach München, wird man von Zöllnern in Zivil gefragt, ob man Drogen bei sich habe. Die Zöllner sind in Zivil und zu Tarnungszwecken im „Schmuddellook“ gekleidet. Als Zöllner zu erkennen sind sie nur an einer schmalen, schmutzig-gelben Armbinde mit der Aufschrift „Zoll“. Der Schnellzug von Amsterdam nach München ist, wie meist, wohl gefüllt. Nicht nur sind alle Sitzplätze der verschiedenen Abteile besetzt, auch die Stehplätze in den Gängen sind voll. In einem Abteil sitzen sechs Menschen. Gleich neben der Tür sitzt ein Herr gehobenen Alters (fünfundfünfzig – sechzig Jahre. Er ist der eigentliche Schmuggler). Neben ihm sitzt eine etwas füllige Dame um die fünfundvierzig. Sie trägt ihre mausgrauen Haare hochgesteckt und hat eine goldene Rotkreuzanstecknadel am Revers. (Sie ist eingeweiht). Am Fensterplatz der Sitzreihe gegenüber, sitzt ein schmuddeliger junger Mann mit einer Ballonmütze in den Nationalfarben Jamaikas auf dem Kopf. Zwischen seinen Knien hält er einen ausgefransten, prall gefüllten Rucksack. (Er gehört auch dazu) Die anderen drei Fahrgäste im Abteil sind gewöhnliche Reisende, die nichts von der Schmuggelaktion wissen. In den Kofferablagen über ihren Köpfen liegen allerlei Gepäckstücke. Die dunkelgraue Reisetasche dazwischen, enthält in ihrem doppelten Boden sechs Kilogramm Kokain. Fragte man die Fahrgäste, wem diese Tasche gehört, wüsste keiner Antwort zu geben. „Die war schon da als ich rein kam…“, würde (fast) jeder wahrheitsgemäß berichten. Wollten Zöllner gerade über diese Tasche Näheres erfahren, sagte die ältere Dame mit der Rotkreuzanstecknadel am Revers gedankenverloren, „Die ist doch von der jungen Frau die im Gang gestanden hatte und kurz weggegangen war um nach ihrem Freund zu sehen, oder nicht“?

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Die Tür des Abteils öffnet sich und zwei junge Zollbeamte im tarnungsmäßigen Schmuddellook quetschen sich ins Abteil. Als Zollbeamte sind sie lediglich an einer schmutzig-gelben Armbinde mit der Aufschrift „Zoll“ zu erkennen. Die etwas füllige Dame mittleren Alters tupft behutsam mit einem Papiertaschentuch einige Schweißperlen von der Stirn des älteren Herrn. Der lutscht unterdessen schamlos an einer aufgeweichten Erbsenwurst. Einer der Zollbeamten fragt, „Guten Tag. Hat hier jemand Drogen bei sich“? Der ältere Herr wirft seinen Kopf zur Seite und zischt, für Jedermann gut hörbar, „Faschistenpack“! Die Zollbeamten fahren herum und sehen ihn drohend an. „Oh bitte“, fleht die füllige Dame und tätschelt dabei zärtlich die Hand des älteren Herrn, „bitte verzeihen Sie ihm und verübeln Sie es ihm nicht. Er kann nichts dafür. Er ist krank. Er leidet an Tourettes Syndrom. Hier, ich habe auch einige Unterlagen bei mir…“. Die ältere Dame kramt ungeschickt in ihrer Handtasche. Während dessen zischt der ältere Herr, „Drecksäue“ und wirft seinen Kopf zur Seite. In diesem Moment fängt der junge Mann mit der bunten Ballonmütze und dem Rucksack zwischen seinen Knien, laut und unkontrolliert an zu lachen. Einer der Zöllner fährt ihn an, „Was gibt es da zu lachen? Ist das dort ihr Rucksack“? Der junge Mann antwortet: „Ja, dies ist mein Rucksack“. Zöllner: „Dürfen wir einmal hinein sehen“? Der junge Mann: „Nein“. Der älterer Herr ruft: „GESTAPO!“ und wirft seinen Kopf zur Seite. Zöllner zum jungen Mann: „Nehmen Sie bitte ihren Rucksack und treten Sie mit uns in den Gang hinaus“. Der junge Mann nimmt seinen Rucksack und erhebt sich. „Die Tüte!“, brüllt plötzlich der ältere Herr. „Um Himmelswillen! Rasch! Die Tüte“! Die füllige Dame neben ihm, mit der Rotkreuzanstecknadel am Revers, kramt hastig in ihrer überfüllten

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Handtasche und fördert eine braune Papiertüte zutage. Sie entfaltet die Tüte und will sie dem älteren Herrn vors Gesicht halten. Doch zu spät. Der ältere Herr übergibt sich und kotzt einen Schwall erbsengrünen Brei knapp an der Tüte vorbei über das Hosenbein des Zöllners. Danach reißt er seinen Kopf zur Seite und zischt, „Henkersknechte“! „Oh, das ist mir ja so peinlich!“, ruft die ältere Dame und wringt die Hände. „Die gute Hose“! Mit der Papiertüte in der Hand, versucht sie, den grünen Brei vom Hosenbein des Zöllners zu wischen und verteilt ihn dabei nur umso mehr. Inzwischen steigt der junge Mann mit der bunten Ballonmütze, seinen Rucksack in der Hand, vorsichtig über die Beine seiner Mitreisenden hinweg und kommt, noch stets unkontrolliert lachend, bei den beiden Zöllnern an. „Ihnen wird das Lachen gleich vergehen“, knurrt einer der Beiden. Er packt den jungen Mann bei der Schulter und stößt ihn vor sich her in den Gang hinaus. „Arschficker!“, zischt der ältere Herr ihnen hinter her. Nach etwa fünfzehn Minuten, kommt der junge Mann mit der bunten Ballonmütze wieder ins Abteil zurück. Er wirkt zerzaust, aus seinem ausgefransten Rucksack hängen Kleidungsstücke. Er entschuldigt sich artig bei seinen Mitreisenden für das von ihnen erlittene Ungemach, er steigt vorsichtig über ihre Beine hinweg und setzt sich wieder an seinen Fensterplatz. Die Zöllner sind unterdessen schon im nächsten Abteil beschäftigt… Die Zöllner von Dover waren fertig mit meiner Reisetasche. Nun begann das übliche Frage- und Antwortspiel. Was der Grund meiner Reise nach England sei, wollten sie als erstes wissen. Eine Bekannte war vor Jahren nach London gezogen. Ich gab vor, sie zu besuchen. Mit der Anzahl der Fragen, schien der atmosphärische Druck im Raum zu steigen, aber nur ich, mit meinen übersensibilisierten Nerven, nahm es wahr. In einem besonders heiklen Moment der Befragung dachte ich schon, jetzt legen sie mir jeden Moment Handschellen an und bringen

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mich zur Leibesvisitation in einen Nebenraum, als einer der Zöllner stramme Haltung annahm und salutierte:, „ I wish you a nice stay in London, Sir“! Hätten sie auch nur in die Taschen meiner Jacke gesehen, ihnen wäre aufgefallen, ich trug zwei verschiedene Reisepässe bei mir, die zwar beide auf dieselbe Person ausgestellt waren, wovon aber einer zahlreiche Ein- und Ausreisestempel von Pakistan, Afghanistan, Singapur und Thailand aufwies und der andere, den ich vorgezeigt hatte, nur einen Einreisestempel des Pariser Flughafens Orly… Ich war heil durch den Zoll gekommen und befand mich in England. Nun sehnte ich mich nach nichts mehr, als nach ein wenig Ruhe, Abgeschiedenheit, einem guten Glas Cognac und einer Heroininjektion. Zuvor stand mir aber noch die Bahnfahrt von Dover zur Londoner Viktoriastation bevor. Aber es war ein schöner Tag, es waren kaum Passagiere im Zug und die Fahrt durch die englische Landschaft erwies sich nach all den Spannungen der letzten Stunden als wohltuend... In der Viktoriastation nahm ich die Metro zu Kensington Cross. Dort fand ich ein kleines bürgerliches Hotel. Im Zimmer nahm ich die Weste ab und suchte nach einem geeigneten Versteck. Das Zimmer hatte eine Hängedecke, gefügt aus Platten, die man nach oben drücken und zur Seite schieben konnte. Im Hohlraum darüber, verstaute ich schließlich die Weste samt ihrem kostbaren Inhalt... Von der Chelsea Drugstore, oberhalb Piccadilly Circus, hatte ich schon vor Jahren gehört. Ich ließ ein Taxi kommen, fuhr hin, erwarb einige zehn ml und fünf ml Einmalspritzen und fuhr wieder zum Hotel zurück. Ich verabreichte mir eine gesunde Dosis meiner Heroinbase, ließ eine Flasche Cognac kommen und nahm ein heißes Bad. Danach legte ich mich aufs Sofa und dachte an die Ereignisse der vergangenen

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vierundzwanzig Stunden. Dabei beschäftigte mich besonders der Vorfall beim Zoll in Dover. Wie konnte ich nur so dämlich gewesen sein, in einer solchen Lage als erster von Bord zu gehen? Ich hätte mich an Bord ordentlich besaufen und zerraufen, oder mich wenigstens betrunken geben müssen, um unauffällig mit dem Rest der Meute grölend von Bord zu fallen. So in Gedanken versunken, schlief ich schließlich ein und erwachte erst gegen Mittag des nächsten Tages wieder… Für Morphingewöhnte ist es nicht schwer, in einer fremden Stadt den Ort zu finden, an dem der Opioidschwarzmarkt stattfand. Ich musste jedenfalls nie lange danach suchen. Mein Körper spazierte wie von einem Leitstrahl geführt, sicheren Schrittes und ohne Umwege, ganz von alleine an den richtigen Ort. Es war eine kleine Seitenstraße, die Piccadilly Circus und Kensington Market verband. Dort, an einer Straßenecke, befand sich ein Mac Donalds Restaurant, das zur Straße hin eine Wand von Glas besaß. Dort bestellte ich einen großen Becher Milkshake und beobachtete durch die gläserne Restaurantfront, das Treiben der Leute auf der Straße. Leute kamen, standen eine Weile und gingen wieder, drehten offenbar einige Runden durch die umliegenden Straßen, kehrten wieder, standen, sprachen miteinander, bildeten Grüppchen, lösten sich wieder und gingen und kamen und standen und sprachen. Es herrschte auffallend lebhaftes Treiben in dieser Straße. Gab man gut Acht, bemerkte man, es waren stets nur bestimmte Leute, die sich am meisten in Bewegung befanden. Ich winkte zwei von ihnen zu mir ins Restaurant und an meinen Tisch. Es war ein junger Grieche in Begleitung einer italienischen Freundin. Ich kam ohne Umschweife zum Thema. Ich schob dem jungen Mann eine Zigarettenpackung zu und sagte, „Neben einigen Zigaretten, enthält diese Schachtel auch mehrere Papierbriefchen mit jeweils zwei Gramm Heroin. Du kannst es

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haben. Wenn Du willst, kannst Du alles verbrauchen. In dem Fall, sehen wir uns nie wieder. Du kannst aber auch klug sein und es verkaufen. Mache mir aus jedem Gramm fünfundsiebzig Pfund, bringe das Geld heute Abend um zweiundzwanzig Uhr zur U-Bahnhaltestelle Sheperds Bush und du bekommst mehr davon“. Der junge Grieche griff nach der Zigarettenschachtel. Er steckte sie in seine Jacke und sagte, „Ist gut. Ich werde heute Abend bei der U-Bahnhaltestelle Sheperds Bush sein“. An diesem Abend erschien er tatsächlich. Er hatte auffallend kleine Pupillen und alles Geld bei sich, wie ich es erwartet hatte. Ich steckte das Geld ein und sagte, „Läufst du die Straße etwa hundert Meter zurück, siehst du im Rinnstein eine zerbeulte Coladose liegen. Nimm sie auf. Sie enthält sechs Gramm. Wir treffen uns morgen Abend wieder, zur selben Zeit, hier, an diesem Ort“. In den nächsten Tagen schaffte ich drei weitere Verteiler an und verfuhr mit ihnen in gleicher Weise. Ich gab ihnen Vorschuss, sie brachten Geld und bekamen Nachschub… Lief man durch die Straßen Londons, spürte man etwas Sonderbares. In der Luft über einem, schwebte etwas und legte sich, wie unsichtbarer Staub, auf alle Dinge. Es war der Staub der Armut. Ich hatte noch in keiner Europäischen Hauptstadt so viele erwachsene Menschen ohne Socken in den Schuhen gesehen, die sich obendrein auf der Straße nach Zigarettenkippen bückten. Während Kleidung in London verblüffend billig war, waren Lebensmittel überraschend teuer. Zigaretten waren sogar so hoch versteuert, dass sich ein Schmuggel von Zigaretten vom Europäischen Festland nach England gelohnt hätte. Zugewanderte aus Indien, Pakistan, der Karibik und Südamerika, kamen noch am besten mit der allgemeinen Geldknappheit zurecht. Sie organisierten eigene Märkte und mieden andere Geschäfte und Supermärkte…

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Die Londoner Polizei hatte in Gestalt unauffälliger Bobbys die Gegend zwischen Piccadilly Circus und Kensington Market gut unter Kontrolle. Die Bobbys bedienten sich ihres harmlosen Aussehens und kleiner Sprechfunkgeräte, halb so groß wie eine Streichholzschachtel, die mit Clips an ihren Hemdkrägen befestigt waren. Damit verfolgten oder observierten sie verdächtige Personen: „Jack, er biegt gerade in die Harley Street ein. Gleich kommt er direkt auf dich zu“. „Jawohl Rupert, ich sehe ihn schon. Wie es scheint, will er zu dem Kontakt, den wir schon seit Tagen beobachten…“. Mit der Zeit fielen mir besonders zwei bestimmte Bobbys auf. Ich begegnete ihnen immer und immer wieder. Ihr Revier erstreckte sich offenbar von Piccadilly Circus bis Kensington Market, bedeckte den oberhalb liegenden Park, ging hoch bis zur Chelsea Drugstore und rüber bis zur Harley Street. Ihr Revier war somit auch das meine und nicht nur waren sie mir aufgefallen, sie hatten auch längst schon ein Auge auf mich. Zu oft, hatten sie mich schon in ihrem Revier gesehen und sich gefragt, was ich wohl ständig dort zu suchen hatte? Eines Tages stand ich vor einem großen Schaufenster und studierte scheinbar die ausgestellten Waren. Tatsächlich beobachtete ich aber diese beiden Bobbys, die sich in der Scheibe reflektierten. Sie standen hinter mir, auf der anderen Seite der Straße. Sie sahen immer wieder zu mir herüber und tuschelten miteinander. Schließlich überquerten sie die Straße und kamen direkt auf mich zu. Ich wartete den geeigneten Moment ab, drehte mich dann um, überquerte meinerseits auch die Straße und lief ihnen entgegen. Wie geplant, trafen wir uns genau in der Mitte der Fahrbahn. Ich hatte gehofft, sie sprächen mich mitten auf der Fahrbahn nicht an, doch ich hatte mich getäuscht. „Please, Sir, excuse us“, sagte einer der Beiden. „We wish to have a word with you“. Ich

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antwortete in Deutsch, „Ich verstehe leider kein Englisch…“. Ich wiederholte es und mischte dabei gerade so viele englische Brocken darunter, dass sie mich verstehen mussten. Doch einer der Beiden antwortete in perfektem Cockney, „You speak a better english then we do, Sir“, und er hatte recht. Mein Englisch war tatsächlich besser als das ihre. Jetzt konnte ich aber nicht mehr aus meiner deutschsprachigen Rolle fallen und so fragte ich die Beiden in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch nach einem billigen Hotel. Sie wussten keines und anhaben, konnten sie mir auch nichts, also verabschiedeten sie sich und gingen ihrer Wege… Ich unterschätzte diese Begegnung nicht. Die Gegend um Piccadilly Circus und Kensington Market war teuflisch heiß. Händler, die dort arbeiteten, übergaben ihre illegalen Waren, um sie nur nicht in der Hand zu haben, grundsätzlich nur per Kuss, vom Mund des Händlers, in den Mund des Käufers. Bobbys waren zwar traditionell nicht bewaffnet, aber ein Signal über ihre kleinen Sprechfunkgeräte reichte und buchstäblich binnen Sekunden waren bewaffnete Polizisten in Zivil zur Stelle. Ich hatte zwei Mal Gelegenheit, sie in Aktion zu beobachten... Harley Street, oberhalb Piccadilly Circus, sowie die Apotheke Chelsea Drugstore, unweit der Harley Street, waren bei allen Morphinbedürftigen Englands wohl bekannt. In Harley Street gab es die größte Ansammlung Heroin und Kokain verordnender Ärzte, die ich jemals gesehen hatte. Heroin war in England, unter der Bezeichnung Diamorphin, ein verschreibbares Schmerzmittel. Die Ärzte in Harley Street waren überwiegend Schmerztherapeuten und zumeist Privatärzte. Sie verordneten die Stoffe, nach denen es Morphinbedürftige verlangt, auf Privatrezepten. Mit einem Heroin- bzw.

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Kokainrezept aus der Harley Street, begab man sich nach nebenan zur Chelsea Drugstore, wie es schien, die einzige Apotheke weit und breit, die diese Stoffe in ausreichenden Mengen vorrätig hatte. Heroin, erhielt man in gläsernen Ampullen zu je zwanzig mg. In diesen Ampullen befand sich aber keine Injektionsflüssigkeit, sondern ein Häufchen weißes Pulver. Auf der Ampulle klebte ein Etikett auf dem stand, „Diacethylmorphin (Heroin) 20 mg, 96%. Caution! Deadly poison“. Die 20 Milligramm Pulver aus der Ampulle konnte man entweder unter Zugabe von sterilem destilliertem Wasser in Injektionslösung wandeln, oder man schnupfte oder rauchte es, je nach Bedarf. Kokain, gab es in Tüten oder papierenen Umschlägen. Der Apotheker schaufelte es mit einer Bonbonschaufel, wie man sie in Süßwarenläden sieht, aus einem Papiersack, gab die Ladung erst auf eine Waage und reichte sie danach dem Kunden. Warum kauften Menschen Heroin auf dem schwarzen Markt, wo man es doch von den Ärzten in Harley Street verordnet bekam? Die Honorare dieser Ärzte, zusammen mit den Kosten der Chelsea Drugstore, waren so horrend hoch, dass illegales Heroin billiger war...! Nach knappen zwei Monaten hatte ich, bis auf meinen eigenen Vorrat, alles veräußert. Pessimistisch wie ich war, hatte ich im Verkaufspreis von Anbeginn zehn Prozent Verlust durch Betrug einkalkuliert. Man kannte das: Der Verteiler erschien zwar zum verabredeten Treff, aber er hatte, anstatt Geld, nur eine flaue Geschichte bei sich. „Ich musste das Zeug wegwerfen, Mann! Die Bullen waren hinter mir her und fast hätten sie mich auch geschnappt, also warf ich es rasch in den Straßengraben“. Diese Geschichten waren so gut wie nie wahr und es gab keine darunter, die ich nicht auch schon selber verwendet hatte. Auch hierin, gab es nichts Neues unter der Sonne. Aber in London hörte ich eine dieser Geschichten nur ein

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einziges Mal und sie betraf nur zwei Gramm. Es war mein griechischer Verteiler, der an einem Abend damit ankam. Ich sah ihm in die Augen und erkannte keine Spur von erweiterten Pupillen. Das bedeutete, er hatte noch Stoff genug für sich selbst, aber meine Ware musste er angeblich wegwerfen, weil die Polizei hinter ihm her war? „Ist gut“, sagte ich, „Das kommt schon mal vor“. Ich erzählte ihm, im Moment hätte ich auch nichts bei mir. Träfe er mich aber in zwei Stunden an der U-Bahn Haltestelle Kings Cross, bekäme er wie üblich seine Ware. Unnötig zu erwähnen, ich erschien nie an der U-Bahn Haltestelle Kings Cross. Ich sah den Jungen nie wieder. Wahrscheinlich war er von der Verteilerabteilung in die Kundenebene gegangen und kaufte seinen eigenen Bedarf fortan von einem meiner anderen Verteiler… Drüben am Europäischen Festland, gab es etwas, das mächtig an mir zog, etwas, das mir schon seit Tagen durch die Gedanken spukte. Es war, als zöge es wie ein Magnet an mir. Es kam mir gleich morgens, nach dem Erwachen, in den Sinn, ich dachte daran während des Tages, während des Essens, während des Einkaufens, während meiner Spaziergänge durch die Stadt, ich dachte daran während der Treffs mit meinen Verteilern und ich dachte sogar daran, während ich Sandy poppte, die junge Verkäuferin des Drogeriemarktes: Amsterdam, war es, was so mächtig an mir zog! Und zum Teufel! Amsterdam sollte mein nächstes Reiseziel sein!

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Amsterdam Strahlendes Sommerwetter empfing mich, als ich aus der Amsterdamer Central Station auf den großen Vorplatz trat. Es hatte etwas Befreiendes. Es war, als fielen Gewichte von mir ab, als liefe ich unter einem geblümten Himmel. Zwölf Jahre zuvor, war ich schon einmal in dieser Stadt gewesen. Aber damals hatte ich die meiste Zeit nur im Hotel am Telefon verbracht. Von der Stadt selbst, hatte ich kaum etwas gesehen. Das, sollte diesmal anders werden. Tatsächlich sollte es diesmal fast zwanzig Jahre dauern, bis ich diese Stadt endgültig wieder verließ… Geld, der Brandstoff Amsterdams, war verstärkt in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofes konzentriert. Dort befanden sich das Rotlichtviertel, das Bordelviertel der Stadt, der Zeedijk, die Heroin und Kokain Meile, die Fußgängerzone und Einkaufsstraße mit ihren vielen Geschäften, Jugendhotels, Coffee Shops und nicht weit davon entfernt, die Amsterdamer Börse. Die vielversprechendsten Aspekte solcher Gegenden, fand man für gewöhnlich in ihrer Peripherie. Dort fiel mir auch sofort in den Schoss, wonach andere lange vergebens suchten: Eine billige Bleibe im Stadtzentrum. An der Gracht „De Binnenkant“, gleich hinter dem Rotlichtviertel, lag ein alter, zum Wohnschiff umgebauter Binnenschifffahrtskahn mit dem Namen „Lovejoy“. Das Wohnschiff „Lovejoy“ Die Wanne „Lovejoy“, gehörte einem alten Weltverbesserer mit zerknittertem Gesicht und zerzaustem Vollbart. Wie er erzählte, hatte auf seinem Schiff die Deutsche Grüne Partei ihre Anfänge genommen. Wäre Lenin persönlich auf dem Kahn geboren worden und hätte darauf die Sowjetunion gegründet, es hätte mich nicht weniger interessiert. Zwölf flappige Gulden, wollte der zerzauste Weltverbesserer pro

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Übernachtung haben. Ich zahlte zehn Übernachtungen im Voraus und machte mich auf zu einem Spaziergang durch die Nachbarschaft… Die unmittelbare Umgebung der Amsterdamer Central Station, war quirlig. Links, das Rotlichtviertel, dahinter das alte Chinesenviertel mit dem Zeedijk, und dahinter die Binnenkant samt „Lovejoy“. Rechts der Central Station lag die Fußgängerzone, die Calverstraat, die Einkaufsstraße der Innenstadt, umringt von Coffee Shops, Hotels, Restaurants, Snackbars, Homoschuppen, Sado-Maso-Bars und Geschäften jeglicher Art… Ich bog von der Calverstraat in eine schmale Seitengasse ab und stieß dabei mit einem Mann zusammen, der von der anderen Seite gekommen war. Der Mann sah mich an und rief sofort, „What the devil are you doin‘ in Amsterdam“? Manchmal erzeugten Engel unsere Zufälle und manchmal Teufel. Der Mann war Mike, ein Schotte, der aussah wie Paul Newman. Mike und ich hatten uns einige Jahre zuvor in einem deutschen Gefängnis kennengelernt, wo er fünf Jahre wegen Import und Verkauf von Heroin verbrachte und ich drei Jahre wegen ähnlicher Geschichten. Mike und ich schlüpften in den nächsten Coffee Shop und erzählten einander Erlebtes der vergangenen Jahre. Als wir uns wieder trennten, hatte ich Mikes Telefonnummer in meiner Tasche und er hatte die Adresse des Wohnschiffes Lovejoy in der seinen… Die LSD Quelle Wenige Tage später, die Sonne schien und der zerzauste Weltverbesserer reparierte gerade sein Fahrrad draußen am Kai, hörte ich die Stimme eines Mannes nach Carlito fragen. Kurz danach betrat ein kräftiger Ire den Schiffsraum. Er reichte mir die Hand und erklärte, er sei ein Freund von „Paul Newman“. Wir setzten uns und teilten eine

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Kanne Frühstückskaffee. Der Ire griff in seine Jacke und holte einen Umschlag hervor. Er öffnete ihn und entnahm ihm fünf quadratische Bögen mit je tausend Einzeldosen von LSD. Die Bögen waren nicht, wie bei LSD Bögen üblich, aus einfachem Papier, einseitig bedruckt mit kleinen Bildchen. Diese Bögen waren vielmehr aus sichtlich saugfähigem Papier, wovon eine Seite mit durchsichtiger Kunststofffolie versiegelt war und die andere Seite mit gewöhnlichem weißem Papier, auf dem in jeweils gleichen Abständen eintausend kleine blaue Punkte gezeichnet waren. Diese Punkte, markierten die einzelnen Dosen… LSD auf Papier dieser Sorte, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Die ganze Machart dieser Bögen ließ darauf schließen, dass sie direkt aus einer Fertigungsstätte stammten, in der man wohl über LSD verfügte, nicht aber über die Kenntnis, den Willen oder die Möglichkeit, übliche bebilderte Papierbögen zu schaffen. Die LSD Bögen des Iren erweckten den Eindruck, sie kämen unmittelbar von einer einfachen, aber effizienten Quelle. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als ich den Preis vernahm. Ein Bogen mit je eintausend Einzeldosen sollte nur fünfhundert Gulden kosten, damals etwa vierhundertfünfzig Mark, heute etwa zweihundert Euro. Kaum hatte ich meinen Fuß in diese Stadt gesetzt, schon war ich mitten ins LSD Geschäft gefallen. Als der Ire wieder ging, lagen fünf Bögen zu je eintausend Einzeldosen auf meinem Frühstückstisch, zu bezahlen, erst nach Verkauf… Jeder Stoff brachte spezifische Kunden mit sich. Neben Cannabisprodukten, brachte LSD von allen verbotenen psychotropen Substanzen noch die erträglichsten Kunden. Handelte man beispielsweise mit Kokain, Amphetamin oder gar Heroin, war es ratsam,

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bewaffnet zu sein. Handelte man mit LSD, reichte schon ein Blümchen hinter dem Ohr… Die Innenstadt, die Umgebung der Central Station und die Vergnügungsecke am Leidseplein, mit den beiden bekannten Läden, „Paradiso“ und „Milk Way“, waren gut geeignet, einen Kundenstamm für LSD zu bilden. Dort traf man Menschen aus aller Welt, auf der Suche nach größeren Mengen dieses hervorragenden Halluzinogens. Ich brachte das Zeug ab einhundert Stück aufwärts für drei Gulden und achtzig Cent pro Einheit unter die Leute. Wie viel ich auch absetzte, nie hatte der Ire Nachschubprobleme. Er saß direkt an der Quelle, darüber bestand kein Zweifel… Manchmal lenkten Engel unsere Zufälle und manchmal Teufel. Lag die Kunst etwa darin, zu erkennen, wer von beiden gerade lenkte…? Marihuanabesitz in Amsterdam Entgegen landläufiger Meinung, sind Cannabisprodukte in den Niederlanden nicht legal. Sie werden lediglich geduldet. Wird man von der Polizei im Besitz von Cannabisprodukten angetroffen, steht es den Polizeibeamten frei, es dabei zu belassen, oder die Angelegenheit zur Anzeige an die Staatsanwaltschaft weiter zu reichen. Eines Abends hatte ich eine Verabredung am Leidseplein. Ich hatte einen kleinen angeleinten Hund bei mir, saß auf einem Mäuerchen vor dem Milk Way und sah dem Treiben auf der Straße zu. Gleich gegenüber, gab es eine Polizeistation, aus der plötzlich eine Gruppe uniformierter Polizisten trat. Sie gingen zu beiden Enden der Straße, riegelten sie ab und verhafteten jeden, der sich im abgeriegelten Bereich befand. Ich sah gerade interessiert zu, als einer der Polizisten meine Schulter packte, mich vom Mäuerchen zerrte und sagte, „Du kommst auch mit“!

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Sie verhafteten ungefähr fünfundzwanzig Leute, überwiegend dunkelhäutige Menschen aus Surinam oder den Niederländischen Antillen. Im Polizeirevier musste jeder seine Taschen leeren. Ich hatte nichts Verbotenes bei mir und somit, wie ich dachte, auch nichts zu befürchten. Sie nahmen Personalien auf, nahmen jedem Gürtel, Schnürsenkel und Tabak weg und sperrten uns alle in eine große Zelle. Dort saß ich dann, mit meinem Hund und rund fünfundzwanzig anderen Leuten bis gegen vier Uhr morgens. Dann wurden wir wieder frei gelassen. In einem versiegelten Plastikbeutelchen bekamen wir Gürtel, Schnürsenkel und Tabak zurück und durften wieder gehen. So verfuhr man damals mit Straßenhändlern in der Absicht, ihnen dadurch das Geschäft zu verderben… Während der Durchsuchung in der Polizeistation, war bei jemandem ein Tütchen voll Marihuana gefunden worden. Nachdem alle in die Zelle gesperrt worden waren, hatten die Polizisten wohl vergessen, von wem das Tütchen stammte. Wahrscheinlich weil ich in der Gruppe der einzige Deutsche und als Ausländer weitgehend wehrlos war, hatten sie beschlossen: „Wir schieben es einfach dem Deutschen unter. Soll der zusehen, wie er damit fertig wird“. Ich erhielt kein Gerichtsschreiben, weil ich nirgendwo gemeldet war. Somit wurde ich in Abwesenheit wegen unerlaubtem Besitz von Marihuana zu einer Geldstrafe von hundertfünfzig Gulden oder ersatzweise einem Tag Haft verurteilt… Anton Ich begegnete Anton am Leidseplein. Er erwarb zwei ganze Bögen und drängte, er wolle meine Telefonnummer, weil er bald noch mehr benötigte. Ich hatte aber kein Telefon und so nannte ich Liegeplatz und Name des Schiffes, auf dem ich wohnte. Es dauerte keine zehn Tage und Anton erschien auf der Lovejoy. Diesmal erwarb er drei Bögen.

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Anton hatte einen prallen Rucksack bei sich, dem er einen kleinen Aluminiumkochtopf entnahm, drei ein Liter Kartons Vollmilch, eine Kerze, ein Stängchen Siegelwachs, drei Fensterputzschwämme, eine Packung Kondome, drei leere Fotofilmdosen, Rasierklingen, einen Klebestift, eine Tube Leim und eine Rolle Klebeband… Wie ein Magier, hantierte Anton mit seinem Krempel und erregte damit nicht wenig meine Neugierde. Als erstes schnitt er die LSD Bögen in kleine Stücke und stopfte sie in seine drei Fotofilmdosen. Er versah die inneren Ränder der Schnappdeckel mit etwas Kerzenwachs und verschloss damit die Dosen. Die Ränder zwischen Deckel und Dosen versiegelte er mit etwas Siegelwachs und zog zur Sicherheit noch einen Streifen Klebeband darüber. Danach gab er jede Dose in einen separaten Kondom und verknotete jeden sorgfältig. Alles deutete darauf hin, dass die Dosen wasserdicht sein mussten. Fertig mit seinen Dosen, spülte Anton den Aluminiumkochtopf sorgfältig unter frischem fließendem Wasser. „Damit kein Staub darin enthalten ist“, erklärte er fachmännisch. Danach öffnete Anton mit einer Rasierklinge vorsichtig den Verschluss eines Milchkartons und goss den Inhalt in den gereinigten Kochtopf. Er schnitt eine Kerbe in die Mitte eines Fensterputzschwamms und drückte ihn auf den Grund des geleerten Milchkartons. Danach klemmte er eine der gefüllten und versiegelten Filmdosen in die Kerbe des Schwammes auf dem Grunde des Milchkartons. Er goss sorgfältig die Milch aus dem Topf wieder zurück in den Karton und verschloss ihn mit Klebestift und etwas Leim aus der Tube. Die Fotofilmdose, gefüllt mit tausend Einzeldosen LSD, ruhte eingeklemmt in einem Fensterputzschwamm, auf dem Grund eines vollen, verschlossenen und augenscheinlich noch nie zuvor geöffneten Milchkartons. Mit den anderen beiden Bögen, verfuhr Anton ebenso. Unterdessen erzählte er, er brächte die Ladung nach Barcelona, wo sich

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die Einzeldosen in Windeseile verkaufen ließen. Als Anton ging, war er als junger Tourist getarnt, mit etwas Brot, Wurst, Käse, einer halben Flasche Orangensaft und drei Liter Milch im Rucksack… Gewitter am Horizont Es dauerte nicht lange und ich hatte Ärger mit meinem Vermieter, dem zausbärtigen Weltverbesserer. Weshalb, weiß ich heute nicht mehr. Vermutlich lag es daran, dass er Grün war und ich mir alle Mühe gab, farblos zu wirken. Jedenfalls suchte ich nach einer anderen Bleibe und fand auch sofort eine. Es war eine kleine Wohnung in der Nähe des Museumplein, gleich um die Ecke vom Concertgebouw, mitten im kulturellen Herzen der Stadt, wo LSD auch hingehörte… Ich hatte noch einigen Krempel auf der Lovejoy liegen und ging ihn holen. Als ich auf das Schiff zulief, blieb mein Blick auf einem Auto haften, das dort irgendwie nicht ins Gesamtbild passte. Es stach daraus hervor wie nagelneue, blank polierte Schuhe an einem ungewaschenen Stadtstreicher. Wie mein Körper in fremden Städten automatisch die Opioidschwarzmärkte fand, so zog er jetzt automatisch an der Bremse. Ich blieb stehen und sah mich um. Auf der anderen Seite der Gracht gab es ein kleines Künstlercafe mit Blick auf die Lovejoy. Dort bestellte ich einen Becher Erdbeereis und beobachtete durch das Fenster aufmerksam das Schiff. Es dauerte nicht lange und der zerzauste Weltverbesserer kletterte aus dem Kahn, gefolgt von zwei deplaciert gekleideten Herren in billigen Anzügen. Sie standen eine Weile am Kai, schwatzten miteinander und reichten sich schließlich die Hände. Danach stiegen beide Herren in ihr verdächtiges Fahrzeug und fuhren davon. Ich wartete noch eine halbe Stunde und lief dann rüber zum Schiff. Nicht ohne Schadenfreude im Blick, erzählte mein ehemaliger Vermieter, der zerzauste Weltverbesserer, den ich

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wochenlang kostenlos mit LSD durchgefüttert hatte, die Polizei sei soeben beim Schiff gewesen. Sie hatten den Hinweis bekommen, auf diesem Kahn wohne ein „Dealer“. Wie rasch man doch vom ehrlichen Kaufmann zum bösen „Dealer“ wurde. Da Anton ausblieb, konnte man erraten, was geschehen war. Entweder der spanische Zoll war doch nicht ganz so einfältig wie Anton vorausgesetzt hatte, oder aber, er war während des Verteilens im Inland hops genommen worden. Offenbar hatte er unter dem Druck der Vernehmung und aus Angst vor seiner unmittelbaren Zukunft, meine Adresse preisgegeben. Danach war sicher viel Aktivität entstanden. Telefonate und Telexe waren hin und her geflogen, Hausdurchsuchungsbefehle wurden beantragt und ausgestellt. Alles wurde in Bewegung gesetzt und vorbereitet, um Antons Quelle auszuschalten. Trotz alldem war ich am Ende doch über den ganzen Krempel hinweg gestiegen, wie über Reisig am Wegesrand. Ich war hindurch geglitten, wie ein Geist, der sich erst außerhalb der Gefahrenzone wieder materialisierte. Manchmal lenkten eben Engel unsere Zufälle und manchmal Teufel. Nicht das Erkennen, wer von beiden gerade lenkte, war die Kunst. Die Kunst bestand vielmehr darin, beiden zu vertrauen…

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Bijlmermeer Es musste um das Jahr 1970 gewesen sein. Voll der Hoffnung auf ein brauchbares Rezept, saß ich im Wartezimmer eines Münchner Arztes und griff gelangweilt nach einem Magazin, das vor mir auf einem Tischlein lag. Es war ein Magazin mit dem Thema „Architektur & Wohnen“. Mit geringem Interesse blätterte ich es durch, bis mein Blick an einer Schlagzeile haften blieb: „Modernstes Wohnen“, stand dort zu lesen. Es handelte sich um einen Artikel über die kürzlich entstandene Amsterdamer Reißbrettstadt Bijlmermeer. In dem Artikel pries man die weiten Grünflächen zwischen den Häusern, die Nähe von Geschäften, Banken, Gesundheitszentren und Apotheken, die Nähe der öffentlichen Verkehrsmittel und Verkehrsverbindungen, die großzügig bemessenen Wohnräume und vieles mehr. Wie hätte ich damals ahnen können, dass ich wenige Jahre später in genau dieser Wohnanlage wohnen würde…? Die Reißbrettstadt Bijlmermeer war so groß, dass zwei parallel verlaufende Metrolinien hindurch fuhren. Als ich in einem der vielen zehn Stockwerk hohen und identisch aussehenden Häuser mit durchschnittlich sechshundertfünfzig Wohnungen pro Haus, im vierten Stock eine Wohnung bezog, hing ich eine rote Wolldecke an meinen Balkon, damit ich anhand dieses Signals auch wieder nachhause fände... Es stand schlecht bestellt, um dieses „Modernste Wohnen der Zukunft“. Zwei Drittel der vielen tausend Wohnungen standen leer. Niemand wollte im Bijlmermeer wohnen. Bald gab es die billigsten Wohnungen Amsterdams im Bijlmermeer. Meine fünfeinhalb Zimmer Wohnung kostete, einschließlich Heizungsabschlag, nur sechshundertfünfzig Gulden im Monat! Nicht viel wenn man bedachte,

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dass ein zwanzig Quadratmeter Einzimmerappartement in der Innenstadt nicht unter eintausend Gulden zu bekommen war… Was versuchte man nicht alles, um das Wohnen im Bijlmermeer attraktiv zu machen? Man startete ein millionenschweres Sanierungsprojekt nach dem anderen, doch alles war vergebens. Am Ende sprengte man einige der Häuser und ersetzte sie mit kleinen Häuschen im Amsterdamer Stil, Wohnräume und Küche im Erdgeschoss, Schlafzimmer im Obergeschoss und Gärtchen vorne und hinten. Doch viele der großen Häuser dieser Wohnanlage, stehen noch heute. Wer an der Central Station die Metro in Richtung Gaasperplas nimmt und an der Station Kraaiennest aussteigt, befindet sich mitten in der Anlage und kann bei der Gelegenheit dem Haus Kruitberg einen Besuch abstatten, in dem ich im vierten Stock gewohnt hatte. Man wird dort eine auffallend deplacierte Lücke in den Häusern bemerken. Es ist die Stelle, an der am 4. Oktober 1992 der Flug 1862, eine Boeing 747 Kargo Maschine der Israelischen Luftlinie El Al, in das Haus Groeneveen gestürzt ist. Ich persönlich liebte es, im alten Bijlmermeer zu wohnen. Ich liebte das Bijlmermeer, und nicht nur weil es dort die höchste Konzentration ganz Amsterdams an Heroin und Kokain gab. Ich liebte die weiten Grünanlagen, die Seen und die sie verbindenden Kanäle. Nicht weit, und man war in unbebauter Gegend, mit Wald und See und wildem Getier. Die Händler der Gegend traten die Türen leer stehender Wohnungen nieder, installierten eine Bar, hingen Neonreklamen über die Wohnungstür und verkauften ihre Waren aus dieser Wohnung. Trat man ein, stand jemand hinter einer Bar oder saß an einem Tisch, vor sich einen Sack voll Kokain, einen voll Heroin, daneben ein geöffnetes Schnappmesser zum Schaufeln der Ware und in der Mitte eine

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Digitalwaage und eine Rolle Frischhaltebeutel. Es dauerte Monate, bis solche illegalen Bewohner per Gerichtsbeschluss wieder aus der Wohnung geklagt waren. War das geschehen, packten diese Leute ihren Krempel ein, traten die Tür der nächsten leer stehenden Wohnung nieder und begannen ihr Geschäft erneut. Dann musste der ganze gerichtliche Wirbel wieder von vorne angekurbelt werden, weil es sich um eine andere Wohnung mit anderer Anschrift handelte und möglicherweise auch um eine andere Person, die sich offiziell darin etabliert hatte. Jawohl, ich liebte das Bijlmermeer. Ich war dort mehrere Jahre glücklich, mit meiner Freundin, meinem Hund, ein aristokratischer Dobermann, und später aus Hobby- und Berufsgründen, mit einer Vielzahl von Reptilien und Amphibien... Die Methadonversorgung in Amsterdam, zu einer Zeit, da es im Lande der Menschenverächter noch lange kein Methadon gab, fand teils wie die Versorgung mit jedem anderen Medikament statt und teils, darüber hinaus, über Außenstellen des Gesundheitsamtes und dem Methadonbus. Man hatte die Möglichkeit, einen beliebigen Hausarzt aufzusuchen, der ein Rezept für den Bedarf von mehreren Wochen ausstellte. Damit ging man zur Apotheke und erhielt die erwünschte Medizin. Man konnte aber auch zum Gesundheitsamt gehen und sich dort registrieren lassen. Dann bekam man entweder Methadon in Tablettenform für eine oder mehrere Wochen, oder man wurde für den Methadonbus eingeschrieben. In dem Fall holte man das Zeug täglich an einer der Haltestellen, die der Bus im Laufe eines Tages anfuhr. Bei manchen Leuten forderte das Gesundheitsamt aber auch, dass sie zum Abholen ihres Medikaments jeden Tag zu einem der Außenposten des Gesundheitsamtes kamen. Dies diente der gesundheitlichen Überwachung…

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Kokain Exzess Aus Geld und Langeweile, entstehen zuweilen sonderbare Situationen. Der Ire lieferte noch stets Paul Newmans LSD, das sich inzwischen über ganz Europa verkaufte und ich musste es dazu noch nicht einmal mehr in die Hand nehmen. Die gewünschten Mengen wurden telefonisch bestellt, ich sorgte telefonisch dafür dass sie geliefert wurden und bekam meinen Schnitt zugetragen. Es hatte sich als gut laufendes internationales Geschäft etabliert… Ich saß in meiner Wohnung im vierten Stock eines Hauses im Amsterdamer Bijlmermeer und sah durch ein großes Panoramafenster über die weiten Grünanlagen hinweg, über die Seen und Kanäle, bis hin zum Parkhaus an der Metrohaltestelle, mit seinen vielen Etagen und der Apotheke mit dem Gesundheitszentrum darunter … Bei Boland, einem surinamischen Farbigen, bestellte man telefonisch jede beliebige Menge Heroin oder Kokain. Es dauerte keine dreißig Minuten und Boland stand breit lächelnd mit den bestellten Waren vor der Tür. Ich ließ ihn täglich mindestens zehn Gramm Kokain bringen und einige Gramm Heroin. Beides injizierte ich intravenös, gelegentlich auch als Gemisch. Danach legte ich mich zurück, sah Videofilme oder ließ der Stereoanlage und meinem Geist freien Lauf und rauchte auch noch etwas Crackkokain dazu. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein altertümlicher, laut tickender Wecker mit großen Glocken. Diesen Wecker galt es gut im Auge zu behalten. Ich bereitete nämlich alle zehn bis fünfzehn Minuten eine Kokaininjektion, neigte aber dazu, die nächste Injektion schon vor Ablauf von zehn Minuten zu machen. Dadurch konnten Überdosen entstehen. Deshalb hielt ich den Wecker

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gut im Auge und achtete stets darauf, frühestens nach Ablauf von zehn Minuten erneut wieder zu injizieren… Zwischen den Kokainjektionen rauchte ich gerne etwas Crackkokain aus einer futuristischen Glaspfeife, die ich aus feuerfestem Laborglasteilen selbst zusammen gesteckt hatte. Was immer man über Crackkokain erzählen mag, in meinen Augen ist es nichts weiter als gewöhnliche Kokainbase. Ob man nun Kokainhydrochlorid mit Ammoniak aufkocht und derart in Base verwandelte, oder in Wasser, zusammen mit etwas Natriumbikarbonat, spielt in meinen Augen keine große Rolle. Beide Verfahren erbringen am Ende Kokainbase, von denen jede während des Rauchens knackt und knistert, wie man es von Crackkokain erwartet... Man gibt Haushaltsammoniak in ein Gefäß, gibt Kokainhydrochlorid hinzu und erhitzt es. Dadurch löst sich das Kokainhydrochlorid und treibt schließlich als Öl auf der Oberfläche. Lässt man das Öl erkalten, kristallisiert es. Man nimmt den kristallinen Klumpen aus dem Gefäß, zerdrückt ihn und wäscht die Bröckchen mit etwas Wasser um etwaige Ammoniakreste zu entfernen. In der anderen Variante gibt man Wasser in ein Gefäß, gibt etwas Natriumbikarbonat und Kokainhydrochlorid hinzu, erhitzt das Ganze und von hier an läuft alles wie bei der Ammoniakvariante. Der wesentlichste Unterschied beider Varianten liegt im Geruch. Ammoniak stinkt, während Natriumbikarbonat geruchlos bleibt… Ich gab kleine runde Metallsiebe auf den Grund meines Pfeifenkopfes, streute etwas Zigarettenasche darüber und legte die Kokainbase darauf. Danach hielt ich die nicht allzu heiß gestellte Flamme eines Bunsenbrenners über den Pfeifenkopf, zog und inhalierte. Zwar

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verhinderte dabei die Zigarettenasche, dass während des Rauchens verflüssigte Kokainbase in die Pfeife rann, sie wirkte aber auch als Katalysator und ließ während des Rauchens die Metallsiebe verdampfen. Dadurch inhalierte man nicht nur Kokaindämpfe, sondern immer auch die Metalldämpfe der Siebe. Die Zahl der KupferMessing- und Stahlsiebe, die ich auf diese Weise schon inhaliert habe, geht in die Dreistelligen… Verfügte man über ausreichend Kokain und verwendete man es intravenös, geriet man bald unter die Kokainmaschine. Die Kokainmaschine funktioniert ähnlich einer Nähmaschine und stichelt einem in kürzester Zeit unzählige winzige Löcher in den Leib. Nicht lange, und man findet keine brauchbare Vene mehr. Doch was Venen betraf, war ich noch stets ein Spürhund. Ich ertastete noch die dünnsten Venen, selbst lagen sie unsichtbar tief unter der Haut. Man spürt sie am Widerstand den eine Hautpartie bietet, drückt man sachte mit den Fingerspitzen darauf. Hautpartien unter denen Venen liegen, federn durch den Druck in der Vene rascher wieder nach oben… Das Rauchen von Kokainbase war eines, doch nichts ging über Kokain in die Hauptleitung. Die i.v. Injektion stellte das Optimum meines Kokainkonsums dar. Intravenöses Kokain schafft prompte vibrierende Lust. Ich blinkte, ratterte und klingelte nach jeder Injektion wie ein durchgeknallter Flipperautomat. Hinzu kam diese tiefe, mystische Vereinigung mit südamerikanischen Göttern, die allerdings, wie ich erfuhr, nicht jedem gegeben ist. Ist es nicht merkwürdig, dass man unter dem Einfluss von Kokain, ausgerechnet mit südamerikanischen Göttern in Verbindung zu stehen vermag, unter dem Einfluss von Meskalin ausgerechnet die rektangulären Linien

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aztekischer und mayanischer Muster halluziniert und unter dem Einfluss von Haschisch oder LSD indische Mandalas sieht? Eines Tages schnitt ich mich versehentlich mit dem Brotmesser in den Finger. Ich nahm den verletzten Finger in den Mund, um das Blut abzulecken. Dadurch wurde meine Mundhöhle sofort betäubt. Man glaubt es kaum und doch ist es wahr: Mein Blut enthielt so viel Kokain, dass es als Lokalanästhetikum verwendet werden konnte! Die Beschaffung von sterilen Spritzen war auch im damaligen Amsterdam noch ein Problem. Noch waren die Apotheker der Meinung, verkauften sie Spritzen, förderten sie damit verwerfliches Tun. Ihre Meinung änderte sich erst, wie auch in Deutschland, als ihnen dämmerte, Infektionskrankheiten könnten sich so weit verbreiten, dass am Ende auch den eigenen Arsch gefährdeten… Ich ging selten aus dem Haus. Meist holte ich nur Geld von der Bank und ging wieder nachhause. Boland lieferte zuverlässig auf Bestellung jede beliebige Menge. Lebensmitteleinkäufe, erledigte Danny*, ein Nachbarjunge von dreizehn Jahren. Doch manchmal musste ich in die Stadt, um dringende Angelegenheiten zu erledigen. Dann rechnete ich in etwa aus, wie viele Minuten ich unterwegs sein würde, teilte die gewonnene Zahl durch zehn und bereitete diese Anzahl aufgezogener Kokaininjektionen. Die geladenen Pumpen trug ich wie Kugelschreiberbündel in der Innentasche meiner Jacke. Ich brachte es fertig, ungesehen in vollen Straßenbahnen zu injizieren. Ich setzte mich auf die hinterste Bank und hatte somit alle Fahrgäste mit ihren Rücken zu mir. Ich schob mein Hosenbein hoch, injizierte in eine Beinvene, schob das Hosenbein wieder herab und fertig war die Kokaininjektion. Danach verbog ich die gebrauchte Nadel, schob sie,

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damit sich niemand daran verletzte, ins Innere der gebrauchten Pumpe und zielte das Ganze bei der nächsten Haltestelle durch die geöffnete Straßenbahntür in den Abfallkorb der Haltestelle… Zum Frühstück injizierte ich grundsätzlich ein Gemisch von Heroin und Kokain. Es gab nichts Besseres um wach zu werden. Ein HeroinKokain-Cocktail weckte sofort alle vorhandenen Geister. Hatte der Große Manitou etwas Besseres erfunden als Heroin – Kokain Cocktails, er hatte es, wie der alte Bill schon schrieb, für sich behalten und knallte sich das Zeug heimlich, irgendwo verborgen hinter einer Wolke, intracerebral, direkt ins Zentrum des Geschehens… Heroin-Kokain-Cocktails verwendete ich, abhängig von der Qualität des Heroins, etwa drei bis fünf Mal am Tag. Ansonsten verwendete ich, vom Aufstehen früh morgens, bis zum Einschlafen spät in der Nacht, nur Kokain pur. Spät nachts, wurde ich schließlich von einer Kokainjektion nicht mehr wach, sondern nur noch müde und schlief ein. Dies war das Zeichen, dass mein Körper durch die dauernde Kokainzufuhr des Tages, alle Energie verbraucht hatte und ein letzter Versuch, ihm doch noch mit einer weiteren Kokainjektion Energie zu entlocken, zu seinem endgültigen Kollaps in Gestalt des Schlafes führte… Ich kannte eine koksende Nutte, die ab und zu bei mir übernachtete. Sie arbeitete ausschließlich für Koks und Heroin. Alle ihre Einnahmen, gingen vom „Stich“, direkt zum Straßendealer am Zeedijk. Sie war der festen Überzeugung, unter ihrer Haut kröchen „Kristalle“ und kämen ab und zu, besonders unmittelbar nach einer Kokaininjektion, juckend und stechend durch die Haut an die Oberfläche. Dieser „juckenden Kristalle“ wegen, zerkratzte sie ihre Arme bis aufs Blut. Ich hatte schon

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mehrmals von diesem Phänomenen gehört. Es erschien darüber sogar ein Artikel im Playboy. Man nannte es „Kokskäfer“, weil viele dabei das Gefühl hatten, es kröchen Insekten unter ihrer Haut. Als Angie eines Abends wieder bei mir war und nach einer Injektion wieder an ihren Armen kratzte, gab ich ihr den Objektträger eines Lichtmikroskops und bat, Kristalle, die durch ihre Haut kämen, darauf zu legen. Es war anstrengend, ihr bei der Jagd nach ihren Kristallen zuzusehen. All das blutige Kratzen und Pflücken der Haut. Plötzlich rief sie, „Ich habe einen! Hier“! Sie strich ihren Zeigefinger über den Objektträger und reichte ihn mir. Ich nahm ihn mit in mein Arbeitszimmer und schob ihn auf den Kreuztisch des Mikroskops. Ich justierte das Instrument und erkannte schon bei vierzigfacher Vergrößerung deutlich einen länglichen, leicht lichtdurchlässigen Kristall von der Farbe venösen Blutes. Er sah aus wie ein fünf- oder sechskantiger Stabkristall mit natürlich gewachsener kristallener Spitze. Am gegenüber liegenden Ende war er sichtlich beschädigt und wies eine gezackte Bruchstelle auf. Ich bin mir heute noch nicht sicher, stammte dieser Kristall tatsächlich aus Angies Haut, oder war er von ihren schmutzigen Fingern als Verunreinigung auf den Objektträger geraten? Allgemeine Erfahrung und Wahrscheinlichkeit sprachen allerdings dafür, dass er tatsächlich aus Angies Haut gekommen war. Ich selbst, kannte solche Probleme nicht. Ich vertrug Kokain, wie andere Leute Buttermilch. Es war aber nicht unbedingt von Vorteil, psychotrope Substanzen so ausgezeichnet zu vertragen. Je besser man sie vertrug, desto leichter neigte man damit zu Exzessen… Ich poppte mit meiner Freundin drei geschlagene Wochen lang. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, dass wir dabei jemals Nahrung zu uns genommen hatten, aber es muss wohl so gewesen sein, weil ich noch weiß, dass Danny*, ein dreizehnjähriger Nachbarjunge,

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regelmäßig herbei telefoniert wurde, um aus dem Supermarkt Lebensmittel zu holen... Wir poppten, schweißnass wie wilde Tiere, und knallten zwischendurch alle zehn-fünfzehn-zwanzig Minuten Kokain intravenös. Machte der Bedarf sich bemerkbar, mischten wir eine Prise Heroin darunter. Drei geschlagene Wochen lang, nur poppen und Kokain intravenös! Ich werde es nie vergessen! Gegen drei Uhr morgens, machte uns das injizierte Koka müde anstatt wach. All unsere Energie schien verbraucht und wir fielen in Schlaf… Am nächsten Morgen, gegen neun Uhr, wurden wir wieder erholt und guter Dinge wach. Wir frühstückten intravenöse Heroin-KokainCocktails und eine Kanne Kaffee und poppten weiter. Drei geschlagene Wochen lang! Wahrhaftig das Größte! Und die Orgasmen! Während des Poppens schien mir, ich schwebte irgendwo hoch über der Atmosphäre des Planeten und blickte von dort auf mich selbst hinab. Ich sah mich liegen, weit unten, knabbernd, beißend, leckend, sabbernd und rammelnd wie ein Tier. Rauschte schließlich der Orgasmus wie hohe Wasserfälle im Sturm durch Leib und Seele, schwebte ich, leicht wie eine Daunenfeder, auf die Erde hinab und wunderte mich unterwegs, wo ich wohl nieder streichen würde. In den unteren atmosphärischen Lagen fiel mir dann wieder ein, ich lebte in den Niederlanden. Über den Niederlanden wurde mir bewusst, ich lebte in Amsterdam und gleich darauf wusste ich auch wieder in welchem Haus ich wohnte, in welcher Wohnung ich war und in welchem Zimmer ich gerade auf dem Bett lag. Im nächsten Moment lag ich auch schon neben meiner Freundin, lächelte schweißnass und wir poppten weiter...

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Nach der zweiten Woche bekam meine Freundin ihre Tage. Es störte uns nicht. Wie reißende Tiere, die Leiber mit rotem Blut beschmiert, fielen wir über einander her und poppten wild darauf los. Das Blut verblieb nie lange auf unseren Körpern. Es wurde vom Schweiß hinweg gespült, sickerte erst in die Bettwäsche und versank schließlich in der Matratze. Später, gaben wir die Matratze zum Sperrmüll und ließen ein Wasserbett kommen. Sex und Coca? Fürwahr tierisch...! Alle zehn bis fünfzehn Minuten eine intravenöse Injektion von Kokain und zwischendurch Kokain-Heroin-Cocktails und Kokainbase aus der Pfeife, vertrug ich problemlos ganze achtzehn Monate lang. Nach achtzehn Monaten erwachte ich eines Morgens und fand, es war der erste Januar, ich hatte kein Bargeld mehr im Haus, die Banken waren geschlossen, ich besaß keine Karte für Geldautomaten und Heroin wie auch Kokain waren mir ausgegangen. Boland, verweilte über die Feiertage bei seiner Familie in Surinam und so konnte ich auch nirgendwo etwas borgen. Es war zehn Uhr Morgens. Heroinentwöhnung, hatte bereits eingesetzt und zwar schon so stark, dass ich mich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Hinzu kam die typische Schwäche chronischer Kokainisten, sobald abrupt das Kokain weg blieb... Ich hatte keine Wahl. Ich musste handeln und zwar rasch, solange ich noch laufen konnte. Ich holte ein Schlachtmesser aus der Küchenlade, ein Messer wie aus dem Film „Psycho“. Ich zog einen Ledermantel an, schob das Messer in die Manteltasche und durchstach damit das Innenfutter. Mit der Hand in der Tasche umfasste ich den Messergriff. Schlug ich den Mantel beiseite, blitzte die lange und breite

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Messerklinge aus dem Innenfutter hervor. Derart ausgerüstet, ging ich zur „Drogenszene“ von Süd-Ost Amsterdam… Drei farbige Männer saßen auf einer Bank, muskulös wie Raubtiere und mit Goldketten, Edelsteinen und Goldzähnen geschmückt. Ich ging auf sie zu und fragte, ob sie verkauften. Einer der Drei bejahte. Ich ging mit ihm um die Ecke und ließ mir drei Gramm Kokain und drei Gramm Heroin aushändigen und steckte die Waren in meine Tasche. Als der Mann Geld haben wollte, sagte ich kühl, „Du kriegst kein Geld“. Der Kerl fummelte an der Gesäßtasche seiner Jeans, um anzudeuten, er zöge jeden Moment ein Messer. „Ich habe auch eines“, sagte ich ruhig. „Was hast Du?“, fuhr er mich an. „Ein Messer“, sagte ich schlicht und schlug meinen Mantel zur Seite. Der Mann sah die Klinge meines Schlachtmessers und erbleichte. Sein dramatischer Farbwechsel war das Signal meines Triumphes. Ich drehte mich um, ließ den Kerl stehen und ging. Er warf noch einen Backstein hinter mir her, der mich zwischen den Schulterblättern traf. Es kratzte mich nicht. Der Backstein prallte von mir ab wie eine Murmel… Ich kam etwa dreißig Meter weit, dann konnte ich vor Erschöpfung nicht mehr weiter. Ich hatte keine Wahl, ich musste mich ins Gras setzen. Käme der Mann, den ich soeben beraubt hatte, mit seinen Freunden hinter mir her und sie fänden mich im Grase sitzend, es könnte meinen Tod bedeuten. Doch niemand kam. Wahrscheinlich schämte mein Opfer sich, seinen Freunden einzugestehen, dass er soeben beraubt worden war. Vermutlich war er zu ihnen zurückgekehrt und hatte so getan, als sei nichts Besonderes vorgefallen. Nach etwa zwanzig Minuten im Grase, erhob ich mich wieder und schleppte mich weiter. Zuhause angekommen, bereitete ich einen Cocktail und nahm ihn i.v. Danach war alles wieder in bester Ordnung. Doch der Vorfall

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gab mir zu denken. Er hätte zu Toten führen können. Ich mochte Kokain vertragen, wie andere Leute Buttermilch, aber die kalte gefährliche Aggressivität, die oft mit chronischem Kokaingebrauch einherging, befiel auch mich… An dem Tage beschloss ich, Kokain sein zu lassen. Ich habe es seitdem nur selten und nur noch in einzelnen Dosen verwendet und nie wieder in zahlreicher Reihenfolge von Dosen. Heute habe ich sicher schon fünfzehn Jahre lang keines mehr genossen und es verlangt mich auch nicht danach. Eine „Sucht“, die mich nach der weiteren Verwendung einer Substanz verlangen ließe, deren Verwendung ich aus freien Stücken eingestellt hatte, kenne ich nicht. Aber ich bin auch heute noch ein Anhänger des Kokains. Um psychotrope Substanzen zu schätzen, muss man sie nicht notwendigerweise verwenden. Man sollte sie aber verwendet haben. Nennenswerte Kokainentwöhnungssymptome, hatte ich keine. Ich fühlte mich nach achtzehn Monaten intensivstem Gebrauch nur zwei Tage lang ein wenig schwach, antriebslos und niedergeschlagen. Es war mehr ein Kokainkater, als „Kokainentzugserscheinungen“... *Am 4. Oktober 1992, stürzte ein Frachtflugzeug des Typs Boeing 747 der israelischen El Al in die Nachbarhäuser Groeneveen und KleinKruitberg und töte nach offiziellen Angaben dreiundvierzig Menschen, darunter befand sich auch der dreizehnjährige Nachbarjunge Danny, sein Bruder Martin und die Mutter der beiden…

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Gefangen Es war ein schöner sonniger Freitagvormittag. Ich war gerade mit einer Monatsration Methadontabletten von der Apotheke zurückgekehrt und hatte eine Handvoll davon eingenommen. Ich ließ mich in einen großen weichen Sessel fallen und wartete auf die Wirkung, als es an der Wohnungstür klingelte. „Ich mache schon auf“, sagte meine Freundin und lief den kurzen Korridor entlang zur Tür. Ich blickte ihr gelangweilt hinterher und sah dabei durch die Wellglasfüllung der Wohnungstür, draußen standen eine Menge Leute. „Nicht öffnen!“, rief ich noch, doch es war bereits zu spät. Manuela hatte die Tür schon entriegelt. Die Wohnungstür flog zur Seite, Manuela wurde gegen die Wand geschleudert und zwölf Männer, einige mit Pistolen in ihren Händen, stürzten ins Wohnzimmer. Einige dieser Leute hatten merkwürdige Gegenstände bei sich, wie etwa lange Stangen und Fahrradfelgen. (Wie ich später erfuhr, waren diese Gegenstände als Abwehrmaßnahmen gegen meinen Dobermann und gegen einige Giftund Würgeschlangen gedacht, die ich damals im Haus hatte). Ich erhob mich aus meinem weichen Sessel und trat den Herren entgegen. „Sind Sie Herr K?“, wurde gerufen. Ich hatte kaum geantwortet, da griffen auch schon Hände nach mir. Sie warfen mich mit dem Gesicht zur Wand, bogen meine Arme nach hinten, klickten Handschellen um meine Handgelenke und stülpten einen schwarzen Sack über meinen Kopf. Danach hoben sie mich vom Boden und trugen mich aus der Wohnung. Die professionellen Gentlemen, die hier tätig geworden waren, bildeten, wie ich später erfuhr, das „Amsterdamse Arrestatieteam“, das Festnahmeteam der Amsterdamer Kriminalpolizei…

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Sie brachten mich im Aufzug ins Erdgeschoß und hinaus ins Freie. Ich hörte noch, wie Manuela vom Balkon rief, „Ich rufe den Anwalt an“! Danach, stießen sie mich auf den Rücksitz eines Fahrzeugs und fuhren mit mir davon... Nach einer Fahrt von etwa zwanzig Minuten, zerrten sie mich aus dem Wagen. Sie führten mich durch einen hallenden Hauseingang und schleppten mich eine schmale Holztreppe hoch. Oben angekommen, betraten wir einen Raum, der auffallend nach Amtsstube roch. Dort setzten sie mich auf einen harten Stuhl. Eine Stimme befahl, „Nehmt ihm die Handschellen ab und den Sack vom Kopf“. Ich sah mich um. Ich befand mich in einem Raum voll Staub und Papier. Die Sonne schien durch schmutzige Fensterscheiben und zeichnete goldene Linien voll flimmernder Staubpartikel in die Raumluft... Hinter dem Schreibtisch, vor dem ich mich befand, saß ein kahler Mann mittleren Alters, der mich schweigend musterte. Nach einer Weile der Stille fragte er, „Kennen Sie die Gaststätte Zum Goldenen Anker“? „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Kennen Sie die Gaststätte Zum Fröhlichen Gimpel?“, fragte er weiter. „Nein“, gab ich zur Antwort. „Wie wäre es mit der Gaststätte Zur letzten Neige“? „Nein“, sagte ich, „Auch die, kenne ich nicht“. Er fragte weiter, „Kennen Sie Das letzte Wasserloch“? Doch auch Das letzte Wasserloch, kannte ich nicht. Der Mann lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte geduldig die Fingerspitzen aneinander. „Gehen sie denn nie aus“? „Nein“, sagte ich, „Ich gehe nie aus“. „Warum nicht?“, fragte er. „Ich habe keine Zeit dazu“, antwortete ich und ergänzte, „Ich muss arbeiten, wie Sie wahrscheinlich auch. Außerdem habe ich eine Freundin mit

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einem Neugeborenen zuhause. Beide fordern viel Zeit und Aufmerksamkeit“… Während ich sprach, hörte ich, wie jemand hinter mich trat. Ein Stapel Fotos im Din A 4 Format, kam über meine Schulter geflogen. Der Stapel klatschte auf die Schreibtischoberfläche und fächerte dort wie ein Kartenspiel auseinander. „Kommt dir das bekannt vor?“, fragte der Mann hinter dem Schreibtisch. Ich lehnte mich nach vorne, um besser zu sehen und wich entsetzt zurück. Was ich sah, waren große Farbfotos, die abgetrennte, menschliche Köpfe und Gliedmaßen zeigten. „Nein“, sagte ich erschrocken, „Das kommt mir entschieden nicht bekannt vor. Dergleichen, habe ich noch nie zuvor gesehen“. Verärgert, fügte ich hinzu, „Ihr habt mich doch nicht etwa im Schwerverbrecherstil aus meiner Wohnung verschleppt, um mir Horrorfotos zu zeigen“? Daraufhin erfuhr ich, was sich zugetragen hatte… Zwei Prostituierte, waren ermordet worden. Ihre abgetrennten und in Abfallsäcke verpackten Körperteile, hatte man aus einer Gracht gefischt. Neugierig geworden, fragte ich, „Und wie kamt ihr dabei ausgerechnet auf mich“? Sie zeigten mir eine Phantomzeichnung, angefertigt nach den Angaben verschiedener Zeugen, die beide Frauen kurz vor ihrem Verschwinden in Begleitung eines Mannes gesehen hatten. „Zugegeben“, sagte ich. „Diese Zeichnung sieht aus wie ein Foto von mir. Nur hat der auf dieser Zeichnung graue Augen und ich habe blaue“. „Das ist auch nicht verwunderlich“, knurrte der kahle Mann hinter dem Schreibtisch. „Es ist ja auch eine schwarzweiß Zeichnung“… Die Jungs im Raum waren noch nicht völlig von meiner Unschuld überzeugt. Ich musste erst noch in verschiedener Verkleidung vor

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einem großen Einwegspiegel auf und ab spazieren, während Zeugen von der anderen Seite des Spiegels zusahen. Am Ende bestätigten sie, ich war nicht der Mann, der mit den beiden Ermordeten gesehen worden war. „Da habt ihr es!“, rief ich. „Sagte ich nicht schon anfangs, dass ich nicht der bin, den ihr sucht“? Erleichtert fügte ich hinzu, „Dann gehe ich jetzt wohl wieder nachhause“! Die Leute im Raum sahen mich an, als hätte ich sie soeben wachgeohrfeigt. „Nachhause?!“, rief der kahle Kerl hinter seinem Schreibtisch. „Sie gehen nachhause, aber nicht mehr in dieser Stadt. Sie sind Deutscher und Sie leben ohne Aufenthaltsgenehmigung in den Niederlanden. Sie befinden sich ab sofort in Abschiebehaft“! Sie nahmen mir Gürtel, Schnürsenkel und Tabak ab und sperrten mich in eine kleine, weiß gekachelte Zelle. Durch die geschlossene Zellentüre, hörte ich einen Fernschreiber rattern. Sie tickern meine Personalien nach Deutschland, dachte ich. Gleich werden sie wissen, dass ich dort gesucht wurde. Doch ich täuschte mich. Das sollten sie erst erfahren, als mein kluger Rechtsanwalt sie mit einer seiner grandiosen Ideen geradezu mit der Nase darauf stieß... Wenig später traf mein Anwalt ein. „Du hast keinen Grund zur Sorge“, sagte er und schob eine Streichholzschachtel voll Methadontabletten in meine Tasche. „Du giltst in den Niederlanden zwar als unerwünschter Ausländer und musst das Land verlassen, aber du kannst selbst entscheiden, in welches Land du gehen möchtest. Deine Freundin hat ein Flugticket nach London besorgt. Übers Wochenende, wirst du leider in der Zelle bleiben müssen. Aber am Montagmorgen werden sie dich zum Amsterdamer Flughafen Schiphol bringen“. „Und was mache ich in London, wo ich doch in Amsterdam wohne?“, fragte ich einfältig. „Vom Londoner Flughafen Heathrow

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nimmst du den Zug zur Viktoria Station und von dort den Bus nach Dover“, erklärte mein Anwalt. „In Dover nimmst du die Fähre nach Hoek van Holland, von dort den Schnellzug nach Amsterdam und von der Amsterdamer Central Station die Metro nach Kraaiennest im Bijlmermeer und schon bist du wieder zuhause“. Okay, dachte ich. Bald sitze ich also wieder zuhause in dem weichen Sessel, in dem ich gesessen hatte, als der ganze Spuk begann… „Mein Mandant erklärt sich bereit, die Niederlande freiwillig zu verlassen“, erklärte mein Anwalt dem Chef der Amsterdamer Fremdenpolizei. „Hier habe ich sein Ticket nach London. Sehen Sie? Er wird also Montagmittag schon außer Landes sein“. Kaum war mein Anwalt weg, dachte der Chef der Fremdenpolizei, „Nach London will er also? So so. Dabei hat er doch einen Deutschen Reisepass? Warum will er dann ausgerechnet nach London und nicht nach Deutschland, wo das doch viel näher wäre“? Der Polizeichef rief einen Untergebenen herbei, drückte ihm ein Papier mit meinen Personalien in die Hand und bat. „Tickere das bitte nach Berlin und frage nach, ob etwas gegen den Kerl vorliegt…“ Karg und nüchtern, waren die Zellen im Amsterdamer Polizeihauptbüro. Die Wände waren mit einer eisenharten Mischung aus Muschelkalk und Kunstharz bestrichen. Nicht den kleinsten Krümel, konnte man davon abkratzen. Ein längliches vergittertes Fenster, fast nur ein Sehschlitz, bot Ausblick auf die Wasseroberfläche einer Gracht… Sonntagabend kam und ich freute mich schon auf meinen Flug nach London. Nur noch ein Mal Schlafen, dachte ich, dann bin ich wieder frei und sitze im Düsenflieger nach England! Punkt zweiundzwanzig

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Uhr, wurde an meiner Zellentür die Kostklappe geöffnet und eine Hand erschien, die mir einige Unterlagen entgegen hielt. Ich nahm die Unterlagen und die Klappe wurde wieder geschlossen. Kein Wort, war dabei gesprochen worden. Der Briefkopf „Bundesrepublik Deutschland“, ließ nichts Gutes ahnen. Es handelte sich um die Kopie eines Schreibens der Deutschen Generalstaatsanwaltschaft an das Niederländische Justizministerium. „Hiermit beantragt die Generalstaatsanwaltschaft der Bundesrepublik Deutschland, bis zum Eintreffen des offiziellen Auslieferungsersuchens, die vorläufige Festnahme des Herrn K.“. Aus meinem Flug nach London, wurde vorerst nichts… Montagmorgen wurde ich, anstatt zum Flughafen, zur Amsterdamer Staatsanwaltschaft gebracht. „Sie haben die Wahl“, sagte der junge niederländische Staatsanwalt. „Entweder, Sie lassen sich freiwillig zur Deutschen Grenze bringen, oder Sie gehen juristisch gegen den Auslieferungsantrag an. In dem Fall, müsste ich Sie leider in Haft nehmen, bis eine endgültige Entscheidung getroffen wurde“. Hier gab es nicht viel zu überlegen, „Ich gehe selbstverständlich gegen die Auslieferungsanträge an und es muss Ihnen nicht leid tun, dass Sie mich deshalb in Haft nehmen müssen. Sie können schließlich nichts dafür. Sie tun nur, wofür Sie bezahlt werden. Für die Kosten von Unterkunft und Verpflegung komme ich selbstverständlich auf“. Der junge Staatsanwalt errötete. „Das müssen Sie nicht“, erklärte er. „Diese Kosten trägt selbstverständlich der niederländische Staat…“

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Im Amsterdamer Gefängnis Auf dem Wege von der Staatsanwaltschaft zum Amsterdamer Gefängnis, saßen im Transportbus zwei betrübte junge Männer neben mir. Sie hielten die Köpfe gesenkt und sahen schweigend zu Boden. Vor einer Woche erst, hatten sie, verkleidet als Nikolaus und sein Knecht, eines der größten Kaufhäuser der Stadt überfallen. Eine Viertelmillion Gulden, hatten sie dabei erbeutet. Sie konnten den Überfall, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen des Kaufhauses, bedenkenlos durchführen, weil einer der Beiden, der ehemalige Sicherheitsbeauftragte des Kaufhauses war. Er hatte die Geschäftsleitung wiederholt auf gravierende Sicherheitsmängel aufmerksam gemacht, doch sie wollte nicht auf ihn hören. Er wurde so aufdringlich mit seinen Hinweisen, dass man ihn am Ende feuerte. Aus Rache und wohl auch des Geldes wegen und nicht zuletzt, um der Geschäftsleitung zu beweisen, wie Recht er hatte mit seiner Bemängelung der Sicherheitsvorkehrungen, überfielen er und einer seiner Freunde das Kaufhaus. Dabei hatte aber der ehemalige Sicherheitsbeauftragte einige Worte gesprochen und so wurde er, trotz seiner Maskierung, an seiner Stimme erkannt. Beide, wurden kurz nach dem Überfall festgenommen. Nun saßen sie, wie begossene Pudel, betrübt neben mir im Transportbus, auf dem Wege zum Gefängnis. Die Beiden durften schon nach zwei Monaten über die Wochenenden nachhause zu ihren Familien. Mich dagegen, ließ man von nun an keinen Moment mehr aus den Augen... Das Gefängnis zu Amsterdam, stand in der Nähe der Amstel Station, die Metro Haltestelle, an der beide parallel durch die Wohnanlage Bijlmermeer verlaufenden Metrolinien sich trafen. Das Gefängnis bestand aus sechs zehnstöckigen Gebäuden, schmal und hoch wie

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trotzige Türme. Jedes Gebäude hatte seinen eigenen Namen, wie De Weg, Demersluis, De Schans usw. Die sechs Hochhäuser waren von einer hohen Betonmauer umgeben, die ihrerseits an der Außenseite von einem Wassergraben umgeben war. In diesem Gefängnis gab es nirgendwo Stacheldraht. Stattdessen standen auf Teilen der Außenmauern und auf einigen Mauern, die im Inneren die einzelnen Höfe der verschiedenen Türme voneinander trennten, mannshohe Scheiben von Verbundglas, die man nicht überklettern konnte. Es gab in diesem Gefängnis auch nirgendwo Gitter. Die Zellen waren zwar mit großen Panoramafenstern versehen, mit Blick über die Landschaft hinweg, aber sie waren nicht vergittert. Stattdessen liefen feine Drähte durch ihr schusssicheres Verbundglas, die bei allzu großer Erschütterung oder gar Scheibenbruch, Alarm auslösten. Es gab auch keine Wachtürme mit Schützen, oder überhaupt Schusswaffen, in diesem Gefängnis. Nach meinen Erfahrungen in deutschen Gefängnissen, erschien mir dieses Amsterdamer Gefängnis mehr ein Aufenthaltsort für ungezogene Jungs zu sein… Am ersten Tag in „De Bajes“, wie das Gefängnis liebevoll von den Amsterdamern genannt wurde, saß ich mit einigen Gefangenen im Gemeinschaftsraum um einen Glastisch. Einer der Jungs rollte gerade an einem gigantischen Joint. Auf dem Tisch lagen, für jedermann gut sichtbar, ein Handteller großes Stück Haschisch, ein Heft mit großen Zigarettenblättchen und ein geöffneter Tabakbeutel. Während der Junge kunstvoll an seinem Joint schraubte, näherte sich ein Wachbeamter mit Post in der Hand. Ich streckte ein Bein aus, legte es auf den Tisch und bedeckte damit das Stück Haschisch. Einer der Jungs sah mich an und lächelte. Er strich mein Bein vom Tisch und schüttelte sanft seinen Kopf. Offenbar fand er das Verbergen der Ware nicht nötig. Der Beamte kam und reichte einigen Leuten Post. Nie, ging dabei sein Blick

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auch nur annähernd in die Richtung des Haschischriegels. Er hatte den Riegel längst aus der Ferne liegen sehen. Blickte er aber darauf, gab er damit zu erkennen, dass er ihn sah und das wollte er nicht. Es brächte ihn in eine unangenehme Lage, denn einerseits verpflichtete sein Job ihn, den Riegel zu beschlagnahmen, andererseits aber, rauchten seine Kollegen alle selber und er vermutlich auch. Wie ich feststellte, rauchte in diesem Gefängnis nicht nur so gut wie jeder Gefangene, es rauchte tatsächlich auch so gut wie jeder Wachbeamte, wobei die Wachbeamten mehr darauf achteten, dabei nicht gesehen zu werden. Die Gefangenen dagegen, scherte es einen Dreck, dass man sie dabei sah… In diesem Gefängnis bekamen morphinbedürftige Niederländer bis zu ihrer Haftentlassung tägliche Dosen von Methadon. Morphinbedürftige Ausländer dagegen, denen bald oder spätestens bei der Haftentlassung eine Abschiebung in ihr Heimatland bevorstand, bekamen nur anfangs welches, wurden aber mit einer Reduktionsgeschwindigkeit von 5mg alle drei Tage bis auf Null herabdosiert. Herabdosiert, wurde anfangs auch ich, bis es mir gelang Besuche zu regeln, bei denen ich immer so viel Methadon oder Heroin erhielt, das es bis zum nächsten Besuch reichte… Als ich in den ersten Tagen der Reduktionsentwöhnung mit Entwöhnungssymptomen in den Gemeinschaftsraum kam, fand ich die Tische dort mit Trockenblumengestecken verziert. Jedes Gesteck enthielt zwischen vier und sechs dicke Samenkapseln des Schlafmohns. Ich mopste sie alle und kochte in meiner Zelle in einer Coladose Tee daraus, der mir in dieser Nacht beträchtliche Erleichterung brachte…

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Meine Freundin schmuggelte eine Injektionsspritze ins Gefängnis. Als ich eines Tages in meiner Zelle saß und gerade die Nadel in der Armbeuge hatte, wurde plötzlich die Zellentür geöffnet und ein junger Wachbeamter trat ein. Obwohl ich rasch eine Bettdecke über meinen Arm geworfen hatte, musste er die Spritze gesehen haben. Er ging aber mit keinem Wort darauf ein. Stattdessen fragte er freundlich, ob ich Zigarettenblättchen für ihn hätte. Ich wies zum Tisch und sagte, „Dort liegen welche. Nimm so viel du brauchst“. Der junge Wachbeamte ging zum Tisch, nahm meine Zigarettenblättchen auf und warf sie wieder hin. „Hast du keine großen“? „Nein“, große Blättchen hatte ich keine und so musste er sich die Blättchen für seinen Joint aus einer anderen Zelle holen… Es herrschte Zellenknappheit, in diesem Gefängnis. Man teilte die Gefangenen deshalb in drei verschiedene Kategorien ein, Kategorie A, B und C. Kategorie A war die dringlichste Kategorie, für die auf jeden Fall Zellenraum geschaffen werden musste, Kategorie C war die geringste. Kam ein Gefangener mit Kategorie A in die Haftanstalt und es gab keine freie Zelle für ihn, ließ man, um Platz zu schaffen, jemanden der Kategorie B oder C nachhause gehen. Ich war leider Kategorie A. Als ich den Zellentrakt betrat, mit langem Gesicht und Bettzeug unterm Arm, kam mir einer entgegen, ebenfalls mit Bettzeug unterm Arm aber im Gegensatz zu mir strahlend vor Glück. Der durfte nachhause gehen, um Platz für mich zu schaffen. Auf diese Weise entgegnete man im Amsterdamer Gefängnis der herrschenden Zellenknappheit. In Deutschland dagegen, zwängte man lieber Stockbetten in Einmannzellen und funktionierte sie auf diese Weise kaltblütig zu Zweimannzellen um. Dass Menschen gestört werden, pferchte man sie wie Laborratten monatelang dreiundzwanzig Stunden am Tag auf engstem Raume zusammen, ist allgemein bekannt. Doch

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das stört deutsche Justizbehörden nicht. Werden Menschen unter solchen Verhältnissen verhaltensgestört und entstehen daraus Unglücksfälle, bestraft man einfach die Gestörten. Entstehen Aggressionen und gefährliche Zustände im gesamten Gefängnis, stellt man sich dumm und tut so, als wundere man sich darüber, als fände man es unerklärlich, oder als sei es allenfalls mit dem „typischen Verhalten von Kriminellen“ zu erklären, als seien Menschen durch ihre gerichtliche Verurteilung plötzlich von anderer genetischer Beschaffenheit, als stellten sie plötzlich einen anderen Menschentypus dar. Man holt „Sachverständige“ herbei, um die Ursachen der Aggressionen zu ergründen, die dann prompt auch im „kriminellen Charakter“ der Gefangenen gefunden werden. Dabei steckt nichts anderes dahinter, als die allgemeine, für Deutschland so typische verdeckte Menschenverachtung. Ich selbst, hatte mehrere Monate in einer solchen „Zweimannzelle“ des „modernen Deutschen Strafvollzugs“ zugebracht und kann bezeugen, es war dort so eng, dass sich immer einer ins Bett legen musste, wollte der andere vorbei um zur Toilette zu gelangen. Die Toilettenschüssel stand in solchen Zellen gleich neben der Tür, völlig offen und ohne jede Umwandung. Das nannte sich dann „Wahrung der Menschenwürde“. Erinnert sich jemand an das Deutsche Grundgesetz? Oberste Aufgabe des Staates sei angeblich die Wahrung der Menschenwürde und nicht ihr Schänden? Im Lande allgemeiner verdeckter Menschenverachtung vergisst man gerne, Menschen, die mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten sind, werden nur zur Freiheitsstrafen verurteilt. Das reicht aber vielen, in Gefängnissen arbeitenden deutschen Volksgenossen nicht. Deshalb erfinden sie zur bloßen Freiheitsstrafe noch tüchtig zahlreiche Schikanen hinzu, die weder im Strafgesetzbuch noch in der Strafvollzugsordnung stehen, von den verdeckten Menschenverächtern aber als gerechtfertigt empfunden werden. Immerhin, man hat es ja mit

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Kriminellen zu tun, Leute mit irgendwie differenzierter Genetik. Ich verabscheue zutiefst diese allgegenwärtige, verdeckte Menschenverachtung deutscher Institutionen! Die Zellen im Amsterdamer Gefängnis waren grundsätzlich als geräumige Einzelzellen ausgelegt. Eingerichtet mit Bett, Tisch und bequemem Sessel von redlicher Qualität, erinnerten sie an mittelmäßige Hotelzimmer, in denen man schon übernachtet hatte. Toilette und Waschgelegenheit, befanden sich in einem separaten Raum, getrennt von der eigentlichen Zelle durch eine Schwingtüre, geschnitzt von dunklem Holz. Für 1,50 € im Monat konnte man ein kleines Farbfernsehgerät mieten, das in der Zelle mit einem gewöhnlichen Fernsehkabelanschluss verbunden wurde. Dies war zu einer Zeit, da im Lande der verdeckten Menschenverachtung, beispielsweise im Untersuchungsgefängnis von München, weder UKW Radios noch Fernsehgeräte erlaubt waren und nur ein Mittel- und Langwellenradio gestattet wurde, von der maximalen Größe einer Postkarte…! Wie sehr man auf Gefangene der Kategorie A achtete und ganz besonders auf mich, erfuhr ich nach meinem ersten Spaziergang im Gefängnishof. Da ich an Entwöhnungssymptomen gelitten hatte, war ich in den ersten Tagen nicht im Gefängnishof erschienen. Sobald ich aber meine regelmäßige Heroinversorgung geregelt hatte, erschien auch ich zum ersten Mal beim Hofgang. Dabei fiel mir auf, dass die Mauern, die den Hof umgaben, von exakt derselben Bauart waren, wie die Mauern so mancher deutscher Gefängnisse. Ich studierte mit Interesse die Architektur des gesamten Gefängniskomplexes. Dabei wurde ich von einer Wachbeamtin beobachtet, die mit einem Sprechfunkgerät an einem Ledergurt um den Hals in einer Ecke stand. Es war mir sehr

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wohl bewusst, dass sie die ganze Zeit über zu mir sah, aber ich dachte mir nichts dabei... Nach dem Hofgang, kaum wieder in meiner Zelle zurück, wurde ich zum Gefängnisdirektor gerufen. Er habe, so erklärte der Direktor, „eindeutige Hinweise“ erhalten, dass ich zu fliehen beabsichtige. Das hatte ihm natürlich die uniformierte Ziege von vorhin im Hof gesteckt. Ich lachte und wies den Mann darauf hin, dass es wahrscheinlich nur sehr wenige Gefangene geben dürfte, die nicht zu fliehen wünschten. Doch ich, so erklärte ich dem Direktor, habe keine Flucht nötig. „Ich beabsichtige, ganz regulär entlassen durch die Gefängnispforte ins Freie zu spazieren“. Doch der Direktor blieb misstrauisch. Er erklärte, er wolle mich zur Sicherheit in ein Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe der deutschen Grenze bringen lassen. Ich erschrak. Das durfte auf keinen Fall geschehen, schon weil damit meine Heroinversorgung zusammenbräche. Außerdem schien es mir ein schlechtes Omen für mein laufendes Auslieferungsverfahren, wenn ich jetzt schon in die Nähe der deutschen Grenze gebracht wurde. In schillernden Farben versuchte ich dem Direktor zu versichern, anstatt zu fliehen, würde ich mich am Tage meiner Entlassung aus seinem Gefängnis sogar noch persönlich von ihm verabschieden. Es gelang mir schließlich, den Mann zu erweichen. Von einer Verlegung in ein Hochsicherheitsgefängnis in der Nähe der deutschen Grenze, wollte er absehen. Zur Sicherheit musste ich aber in den zehnten Stock ziehen. Dort durfte ich nicht mehr mit anderen Gefangenen in Kontakt kommen und meine Zelle durfte ich, zum Beispiel zum Duschen, zum Einkaufen oder zur Bibliothek, nur noch in Begleitung von zwei Wachbeamten verlassen. Doch die Beamten, alles gute junge Leute, begriffen bald, wie verfehlt die Maßnahmen des Direktors waren. Sie ignorierten sie einfach. Ich musste zwar in den zehnten Stock ziehen, aber Kontakt zu anderen

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Gefangenen, hatte ich nach wie vor und auch meine Zelle verließ ich nach wie vor ohne jede Begleitung… Im Amsterdamer Gefängnis empfand man die gemeinsame Menschlichkeit grundsätzlich als verbindenden Faktor zwischen Wachbeamten und Gefangenen. In deutschen Gefängnissen dagegen, beabsichtigt man, Wachbeamte und Gefangene durch künstlich erzeugte Klüfte aus Standesdünkel, Misstrauen, Feindseligkeit und Hass in zwei sich gegenüber stehende Kategorien zu trennen... Jan, ein niederländischer Wachbeamter, wohnte eigentlich in der Nähe der deutschen Grenze. Dort arbeitete er auch als Wachbeamter, und zwar in demselben Hochsicherheitsgefängnis „De Vucht“, in das der Gefängnisdirektor mich bringen lassen wollte. Weil aber im Gefängnis zu Amsterdam Personalmangel herrschte, war Jan für einige Monate dorthin beordert worden. Jan hasste es, solange von seiner Familie getrennt zu sein. Er kam gelegentlich in meine Zelle, setzte sich auf meine Bettkante, zeigte mir Fotos und erzählte von seiner Familie und von seinem Häuschen, dass er erst kürzlich erbaut hatte. Ich mochte Jan und hörte ihm gerne zu. Er erzählte von einer Welt, friedlich und warm, wie ich sie nicht kannte. Als Jan nur noch drei Tage im Amsterdamer Gefängnis Dienst zu tun hatte, rauchten wir in meiner Zelle gemeinsam einen Joint und traten danach auf den Gang hinaus. An den Wänden der Korridore gab es Feuermelder, kleine, mit rotem Rahmen umgebene Fensterchen mit einem schwarzen Knopf hinter Glas. Nur waren es in diesem Falle keine Feuermelder, es waren die Auslöser des Hausalarms. Lief irgendwo im Gefängnis etwas schief, war eine Schlägerei im Gange oder gar eine Meuterei oder eine Flucht, schlug man die kleine Scheibe ein, drückte auf den schwarzen Knopf und schon heulten Sirenen durch den gesamten Gefängniskomplex. Jan

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lehnte sich gelassen mit dem Rücken gegen einen dieser Alarmgeber und sagte, „Gib Acht, was gleich geschieht“. Er brach hinter seinem Rücken mit leisem Knacken die kleine Glasscheibe und drückte auf den Alarmknopf. Sofort, heulten überall Sirenen. Bleich vor Schreck, rannten die jungen bekifften Wachbeamten die Treppen auf und ab, von einer Station zur anderen, auf der Suche nach der Ursache des Alarms. Mir taten sie leid, waren sie alle doch noch so jung und bekifft waren sie obendrein. In diesem Zustand mussten sie Ängste ausgestanden haben. Doch Jan war unerbittlich und erlaubte sich vor seiner Abreise in die Heimat, denselben Scherz noch einige Male… Während man in deutschen Gefängnissen Gefangene unter dem Vorwand einer „Arbeitspflicht“ zur Zwangsarbeit treibt, war Arbeiten im Amsterdamer Gefängnis eine Vergünstigung, die man schriftlich beantragen musste. Wollte man arbeiten anstatt die hanze Zeit in der Zelle zu sitzen, reichte man einen schriftlichen Antrag ein. Wurde er bewilligt, konnte man auch jederzeit wieder aufhören zu arbeiten und seine Tage doch in der Zelle verbringen. Nirgendwo war Zwang dahinter und nichts davon brachte einem Sanktionen ein. An Arbeit und Arbeitern, fehlte es trotzdem nie. Alles wurde auf freundliche Weise im gegenseitigen Einverständnis geregelt. Alles verlief reibungslos. In deutschen Gefängnissen dagegen, herrschte Zwang zur Arbeit, der unweigerlich zu Arbeitsverweigerungen führte, die dann mit Sanktionen, wie etwa zwei Wochen im Keller in der dunklen Strafzelle, bestraft wurden. Man gebe mir bitte Antwort auf die Frage, weshalb ist in deutschen Gefängnissen alles so hässlich und warum muss dort alles mit verdeckter Menschenverachtung gehandhabt werden? Während meiner acht Monate im Amsterdamer Gefängnis, erlebte ich nicht ein Mal eine dieser gewaltgeladenen Situationen, wie sie in deutschen Gefängnissen an der Tagesordnung sind. Im Gefängnis zu Amsterdam

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gab es kaum erhobene Stimmen, man erlebte keine Selbstmorde, wie in den Gefängnissen der Menschenverächter, man erlebte keine Aggressionen gegen Wachbeamte oder zwischen Gefangenen, wie sie in den Gefängnissen deutscher Menschenverächter an der Tagesordnung sind! Im Amsterdamer Gefängnis befand man sich unter Menschen. Dort verbrachte man seine Zeit, wie das Gesetz es vorsah, und blieb des Weiteren ungeschunden. Wo lag der Unterschied zwischen diesem Gefängnis und Gefängnissen in Deutschland? Er lag in einem grundsätzlichen menschlichen Verständnis auf der einen Seite und einer grundsätzlichen Menschenverachtung auf der anderen. Ja, ich gebe zu, ich verzweifle an diesen deutschen Menschenverächtern. Ich verstehe nicht, was es mit diesen Leuten auf sich hat, weshalb unter ihnen grundsätzlich alles immer so hässlich und menschenfeindlich verlaufen muss…? Wie ich erfuhr, gehörte es nicht zu den Aufgaben des Wachpersonals, Gefangene unmittelbar am Fliehen zu hindern. Ihre Aufgabe war es nur, eine Flucht mithilfe vorhandener administrativer, technischer und baulicher Maßnahmen so schwer wie möglich zu gestalten. Gelang einem trotz allem die Flucht, so hatte er, nach allgemeiner Auffassung, seine Freiheit verdient und es war Aufgabe der Polizei, ihn wieder einzufangen. Ich hatte einige Fluchten miterlebt und noch jedes Mal erschienen schon wenige Minuten danach Hubschrauber am Himmel und in der näheren Umgebung Polizeibeamte auf knatternden Geländemotorrädern … Eines Tages kam während des Hofgangs ein Helikopter auffallend niedrig über den Hof. Papierfetzen, Laub und leere Getränkedosen wirbelten umher. Er kreiste ein Mal und blieb dann über dem Hof stehen. Eine Strickleiter fiel herab. Die Leute, für die diese Strickleiter

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gedacht war, rannten sofort darauf zu. Sie hingen sich daran und kletterten an ihr in die Höhe. Aber auch andere Gefangene ergriffen die Gelegenheit und hingen sich an die Leiter. Mit einer Traube Gefangener, quälte der Helikopter sich wieder in die Höhe und zog davon. Dabei fielen einige von der Strickleiter. Einer plumpste geradewegs in den Gefängnishof zurück und brach sich ein Bein, andere verloren außerhalb der Gefängnismauern den Halt und fielen in den Wassergraben, der die Gefängnismauer umgab, oder sie fielen in die umliegenden Wiesen. Sie wurden von Polizisten auf Geländemotorrädern rasch wieder eingefangen und ins Gefängnis zurück gebracht. Nur jenen, für die diese Aktion geplant war, gelang die Flucht tatsächlich… Ein andermal beobachtete ich während des Hofgangs einen Gefangenen, der ein Bündel unter seiner Jacke hervor holte. Es war zum Strick gebundene Bettwäsche. Am Ende des improvisierten Strickes hing das hakenförmige Teil eines Bettgestells. Der Gefangene schleuderte das Teil an der Hofmauer empor in der Hoffnung, es möge sich oben an der Mauerkante einhaken. Der erste Versuch misslang. Scheppernd, fiel das Teil wieder in den Hof zurück. Der Lärm erregte die Aufmerksamkeit zweier junger Wachbeamter. Sie blickten erst zur Quelle des Lärms, sahen danach einander an und sahen wieder dem Treiben des Gefangenen zu. Der schleuderte unterdessen sein Teil erneut an der Mauer hoch. Diesmal blieb es oben an der Mauer hängen. Die beiden Wachbeamten rührten sich nicht von der Stelle, sahen aber interessiert zu. Als der Gefangene etwa drei Meter an seinem Strick empor geklettert war, rutschte oben der Haken von der Mauer und er fiel samt seiner Konstruktion in den Hof zurück. Er erhob sich gleich wieder und sah sich kurz scheu um. Einer der beiden jungen Wachbeamten schlenderte auf ihn zu. „Einen Versuch hast du noch“,

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sagte er in ruhigem, eher amüsiertem Ton. „Gelingt es dann wieder nicht, lassen wir es für heute sein, okay“? Der Gefangene nickte. Er versuchte es nochmals und das Teil blieb tatsächlich wieder am oberen Mauerende hängen. Der Mann kletterte an dem Strick hoch, fiel aber nach einigen Metern wieder in den Hof zurück. Tröstend, legte der junge Wachbeamte einen Arm um die Schultern des Gescheiterten. „Nimm es nicht tragisch“ sagte er. „Morgen ist auch noch ein Tag“. Im Lande der verdeckten Menschenverächter, hätte man längst auf den Menschen geschossen und ihn dabei wahrscheinlich sogar getötet. Erkennt jemand den Unterschied zwischen Menschlichkeit und Menschenverachtung…? Vor meiner Festnahme unterhielt ich eine Art Tierarztpraxis, die sich „Veterinär für besondere Tiere“ nannte. Darunter verstand man Amphibien, Reptilien und große Insekten. Die Arbeit fand überwiegend am Mikroskop statt, wo man den Kot der Tiere nach Spuren von Eingeweideparasiten durchstöberte. Nun hätte ich diese Tätigkeit gerne im Gefängnis weitergeführt. Ich beantragte deshalb bei der Anstaltsleitung eine Genehmigung zum Erhalt meines Mikroskops, ein Reichert Lichtmikroskop mit zweitausendvierhundertfacher Vergrößerung, Dunkelfeldkondensor, Phasekontrastkondensor, Durchlicht und Kaltlichtbeleuchtung und allen Schikanen. Das Instrument wog einige Kilogramm. Nachdem das Mikroskop genehmigt worden war und in meiner Zelle stand, beantragte ich eine Genehmigung zum wöchentlichen Empfang von Schlangenkotproben, gelöst in physiologischer Salzlösung und in kleine Fläschchen gefüllt. Der Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung, darin könne man „Drogen“ ins Gefängnis schmuggeln. Doch dazu waren keine Schmuggelraffinessen nötig…

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Die Besuche fanden in einem Cafe ähnlichen Raum im Keller des Gefängnisgebäudes statt. Während ein Wachbeamter neben der Eingangstür saß und für gewöhnlich in einer Zeitung las, saß man mit seinem Besuch an einem kleinen Tisch und unterhielt sich. Während dieser Besuche, ließ man sich alles Nötige zustecken. Dadurch kam Bargeld ins Gefängnis, jede Menge Cannabis und einiges an Kokain und Heroin. Sah ich mich während meiner Besuche im Besucherraum um, sah ich wie links und rechts und vor mir und hinter mir Schmuggelware übergeben und weggesteckt wurde… Auf dem Wege vom Besuch zurück zu den Zellen, konnte es geschehen, dass man durchsucht wurde. Aber solche Durchsuchungen geschahen nur stichprobeweise und trafen meist nur Gefangene, die bei den Wachbeamten aus irgendwelchen Gründen unbeliebt waren. Es gab zum Beispiel einen hochwüchsigen negroiden Mann von den Niederländischen Antillen, der fast immer durchsucht wurde, wenn er vom Besuch kam. Man fand aber nie etwas an ihm. Er trug seine Schmuggelware geschickt verborgen in seinen langen gekräuselten Haaren. Warum waren die Regeln in diesem Gefängnis so locker, dass man relativ ungehindert psychotrope Substanzen ins Gefängnis schmuggeln konnte? Weil man gelernt hatte, sie schadeten niemand und es herrschte durch sie im ganzen Gefängnis Ruhe, Freundlichkeit und Gelassenheit. Ginge man dagegen vor, erzeugte man stattdessen unnötigen Terror im ganzen Haus, wie er in deutschen Gefängnissen herrscht... Nun hatte ich zwar mein Mikroskop in der Zelle, aber nichts um damit zu arbeiten. Ich besorgte deshalb einige leere Gläser, gab in jedes eine Erdprobe aus dem Gefängnishof und gab Wasser dazu. Die gefüllten Gläser stellte ich aufs Fensterbrett. Es dauerte nicht lange und

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erste Infusorien erschienen. Nun ging ich zum Züchten verschiedener Infusorien über. In einem Glas zog ich harmlose Vorticelli, im anderen, schlauchartige Karnivoren. Danach ließ ich die Karnivoren unter dem Mikroskop auf die Vorticelli los und erhielt auf diese Weise meinen eigenen privaten circus romanum a' miniature… Der Haftbefehl mit dem man mich gefangen hielt, blieb immer nur zwei Monate gültig. Danach musste ich in die Stadt zum Amsterdamer Gericht gebracht werden, wo über seine Verlängerung entschieden wurde. Nach acht Monaten im Amsterdamer Gefängnis, musste dieser Haftbefehl wieder verlängert werden. Diesmal hielt mein Rechtsanwalt den drei Richtern des Gerichts einige in deutscher Sprache verfasste Dokumente unter die Nase, die Teil des offiziellen Auslieferungsantrages waren. Dort stünde, so behauptete er kühn, ich habe in Deutschland insgesamt nur acht Monate abzusitzen. Da ich schon acht Monate im Amsterdamer Gefängnis verbracht hatte und diese acht Monate laut Auslieferungsabkommen in Deutschland angerechnet werden mussten, müsse ich sofort freigelassen werden… Da keiner dieser drei Richter zugeben wollte, dass er kein Deutsch verstand und es deshalb auch nicht lesen konnte, nickten sie nur und ließen mich frei. Zurück vom Gericht und wieder im Gefängnis, packte ich meine Sachen und ließ mich zum Direktor bringen. Ich gab dem Mann zum Abschied die Hand, wie ich es versprochen hatte, und dankte ihm für den Aufenthalt in seinem gastfreundlichen Haus. (Drei Wochen später sollten wir uns auf dem Flohmarkt begegnen, wo ich den Mann in einem der umliegenden Cafes zum Kaffee einlud…)

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Nachspiel Nun saß ich zwar nicht mehr im Gefängnis, ich saß wieder zuhause im Wohnzimmer, in dem weichen Sessel, in dem der Spuk acht Monate zuvor begonnen hatte, aber die Frage meiner Auslieferung war noch stets nicht entschieden. Ich musste meinen Reisepass bei der Fremdenpolizei abgegeben und mich dort jeden Mittwoch melden. Versäumte ich es, erginge sofort ein Haftbefehl. Ich überreichte der Fremdenpolizei einen gefälschten Reisepass und sie bemerkten es nicht. Meinen echten, behielt ich für alle Fälle bei mir. (Man sei möglichst IMMER im Besitz eines gültigen Reisepasses!) Bisher hatte ich meinen Kampf gegen den Auslieferungsantrag in allen gerichtlichen Instanzen verloren. Ich war sogar bis zum „Hooge Raad der Nederlande“ gegangen, das Niederländische Äquivalent des Bundesgerichtshofes und hatte auch dort verloren. Die bestehenden Auslieferungsabkommen waren einfach zu gut formuliert. Man kam nicht an ihnen vorbei. Sicher nicht innerhalb Europas. Meine Auslieferung war fast schon beschlossene Sache und ich sah mich im Geiste schon mit Sack und Pack bei Nacht und Nebel nach London auswandern, als meinem Anwalt einfiel, „Der Niederländische Justizminister hat das Recht, sich über geltendes Gesetz hinwegzusetzen, also auch über das Auslieferungsgesetz. Schrieben wir dem Mann einen Brief, hätten wir vielleicht noch eine Chance“. Während mein Anwalt ein artiges Schreiben an den Niederländischen Justizminister verfasste, rief ich in Deutschland bei dem Staatsanwalt an, der so hartnäckig meine Auslieferung betrieb. „So lassen Sie mich doch in Frieden“, sagte ich zu Oberstaatsanwalt Friedmeier. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass sich Ihr Leben in irgendeiner Weise besserte, wenn ich in einem deutschen Gefängnis dahin faulte“?!

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Doch Staatsanwalt Friedmeier blieb unerbittlich. „Ich bringe Sie nach Deutschland und in ein deutsches Gefängnis“, sagte er, „und wenn es das Letzte ist, was ich in diesem Leben tue“! Genau dasselbe, hatte übrigens auch der Chef der Amsterdamer Fremdenpolizei gesagt. Darin waren die beiden Herren sich offenbar einig… Sechs Wochen später, bekam ich einen Brief meines Anwalts. Er enthielt die Kopie eines Briefes des Niederländischen Justizministers, Frits Korthals Altes, an den deutschen Justizminister. Der Brief begann mit den Worten „Sehr geehrter Kollege“ und war in etwa von folgendem Inhalt: „Wir sehen keinen Sinn darin, Herrn K. im Gefängnis zu wissen. Wir sind vielmehr der Meinung, es wäre allen am besten gedient, Sie zögen ihren Auslieferungsantrag zurück. Ziehen Sie ihn nicht zurück, sehen wir uns gezwungen, ihn abzulehnen“. Nach dieser Lektüre, konnte ich es nicht unterlassen. Ich rief nochmals bei Staatsanwalt Friedmeier in Deutschland an. „War wohl nix?“, sagte ich keck, nachdem ich meinen Namen genannt hatte. Doch der Staatsanwalt gab sich professionell. Er meinte nur, „Ich wünsche Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute“. So sind sie, die Schelme. Erst versuchen sie alles, einem das Leben zu verderben, gelingt es ihnen nicht, wünschen sie einem alles Gute! „Mein Lebensweg“, so sagte ich erbost, „ist ganz von selbst ein Guter, vorausgesetzt Leute wie Sie lassen mich in Frieden“! Die Schande eines abgelehnten Auslieferungsantrags, wollte man im Lande der verdeckten Menschenverachtung nicht riskieren und so zog Oberstaatsanwalt Friedmeier seinen Auslieferungsantrag zurück. Das hieß nach geltendem internationalem Auslieferungsrecht aber auch, dass ein einmal zurück gezogener Auslieferungsantrag, nie wieder, auch nicht in einem anderen Lande, gestellt werden durfte. Somit war ich endlich wieder ein freier Mann! Zwar war ich frei, aber ich war plötzlich auch

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pleite, denn „Paul Newmans“ Telefonleitung war inzwischen ebenso tot wie die des Iren. Beide Telefonanschlüsse gab es nicht mehr. Irgendwie, musste inzwischen das gut etablierte LSD Geschäft geplatzt sein. Ich hörte nie wieder von den Beiden... Ich ging zur Fremdenpolizei um meinen falschen Reisepass abzuholen. Dabei erfuhr ich, ausliefern, würde man mich zwar nicht, aber eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande, bekäme ich trotzdem keine und ganz sicher nicht von der Amsterdamer Fremdenpolizei. Damit bahnte sich schon mein nächstes Problem an. Wie groß es werden sollte, würde ich in den kommenden Monaten erfahren. Um trotzallem an die verfluchte Aufenthaltsgenehmigung zu kommen, beging ich einen der größten Fehler meines Lebens. Ich heiratete! Als deutscher Staatsbürger hatte man sich überall auf der Welt nach deutschen Gesetzen zu richten. Erwarb ich beispielsweise in Singapur eine Packung Morphinampullen vom Sohn meines Nachbarn, konnte ich in Deutschland dafür wegen eines Verstoßes gegen das Btm Gesetz verurteilt werden. Kaufte ich ein Tütchen Cannabis in einem Niederländischen Coffee Shop und rauchte es auch dort, ich könnte in Deutschland dafür verurteilt werden. Verzweifelt, erklärte ich der jungen Frau am Schalter der deutschen Botschaft in Amsterdam, ich wolle die deutsche Staatsbürgerschaft ablegen. „Welche Staatsbürgerschaft nehmen Sie dann an“, fragte sie und ich antwortete, „Keine“. Doch das ging nicht. Ich konnte meine deutsche Staatsbürgerschaft nur loswerden, tauschte ich sie gegen eine andere ein...

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Ich kannte Marion schon seit einiger Zeit. Sie war ursprünglich Deutsche gewesen. Um Niederländerin zu werden, hatte sie vor Jahren einen Niederländer geheiratet und sich nach wenigen Monaten wieder von ihm scheiden lassen. Zugegeben, Marion war alles andere als ein zartes, liebenswertes Wesen, aber sie war Niederländerin und das zählte. Die Ehe mit ihr brächte mir eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande ein und nach einigen Jahren vielleicht sogar die niederländische Staatsbürgerschaft. Dafür hätte ich sogar den Teufel geehelicht! Ich hatte wenig Zeit am Hochzeitstag, hatte noch eine wichtige Besprechung und war schlechter Laune, weil der Standesbeamte so trödelte. Als er endlich sagte, „Jetzt dürfen sie die Braut küssen“, gab ich missgelaunt zur Antwort, „Sehr komisch. Ich vögle die Braut schon seit Monaten, aber jetzt dürfte ich sie küssen“??

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An der Grenze Nun war ich zwar verheiratet, aber eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande wurde mir dennoch verweigert. Wie die Dinge standen, würde ich auch in Zukunft keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Die Amsterdamer Fremdenpolizei bestand nun einmal hartnäckig darauf, ich sei ein unerwünschter Ausländer… Ohne Aufenthaltsgenehmigung, konnte ich bei keiner Bank ein Konto eröffnen. Marion, meine holde Gemahlin, hatte ein Konto bei der Amro Bank. Sie erteilte mir die nötige Vollmacht und ich Trottel stürzte all mein Geld auf ihr Konto. (Man unterschätze nie die Geldgier seines Ehepartners…!) Aussichtsreiche Geschäfte mit Diamanten, erforderten meine Anwesenheit in München. Als Morphinbedürftiger reiste man aber nicht so ohne weiteres von Amsterdam nach München und sicher nicht, wenn dort Haftbefehle auf einen warteten. In Amsterdam bezog ich inzwischen völlig legal und regulär, Methadon auf Rezept von meinem Hausarzt. In Amsterdam gab es das kranke Gebaren nicht, wie es mit Methadon im Lande der verborgenen Menschenverachtung veranstaltet wurde. Ich ging zum Arzt, holte ein Rezept für mehrere Wochen, holte das Zeug in der Apotheke und ging nebenher meinem Leben nach. Wollte ich allerdings nach München reisen, hatte ich keine andere Wahl, ich musste Methadontabletten mitnehmen und somit illegal Betäubungsmittel einführen. Ich war auf hundertzwanzig Milligramm pro Tag eingestellt. Eine Tablette, sie heißen in den Niederlanden übrigens „Symoron“, enthielt fünf Milligramm. Im schlimmsten Falle würde ich zehn Tage unterwegs sein. Ich musste folglich zweihundertvierzig Tabletten mitnehmen...

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Dass meine Methadontabletten ganz regulär als Medikament vom Arzt verordnet und von der Apotheke ausgehändigt worden waren, spielte in den manipulierten Köpfen von Grenzern des Landes der verborgenen Menschenverachtung nicht die geringste Rolle. In ihrer indoktrinierten Geistesverfassung handelte es sich bei meinen harmlosen Tabletten nicht etwa um ein Medikament, es handelte sich um „Rauschgift“, und jeder, der irgendwie mit „Rauschgift“ zu tun hatte, musste erbarmungslos zur Strecke gebracht werden. Immerhin ging es um Leib und Leben zahlloser unschuldiger kleiner Kinder, die blond und blauäugig, diesen Gefahren ahnungslos ausgeliefert, fröhlich auf deutschen Schulhöfen umher sprangen und jederzeit zum Opfer von verdorbenen „Rauschgiftungeheuern“ meiner Art werden konnten. Deshalb konnte ich mit meinem ärztlich verordneten Medikament nicht so ohne weiteres einreisen, ins Land dieser fürsorglichen Menschenverächter. Ich musste es unter meiner Jacke verbergen, wie Schwerverbrecher ihre schreckliche Contrabande unter Jacken verbargen, todfeind allem Menschlichen, sich einschleichend mit Tod und Verderb unter dem Gewande und mit Vergnügen Elend und Siechtum verbreitend, im Lande der schneeweißen Unschuld... Hunderte, ja, mit den Jahren viele tausende meist jungendliche morphinbedürftige Menschen, waren inzwischen schon von gezielt geschaffenen, Leib und Leben zerstörenden Gesetzen, Verordnungen und Bedingungen, aus ihrem eigenen Lande in die Ferne getrieben worden. Dort, im Ausland, sorgten sie sich um ihre Gesundheit und suchten Ärzte auf, die ihnen Morphine, ihr lebensnotwendiges Medikament, verordneten, damit sie lebenstüchtig blieben, lebensfroh, gesund und nicht zuletzt arbeitsfähig und kreativ. Wollten diese Vertriebenen auch nur ihre Mütter in der Heimat besuchen, sie hatten keine andere Wahl, als ihr Medikament mit auf die Reise zu nehmen, es

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illegal einzuführen und damit gegen eines der brutalsten Gesetze der Nachkriegszeit zu verstoßen, gegen das deutsche Betäubungsmittelgesetz. Schon an der Grenze standen deutsche Häscher bereit, Medikamente zu rauben und zunehmend kränker werdende Menschen in Kerker zu sperren, um sie dort unter hämischem Gelächter zu bespotten und sie ohne ihre Medizin halluzinieren zu lassen... Dabei mussten diese Gequälten erleben, wie unter den Halluzinationen ihrer aufkommenden Entwöhnungssymptome, vom Alkohol aufgedunsene Schergenfressen erzählten, ihre Leiden seien Folge ihrer Medizin und ihres Fehlverhaltens in der Vergangenheit und nicht etwa, wie es offensichtlich war, Folge der abrupten Unterbrechung ihrer Medikation. Für die bloße Tatsache, dass sie sich um ihre Gesundheit sorgten und deshalb ihr Medikament bei sich trugen, wurden sie, krank wie sie ohne ihre Medizin schon geworden waren, in Kerker geworfen, wo ihnen medizynische Scheinbehandlung gereicht wurde, die nicht wenige, nicht selten durch Selbstmord, in den Tod trieb. Deutsche sollten sich schämen, schon wieder unschuldige, wehrlose Menschen durch uniformierte Schergen hetzten und zur Strecke bringen zu lassen! Sie haben jedenfalls das Jagen und zu Tode Hetzen Unschuldiger noch keineswegs verlernt... In den Klauen der Menschenjäger... Ich saß alleine in einem Abteil des Schnellzugs von Amsterdam nach München. Meine Tabletten hatte ich in einem Stoffbeutel in meiner inneren Jackentasche. Der Zug näherte sich bei X-Stadt der Grenze, als plötzlich zwei merkwürdige Figuren vor meiner Abteiltür erschienen. Während ich sie durch die Glasfüllung der Abteiltür beobachtete, blieben sie stehen, gekleidet wie Stadtstreicher und sprachen

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miteinander. Danach sahen beide zu mir herein, einer nickte dem anderen zu und sagte, - ich hörte es halb und halb las ich es von seinen Lippen -, „Das ist er“. Sie öffneten die Abteiltür und einer schrie sofort, „Gib auf der Stelle das Zeug raus“! Ich wähnte mich in einem bösen Traum. War das echt, was ich soeben erlebte? „Wovon sprechen Sie“, fragte ich, mit erzwungener Gleichgültigkeit. „Du gibst jetzt sofort das Zeug raus, oder du steigst hier mit uns aus und der Zug fährt ohne dich weiter!“, bekam ich zur Antwort. Inzwischen war der Zug an der Grenze zum Stehen gekommen. Was sollte ich tun? Ich konnte nicht fassen, dass die beiden so einfach wussten, ich hatte etwas Unerlaubtes bei mir. Folglich sagte ich mit fester Stimme, „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“. Sie fesselten mich mit Handschellen und zerrten mich aus dem Zug. Draußen war es Nacht geworden und es war schneidend kalt. Über mir funkelten die Sterne, unter meinen Schuhen knirschte glitzernd der Frost... Unweit der Gleise gab es eine lang gestreckte Holzbaracke, wie man sie aus alten Kriegs- und Lagerfilmen kannte, etwa aus Filmen über Treblinka, Buchenwald oder Dachau. Dorthin, brachten sie mich. Sie durchsuchten meine Kleidung und fanden den Beutel mit den Methadontabletten. „Hier haben wir es ja!“, rief der erfolgreiche Schnüffler triumphierend aus. Er befahl, „Setzen Sie sich auf diesen Stuhl“! Ich setzte mich und sah zu, wie einer der beiden meine Personalien in einen Computer tippte. Während er tippte, fragte sein Kollege, ob ich in der Vergangenheit schon mit der Polizei zu tun hatte. Ich dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, leugnen hatte wenig Sinn. Jeden Moment flammten meine Vorstrafen auf dem Computermonitor auf und dazu meine Haftbefehle. Zerknirscht, gab ich zur Antwort, „Ja. Ich bin in diesem Lande auch schon einige Male im Gefängnis gewesen“. Der Scherge am Computer drehte sich zu uns um

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und fuhr mich an, „Warum belügst du uns? Ich sehe doch auf dem Computer, dass du noch nie mit der Polizei zu tun hattest. Du bist uns völlig unbekannt“! Ich traute meinen Ohren nicht. Tatsächlich ist es mir heute noch ein Rätsel, wie der Mann zu diesem Ergebnis gekommen war. Später sollte ich auf einem Schreiben des Gerichts von X-Stadt entdecken, der Schnüffler hatte sich beim Eintippen meiner Geburtsdaten vertippt und ein falsches Geburtsjahr eingegeben. Möglicherweise kannte der Computer niemanden meines Namens und dieses Geburtsjahres und zeigte deshalb auch kein Ergebnis. Sollte das der Grund gewesen sein? Ich weiß es noch heute nicht mit Sicherheit... Mein Medikament wurde beschlagnahmt und der Zug nach München fuhr ohne mich weiter. Außerdem erwartete mich ein Gerichtsverfahren wegen Besitz und Einfuhr von Betäubungsmittel. Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, brachten sie mich in eine weitere lang gestreckte Baracke. „Nicht mal mehr auf die Russen ist Verlass“, schimpfte ich unterwegs. „Ich wünschte, sie schmissen endlich einige Atombomben auf dieses elende Land der Menschenverächter“. „Halte die Schnauze“, fuhr der Häscher an meiner Seite mich an, „oder ich überlege es mir noch anders und nehme dich achtundvierzig Stunden lang in Haft“! Wieder warm und wohlig in der Wahlheimat... Sie führten mich durch die Baracke und schoben mich wortlos durch eine hölzerne Schwingtür. Die Grenze verlief offenbar direkt durch diese Baracke, denn plötzlich befand ich mich zwischen niederländischen Grenzbeamten. Einige saßen an einem Tisch beim Kaffee, andere arbeiteten an Schreibtischen, wieder andere standen umher und schwatzten miteinander. Einer kam auf mich zu und nahm mich behutsam beim Arm. Während er mich sachte in den Raum zog,

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fragte er besorgt, „Was ist mit dir geschehen“? „Ich war mit dem Zug auf dem Weg nach München“, berichtete ich. „Dabei fanden sie an mir einige Methadontabletten“. „Jaja, die Arschlöcher“, murmelte der junge, niederländische Grenzbeamte mitfühlend. „Willst du eine Tasse Kaffee?“, fragte einer seiner Kollegen. „Ja, bitte“, antwortete ich dankbar. Nach meinem Abenteuer bei den faschistoiden Menschenjägern des Landes der hinterhältigen Menschenverachtung, fühlte ich mich endlich wieder unter wirklichen, mitfühlenden Menschen. Ich setzte mich an den Tisch zu einigen Grenzbeamten, die mir nach den Gestapomanieren der deutschen Schergen das Gefühl gaben, ich sei wieder nachhause gekehrt. Während ich Kaffee trank, erkundigte ein Grenzer sich, „Wo wohnst du“? „In Amsterdam“, antwortete ich. „Oh je“, meinte daraufhin der junge Mann. „Das ist aber weit von hier. Wie kommst du jetzt nachhause“? „Mit dem Taxi“, antwortete ich entschlieden. Man war so freundlich, ein Taxi zu rufen. Bevor ich losfuhr, rief ich zuhause an, um meiner Frau mitzuteilen, was vorgefallen war und dass ich bald nachhause käme... Mein herzensguter, allerliebster Schatz… Meine Frau nahm den Hörer ab. „Ich bin es“, waren meine ersten Worte. Sie schwieg einen Augenblick und sprach danach nur ein Wort, ein einziges, ängstlich hingehauchtes, fragendes „Ja“? Es war zwar nur ein Wort, aber der Tonfall sprach Bände. Mir wurde sofort klar, sie war es, die mich bei den Menschenjägern an der Grenze angeschissen hatte! Es bestand kein Zweifel! Es hatte zuviel Staunen in ihrem „Ja“ gelegen, zu viel merkwürdige Überraschung und ein schwer zu erklärendes Tröpfchen Angst. Sie hatte bei der Gestapo an der Grenze angerufen und mein Kommen angekündigt, kein Zweifel. Sie war allerdings zu dämlich, von selber auf die Idee zu kommen, direkt an der Grenze anzurufen. Ich vermutete, sie hatte zuerst bei der Amsterdamer Polizei

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angeklingelt. Die hatten wahrscheinlich nicht gewusst, wohin mit dem Blödsinn und hatten ihr die Nummer der Gestapo an der Grenze gegeben. Die Schlampe wollte mich im Gefängnis sehen, um gefahrlos an mein Geld zu kommen, das sich auf ihrem Konto befand. Doch daraus wurde nichts... Ich fuhr von X-Stadt mit dem Taxi nach Amsterdam. Ich erinnere mich, dass die Fahrt rund 350 Gulden gekostet hatte. (Heute kostet dieselbe Fahrt über 500€...) Zuhause angekommen, ließ ich nichts von meinem Verdacht verlauten. Ich ließ mir auch in der Zukunft nichts anmerken. Ich erwähnte den Vorfall nie auch nur mit einem Atemzug. Der Zweifel, der dadurch in dieser Frau entstand und die Ungewissheit, ob ich nicht vielleicht doch von ihrem Verrat wusste, sollten sie einige Zeit später in tiefe psychische Krisen stürzen. Sie wurde den Gedanken nicht los, ich wüsste vielleicht davon und beabsichtige insgeheim, sie deshalb zu ermorden. Sie wurde dadurch so verrückt vor Paranoia, dass sie schließlich regelrecht den Verstand verlor und am Ende als durchgeknallte Nutte auf dem Straßenstrich hinter dem Amsterdamer Hauptbahnhof landete, wo sie ihren Arsch für eine Handvoll Münzen verscherbelte, bis ein christlicher Verein sie aufgabelte und der längst fälligen psychiatrischen Behandlung zuführte… Das Gericht zu X-Stadt Einige Wochen nach dem Spektakel an der Grenze, bekam ich Post vom Gericht in X-Stadt. Darauf entdeckte ich dann auch das falsche Geburtsjahr. Sollte dieser Tippfehler tatsächlich die Ursache gewesen sein, weshalb man an der Grenze nicht dahinter gekommen war, dass ich mehr Vorstrafen hatte und mehr Haftbefehle, als Lohnsteuerkarten? Der Brief ergab, man hatte mich wegen Besitz und unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmittel, zu einer Geldstrafe von 1000 Mark verurteilt.

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Dagegen konnte ich in Berufung gehen. Ich rief den zuständigen Richter beim Amtsgericht in X-Stadt an und fragte, ob ich bei einer eventuellen Berufungsverhandlung persönlich anwesend sein müsse. Ja, so erfuhr ich, ich müsste persönlich anwesend sein. „Ich gehe in Berufung“, sagte ich zu dem Richter, „aber ich komme nicht zur Berufungsverhandlung. Ich traue euch Leuten und eurer feinen Rechtssprechung zu, dass ihr mich auf der Stelle in Haft nehmt und ich jahrelang nicht mehr nachhause komme. Machen Sie mit der Berufungsverhandlung was Sie wollen. Ich erscheine jedenfalls nicht“! Der zuständige Richter war ein einsichtiger Mann. Wenige Wochen danach erhielt ich Bescheid, ich war bei der Berufungsverhandlung in Abwesenheit frei gesprochen worden. Ich hörte nie wieder von der Sache und ich zahlte nie auch nur einen rostigen Pfennig...

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Szenen einer Ehescheidung Der grundsätzliche Fehler unserer Ehe war vermutlich die Ehe selbst. Lange Zeit hatten wir ehelos gelebt und dabei zueinander gehalten wie Pech und Schwefel. Wie Bonny und Clyde waren wir schon gemeinsam durch die Welt gezogen und hatten gehandelt, geschmuggelt, gestohlen und betrogen, ein Leben voll Spannung, Genuss und Abenteuer! Und wo war es geendet, dieses Leben voll Spannung, Genuss und Abenteuer? In einer erbärmlichen Ehe war es schließlich versandet! Ich hätte dieser Ehe auch nie zugestimmt, wäre es nicht um die verdammte Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande gegangen. Am Ende wurde mir diese Aufenthaltsgenehmigung doch verweigert, obwohl ich mit einer Niederländerin verheiratet war...! Sicher spielte dabei auch das Geld eine Rolle. Ehen und Geld, schlossen einander oft aus, wie auch das Gegenteil Ehe und kein Geld. Es war jedenfalls bitter an der Zeit, meine Frau los zu werden. Sie ruinierte nicht nur meine Finanzen, sie ruinierte mich insgesamt. Kannte eine Frau nach Jahren des Zusammenlebens alle Knöpfe die gedrückt werden mussten um ein Höchstmaß an Qual zu erzeugen, hatte man unter Umständen, anstatt einer Lebensgefährtin, einen Folterknecht an seiner Seite. Ich musste das Weib loswerden, koste es was es wolle! Ich riet zuerst zu einer zeitlichen Trennung von etwa sechs Monaten. „Ein Neubeginn, Schatz! Wer weiß, vielleicht bringt uns eine kurze Trennung wieder zusammen“? Wohlwollend und wohlhabend wie ich damals noch war, stellte ich, wie im Kino, einen Globus auf den Tisch, brachte ihn mit einem Streich meiner Hand in Drehung und sagte, „Du hast die ganze Welt zur Verfügung. Suche dir einen Ort aus, fliege hin und richte es dir hübsch

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ein. Das nötige Geld, gebe ich dir. Ich gebe dir vorerst fünfundzwanzigtausend Mark mit auf die Reise. Geht es dir aus, benachrichtigst du mich und ich schicke neues“. Sie lehnte ab! Jawohl! Madam warf trotzig ihre Haare zurück und lehnte hochnäsig ab! Diese Frau hatte mich in den vergangenen Monaten bereits dreihundertachtzigtausend Gulden gekostet. Jawohl! Madam verlor nämlich ab und zu lupenreine Einkaräter! Als sie dann auch noch so hochnäsig mein großzügiges Angebot ablehnte, war ich ratlos. Um sie los zu werden sah ich am Ende keine andere Möglichkeit mehr als sie kaltblütig zu ermorden…! Der Plan war rasch gefasst. Wir waren beide morphinbedürftig. Wir verabreichten uns mehrmals am Tage intravenöse Injektionen und es hatte sich so eingelebt, dass ich diese Injektionen bereitete. Ich würde ihr, so nahm ich mir vor, eine Mischung von Heroin und Kokain in die Pumpe packen, von solcher Kraft, dass ihr beim Niederdrücken des Spritzenkolbens die Schädeldecke wegflog! Danach, so stellte ich mir vor, zerkleinerte ich ihre Leiche im Badezimmer mit einer Motorsäge oder mit einer dieser kleinen, in der Hand zu haltenden Kreissägen. Damit dabei kein Blut auf die Fugen zwischen den Badezimmerfliesen geriet, müsste man das Badezimmer zuvor gut mit Kunststofffolie auskleiden. Spritzte nämlich erst Blut auf diese Fugen, ließe es sich nur schwer wieder so entfernen, dass die chemischen Indikatoren der Spurensicherung nicht darauf ansprachen. Des Nachts dann, wenn alles schlief und keiner mehr guckte, verfütterte ich die Teile an die Fische im kleinen See hinter dem Haus… Von der Beseitigung der Leiche hatte ich teils vage, teils sehr konkrete Vorstellungen. Damit das Blut beim Zersägen nicht allzu sehr

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umherspritzte, würde ich warten bis Leichenstarre eingetreten war. Danach schnitt ich erst die Glieder und den Kopf vom Rumpf und stopfte alles für einige Tage in die Tiefkühltruhe. Danach könnte man die Teile, hart gefroren wie sie dann wären, problemlos mit der Motorsäge in handliche Scheiben schneiden. Menschliche Knochen sahen zwar auch noch nach Jahrtausenden wie menschliche Knochen aus. Schnitte man sie aber in handliche Scheiben, erweckten sie eher den harmlosen Eindruck ausgelutschter Suppenknochen… Seitdem der kürzlich verstorbene alte Oorschot im kleinen See hinter dem Haus seine Aal Zucht aufgezogen hatte, wimmelte es dort nur so von Aasfressern. Was Piranhas in einigen Seitenarmen des Amazonas, waren Oorschots Aale im kleinen See hinter dem Haus... Um dafür zu sorgen, dass die abgesägten Scheiben auch sicher auf den Grund des Sees sänken und nicht etwa tagelang wie Korken auf der Oberfläche dümpelten, konnte man sie vorsorglich mit italienischem Vogelschrot voll pumpen. Für den Rumpf mit dem inhaltlichen Gekröse hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht. Ich entfernte erst das Rückgrat und verführe damit wie mit den anderen Knochen. Den restlichen Krempel drehte ich dann einfach durch einen Fleischwolf, der allerdings, damit Spurensuche auch hier ergebnislos bliebe, hinterher artig mit verdünnter Salzsäure abgeschrubbt werden musste. Das viele Gehackte landete dann, wie zuvor schon der ganze Rest, bei den Fischen im kleinen See hinter dem Haus. Menschliche Zähne können sehr verräterisch wirken. Egal, unter welchen Umständen man sie fand, sie erweckten unerbittlich den Eindruck menschlicher Zähne. Führe man aber einige Male mit der Motorsäge kreuz und quer über die beinhart gefrorene Schnauze, sähen auch sie gleich anders aus...

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„Ich weiß nicht wo meine Frau sich aufhält, Herr Kommissar. Auch ich habe seit Wochen nichts mehr von ihr gehört. Sie wollte mit der Eisenbahn nach Italien. Sie hatte fest versprochen, nach ihrer Ankunft gleich anzurufen. Sie rief aber nie an. Danach wollte sie weiter zu Freunden nach Griechenland. Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen, Herr Kommissar...“ Doch wer würde sie schon suchen, wer eine Vermisstenanzeige auf geben? Außer mir, hatte sie weder Verwandte noch Freunde die nach ihr fragen, sie vermissen könnten. Es war wunderbar! Ihr Schicksal befand sich fest in meiner Hand! Eine kleine, handliche Motorsäge der Marke „Makita“ war rasch gekauft und voll getankt bis an den Rand, gut unter dem Wohnzimmerschrank verborgen... „Findest du nicht, Schatz, dass es neuerdings ein wenig nach Benzin riecht“? „Was du riechst, mein allerliebstes Honigtröpfchen, ist doch nur das Benzin meines neuen Feuerzeuges...“ Bald fiel mir auf, ich hatte meinen Plan viel zu kompliziert gestaltet. Die Arbeit mit der Motorsäge und den Fischen im kleinen See hinterm Haus konnte ich getrost weglassen. Ich musste ihr nur die tödliche Ladung in die Pumpe packen und zusehen, wie ihr die Seele entfleucht. Danach ginge ich seelenruhig in den nahe gelegenen Supermarkt um einzukaufen. Wieder zurück, riefe ich die Polizei herbei… „Ich war nur kurz weg, Herr Kommissar, um Kaffeesahne zu kaufen. Als ich wiederkam, lag sie auf dem Fußboden, genau so wie jetzt. Nein. Ich habe nichts angefasst. Ich habe nach dieser grausigen Entdeckung sofort die Polizei gerufen. Oh! Sehen Sie nur! Ist das nicht eine Spritze, dort, in ihrer Armbeuge“?

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Nur fantasielose Dummköpfe glauben, den perfekten Mord gäbe es nicht! Jetzt musste ich nur noch den passenden Tag abwarten. Ein regnerischer Tag, sollte es sein. Warum ein regnerischer? Das kann ich nicht mehr so genau beantworten. Ich fand jedenfalls, zum sterben eigne sich am besten ein regnerischer Tag… Zum Glück kam noch vor einem regnerischen Tag, Wilhelm der geistesschwache Werftarbeiter daher. Wilhelm war ein Mann mit einem großen Schnurrbart im alkoholgeröteten Gesicht, einem großen Schwanz in einer stets zu engen Hose und keiner nennenswerten Aktivität im Gehirn. Viel taugte er nicht, aber er verfügte über alles was zur Erfüllung meiner Wünsche nötig war: Keine Aktivität im Gehirn, aber einen Schwanz in der Hose! Wilhelm war ledig und solo. Verliefe alles nach meinem Plan, würde sich das bald geändert haben. Ich lud ihn zu uns nachhause ein. Wilhelms Hobby waren Schmetterlinge, die er mit Äther tötete, auf Stecknadeln spießte, etikettierte und in Schubläden verschwinden ließ. Um Wilhelm zu ködern, erniedrigte ich mich sogar soweit, Nachtfalter für ihn zu fangen... Es war nicht viel nötig, um Wilhelm für meine Gattin zu erwärmen. Ihr Arsch, war hinreichend. Bald klebten Wilhelms Blicke so fest daran, dass er kaum noch Augen hatte für den prächtigen blauen Peruanischen Stinkschwanzfalter, den ich ihm vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Ich hatte leichtes Spiel. Je mehr Wilhelm sich für meine Holde erwärmte, desto kühler benahm ich mich ihr gegenüber. Dadurch driftete sie, gemäß den Gesetzen animalischer Wärme, ganz von selbst, wie ein Falterchen, zu Wilhelm hin. Wie Vollidioten benahmen die beiden sich, mit ihren vermeintlich heimlichen Blicken und Gesten, die mir nie

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entgingen, ganz zu schweigen von ihrer widerwärtigen Vögelei auf dem dreckigen Rücksitz von Wilhelms Oldtimer. Es dauerte nicht lange und der Tag war heran, an dem meine Gattin sich einbildete, sie verließe mich. Sie zöge zu Wilhelm, erklärte sie kaltschnäuzig. Dabei zog sie diese ekelhafte Schnute, mit der sie Unschuld zu heucheln pflegte. Trauer- oder Eifersuchtsszenen, brachte ich keine zustande... Wie schön war doch die erste Nacht alleine in meinem geräumigen Haus! Ich nahm mir vor, alle Räume bei geöffneten Fenstern mindestens drei Mal vierundzwanzig Stunden zu lüften. Ein Bekannter hatte mir einst aus dem Urlaub einige Späne eines südamerikanischen Zauberholzes mitgebracht, mit dem indianische Schamanen böse Geister ausräucherten. Mit rauchenden Holzspänen in beiden Händen, schlich ich vier Stunden lang durch alle Räume. Danach, so schien mir, war das Weib endgültig aus dem Haus! Mein Gott, ich war das Ungeheuer tatsächlich los! Mein Leben gehörte wieder ganz und gar mir alleine! Schön war das Leben so alleine und frei. Ich war frei zu denken und zu sprechen, wie der Geist es mir auf die Zunge legte, ohne damit gleich eine Welle des Terrors auszulösen. Die Wochen verstrichen und ich sah und hörte weder von meiner Verflossenen, noch von ihrem neuen Stecher, dem schnurrbärtigen und lobotomierten Werftarbeiter Wilhelm. Sie versteckten sich vor mir, die Schelme. In ihrer armseligen Vorstellung gehörte das zum Spiel dass sie zu treiben glaubten... Ganze drei Monate hatte es gedauert, bis bei meiner Ehemaligen der Groschen gefallen war und sie begriff, ihr Glück mit Wilhelm war auf meinen Feuern geschmiedet worden. Ich schnitt im Garten gerade die Rosenstöcke zurecht, als sie daher kamen, meine Ex und Wilhelm,

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beide angesäuselt mit Alkohol, sie entschlossen, er verworren. Sie kochte dermaßen vor Wut, dass sie giftige Säure spie und Blut aus geplatzten Äderchen ihrer Augen spritzte. Ich beging den Fehler, mich überwiegend auf das Muskelpaket Wilhelm zu konzentrieren. Das gab ihr die Gelegenheit, mit einem langen Stück Bauholz in Händen unbemerkt hinter meinen Rücken zu gelangen. Sie legte alle Kraft in den Schlag. Er traf mich seitlich am Hinterkopf. Mir schwand sofort alle Optik. Ich sah nur noch samtenes Dunkelblau, mit Myriaden winziger, silberner Sterne darin. Mir war klar dass ich jeden Moment das Bewusstsein verlöre, so es mir nicht gelänge, sofort meinen Kreislauf zu stabilisieren. Ich ging deshalb in die Hocke und verweilte einige Sekunden in dieser Stellung. Auf diese Weise kehrten meine Kräfte rasch wieder. Ich erhob mich wieder und griff nach einem schweren, langstieligen Holzfällerbeil. Ich schwang das Beil in die Höhe und trat auf die beiden zu... Ich spalte sie beide einfach längs der Mitte, war mein erster Gedanke. Furcht, ist ein Urtrieb des Menschen. Man sah sie deutlich in Wilhelms Augen, als er in meinem Blick die Mordlust blitzen sah. Er packte geschwinde seine Freundin um die Hüfte, klemmte sie unter seinen Arm und rannte, während sie fauchte und wütend mit den Beinen strampelte, mit ihr davon. Er warf sie auf den Rücksitz seines Wagens, schwang sich hinters Steuer und trat das Gaspedal zu Boden. Mit schmerzendem Schädel und dem Beil noch in der Hand, rannte ich den beiden hinterher. Als ich einsehen musste, dass ihr Auto nicht mehr einzuholen war, warf ich mit kräftigem Schwunge das Holzfällerbeil hinter ihnen her. Es krachte durch die Rückscheibe von Wilhelms Wagen, sauste haarscharf am Kopf meiner Ehemaligen vorbei und grub sich zitternd ins Armaturenbrett. Auf kreischenden Reifen in schlingernder Fahrt, raste der Wagen davon…

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Viele Monate später war ich beim Einwohnermeldeamt, um mich auf eine neue Adresse einzutragen. Dabei fiel mein Blick auf einen Computerausdruck, der langsam und lautstark aus einem altertümlichen Nadeldrucker ratterte. Darauf stand zu lesen, ich sei „Geschieden“. (In den Niederlanden ist es unter gewissen Umständen möglich, sich auch ohne Wissen des Ehepartners scheiden zu lassen). Ich war geschieden! Das Weib hatte sich hinter meinem Rücken von mir scheiden lassen! Gott sei bedankt und gepriesen. Jetzt erst war ich den giftigen Drachen endgültig los! Und ich musste sie dazu noch nicht einmal ermorden. Ich musste nur einen Trottel finden, dumm genug, sie von mir zu nehmen. Mochte nun der Werftarbeiter Wilhelm zusehen, wie er mit ihr fertig wurde. Bis heute, drei Jahrzehnte später, habe ich nicht wieder von ihr gehört. Ich danke allen Göttern für diese Gunst!

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Im Sexclub Doris war Nutte aus Leidenschaft. Ihr musste man nicht kommen, mit lahmem Geseiche wie, „Willst du nicht aufhören mit diesem furchtbaren Gewerbe und einen vernünftigen Beruf ergreifen? Du könntest doch Hairstylistin werden, oder einen Schönheitssalon eröffnen, oder dich vielleicht für einen Supermarkt zur Kassentippse umschulen lassen“. Mit solchem Unsinn, war Doris nicht beizukommen. Sie war Nutte und eine zufriedene Nutte obendrein. Sie war von ihrem Gewerbe nicht weg zu brennen. Selbst gab man ihr genügend Geld, damit sie ohne zu arbeiten gut leben konnte, es dauerte keine drei Tage, Doris wurde unruhig, zickig, zunehmend unausstehlicher und schon stand sie wieder an irgendeiner Straßenecke und verhökerte ihren Arsch für eine Handvoll Kleingeld. Sie hatte die Nutte regelrecht im Blut, dagegen war nicht anzukommen. Tagsüber, stand sie an irgendwelchen Straßen und abends arbeitete sie in einem Sexclub. Nicht etwa in irgendeinem Sexclub. Oh nein. Weit gefehlt! Doris arbeitete im Casa Rosso des Amsterdamer Rotlichtviertels, einer der berühmtesten Sexclubs der Welt! Dort gab Doris allabendlich ihre „Flaschenshow“ zum Besten. Wie der Name schon andeutet, bestand diese Show im Wesentlichen darin, dass Doris auf der Bühne, für die Dauer von etwa zwanzig Minuten, vor tausend geilen Männeraugen unter kunstvoll kreisenden Bewegungen und farbigem Lichterspiel, eine Sektflasche in ihrer Pflaume versenkte. Befragt, was sie von Beruf sei, erklärte Doris offen und nicht ohne Stolz, sie gäbe im Casa Rosso die Flaschenshow…! Gab Doris ihre Show, half ich, wenn der Andrang es erforderte, ein wenig an der Bar. Eines Abends mixte ich gerade einige Cocktails, als Doris’ Flaschenshow begann. Der Laden war brechend voll. Rund

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zweihundertachtzig Gäste rutschten unruhig hin und her, auf ihren schweißnassen Stühlen. In den vordersten zwei Reihen saßen Japaner mit riesigen Nikons und Yashicas an Gurten um die Hälse… Auf der Bühne verringerte sich gerade das farbige Lichterspektakel und signalisierte damit den Moment, in dem Doris sich mit gespreizten Knien auf ihre Flasche niederließ. Sie stellte die Flasche, eine leere grüne Sektflasche größeren Formats, an den vordersten Bühnenrand und senkte langsam und unter kreisenden Bewegungen ihren Unterleib darüber. Sobald die Flasche eingedrungen war, erhob Doris sich und nahm dabei, ohne die Hände zu gebrauchen und nur Kraft ihrer Pflaume, die Flasche mit in die Höhe. Danach senkte sie sich wieder, erhob sich erneut und, TUSCH, die Flasche stand wieder auf ihrem Platz…. Doris wiederholte das Schauspiel. Wieder kreiste ihr Unterleib über der Flasche, wieder drang die Flasche in sie ein und komprimierte dabei die Luft, die sich in Doris' Unterleib befand. Als diese Luft keinen anderen Ausweg mehr fand, entwich sie unter lautem, lang gezogenem Knattern auf natürliche Weise. Das Geräusch fuhr unter die angespannten Gäste, wie eine Maschinengewehrsalve. Die Japaner in den vordersten Reihen sprangen begeistert von ihren Stühlen. Sie johlten knallrot im Gesicht und gaben stehend Applaus. Doris tat unterdessen so, als sei alles nur Bestandteil ihrer Vorführung. (...Oh, das war nichts Besonderes. Es war nur eine unserer gewöhnlichen Einlagen. Wir furzen hier jeden Abend so durch die Gegend....) Doris beendete ihre Aufführung mit dem üblichen Ritual. Sie führte ein letztes Mal die Flasche mit den Händen ein, zog sie mit schmatzendem Geräusch wieder hervor und reichte sie einem der Gäste

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aus den vorderen Reihen. Ein Japaner nahm sie, schnupperte unter den neugierigen Blicken seiner Landsleute daran, machte große Augen und stellte sie zur Seite... Unterdessen ging die Show weiter. Es kam der Auftritt der „Bananenfrau“. Der Name sagt es schon. Die „Bananenfrau“ verwendete, anstatt einer Flasche, eine Banane. Der Knaller der Bananenfrau war, am Ende ihrer Vorstellung durfte einer der Gäste aus den vorderen Reihen, die Banane zwischen ihren Beinen hervor knabbern. Die Bananenfrau sorgte gerne mit kleinen Einlagen für Begeisterung. So ließ sie zum Beispiel gerne, von grellem Spotlight gut ausgeleuchtet und ohne die Hände zu verwenden, eine ganze Banane völlig in ihrem Leib verschwinden, um sie danach sehr langsam, Stück für Stück und immer noch ohne Hände, wieder hervor kommen zu lassen. Als ihre Vorstellung dem Ende zuging und einer der Gäste die Banane zwischen ihren Beinen hervorknabbern durfte, ließ ein japanischer Gast sich dazu hinreißen, anstatt in die Banane, kräftig in die Pflaume der Bananenfrau zu beißen. Was der Gast als Scherz gemeint hatte, empfand die empörte Bananenfrau als schmerzende Schmach. Ihr Schrei, ein Gemisch aus Schmerz und Zorn, gellte durch den ganzen Saal, bis vorne zu den Eingängen, wo die Rausschmeißer standen. Die eilten dann auch gleich herbei. Sie warfen sich auf den Übeltäter, zerrten ihn am Kragen in das kleine Kabäuschen hinter der Bar, wo die Druckgasflaschen aufbewahrt wurden, ohrfeigten ihn dort ordentlich zurecht und warfen ihn anschließend, zerzaust und durchgewalkt, zur Tür hinaus. Leider war der Kerl Mitglied einer Reisegruppe von über dreißig Japanern, die daraufhin auch alle gingen. Doch die Sitzplätze des Casa Rosso, blieben nicht lange leer. Sie waren rasch wieder mit neuen Gästen gefüllt. Es war im Grunde zu jeder

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Stunde des Abends brechend voll. Es war ein sehr gut laufender und rentabler Laden… Auf der Bühne lief inzwischen die Bumsshow. Ein splitternacktes Paar, verrenkte die glänzenden Gliedmaßen. (Dazu verwandte man Massageöl und weil man oft kein Geld für Massageöl hatte, musste gelegentlich auch Babyöl oder Salatöl aus dem Küchenkasten herhalten...) Bei der Bumsshow gab man nur vor, wirklich zu poppen. Es war die Zeit vor Viagra und so war der männliche Teil der Darstellung stets bemüht, sich so zu bewegen, dass seine hängenden Klöten und sein kleines, verschrumpeltes Pissröhrchen nicht zu sehr ins Auge fielen. Dass die Situation nur gestellt war, schien die Gäste nie zu stören. Sie gafften, mit Speichelbläschen in den Mundwinkeln, bis sie, einer nach dem anderen, entweder still und verstohlen in den rot beleuchteten Räumen der Nachbarschaft verschwanden, oder in den Wasch- und Toilettenräumen des Hauses. Schon nahmen neue Gäste ihre Sitzplätze ein und rutschten bald ebenso mit schweißnassen Hintern auf ihren Stühlen hin und her, wie zuvor jene, die soeben gegangen waren… Arbeitete man in einem Sexclub, arbeitete man grundsätzlich im Milieu und relativierte die dortigen Ereignisse. Man kannte die Frauen, die in den Clubs und den Bumszimmern der Umgebung arbeiteten, man kannte sie als Menschen, kannte vielfach auch ihre Hintergründe, ihre privaten Verhältnisse, ihre Freunde, ihre Kinder, ihre Freuden und ihre Sorgen. So hieß unsere „Bananenfrau“ beispielsweise im Privatleben Anita. Anita war aus Deutschland nach Amsterdam gekommen und hatte dort ihren Freund, einen Engländer namens Mike, kennengelernt. Die Beiden hatten zwei kleine Töchter. Zusammen mit ihnen, wohnten sie im Osten der Stadt, in einer winzigen Wohnung, zwischen dem

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Dachgebälk eines alten Mietshauses. Mike arbeitete an einem SchiffsSchrottplatz, wo er mithalf, alte Schiffsleiber zu zerlegen und die Bestandteile zu verwerten. Hin und wieder verhökerte er auch Cannabisprodukte an Touristen, die zu dämlich waren, durch die Türen von Coffee-Shops zu finden. Anita und Mike kamen zusammen redlich über die Runden. Reich, wurde selten jemand im Milieu. Dazu musste man schon Räumlichkeiten besitzen. In aller Regel verbarg sich hinter der glanzvollen Fassade der Sexindustrie, jede Menge Elend und zersplitterte Illusionen... Eines Abends, hielt ein Wagen vor dem Haupteingang des Casa Rosso und ein Mann stieg aus. Er war ein ehemaliger Mitarbeiter, der erst tags zuvor entlassen worden war. In einer Hand hielt er einen Benzinkanister, in der anderen, einen großkalibrigen Revolver. Er betrat den brechend vollen Club, goss den Inhalt des Kanisters über den Boden und schoss mit dem Revolver erst auf das Benzin am Boden und dann wahllos in die Menge. An diesem Abend, brannte das berühmte Casa Rosso bis auf den Grund nieder. Dreizehn Menschen, kamen dabei ums Leben. Das war aber keinesfalls das Ende dieses berühmten Sexclubs. Er wurde kurz danach nur wenige Meter neben der ausgebrannten Ruine des Alten, neu errichtet. An der Stelle des niedergebrannten Clubs, erinnert heute eine bronzene Gedenkplakette mit entsprechender Aufschrift, an das tragische Ereignis vom 16. Dezember 1983 am Oudezijds Achterburgwal zu Amsterdam… Der Brandstifter und Mörder wurde noch am selben Abend festgenommen. Wenig später verurteilte ein Amsterdamer Gericht ihn wegen Brandstiftung und Todschlags in dreizehn Fällen zu zehn oder zwölf Jahren Gefängnis. (Ich erinnere mich nicht mehr. Jedenfalls wäre

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er im Land der Menschenverächter nicht unter dreizehn Mal Lebenslang davon gekommen.) Und Doris? Was war an diesem Abend mit Doris, der Flaschenfrau des Casa Rosso’s geschehen? Doris wollte sich an diesem Abend, bevor sie zur Arbeit fuhr, noch rasch die übliche Amphetamininjektion verpassen, aber sie fand auf Anhieb keine brauchbare Vene und so dauerte es einige Zeit, bis sie mit der Injektion fertig war. Dadurch hatte Doris sich verspätet. Als sie endlich beim Club Casa Rosso eintraf, fand sie nur noch rauchende Trümmer und schwelende Reste vor. Danach arbeitete Doris im Yab Yum, das wohl berühmteste Bordell der Stadt, und verdiente dort durchschnittlich tausend Mark pro Abend… Heute ist Doris' Körper zu vergangen, ihr Arsch zu flach und den Kniekehlen zu nahe, um noch weiter in der Branche zu arbeiten. Heute ist sie die alternde und frustrierte Gattin eines alkoholabhängigen Werftarbeiters, der verkrampft versucht, seiner Frau das zu geben, was sie nie haben wollte, was sie ein Leben lang mit Abscheu von sich gewiesen hatte: Ein ruhiges, kleinbürgerliches Leben, mit Ehemann, Hündchen, Aquarium und Zimmerpalme, in einem kleinen Häuschen inmitten identischer kleiner Häuschen, fein säuberlich aufgereiht, in einem stillen, langweiligen Vorort von Amsterdam...

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Beim Amsterdamer Arbeitsamt Oft geschieht Verwunderliches, lässt man sich gutwillig auf die Forderungen von Behörden ein. Ich hatte einen Brief vom Amsterdamer Arbeitsamt erhalten, in dem ich aufgefordert wurde, zur Arbeitsvermittlung zu erscheinen. Ich dachte von vorne herein, dass es sich dabei sicher um einen Irrtum handelte. In den Augen einfacher Bürger erschien ich vielleicht „arbeitslos“. Tatsächlich steckte ich aber bis über beide Ohren nicht nur in allerlei kreativer, sondern auch lukrativer, wennschon illegaler, Tätigkeit. Meine Anschrift musste wohl aus Versehen in die Datenbänke dieser Leute geraten sein. Aber ich dachte, gehe du mal hin und sieh dir an, was sie zu bieten haben… Hinter einem Schreibtisch saß ein junger Mann vor seinem PC. Ich grüßte und reichte ihm meine Einladung. „Sie sind noch nie bei uns gewesen?“, fragte er. „Nein“, antwortete ich, „Ich bin noch nie bei einem Arbeitsamt gewesen“. Ich fühlte sofort, dass dies irgendwie nicht die richtige Antwort war. Immerhin, wer war heutzutage schon „noch nie“ bei einem Arbeitsamt? Seltsame Schwingungen oszillierten hin und her zwischen Sachbearbeiter und Bürger, in solchen Arbeitsämtern… „ Was sind Sie von Beruf?“, fragte der junge Mann. Nun war dies eine der Fragen, auf die ich noch nie Antwort wusste. Ich hatte wohl, wie viele Menschen meiner Zeit, eine Ausbildung, war danach aber nie auf dem erlernten Gebiet tätig geworden. Folglich schien mir, meine erlernte Tätigkeit konnte ich schlecht als Beruf angeben. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte hatte ich aus Freude und Notwendigkeit so viele Fähigkeiten erworben, dass ich in so ziemlich jedem Beruf, zumal in jedem handwerklichen, zuhause war. Was sollte ich folglich als Beruf

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angeben? Sammler von Berufen etwa? Ich antwortete schließlich bescheiden, „Ich habe viele Berufe“. Das verwirrte den jungen Mann, der nur Menschen mit einem Beruf zu kennen schien. Ein wenig verunsichert fragte er, „Worin bestand ihre letzte Tätigkeit?“ Nun wollte ich diesem jungen Mann nicht aus reiner Nachlässigkeit Unwahrheiten erzählen, weshalb ich gründlich über seine Frage nachdachte … Mein Freund Martin, hatte mehrere Reptilien und Amphibien in seiner Wohnung, alle untergebracht in schönen großen Terrarien. Er hielt sich, wie so viele Leute, solche Tiere als Haustiere. In einer Ecke seines Wohnzimmers hatte er ein gemauertes Becken, in dem sechs junge Krokodile schwammen. Als Martin für mehrere Wochen in Urlaub fuhr, bat er mich, während seiner Abwesenheit nach seinen Tieren zu sehen. Dabei schien eines von Martins Krokodilen eine persönliche Bindung zu mir gefunden zu haben. Trat ich auf das Becken zu, stellte dieses Tier sich auf die Hinterbeine, stützte sich mit den Vorderbeinen am Beckenrand ab und sah mir erwartungsvoll entgegen. Ich antwortete also auf die Frage des jungen Mannes vom Arbeitsamt, „Als letzte Tätigkeit hatte ich Krokodile versorgt“. Der junge Mann sah mich mit geweiteten Augen an. „Wie, Krokodile versorgt? Hatten sie den Tieren irgendwelche Kunststücke beigebracht“? Über diese Frage dachte ich erneut gründlich nach und dachte dabei natürlich auch an eben dieses eine Krokodil, das sich stets auf die Hinterbeine gestellt hatte, sobald es mich sah. Schließlich empfand ich es als gerechtfertigt, dem jungen Mann vom Arbeitsamt zu antworten, „Kunststücke beigebracht? Ja. Das könnte man mit einiger Dehnung so sehen. Irgendwie hatte ich es geschafft, dass sich eines der Tiere stets auf die Hinterbeine stellte sobald es mich kommen sah“. „Dann sind sie ja Krokodildompteur!“, rief der junge Mann vom Arbeitsamt erstaunt

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aus. „Ja“, sagte ich, „Das könnte man mit einigem guten Willen so sehen“. Der junge Mann beschäftigte sich einige Zeit mit seinem Computer. Schließlich hob er resignierend die Schultern und bedauerte, „Es tut mir leid, aber für einen Krokodildompteur haben wir zur Zeit keine Stelle frei“. Damit war mein Termin beim Arbeitsamt erledigt und ich ging wieder nachhause. Von diesem Tage an stand ich beim Amsterdamer Arbeitsamt als arbeitsloser Krokodildompteur eingeschrieben...Sechs Monate später fand ich eine Karte vom Arbeitsamt in meinem Briefkasten, auf der mir mitgeteilt wurde, es sei leider noch stets keine Stelle für einen Krokodildompteur frei geworden. Karten dieser Art erhielt ich von da an mit kalendarischer Genauigkeit alle sechs Monate. Es war aber nie eine Stelle für einen Krokodildompteur frei und so befürchtete ich schon, eines Tages kämen sie mir mit einer Umschulung zum Löwenbändiger…

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Zweiter Teil

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Annas Story Wir waren eine Gruppe von Menschen, etwa dreihundert Leute aus allen Ländern Europas, die leere Grundstücke innerhalb des Amsterdamer Stadtgebietes besetzten, um in Wohnwagen, Wohnmobilen, Wohnbussen und selbst gezimmerten Wohngelegenheiten darauf zu wohnen. Nachdem wir drei Jahre die östlichen Hafeninseln, die KNMSI, (Koninglijk Nederlands Scheepvaartsmaatschapij Ijlanden) besetzt hielten, kam eines Morgens eine bewaffnete Hundertschaft der Polizei und zerschlug uns in alle Windrichtungen. Wenige Wochen später, kondensierten bei Nacht und Nebel die ersten von uns wieder auf einem anderen leeren Grundstück, inmitten angesiedelter Holzbetriebe des Holzhafens, im westlichen Teil desAmsterdamer Hafengebietes. Die Stadträte und die Presse nannten uns „Die Stadtnomaden“ und Stadtnomaden, nannten wir uns schließlich auch selbst... Unser neues Gelände im Holzhafen, stieß mit einer Breitseite an den Zeineweg, eine schmale, todlaufende Straße, und mit der anderen Breitseite ans Hafengewässer, dem IJ, die breite Hauptschifffahrtsstraße des Amsterdamer Hafens. Durch die Mitte unseres Geländes, vom Zeineweg bis zum Kai, verlief ein etwa zehn Meter breiter Streifen aus schlanken, hoch aufgeschossenen, dicht beieinander stehenden Weiden, der das Gelände auf natürliche Weise in zwei etwa gleich große Hälften teilte. Entlang dieses Streifens von Weiden, verlief ein etwa fünf Meter breiter Sandweg, ebenfalls vom Zeineweg bis zum Kai. Es dauerte nur wenige Wochen und die meisten Leute, die von den östlichen Hafeninseln vertrieben worden waren, hatten sich im Holzhafen des westlichen Hafengebietes wieder eingefunden. Wir waren Menschen unterschiedlichster Art und Herkunft, Arbeiter, Studenten, Nutten,

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Krininelle, Händler verbotener psychotroper Substanzen, aus finanziellen Gründen, aus Leidenschaft oder Ideologie, ganze Familien, manche in drei Generationen, Großeltern, Eltern und Enkelkinder. Wir waren unser eigenes soziales Experiment. An uns alleine lag es, Regeln zu ersinnen, die unserem wild zusammen gewürfelten Haufen eine friedliche Koexistenz ermöglichen würden… Weil sie das Gelände wegen des Streifens hoher Weiden und manch anderer Gewächse, nicht von der Straße aus einsehen konnten und sie sich nur in Hundertschaft zu uns wagten, und Hundertschaften standen nicht immer zur Verfügung, war unser Gelände von Anbeginn der Polizei ein Dorn im Auge. Wir hatten aber gute Kontakte zu toleranten Stadträten und nicht wenige von uns trugen die privaten Telefonnummern von Stadträten in den Taschen. Dadurch gelang es uns, die Polizei vorerst auf Abstand zu halten. Zuerst gönnte man uns eine Frist von drei Wochen. Danach hatten wir alle wieder vom Gelände verschwunden zu sein. Am Ende bewohnten wir das Gelände dann doch ganze sechs Jahre lang… Wir riefen beim Elektrizitätswerk an und ließen einen Stromkasten mit drei Anschlüssen installieren, abgesichert mit je vierundzwanzig Ampere und Erdleckschaltern. Wir riefen beim Wasserwerk an und machten darauf aufmerksam, im Holzhafen lebten inzwischen über dreihundert Bürger ohne fließend Wasser. Sie kamen und installierten Wasserhähne. Wir gingen zur Post und wiesen darauf hin, im Holzhafen sei eine neue Wohnsiedlung entstanden und sie gaben uns die Postanschrift „Zeineweg 221“. Wir hingen einen Gemeinschaftspostkasten an einen Pfahl, gleich neben dem Eingang zum Gelände am Zeineweg, und empfingen fortan Post. Am Ende gingen wir noch zum Einwohnermeldeamt, um uns ordnungsgemäß an

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unserer neuen Wohnadresse anzumelden. Der Beamte des Einwohnermeldeamtes blickte auf seinen Computermonitor und bemerkte, am Zeineweg gab es gar keine Wohnsiedlung. „Jetzt schon“, klärten wir ihn auf und als der Abend kam, waren wir alle offiziell auf unserer neuen Wohnadresse angemeldet. Wir gingen zur Telekom und beantragten Telefonanschlüsse. „Aber dort gibt es keine Telefonanschlüsse“, bemerkten die Telekom Leute. „Dann schafft welche herbei“, empfahlen wir und warfen als Ansporn zweihundertfünfzig ausgefüllte und unterzeichnete Telefonanträge auf den Tisch. Als wir den Raum verließen, riet ich den Leuten noch, „Und wenn ihr schon dabei seid, Kabel zu verlegen, dann sorgt doch bitte dafür, dass die Leitungen für Kabelfernsehen auch gleich mit in die Gräben geworfen werden“. Eine Woche später kamen kleine Bagger. Sie hoben Gräben aus und Arbeiter verlegten Telefonleitungen… Was uns Leute vom Gelände vereinte, war ein absoluter Wille zur Selbstbestimmung. Wir, waren es, ein jeder Einzelne von uns, der über möglichst alle Aspekte seines Lebens entschied. Wir ließen uns von niemandem, und schon gar nicht von der Obrigkeit, etwas aufreden oder gar aufzwingen… Es dauerte nicht lange und unser neues Wohngebiet am Zeineweg, war zum Drogensupermarkt der Stadt geworden. Bögen von LSD Pappen, ein Bogen immerhin rund eintausend Einzeldosen, lagen verwahrlost in den Pfützen des Sandwegs oder hingen wie bunte Wimpel hoch in den Zweigen der Weiden. Man konnte achtlos damit umgehen, kosteten sie doch nur Centbeträge. Was unseren Willen zur Selbstbestimmung betraf, konnte uns so bald keiner das Wasser reichen, bis eines Tages Anna erschien...

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Annas Ankunft Eines Morgens, ich war gerade unterwegs zur Hauptstraße, fand ich am Rande des Sandweges einen unbekannten alten Wohnwagen vor. Es war ein Wagen, wie Zigeuner, Schausteller und anderes fahrendes Volk sie früher hatten. Er war etwa neun Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Er hatte hohe Räder mit verchromten Radkappen und eine starke stabile Anhängerdeichsel. Obwohl schon ein alter Wagen, war er doch noch stabil. Er hatte nur wenige Dellen in seiner metallenen Haut und nur wenige Stellen, an denen der silbrige Lack abblätterte. Eine alte Frau, öffnete die Wagentür. Sie goss wortlos einen Eimer voll Flüssigkeit ins Freie und schloss die Tür wieder. Woher die alte Frau gekommen war und wer sie, samt ihren alten Wohnwagen, auf unser Gelände gebracht hatte, wurde nie geklärt… Es war nicht gut auf Menschen zu sprechen, dieses alte Weiblein. Klopfte man an ihre Tür, ertönte von innen bestenfalls ein bösartiges, „Geht weg! Lasst mich in Ruhe“! Begegnete man der Alten zufällig im Freien, was selten genug geschah, war sie manchmal sogar ansprechbar. Auf diese Weise erfuhren wir, sie nannte sich Anna. Woher Anna kam, ob sie noch Familie hatte, Freunde oder Bekannte und was sie früher getan hatte und weshalb sie plötzlich in einem Wohnwagen auf unserem Gelände wohnte, war nie in Erfahrung zu bringen. Da sie aber mit den Monaten von mehreren Leuten aus verschiedenen Ländern angesprochen worden war, kamen wir dahinter, Anna sprach mindestens sechs Sprachen, Niederländisch, Deutsch, Englisch, Spanisch, Italienisch und Französisch. Einmal entschlüpfte ihr, sie sei früher Lehrerin gewesen, doch sprach man sie darauf an, wich sie aus oder schwieg nur. Über diese wenigen Erkenntnisse hinaus, blieb Anna uns allen ein Rätsel…

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Außer von uns, bekam Anna nie Besuch. In den Abendstunden sah man sie manchmal, gekleidet in Rock oder Trainingshose, rotem Anorak und silbrig glänzenden, so genannten „Moonboots“, in den Seitenstraßen der Nachbarschaft. Sie zog ein zweirädriges Kofferwägelchen hinter sich her, beladen mit prall gefüllten Plastiktüten, die mit elastischen Strängen festgezurrt waren. Derart ausgerüstet, durchstöberte Anna auf der Suche nach Essbarem die Abfalltonnen der Umgebung... Im Jordan, dem westlichen Teil der Stadt, gab es das Kloster der „Sisters of Charity“, ein Nonnenorden, der bestrebt war, dem Leben der Mutter Theresa von Kalkutta nachzueifern. So waren die Nonnen dieses Ordens zum Beispiel in dasselbe weiß blaue Gewand gekleidet, wie einst Mutter Theresa. An Nachmittagen (…außer Donnerstags und an Wochenenden), boten die Nonnen dieses Klosters kostenloses warmes Essen an, für Stadtstreicher und andere Bedürftige. Diesen Nonnen, erzählte ich von Anna. Seitdem brachte ich Anna an jedem Öffnungstag des Klosters, ein Aluminiumtöpfchen voll warmem Essen vorbei. Aber Anna war generell so schlecht auf Menschen zu sprechen, dass ich ihr das Töpfchen nicht persönlich überreichen konnte. Ich stellte es vor Annas Wohnwagentüre, klopfte an, rief, „Anna, dein Essen ist da“, und verschwand rasch wieder. Danach vergingen einige Minuten, bis die Tür sich öffnete, ein magerer Arm erschien und ein mageres Händchen das Töpfchen ergriff und nach innen zog... Wir, die Jungs und Mädels vom „Weg“, wie Presse und Behörden unser Gelände inzwischen nannten, waren zum Sozialamt gegangen um für Anna Sozialunterstützung zu beantragen. Die hätte Anna auch zugestanden, hätte sie sich nur nicht so störrisch geweigert, ihren vollen Namen zu nennen. Um nichts in der Welt, gab Anna jemals ihren

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vollen Namen preis. (Ich gewann den Eindruck, sie wollte ihren vollen Namen nicht nennen, weil sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht hatte. Vielleicht hatte man sie in eine Einrichtung gesteckt, in der sie nicht sein wollte, wer weiß...? Hilflose Menschen zeichnet eben aus, dass sie wehrlos sind...) Amsterdam kennt sehr kalte Winter und Annas Wohnwagen hatte keine Heizmöglichkeit. Im Februar konnte die Temperatur, gerade in der Nähe des Hafengewässers, bis zu fünfunddreißig Grad unter Null sinken. An einem dieser kalten Februartage, hatte ich Anna auf die Möglichkeit des Heizens angesprochen. Sie benötige keinen Ofen, erklärte sie. Wurde ihr zu kalt, uriniere sie in ein Glas und wärme sich daran die Hände. Wurde die Kälte unerträglich, verbrenne sie auch mal alte Zeitungen in einem Edelstahlspülbecken, das sich gleich neben der Tür ihres Wohnwagens befand. Zur Vorsorge, hatte sie dazu alte Zeitungen gesammelt und damit das Ende ihres Wohnwagens, an dem die Tür und das Spülbecken waren, bis zur Decke voll gestapelt... Eines Tages beschaffte ich einen tragbaren Petroleumofen mit rundem Docht, wie man ihn in den Niederlanden häufig und in Deutschland leider nur zu selten sieht. Mit den Leuten des Geländes verabredete ich, wir zahlten die Kosten für das Petroleum gemeinsam. An einem besonders eisigen Wintermorgen ging ich mit diesem Petroleumofen zu Anna. Ich stellte ihr den brennenden Ofen in den Wohnwagen und erklärte, „Dies, Anna, ist ein gut wärmender Petroleumofen. Er brennt bereits. Lasse ihn ruhig brennen. Fasse ihn am besten erst gar nicht an. Ich komme von nun an jeden Morgen vorbei und fülle seinen Tank“. Als ich am nächsten Morgen kam, um den Tank zu füllen, stand der Ofen brennend vor Annas Tür im Freien, inmitten einer Pfütze geschmolzenen Eises. (War ihr vielleicht der

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Gedanke zuviel geworden, wegen diesem Ofen käme jeden Morgen jemand zu ihr? Oder hatte sie einfach nur die fixe Idee gefasst, Menschen seien grundsätzlich schlecht und um dieser fixen Idee nicht zu widersprechen, wünschte sie jedem Menschen aus dem Wege zu gehen?) Um zu verhindern, dass unser Gelände noch mehr Zulauf bekäme, hatte die Stadtverwaltung das gesamte Grundstück mit einem Zaun umgeben lassen. Dieser Zaun hatte an der Seite des Zeinewegs eine Öffnung, gerade groß genug um einen Menschen mit Fahrrad durchzulassen. Daneben war ein breites verschließbares Tor mit einem Schild davor, auf dem stand, „Bitte Einfahrt freihalten für Feuerwehr und Ambulanzfahrzeuge“. Zu diesem Tor, hatte ich den Schlüssel. Er hing in meinem Wohnwagen neben der Tür an einem Nagel... Annas Tod Es war an einem bitterkalten Februarmorgen. Die Welt war über und über mit Eis bedeckt. Das Hafengewässer war weitgehend zugefroren, man konnte darauf fast bis in die Stadt laufen. Eis, lag in einer dicken Schicht auf dem Sandweg und überzog, wie eine Schicht aus Glas, noch den kleinsten Zweig der vielen Weiden. Jemand klopfte heftig an meine Tür. Es war Inge, eine Bewohnerin unseres Geländes, die aufgeregt um den Schlüssel zum Tor bat. Annas Wohnwagen, so erzählte sie, stehe in Flammen. Feuerwehr und Ambulanzfahrzeug seien bereits benachrichtigt. Ich gab ihr den Schlüssel. Danach rannte ich zu Annas Wagen… Durch die Glasfüllung der geschlossenen Wagentür konnte man erkennen, das Feuer brannte unmittelbar an der Tür. Dort leckten die Flammen bereits bis zur Decke. Wie es schien, hatten die alten

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Zeitungen Feuer gefangen, die Anna dort gestapelt hatte. Da die Fenster des Wagens zu hoch lagen, war es über diesen Einblick hinaus unmöglich, ins Wageninnere zu sehen. Ich holte leere Bierkästen herbei, stellte mich darauf und sah durch ein Fenster. Am hintersten Ende des Wagens, dem Feuer gegenüber und noch ein gutes Stück davon entfernt, sah ich Anna. Sie saß seelenruhig auf einer Bank, hatte die Hände in den Schoss gelegt und starrte in die Flammen, die langsam näher kamen. Durch die Tür konnte sie diesen Wagen nicht mehr verlassen. Dort wütete das Feuer schon zu sehr. Es gab nur noch eine Möglichkeit, die alte Frau halbwegs unbeschadet aus dem brennenden Wagen zu holen. Sie musste durch das hinterste Fenster ins Freie gezogen werden. Viel Zeit nachzudenken, gab es nicht mehr. Kurz entschlossen, warf ich einen Backstein durch das Fenster. Jetzt, da das Feuer durch die entstandene Öffnung Sauerstoff erhielt, platzten die Flammen mit einem Schlage durch das gesamte Wageninnere. „Komm hierher!“, rief ich Anna zu. „Komm zum Fenster, Anna“! Doch anstatt zum Fenster zu kommen, stand Anna auf, sah kurz zu mir und schritt dann, aufrecht und erhobenen Hauptes wie eine Madonna, geradewegs durch die Flammen zur Tür. Inzwischen brachte die Hitze des Feuers, die restlichen Fensterscheiben zum platzten. Flammen, loderten aus den Öffnungen. Wir Leute vom Gelände, hielten den Atem an und starrten gebannt auf die Wagentür. Plötzlich schwang die Tür zur Seite und Anna fiel heraus. Sie kippte wie eine leblose Puppe einfach nach vorne, fiel die drei Stufen ihrer hölzernen Wagentreppe hinab und blieb als Bündel schwelender Lumpen reglos auf dem Eis des Sandweges liegen. Schwerste Verbrennungen, hatte Anna sich zugezogen, während ihres eigensinnigen Ganges durchs Feuer. Ihre Kopfhaut war in der höllischen Hitze der Flammen regelrecht weggeschmort. Ihr blanker Schädelknochen sah hervor. Wenige Minuten später, traf ein Ambulanzfahrzeug ein. Arme alte Anna. Sie starb während der Fahrt

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zum Krankenhaus an ihren schweren Verbrennungen und ein wenig wohl auch an ihrem beinharten Willen zur Selbstbestimmung… Annas Begräbnis Es war noch stets kalter Februar, als Anna eines eisigen Morgens auf dem kleinen St. Barbara Friedhof im Westen Amsterdams begraben wurde. Da niemand über den Namen „Anna“ hinaus wusste, wie sie geheißen hatte, benannten die Behörden sie nach ihrem augenscheinlichsten Merkmal. Ihr augenscheinlichstes Merkmal war aber ihr blanker Schädelknochen, mit der weg geschmorten Kopfhaut und so begrub man Anna unter dem Namen „Anna Zondervel“, was so viel heißt wie Anna ohne Fell… Wir, der harte Kern der Jungs vom „Weg“, waren natürlich auch beim Begräbnis anwesend. Ebenfalls anwesend waren einige Nonnen vom Orden der Sisters of Charity und vier Herren der Stadtverwaltung, die keiner von uns je zuvor gesehen hatte. Sie waren eine Abordnung jener Stadtverwaltung, die Anna Sozialunterstützung verweigert hatte, nur weil sie so schrullig war, vermutlich aus guten Gründen, ihren Namen nicht zu nennen. Sie hätten zur Not einen Namen erfinden können, schließlich hatten sie nun, da Anna tot war, auch einen erfunden… Während Krähen in den Wipfeln hoher Tannen kreischten, sahen wir Jungs vom Weg finster auf diese vier Herren der Stadtverwaltung. Nachdem Annas kärglicher Sarg in die Grube gesenkt worden war, wurde das übliche Ritual vollzogen, bei dem jeder Anwesende ein Schäuflein Erde auf den Sarg zu werfen hatte. Als wir an die Reihe kamen, wies Bone die kleine Schaufel zurück. Er schlurfte gelassen zwischen einigen fremden Gräbern dahin, bis er an einem Grab stehen blieb, wo er einen immer grünen Baum von gewiss drei Metern Länge

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aus der weichen Erde riss. Erdklumpen hinter sich lassend, schleifte er den Baum zu Annas Grab und ließ ihn polternd in die Tiefe auf Annas Sarg fallen. Die Herrn der Stadtverwaltung und einige Figuren der Friedhofsverwaltung waren zu feige, um auch nur andeutungsweise dagegen anzuhauchen. Sie schwiegen stattdessen und sahen betreten auf ihre Schuhe. Als Nächster, war Fat John an der Reihe. Fat John hatte Tränen in den Augen. Mit einer von Tränen gehinderten Stimme erklärte der mächtige, schwergewichtige Engländer, er sei noch nie zuvor bei einem Begräbnis gewesen. Er wies das kleine Schäufelchen ebenfalls zurück und griff stattdessen in seine Jackentasche. Er holte ein kleines weißes Päckchen hervor und warf es mit gleichgültiger Mine in Annas Grab. Nur ich und er wussten in diesem Augenblick, er hatte soeben seine letzte Portion Amphetamin samt seinem Spritzbesteck geopfert. Als Black Mick an die Reihe kam, warf der ein Feuerzeug auf Annas Sarg. Danach musste ich Anna etwas mit auf die Reise durch die Ewigkeit geben. Ich kramte in meiner Hosentasche und förderte einen noch verpackten Kondom zutage. Ich warf ihn auf Annas Sarg mit den Worten, „Man weiß nie, Anna, wo man die Nacht verbringen wird…“ Als wir nach Annas Begräbnis wieder auf das Gelände kamen, fanden wir Annas ausgebrannten Wohnwagen mit Blumen umkränzt. Berge teurer Blumensträuße und Blumengebinde, lagen aufeinander gehäuft auf dem gefrorenen Sandweg, bezahlt und niedergelegt, einige davon vermutlich auch gestohlen, von Händlern, Nutten, Dieben, Studenten, Arbeitern und anderem gewöhnlichen Volk. Von den Herren der Stadtverwaltung, fehlte jede Spur... Viele Jahre, sind seit Annas Tod vergangen, aber keiner, der sie damals erlebt hatte, hat sie jemals vergessen. Erwähne ich in der

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Gegenwart von Leuten die damals dabei waren, den Namen Anna, denkt jeder sofort an diese alte Frau und an keine andere. Annas Starrsinn, ihr absoluter Wille zur Selbstständigkeit, zur Selbstbestimmung um jeden Preis, hatte uns tief beeindruckt. Am Ende hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, das ausgebrannte Wrack ihres Wohnwagens zu beseitigen. Dabei grub ich zufällig einen kleinen, blitzblanken Postbankausweis aus der Asche, der Annas Foto und ihren vollen Namen trug. Ausgerechnet „Anna De Jong“, hatte sie geheißen, diese bemerkenswerte alte Frau, ausgerechnet „Anna Die Junge“. Von diesem meinem Fund, hatte ich nie jemandem erzählt, und so sind heute Sie und ich, werte Leserin, werter Leser, weit und breit die einzigen Menschen die wissen, dass Anna Die Junge geheißen hatte... Fortsetzung im Buch „ELIXIR, Wir Sünder vom Bahnhofsklo“ in „Unfall oder Mord“, bei Epubli Verlag www.epubli.de.

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Von Ratten-Joe und anderen Menschen… Ratten Joe war ein Mann fortgeschrittenen Alters. Er trug einen fransigen, schmutziggrauen Vollbart. Zwischen seinen langen und ebenfalls schmutziggrauen Haupthaaren, wiesen einige gelbliche Strähnen auf die Haarfarbe hin, die Joe einst als junger Mann gehabt haben mochte. Joe hatte nur ein echtes Bein. Sein anderes Bein war ein altertümliches Holzbein, mit Schnallen und Lederriemen, das Joe, wie er nie müde wurde zu erzählen, mit nur einem Handbeil eigenhändig aus dem Strunk eines alten Baumes gehauen hatte. Joe liebte Ratten. Niemand wusste, was er an diesen Tieren so reizvoll fand, aber so war es eben. Traf man Joe unterwegs, beispielsweise irgendwo in der Stadt, war er nie alleine. In seinen Händen und unter seiner Kleidung hatte er stets einige seiner Lieblinge bei sich. Joe lebte in einem Wohnwagen der so mit Käfigen für seine Ratten voll gestellt war, dass Joe selbst nur noch dann Platz fand, wenn er sich der Länge nach auf sein Bett legte. Als Joe eines Nachts heimlich Abschied von uns nahm und verstarb, fanden wir seinen Körper erst Tage später. Unterdessen hatten seine Lieblinge schon so an ihm genagt, dass von seinem ohnehin schon mageren Körper nicht mehr viel zum beerdigen übrig war. Ratten Joe wurde, wie schon andere von uns vor ihm, auf dem kleinen St. Barbara Friedhof im Westen der Stadt begraben... Giorgio, ein Junge der aus einem Lande Mittelamerikas stammte, in dem man Smaragde geringer Größe vom Wegesrand auflesen konnte, war sehr fingerfertig im Beschleifen und Beschnitzen von Steinen. Giorgio hatte extra für Ratten Joes Grab eine Ratte aus einem Stück grauem Granit geschnitten, mit grünen Augen, aus echtem Smaragd. Sie war ein Kunstwerk, diese Ratte, echt wie sie aussah. Um Joes Grab zu schmücken, sollte sie an der Oberkante seines Grabsteins befestigt

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werden. Am Ende sträubten sich allerdings die Friedhofsbehörden, zwischen all den Grabsteinen mit Kreuzen, perversen Mord- und Folterinstrumenten, einen Grabstein mit einer Ratte zu genehmigen. Deshalb landete schließlich Giorgios granitene Ratte mit den grünen Augen aus echtem Smaragd als Zierde in Jake the legs Wohnbus. Nicht lange danach verstarb auch Giorgio, der fingerfertige Steinschnitzer aus einem Lande Mittelamerikas, in dem man Smaragde geringer Größe am Wegesrand einsammeln konnte. Er war in seinem brennenden Wohnwagen zu Tode gekommen. Giorgio hinterließ uns eine Zahnarztbohrmaschine mit einem blechernen Schächtelchen voll kleiner, aufsetzbarer Bohrer, die Erinnerung an seine liebenswerte, offene und fröhliche Natur und eben diese Ratte, geschnitten aus einem Stück grauem Granit, mit grünen Augen, aus echtem Smaragd... Jake the leg, der die granitene Ratte geerbt hatte, verdankte seinen Namen dem Umstand, dass er aufgrund einer angeborenen Osteoporose bei jeder Gelegenheit seine Beine brach. Sein linkes Bein war schon so oft gebrochen, das irgendwann auch der gewandteste Chirurg resigniert abwinkte. Alleine die Knöchelregion dieses Beines war schon so oft gebrochen und wieder repariert worden, das sie zu einem surrealistischen Knäuel aus Knochensplittern, Schrauben und Platten aus Chirurgenstahl zusammen gewachsen war. Aufgrund der vielen Brüche in der Vergangenheit war dieses Bein zehn Zentimeter kürzer als das andere und krumm wie eine Banane. Wir sprachen deshalb nie von Jake the legs Bein, wir sprachen stattdessen nur von Jake the legs Banane. Jake brach seine Beine einfach bei unglaublichsten Gelegenheiten... Eines Tages stieß ich splitternackt und schwer verkatert nach einer betrunken durchvögelten Nacht die Türe meines Wohnwagens auf und

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trat ins Freie. Von der Mittagssonne geblendet, torkelte ich durch meinen Garten auf einen einsam stehenden Baum zu. Ich lehnte mich mit einer Hand dagegen und wollte pinkeln, als Jake the leg daher gewankt kam. Er stellte sich wortlos neben mich, lehnte sich ebenfalls mit einer Hand gegen den Baum und pinkelte. So standen wir, gemeinsam gegen einen Baum gelehnt, zwei Männer in der Mittagssonne, der eine nackt der andere fragwürdig bekleidet, und pinkelten. Dabei fiel mir auf, Jakes Urin plätscherte mächtig laut zu Boden, während von meinem kein Laut zu hören war. Verwundert sah ich an mir hinab und erkannte, ich trug noch das Kondom der vergangenen Nacht. Mit Urin gefüllt, zog es bereits mächtig an meiner Nudel. Kaum war mir dieser Umstand bewusst geworden, glitt der pralle Ballon von meiner Nudel, fiel auf meine nackten Füße und platzte wie eine lautlose Explosion gelber Diamanten auseinander. Im selben Moment gab Jake the leg einen durchdringenden Schmerzensschrei von sich. „Was ist los Jake?“, fragte ich besorgt und Jake antwortete, „Ich habe mir soeben ein Bein gebrochen“! „Du hast dir, während du pissend gegen den Baum gelehnt standst, ein Bein gebrochen?“, fragte ich verwundert. „Ja“, antwortete Jake... Ich rief einige Jungs herbei, wir legten Jake the leg behutsam auf einen Schlafsack, trugen ihn zu seinem Wohnbus, legten ihn aufs Bett und riefen eine Ambulanz. Wie schon viele Male zuvor, brachten sie Jake ins Krankenhaus, wo wir ihn die nächsten Wochen regelmäßig besuchten, bis er mit knallrot eingegipstem Bein wieder bei uns eintraf. So ging das schon seit Jahren! Wie oft Jake sich während dieser Jahre unserer Bekanntschaft nicht schon ein Bein gebrochen hatte, war nicht zu zählen! Aber so war er eben, Jake the leg. Denke ich an ihn, so sehe ich seinen kahl geschorenen Kopf in der Form einer Erdnuss vor mir

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und sein fröhliches, verschmitztes Gesicht, inmitten ganzer Bündel grauer Krücken und Reihen faltbarer Rollstühle… Wie oft sind wir nicht schon gemeinsam in der Stadt gewesen, Jake the leg im Rollstuhl, sein signalrot eingegipstes Bein wie einen drohenden Rammbock nach vorne gestreckt, während ich ihn schob und die Menschenmasse der Innenstadt ängstlich vor uns zur Seite wichen, wie einst vor Moses das Rote Meer…? Inzwischen hat Jake seinen Wohnbus verschrottet, in dem wir Geschichten erlebt hatten, die mehrere Leben füllen könnten. Wie ich hörte, wohnt er jetzt in einem Wohnschiff, irgendwo im Norden der Stadt. Ich muss ihn unbedingt aufspüren, wenn ich wieder in Amsterdam bin. Ich wette, irgendwo in seinem neuen Zuhause steht auf einem Ehrenplatz Giorgios Ratte, geschnitten aus einem Stück grauem Granit, mit grünen Augen, aus echtem Smaragd…

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Der alte Hassan Hassan war nicht, wie sein Name vermuten ließe, Orientale. Hassan war Schwede und ein alter Schwede obendrein. Achtundsiebzig Jahre war er schon alt. Unterdessen hatte er so ziemlich alle Laster der Welt angenommen und, wenigstens vorübergehend, wieder abgelegt… Hassan war mager, alt und faltig. Nicht einen Zahn hatte er mehr im Mund. Auch keinen falschen. Aber Hassan war schön. Jawohl, der alte magere, faltige und zahnlose Hassan war schön. Er besaß diese natürliche Schönheit, die nicht erworben werden kann und keinen äußeren Schmuck benötigte. Sie entsteht zuerst als Wärme im Leib, dringt dann durch ihn hindurch und präsentiert sich der Welt als unerklärliches strahlendes Phänomen… Nun, in seinem relativ hohen Alter, lebte Hassan mit den Stadtnomaden Amsterdams, einer Gruppe Menschen, die leer stehende Grundstücke innerhalb des Stadtgebietes besetzten, um sie in Wohnmobilen, Wohnwägen und Bussen zu bewohnen. Piedro, ein weiterer Schwede, lieh Hassan einen großen, hohen und geräumigen Wohnwagen, mit separatem Koch- Wohn- und Schlafabteil. Drei Jahre lang wohnte Hassan schon in diesem Wagen bei den Stadtnomaden, als er eines Tages verkündete, es sei Zeit für ihn zu sterben… Aber nicht etwa bei den Stadtnomaden, auf einem illegal besetzten Stück Land in Amsterdam, wollte Hassan sterben, sondern vielmehr an einem Strand, mit Blick auf die untergehende Sonne. An einem Strand Australiens, so beschloss Hassan schließlich, wolle er seine letzten Tage verbringen, um dort im Einvernehmen mit dem Großen Manitou, der Welt und mit sich selbst zu sterben...

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So kam der Tag, an dem Hassan von den Stadtnomaden Abschied nahm und seine Reise nach Australien antrat. Acht Wochen sollten vergehen, bis Hassans erster Brief eintraf. Er sei vorerst in Perth, einer Großstadt an der Küste, schrieb er. Damit Hassan sich während des Sterbens auch ordentlich verpflegen konnte, schickte Jake the leg ihm LSD Pappen hinterher. Hassan selbst war auf die Idee gekommen. Um Komplikationen zu umgehen, die in Postsendungen verborgene Pappen verursachen konnten, nahm Jake the leg ganze Bögen, so um die eintausend Einzeldosen, und schnitt Teile daraus, die in etwa der Größe gewöhnlicher Postkarten entsprachen. Er klebte Briefmarken darauf, versah die Stücke mit der Anschrift, die Hassan angegeben hatte und versandte sie völlig offen als Postkarte. Damit sie unterwegs nicht so leicht knickten, ließ Jake sich von den Herstellern unperforierte Bögen liefern. Mochte Hassan die Dinger mit einer Schere selbst zurechtschnippeln. Weitere vier Wochen vergingen, bis erneut Post von Hassan eintraf. Ja, mit den Pappen sei alles in bester Ordnung, schrieb er. Die träfen in wahren Kaskaden bei ihm ein... Eines Tages schrieb Hassan, er sei jetzt nicht mehr in Perth, sondern an einem Ort den man Magnetic Islands nannte. Die Jungs kramten Atlanten und Landkarten hervor um Jake the leg zu beweisen, „Magnetic Islands“ waren keine Inseln im Meer, sondern eine Gegend im Hinterland Australiens, in der es viel magnetisches Gestein gab... Monate vergingen, bis eines Tages die Nachricht eintraf, Hassan habe vorläufig keine Zeit mehr um zu sterben, er sei inzwischen nämlich verheiratet. Hochzeitsfotos trafen ein, auf denen Hassan zusammen mit seiner Braut zu sehen war. Er sah aus wie immer, klein, mager, faltig und breit lachend mit zahnlosem Mund. Seine Frau, eine Eingeborene aus dem weiten Hinterland Australiens, war rundlich von Gestalt, mit

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rundem Gesicht, großen Lippen und breiter Nase. Sie war noch keine fünfundzwanzig Jahre alt... Hassan schickte seine Braut auf Urlaub nach Amsterdam. Ein liebenswertes, wennschon einfaches Geschöpf aus den sandigen Weiten Australiens traf ein. Hassan selbst, konnte nicht kommen. Er habe keine Zeit, ließ er die Jungs wissen, er sei vollauf damit beschäftigt, den Kontinent mit LSD bekannt zu machen... Die Monate verstrichen und wurden zu Jahren. Eines Tages stand plötzlich Hassan an der Tür von Jake the legs Wohnbus. Er habe Streit mit seiner Holden, erklärte er. Ein altes Übel, der Alkohol, hatte ihn wieder eingeholt. „Aber es ist ja nur vorübergehend“, wie Hassan versicherte, „und das ist es, was diese Frau nicht begreifen will“. Hassan zog wieder in Piedros geräumigen Wohnwagen. Er sprach verdrossen dem Rotwein zu und unternahm lange Spaziergänge durch den Grachtengürtel der Innenstadt, von denen er oft erst spät wieder nachhause kam. Bis er eines Tages überhaupt nicht mehr nachhause kam. „Er wird wohl irgendwo in der Stadt versackt sein“, versuchten die Jungs sich gegenseitig die Furcht zu nehmen... Vier Tage später erreichte sie die Nachricht, Hassan war tot. Er hatte während eines Spazierganges durch die Stadt einen Herzanfall erlitten, war dabei in eine Gracht gestürzt und ertrunken. Um zu sterben, war Hassan um die halbe Welt gereist, doch am Ende hatte ihn die Stadt, die er so sehr liebte, dazu doch wieder nachhause geholt. Nicht an einem fernen Strand, irgendwo in Australien, war Hassan gestorben, sondern in den nassen Armen seines geliebten Amsterdams...

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Hassans Gemahlin kam mit ihrer ganzen Familie von Australien angereist. Zwei weitere Familien, deren Herz Hassan während seines Aufenthaltes in Australien gewonnen hatte, kamen ebenfalls und sie alle wohnten Hassans Begräbnis bei. Hassan war auf demselben kleinen St. Barbara Friedhof beigesetzt worden, wie vor ihm schon Anna, Ratten Joe, Giorgio und Judith. Ein Text, den ich einst Hassan zu Ehren geschrieben hatte, wurde am Grab verlesen. Ein Text in Hassans Geist, ein Text den Hassan mochte und mit dem ich sogar schon einen Dichterpreis eines obskuren Stadtmagazins gewonnen hatte. Zu Hassans Gedenken sei dieser Text hier wiedergegeben: The Tree, the Pride, the Beauty and the Poetry Please, my beloved family and friends, I beg you: As soon as you see That my life threatens to leave my body, Take me, take me and bring me onto the mountain. There, sit me on the highest branch Of the tallest tree you can find. Bind me, so I may not fall. Then cross my arms proudly And let me die with open eyes facing the setting sun. Let the wild winds blow through my hair And let me sit there Through the four seasons of the year, ‘Till the birds have eaten my remains And together with them I shall fly through all the skies... Yea, my beloved family and friends,

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Together with them I shall fly through all the skies. Until their droppings return me to earth, To mother earth, from which I came, At the very beginning of time. I bless you, my dear beloved family and friends. And yea, I bless you, old mother earth, And all the eternal mysteries that surround you.

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Robert und Jakes Wohnbus. Kennt ihr diese eher lang gestreckten Busse, tiefliegend auf kleinen Rädern, die manchmal als fahrende Lebensmittelgeschäfte durch Wohnsiedlungen fahren? Eine Art Lebensmittelgeschäft auf Rädern? Oft sieht man sie auch auf Märkten stehen, die Seitenwand zum Vordach hochgeklappt, als offene Marktstände? Einen solchen Bus hatte Jake the leg erworben. Im Innern war er völlig leer, alle Regale und die Kühltruhe des ehemaligen Lebensmittelgeschäftes waren entfernt worden. Hinter der Beifahrertür befand sich eine Schiebetüre, die oben und unten mit Rollen am Gehäuse befestigt war. Betrat man den Bus durch diese Schiebetüre, befand man sich etwa einen Meter hinter den Fahrersitzen. Gleich rechts neben der Tür stand ein hoher runder Ofen aus Gusseisen, dessen Ofenrohr senkrecht durch eine Öffnung im Dach ins Freie führte. Heizte man diesen Ofen gut mit Holz oder Kohlen, hielt er den Bus noch im härtesten Winter warm wie eine Sauna… Eintausend Gulden, hatte Jake für diesen leer geräumten und noch fahrtüchtigen Bus bezahlt. Abgestellt hatte er ihn auf unserem besetzten Gelände im Amsterdamer Holzhafen, zwischen Roberts Standwohnwagen und dem Zirkuswagen von Johannes dem Messie. Den kleinen eiförmigen Wohnwagen, in dem Jake zuvor gelebt hatte, rissen die Jungs auseinander und verscherbelte seine Aluminiumhaut beim Altmetallhändler gleich um die Ecke… Jakes Wohnbus war ein Universum für sich und wie es sich für echte Universen gehörte, hatte dieses sogar schwarze Löcher. Im Innern herrschte nämlich mit der Zeit solche Unordnung, dass Gegenstände die einem aus der Hand fielen, wie in einem schwarzen Loch

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verschwanden und nie wieder gefunden wurden. Dieser Bus bildete den Mittel- und Sammelpunkt des Wohngeländes. Kam man aus der Stadt nachhause oder vom Einkaufen aus der näheren Umgebung, ging man vor dem Nachhausgehen zuerst bei Jake the legs Bus vorbei um zu sehen, was sich alles während der Abwesenheit zugetragen hatte. Dort traf man auf Bobbie, Jakes paranoid schizophrener Kumpel der alle paar Wochen seine Anfälle bekam und dann grimassierend wie ein Affe und nicht mehr zurechnungsfähig durch die Gegend rannte und allerlei gefährlichen Unfug anstellte. Auch die englischen Jungs Billy, Andy und den Iren Moh samt seiner Freundin traf man regelmäßig in John the legs Bus, und Plug, der Niederländer, dem jeden Tag eine neue Schrulle im Kopfe wuchs und der sich ununterbrochen neue Namen einfallen ließ, die man sich dann merken musste. Gestern hieß er noch Pelly, heute bestand er darauf, dass jeder ihn Plug nannte. Wie er es schaffte, morgens nach dem Wachwerden zu wissen wie er gerade hieß, mochte der Große Manitou wissen… Rings um die vielen Wohnwagen blühte sommers in großen Blumentöpfen, in alten Badewannen und Eimern, mannshoch der Hanf. Getrocknete Zweige voller Blüten, noch von der Ernte des Jahres zuvor, hingen an Schnüren aufgereiht entlang den Innenwänden der Behausungen. Säcke voll Hanfblüten, lagen unter jedermanns Bett oder waren in Schränken oder sonst wo verborgen... Die meisten Leute lebten auf irgendeine Weise vom lukrativen Handel mit verbotenen psychotropen Substanzen. LSD in Pappen oder Mikros, winzig kleine, meist dunkelblaue Tabletten, MDMA in Tabletten oder als kristallines Pulver, Amphetamine und eben Hanf, sehr viel Hanf. Mit Heroin oder Kokain handelten meist nur die wenigen, die es auch selbst verwendeten. Kam man beispielsweise in

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Pete's Wagen, saß der grundsätzlich mit seiner Freundin am Tisch, vor sich eine Digitalwaage, daneben einen Frischhaltebeutel voll Heroin, einen voll Kokain und eine Flasche voll reinem Alkohol, den die Beiden benötigten, um die mit Watte umwickelten Holzspäne am brennen zu halten, die sie über ihre Glaspfeifen voll Crack Kokain, Heroin oder beidem hielten und schlürfend daran zogen… Jeder hatte seine Stammkunden, Menschen, die aus allen Teilen Europas auf dieses Gelände kamen um einzukaufen. Die Tür von Roberts Wohnwagen wurde nur geschlossen, wenn es regnete oder zu kalt geworden war. Ansonsten stand sie offen, auch war er nicht zuhause und irgendwo in der Stadt unterwegs. Kam er zurück, saßen nicht selten Gruppen junger Leute aus Italien, Spanien, Norwegen, Schweden, Finnland oder sonst woher in seinem Wohnwagen, hatten sich freizügig am Wein aus seinem Kühlschrank bedient und es sich gemütlich gemacht. Robert nahm ihre Wunschliste entgegen, ging damit zu Jake the leg's Bus und erkundigte sich, wer gerade die gewünschten Waren, die vielen verschiedenen Sorten von LSD-Pappen oder eine gewisse Sorte MDMA Tabletten, im Angebot hatte. Danach ging er bei den verschiedenen Leuten vorbei, sammelte die gewünschten Waren ein und brachte sie seinen Gästen… Es war für alle eine gute Zeit. Jeder hatte seine Taschen voller Geld. An manchen Tagen machte man tausende von Gulden, an anderen Tagen wieder nichts, aber diese trockenen Zeiten hielten nie lange an, denn bald schon standen die nächsten Kunden an der Tür und wünschten bedient zu werden... Jake the leg kam eines Winterabends aus der Kneipe oben an der Strasse nachhause zurück. Zehntausend Gulden, hatten seine Geschäfte

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dort eingebracht. In seinem Bus angekommen überlegte er, wo er vor dem Schlafen gehen das viele Geld verbergen konnte. Er beschloss schließlich, es in den kalten Ofen zu legen. Danach ging er ins Bett. In den frühen Morgenstunden kam Jakes paranoid schizophrener Kumpel Bobbie nachhause. Er fand den Bus kalt vor und beschloss, den Ofen einzuheizen. Dabei verbrannte er, ohne es zu bemerken, Jake the legs zehntausend Gulden. Als Jake am nächsten Morgen im warmen Bus erwachte und den Schaden entdeckte, bat er Robert, fünf Liter Wodka aus dem Laden oben an der Straße zu holen. Danach tranken Robert, Bobby und Jake the leg fröhlich auf die verbrannten zehntausend Gulden. Billy kam hinzu und auch Andy und Plug erschienen. Sie tranken mit und lachten zusammen fröhlich über das dumme Missgeschick, dass Jake the leg zehntausend Gulden gekostet hatte… Eines Abends ging Robert ins Nachtgeschäft, um einige Liter Wodka zu holen. Dort traf er eine junge Frau die klagte, ihr Freund ließe sie nicht mehr in die gemeinsame Wohnung. Robert bot ihr an, bei ihm zu übernachten. Als die beiden bei Roberts Wohnwagen ankamen, legte Robert, wie es seine Gewohnheit war, alles Geld dass er in den Taschen hatte, etwa vierhundert Gulden, auf den Tisch. Danach knackte er eine Flasche Wodka, nahm einen großen Schluck und schloss für einige Augenblicke die Augen. Als er sie wieder öffnete, saß zwar die junge Frau noch wie zuvor in ihrem Sessel, aber das Geld, das auf dem Tisch gelegen hatte, war weg… Robert wusste natürlich dass nur die Frau sein Geld eingesackt haben konnte und er ging davon aus dass ihr klar war, dass er es wusste. Es war eine Situation mit surrealistischer Komponente. Robert sagte schließlich, „Lege mein Geld wieder auf den Tisch und alles ist in Ordnung“. Die junge Frau stand auf. Anstatt aber Roberts Geld auf den

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Tisch zu legen, wollte sie rasch zur Tür hinaus. Robert verstellte ihr den Weg und drängte sie in die hinterste Ecke seines Wohnwagens. In dem Moment sah Robert eine flinke Bewegung ihrer linken Hand und ihm war, als hätte jemand seinem rechten Oberarm einen leichten Schlag verpasst. Robert blickte auf die Stelle seines Armes und sah einen etwa zwölf Zentimeter langen Schnitt im Jackenärmel. Der Wodka in seinem Kopf verhinderte dass er begriff, er war soeben mit einem Messer verletzt worden. Robert griff die Frau bei den Armen und warf sie in den Sessel zurück. Dann ging er vor ihr in die Hocke und wollte gerade einen gut gemeinten Vorschlag machen, als ihre Rechte nach oben ging und rasch auf Roberts linken Unterarm niederkam. Robert schob seinen Jackenärmel hoch und sah, er hatte in der Nähe seines Ellenbogens eine kleine, etwa fünfzehn Millimeter lange Schnittwunde. Die Wunde blutete nicht und war mehr ein kleiner roter Strich auf seiner Haut. Robert griff nach hinten an seine Hose und zog ein dreißig Zentimeter langes und sicher eineinhalb Pfund schweres Jagdmesser hervor. Er hielt der Frau die Schneide des Messers an den Hals und sagte, „Nun gut. Wenn du so weit gehst mich für Geld mit einem Messer zu verletzen, gehe ich davon aus, dass du dringend Geld nötig hast. Du hast etwa vierhundert Gulden meines Geldes bei dir. Lege davon dreihundert wieder auf den Tisch. Die restlichen hundert darfst du behalten. Aber danach siehst du zu, so schnell wie möglich aus meinem Wagen zu kommen und von diesem Gelände zu verschwinden“. Prompt zog das Luder einen ihrer grünen Lackstiefel aus, holte das Geld hervor und legte dreihundert Gulden auf den Tisch. Die restlichen hundert stopfte sie zwischen ihre Titten und verließ ohne ein weiteres Wort den Wohnwagen. Als sie weg war, legte Robert sich entspannt aufs Bett und hörte ein wenig Musik. Er rollte eine Zigarette mit Hanf, rauchte, trank zwischendurch von seinem Wodka und schlief schließlich ein...

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Als Robert am nächsten Morgen erwachte, war ihm sonderbar zumute. Auf dem Laken seines Sofas fand er einen großen feuchten Fleck von einer Farbe, als sei ein wenig Blut mit Wasser vermengt worden. Nachdem Robert den Fleck registriert hatte, bemerkte er, dass er sich nicht bewusst machen konnte, wo er sich befand. Er konnte seine Gedanken nicht so weit ordnen um dahinter zu kommen, wo er gerade war. Da dämmerte ihm, irgendwo in der Nähe gab es etwas, das ihm weiter helfen würde. Und so kam Robert an diesem Morgen zum Wohnbus von Jake the leg… Robert öffnete die Schiebetür des Busses und sah Jake, Billy, Plug und Bobbie am Tisch sitzen. Die Jungs hatten die Nacht durchgekokst. Sie waren munter und heiter. Auf dem Tisch standen mehrere leere und einige volle Wodkaflaschen. Die Jungs sahen Robert an. Der wusste erst gar nicht, was er sagen sollte. Schließlich stammelte er hervor, „Jungs, ich glaube, ich bin mit einem Messer verletzt worden“. Billy und Bobbie sprangen auf. Sie griffen Robert bei den Armen und zogen ihn in den Bus. Sie legten Robert aufs Sofa und fragten, was geschehen war. Doch so sehr Robert sich auch bemühte, er konnte sich nicht mehr erinnern, was genau vorgefallen war. Aber er wusste noch von der Wunde an seinem Unterarm. Er schob seinen Ärmel hoch, zeigte auf die kleine rote Wunde und sagte, „Ich glaube, ich bin hier gestochen worden“… Wie sich zeigte, hatte Robert am oberen Ende seines Unterarms, knapp unterhalb des Ellenbogens, eine tiefe Stichwunde. Es fehlten nur noch wenige Millimeter und sie hätte den ganzen Arm durchdrungen. Die Wunde hatte sich während der Nacht entzündet und Wundfieber war eingetreten. Wundfieber war es, was Robert an diesem Morgen so

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durcheinander sein ließ. Kurze Zeit später verlor Robert das Bewusstsein… Drei Tage lang verpflegten die Jungs ihn, versorgten ihn mit Lebensmittel, Wodka und Methadontabletten und warteten unterdessen auf seine Besserung. Als er am dritten Tage noch nicht dauerhaft bei Bewusstsein blieb, schafften sie ihn in ein Krankenhaus… Robert öffnete die Augen und blickte in das schönste Frauengesicht seines Lebens. „Meine Güte“, stöhnte er erschrocken, „wo kommst du her“? Das Frauengesicht lächelte und sagte, „Ich bin ihre Ärztin“. Robert konnte noch nicht erzählen, was ihm zugestoßen war und so erzählte Bobbie es, der mitgekommen war. Robert erhielt eine Injektion Antibiotika und eine Handvoll Antibiotika Kapseln, die er im Laufe der kommenden Tage einnehmen sollte. Die Jungs sorgten dafür, dass er Robert sich auch daran hielt… Drei Tage danach kam Robert auf dem Sofa in Jake the legs Wohnbusses endgültig zu sich. Der Verband an seinem Arm war an der Stelle, die der Stichwunde gegenüberlag, völlig durchnässt. Robert öffnete ihn und sah, die Wunde war an dieser Stelle durchgebrochen und hatte verschmutzte Flüssigkeit von sich gegeben. Von diesem Tag an ging es ihm zusehends besser. Wenige Tage später war die Entzündung völlig abgeklungen und die Wund auf dem besten Weg zur Heilung. Aber es war eine Lähmung des Unterarmes geblieben. Robert konnte ihn nicht mehr drehen. Er verordnete sich deshalb die Physiotherapie, seine Wodkaflaschen während des Trinkens solange nur noch mit der linken Hand zu halten, bis diese drehende Bewegung wiederhergestellt war…

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Greift man einer Flasche mit der Hand um den Hals und will aus ihr trinken, muss man dazu den Unterarm drehen, den Robert wegen der verbliebenen Lähmung nicht drehen konnte. Durch vieles Trinken mit der Linken verschaffte er sich in der Folgezeit soviel Bewegung, dass auch diese Lähmung völlig wieder verschwand. Geblieben war ihm am Ende nur eine kleine unscheinbare Narbe am oberen Teil seines Unterarmes….

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Das Partyschiff Bill hatte für wenig Geld die Hülle eines alten Binnenfahrtschiffes erworben, eigentlich nicht mehr als eine motorlose Wanne aus zusammen genieteten Eisenplatten (Stahl, hatte es im Baujahr dieses Kahns noch keinen gegeben). Das Schiff war etwa fünfunddreißig Meter lang und acht bis zehn Meter breit. Als Bill dann auch noch gewölbte, lichtdurchlässige Platten von Fiberglas dazu bekam, die exakt über die Breite des Kahns passten und durch ihre Wölbung nach oben gut Regenwasser abfließen ließen, hatte Bill sogar ein Dach über seinem Kahn. Damit waren wir im Besitz eines tauglichen Partyschiffes! Das Partyschiff dümpelte am Kai des IJ (sprich "Ei"), der breiten Hauptschifffahrtsstraße des Amsterdamer Hafens. An dieser Stelle der Schifffahrtsstraße hatten wir ein Gelände besetzt, wo wir in Wohnwagen, Wohnbussen und selbstgezimmerten Behausungen wohnten. Damit hatten wir unser Partyschiff direkt vor der Haustür… Es war nicht wenig, was dieses Schiff im Laufe der Zeit ertragen musste. Viele wilde Partys musste es über sich ergehen lassen. Partys, bei denen nicht selten dreihundert, vierhundert ausgelassene junge Menschen anwesend waren. So viele passten natürlich nicht gleichzeitig in das Schiff. Deshalb hatten wir im Freien eine Bühne errichtet, wo der überwiegende Teil eines Festes stattfand. Es gab aber auch Gelegenheiten, bei denen das Schiff bis an den Rand seines Fassungsvermögens mit ausgelassenen, auf und nieder springenden und tanzenden jungen Leuten angefüllt war… Die Leute des Geländes lebten überwiegend vom Handel mit verbotenen Substanzen. LSD meist, in Pappen oder als Mikros, MDMA,

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Amphetaminpulver, Pilze und Hanf, sehr viel Hanf! LSD Pappen kamen aus der„Fabrik“, in quadratischen Bögen von mehr oder weniger tausend Einzeldosen. Diesen Bögen haftete ein Geruchsstoff an, der die Authentizität des Produktes gewährleistete. Mit anderen Worten, man roch an den Bögen, dass sie echt waren. Da man das Zeug heftig vermarktete, hatte man stets ganze Stapel in Vorrat. Weil die Bögen so billig waren, gingen viele nachlässig damit um. So konnte es geschehen, dass nach einer regnerischen Nacht bunte Bögen in den Regenpfützen lagen, oder wie bunte Wimpel in den Zweigen der Weiden hingen. Wurden die Bögen nass, waren sie wegen des wasserlöslichen LSD's sofort unbrauchbar und wurden weggeworfen. Wurden sie aber nur schmutzig, etwa weil jemand sie mit schmutzigen Fingern angefasst hatte, wurden sie zwar nicht mehr vermarktet, aber auch nicht weggeworfen. Sie wurden in einem Eimer gesammelt. Abgebröckelte oder zerbrochene MDMA Tabletten kamen ebenfalls nicht mehr in den Handel. Auch sie landeten in diesem Eimer. Amphetaminpulver das man entbehren konnte oder Pilze, die schon so beschämend aussahen dass man sie nicht mehr verkaufen wollte, alles landete in diesem Sammeleimer. Da es eine Menge Leute gab die mit diesen Waren handelten, dauerte es nie lange und dieser Sammeleimer war ausreichend voll um wieder eine Party zu geben… Plakate und Flugblätter wurden gedruckt und über die Stadt verteilt. Musiker wurden bestellt und die Bühne, noch lädiert vom letzten Fest, wurde wieder in Ordnung gebracht... Vor Beginn eines jeden Festes wurde der Sammeleimer hervorgeholt. Er wurde mit warmem Wasser gefüllt, sein Inhalt gut durchgerührt und durchgeknetet und die entstandene Brühe durch ein Sieb gegossen. Die entstandene Flüssigkeit gab man in einen Kunststoffkanister mit einem

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Hahn am unteren Ende. Dieser Kanister stand während eines Festes an der Bar, mit einem Schild darüber, auf dem stand: FREE PUNCH! Dieser „Punch“ war kräftiger Stoff. Man stelle sich nur eine konzentrierte Mischung seiner wirksamen Bestandteile vor… Am Tag, an dessen Abend das nächste Fest beginnen sollte, hatte ich in der Stadt zu tun und mich dort ordentlich betrunken. Zumindest war ich ziemlich angetrunken, als ich spät am Abend zur Party kam. Dort war das Fest bereits in vollem Gange. Ich begab mich auf das Partyschiff und ging zur Bar. Nur halb bei Bewusstsein, nahm ich das Schild über der Bar wahr: „Free Punch“. „Gib mir etwas von diesem Punch“, bat ich Fat John, der hinter der Bar stand. Ich hatte völlig die Beschaffenheit dieses Punches vergessen und glaubte, es handele sich um ein alkoholisches Getränk. Ein kleiner weißer Kunststoffbecher von der Sorte die laut knisterte wenn man sie drückte, gefüllt mit etwa einem Zentimeter dieses Punches, ergab bereits eine kräftige Dosis. Fat John reichte mir einen solchen Becher, gefüllt mit etwa einem Zentimeter Flüssigkeit. Ich sah den Becher an, sah Fat John an und forderte, „Was soll das sein, John? Gib mir gefälligst eine vernünftige Menge“. Ohne auch nur die Miene zu verziehen, griff John eine leere Bierflasche und füllte sie bis zum Kragen mit Punch. Ich setzte die Flasche an, trank sie in einem Zug leer, stellte sie beiseite und dachte enttäuscht, viel Alkohol enthielt dieser Punch ja nicht! Danach begab ich mich zwischen das Getümmel tanzender junger Leute im Schiffsleib... Mitten in der Menge begegnete ich Bill, der in jeder Hand eine Plastiktüte trug, prall gefüllt mit Pilzen. Die Tüten waren so voll, dass sie überquollen und Pilze zu Boden fielen. „Willst du Pilze“, fragte Bill gelassen und ich antwortete, „Klar, gib her“. Bill griff in eine Tüte,

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holte so viele Pilze daraus hervor wie seine Hand fassen konnte und klatschte sie mir in die Hände. In meinem Zustand hatte ich völlig vergessen, dass man die Dinger eigentlich einzeln einnahm. Ich stopfte den ganzen Ballen in meinen Mund und kaute mit gerundeten Wangen auf den zähen, ledernen und übel schmeckenden Pilzen, bis sie alle redlich zerkaut und weg geschluckt waren... Alle Leute in diesem Schiff waren, wie Bill erzählte, entweder unter dem Einfluss von Pilzen, unter dem Einfluss des Punches oder unter Einfluss von beidem. Die Pilze waren, wie in jedem Jahr zu dieser Jahreszeit, frisch aus England importiert worden, wo junge Leute in englischen Wäldern ganze Säcke voll sammelten. Ich drängte mich weiter durch die tanzende Menge und war gerade in der Nähe des Hecks angelangt, als ich den gellenden Schrei einer Frau hörte. Er kam aus dem hintersten Teil des Schiffes. Ich ging nachsehen und fand an der Stelle, wo gesunde Schiffe ihren Motor hatten, eine junge Frau die am Boden kniete und einen Zeigefinger in der Schiffswand stecken hatte. „Hier ist ein Loch in der Schiffswand!“, jammerte sie verängstigt. Es befanden sich sicher hundertfünfzig ahnungslose Menschen an Bord und der elende Kahn war leck geschlagen? Ich rief Bill herbei, immerhin der Kapitän des Kahns. Bill kannte solche Probleme schon. Es war bei Weitem nicht das erste Leck seiner Wanne. Er nahm ein Holzscheit zur Hand, umwickelte ihn mit einem Lappen und bat die Frau, ihren Zeigefinger aus dem Loch zu nehmen. Sofort schoss ein daumendicker Wasserstrahl in den Schiffsraum. Routiniert, schlug Bill mit einigen kräftigen Hammerschlägen das mit Lappen umwickelte Holzscheit in die Öffnung und das Leck war geschlossen... Mir war unterdessen ein wenig unwohl geworden. Ich beschloss deshalb zu meinem Wohnwagen zu gehen, um mich dort einige Zeit

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niederzulegen. Auf dem Stück Rasen zwischen meinem Wagen und dem Wohnbus von Jake the leg überkam mich das starke Bedürfnis, ein wenig im Gras zu liegen. Ich legte mich nieder und bemerkte gerade noch, wie ich mich erbrach. Danach schlief ich ein… Als ich nach einem tiefen, traumlosen Schlaf wieder zu mir kam, schien bereits die Sonne. Von den Dächern der Wohnwagen rings umher sangen die Vögel. Keine zwanzig Meter von mir entfernt saß Jake the leg in einem Gartenstuhl und trank sein Frühstücksbier. Ich stand auf, ging hin und setzte mich zu ihm. Schweigend reichte Jake mir eine Flasche Bier. Vorsichtig fragte ich, „Hatte ich lange dort im Gras gelegen, Jake“? „Ja“, antwortete Jake gelassen. „Du hattest die ganz Nacht dort gelegen“. „Und du hattest nicht ein Mal nachgesehen, ob ich noch am Leben war?“, fragte ich bestürzt. „Nee“, antwortete Jake und lachte, „Deine Sorte, stirbt nicht so leicht“. So saßen wir noch eine Weile beieinander, genossen die wärmenden Strahlen der Sonne und hörten dem Lärm des Festes zu, der aus der Ferne zu uns drang… Unser geliebtes Partyschiff bekam mit der Zeit mehr und mehr Lecks. Am Ende sah sein Inneres aus wie eine nach innen gedrehte Bürste, alles voll borstiger Holzscheite. Eines Morgens war das Partyschiff plötzlich verschwunden. An der Stelle, an der es gelegen hatte, ragte aus den stillen Wassern nur noch seine Mastspitze hervor. Eine Möwe, die darauf nieder gestrichen war, schrie einen heiseren Morgengruß und reckte unter den wärmenden Strahlen der Morgensonne, wohlig ihre Flügel…

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Annette, und die Asylantenstadt Annette trug als obere Schneidezähne zwei Kronen, die durch ihre hellere Farbe deutlich vom Rest ihres Gebisses abstachen. Diese Kronen waren locker und fielen gelegentlich aus ihrem Mund, was sie aber nicht zu beunruhigen schien. Sie steckte sie einfach wieder an ihre Stelle und fertig. Als Annette eines Tages in die krosse Kante einer mit Haschisch gebackenen und mit Marihuana bestreuten Pizza biss, fielen diese beiden Kronen wieder aus ihrem Mund. Annette ließ vor Schreck die Pizza fallen. Sie sah dass ihre Kronen darauf lagen und wollte gerade danach greifen, als Baro, ein halbwild lebender Hund, das Stück Pizza zwischen die Zähne nahm und damit das Weite suchte. Wie der Blitz, war Annette hinter ihm her, was den Hund freilich nur anspornte, noch schneller zu laufen. Er verkroch sich schließlich unter Bens altem Wohnwagen, wo er in aller Ruhe seine Beute verspeiste. Als Baro wieder aus seinem Versteck hervor kommen wollte, stak er seinen Kopf in die Schlinge, die Annette für ihn bereit hielt. Annette band Baro an kurzem Stricke an die Anhängerkupplung von Bens Wohnwagen und kroch auf dem Bauch unter den Wagen, um die Stelle, an der Baro gelegen und gefressen hatte, nach ihren Kronen abzusuchen... Unterdessen saßen die Jungs vor dem Wohnbus von Jake the leg, Bierflaschen in Händen, und grölten, „Du suchst sie vergebens! Er hat sie gefressen! Wir haben alle ganz genau gesehen, dass er sie gefressen hat“! Annette gab die Suche auf. Sie schleifte Baro am Strick zu ihrem Wohnwagen und band ihn dort fest. Keine Minute, ließ sie den Hund mehr aus den Augen. „Du musst ihm Hefe zu fressen geben“, riet Allan. „Das treibt“. Doch Baro konnte man nichts mehr zu fressen geben. Inzwischen tat nämlich das Haschisch durchbackene und mit Marihuana bestreute Stück Pizza seine Wirkung. Baro bekam erst

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Gleichgewichtsstörungen. Dann sank er verstört und mit roten Augen zu Boden und blieb platt auf seiner Seite liegen. Seine Zunge hing einen halben Meter aus seinem Maul und er gab Laute von sich, als sänge er leise vor sich hin. Annette sah voller Sorge auf Baro hinab. „Mein Gott!“, rief sie und wrang verzweifelt die Hände, „Er wird doch nicht sterben“? „Du musst ihm die Eier kraulen“, riet Andy aus der Ferne, „dann stirbt er nicht und kackt stattdessen“! Piedro versuchte Annette auf seine Weise zu trösten. „Sei unbesorgt“, versicherte er. „Stirbt er, so schneiden wir ihn auf und wühlen deine Zähne aus seinen stinkenden Eingeweiden…“ Zwei Tage später sahen wir zu unserer Überraschung Baro wieder frei über das Gelände traben. Bald darauf erschien auch Annette, breit lächelnd, mit ihren Kronen wieder an ihrer Stelle. Blank, sahen sie aus und wie neu… Während alle Welt mit Baro und Annettes Kronen beschäftigt war, waren auf dem weiten leeren Gelände jenseits der Schnellstraße merkwürdige Dinge geschehen. Große Zelte, waren dort errichtet worden und immer mehr Zelte erschienen. Nicht lange, und es war eine regelrechte Zeltstadt entstanden, auf diesem Gelände jenseits der Schnellstraße. Bald hörte man täglich mehrmals ein Tonsignal, einen harmonischen Dreiklang, - Bing Bong Bung -, und anschließend eine elektronisch verstärkte Stimme, die etwas ausrief. Neugierig geworden, entsandten wir schließlich Späher. Alan und die Kinder Lodewijk und Mario sollten erkunden, was dort auf dem Gelände jenseits der Schnellstraße vor sich ging. Als sie wiederkamen wussten sie zu berichten, auf dem Gelände war eine Zeltstadt für Asylbewerber errichtet worden. Der Dreiklang den wir hörten und die elektronisch verstärkte Stimme erklangen immer dann, wenn jemand aufgerufen

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wurde. Wir erfuhren, dass die Asylbewerber kein Zelt für sich oder für ihre Familien hatten. Man lebte zusammen mit vielen fremden Menschen in einem großen Zelt und hatte Bettnummern. Sonderbare Regeln gab es in dieser Asylantenstadt aus Segeltuch. So durften die Bewohner weder Bargeld noch Kugelschreiber besitzen. Mussten sie in die Stadt, etwa zu Behörden, erhielten sie eine Fahrkarte für die öffentlichen Verkehrsbetriebe, die gerade für die Strecke reichte, die sie zu fahren hatten. Weitere Erkundigungen ergaben, im Rest des Landes entstanden ebenfalls Zeltstädte für Asylbewerber. Damit diese Menschen keine informierten und aktiven Gruppen bildeten oder Menschen kennen lernten, die der örtlichen Sprache mächtig waren und ihnen vielleicht helfen konnten, wurden die einzelnen Asylbewerber in Zeitabständen zwischen den verschiedenen Zeltstädten des Landes rotiert... Wie wir erfuhren, ging es in diesen Asylantenstädten von Segeltuch nicht etwa darum, Asylbewerbern Asyl zu gewähren. Man versuchte, im Gegenteil, mit allen Mitteln des Rechts und einer Portion Unrecht, ihnen Asyl zu verweigern und sie so rasch wie möglich wieder außer Landes und in ihre Heimatländer zu befördern. Wir erfuhren, innerhalb Europas schien es eine Regelung zu geben, wonach jedes Europäische Land zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine gewisse Zahl Asylanten oder Asylbewerber zu beherbergen hatte. Diese Zahl bestand überwiegend aus Asylbewerbern, die man nur im Lande hatte, um der vorgeschriebenen Zahl zu entsprechen. Die Zahl blieb dabei zwar einigermaßen konstant, aber es handelte sich nie lange um dieselben Asylbewerber, da man auf der einen Seite eine Anzahl Antragsteller empfing, während man auf der anderen Seite eine ähnliche Zahl von Antragstellern ablehnte und wieder nachhause schickte…

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Es war eine Art konstanter Menschenkreislauf aus anderen Ländern nach Europa und wieder zurück. Man ließ diese Leute auf der einen Seite ins Land, hatte aber einen gut geölten Apparat bereitstehen der sie nach allen Regeln des Rechts auf der anderen Seite wieder aus dem Land beförderte. Kaum einer, es sei denn er hatte gute Beziehungen, bekam unter den geschaffenen Umständen seinen Antrag bewilligt. Um so genannte „Sachbearbeiter“ zu finden, die Asylbewerben gut instruiert gegenüber saßen um ihnen genau die Fragen zu stellen und exakt die Antworten zu provozieren die nötig waren, um ihre Anträge rechtmäßig abzulehnen, hatte man Zeitungsannoncen aufgegeben, mit denen Studenten und Arbeitslose geködert wurden. Man gab ihnen einen Schnellkursus im schlauen Befragen von Asylbewerbern und ließ sie auf die Menschen los. Gemäß geltendem Recht bekam jeder Asylbewerber einen Rechtsanwalt zur Seite, der aber nicht für den Asylbewerber arbeitete, sondern für die Regierung, von der er auch bezahlt wurde und die diese Asylbewerber wieder los sein wollte. Es war ein klug ausgedachtes, schmutziges politisches Spiel mit Figuren aus Fleisch und Blut… Mit diesem Wissen bewehrt kamen wir zu dem Schluss, als Bürger Amsterdams sei es unsere Pflicht, diesen Menschen Asyl zu gewähren. Wir holten eine Familie aus Usbekistan, Vater Mutter und dreizehnjährigen Sohn aus der Zeltstadt und ließen sie in unserer Mitte verschwinden. Für die beiden Erwachsenen war rasch Arbeit gefunden. Vater schweißte in einer kleinen Werft an Schiffsleibern und Mutter erledigte derweil Reinigungsdienste in verschiedenen Kirchen der Stadt. Während die Eltern zur Arbeit waren, beschäftigten wir ihren Sohn und sorgten dafür, dass er so bald wie möglich die Niederländische Sprache erlernte. Sprach er Niederländisch, war es seine Aufgabe, seine Eltern so lange zu quälen, bis auch sie es sprachen. Nicht lange und es gelang

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uns, den Jungen in einer Schule unter zu bringen. Dieser Familie aus Usbekistan folgten mit der Zeit weitere Familien aus verschiedenen Ländern. Heute leben sie alle, wennschon manche noch illegal, als Bürger Amsterdams über die ganze Stadt verteilt, während ihre Kollegen, die blauäugig auf die Redlichkeit des Niederländischen Asylsystems vertraut hatten, längst in ihren Heimatländern gefoltert und ermordet wurden. Überlassen wir nicht viel zu viele Aspekte der Menschlichkeit den kalten Institutionen eines Staates, der längst nicht mehr die Belange der Menschen beherzigt, sondern nur noch für die Interessen internationaler Banker und Industrieller eintritt? Wir sollten alle, dort wo es möglich ist, eigenmächtig handeln, selbst verstoßen wir damit gegen bestehende Gesetze, schon um dem Staate Stück für Stück wieder die Macht zu entziehen, die er uns im Laufe der Jahre so still und geschickt Stück für Stück gestohlen hat...

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Paranoia im Park Es war ein grauer trüber Tag. Wir saßen im Vondelpark an der Hippiewiese auf einer Bank, Muis, Jerry, Käptn und ich. Wie Hühner auf der Stange, so saßen wir aneinandergedrängt und schwiegen. Vor uns, am Ufer des kleinen runden Sees, standen zwei Angler, die gewiss schon seit einer Stunde auf ihre reglosen Schwimmer starrten. Heute wollte und wollte nichts beißen. Muis griff unter seine Jacke und holte einen Frischhaltebeutel voll Amphetaminpulver hervor. Er griff in seine Hosentasche, nahm ein Schnappmesser heraus, ließ es aufspringen und schöpfte mit der Spitze der Klinge ein Häufchen Amphetamin aus dem Beutel. Er hielt einem jeden von uns eine Messerspitze des weißen Pulvers unter die Nase. Keiner sprach dabei auch nur ein Wort. Danach saßen wir wieder reglos dicht aneinander gedrängt wie zuvor und sahen den beiden Anglern zu. Angeln, war in den kleinen Seen des Vondelparks nur Rentnern gestattet. Sie benötigen dazu keine Angelscheine. Die Parkwächter kannten sie… Am Himmel hinter uns, leise noch aber deutlich näher kommend, knatterte ein Hubschrauber. Ich drehte mich um und sah zum Himmel. Der Hubschrauber kam geradewegs auf uns zu. „Jetzt kommen sie uns holen, Muis“, sagte ich. Muis sah über seine Schulter hinweg zum Hubschrauber hoch und meinte, „Quatsch“. Jetzt war der Hubschrauber aber schon über unseren Köpfen und es bestand kein Zweifel, er kam auf uns herab. Am Ende schwebte er keine fünfzehn Meter von uns entfernt, etwa einen Meter über der Hippiewiese. Seine Rotorblätter entfesselten einen Sturm, der alte Zeitungen und leere Getränkedosen umher sandte. Das Wasser des kleinen Sees schlug in hohen Wellen gegen die befestigten Ufer. Plötzlich schrieen beide Angler auf. Sie hatten beide zugleich einen gewaltigen Fisch an der Angel. Die

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aufgepeitschte Wasseroberfläche hatte die Biester offenbar zum Beißen angeregt... Vor uns schwebte noch stets der Hubschrauber etwa einen Meter über dem Boden. Dem Piloten fiel es schwer, den Flugapparat still zu halten. Er drehte sich stets hierhin und dann wieder dorthin. Dabei hielten aber die beiden Figuren in der Pilotenkanzel ihre Blicke hartnäckig auf uns gerichtet. Einer von ihnen griff zu einem Mikrofon. „Ich glaube, es ist an der Zeit zu gehen, Jungs“, sagte ich. „Quatsch“, erwiderte Muis. Ein Streifenwagen der Polizei erschien und kam über den Rasen direkt auf uns zu. Er hielt keine fünf Meter von uns entfernt. Eine Polizistin stieg aus. Sie sah zu uns und sprach mit dem Piloten, der mit seinem Flugapparat noch stets etwa einen Meter über der Wiese hing. Jetzt sahen sie alle, die Polizistin, ihr Kollege hinterm Steuer des Streifenwagens, der Pilot des Hubschraubers und sein Co-Pilot, zu uns herüber. „Muis!“, sagte ich. „Quatsch“, sagte Muis, stand auf und ging geradewegs auf den Hubschrauber und die Polizistin zu…. Muis stand eine Weile neben der Polizistin und sprach mit ihr. Danach setzte die Polizistin sich wieder in ihren Streifenwagen und fuhr davon. Der Hubschrauber erhob sich, gewann knatternd an Höhe und verschwand in Richtung Horizont. Gelassen, kehrte Muis zurück und setzte sich wieder. „Wie hast du das nur gemacht, Muis“ fragte Jerry ehrfürchtig. Muis erzählte, oben an der Straße, außerhalb des Parks, war ein russischer Geschäftsmann durch Schüsse aus einer Maschinenpistole lebensgefährlich verletzt worden. Der Rettungsdienst wollte ihn per Hubschrauber ins nächste Krankenhaus fliegen, aber er konnte wegen der Kabel der Straßenbahn nicht landen. Man wollte den Hubschrauber deshalb im Vondelpark landen lassen und den Verletzten mit einem Ambulanzfahrzeug dorthin schaffen. Schließlich war aber

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anstatt des Ambulanzfahrzeugs ein Streifenwagen der Polizei erschienen, um dem Piloten des Hubschraubers mitzuteilen, der Verletzte sei inzwischen an seinen Verletzungen verstorben. „Klasse“, meinte Jerry. Muis holte wieder seinen Beutel und sein Schnappmesser hervor und wieder hielt er einem jeden von uns ein Häufchen des weißen Pulvers unter die Nase… Muis, Jerry, Käptn und ich, bildeten einige Jahre den „harten Kern“ im Park. Wir waren, außer an einigen Tagen des Winters, so gut wie täglich anwesend. Muis ist, wie ich hörte, inzwischen mit einem Fotomodell verheiratet. Er hat jetzt vermutlich viel zu tun und weniger Zeit im Park zu sein. Käptn ist schwer paranoid schizophren. Seine Symptome hält er mit Psychopharmaka und Megadosen verbotener Substanzen unter Kontrolle. Ihn trifft man noch heute im Park. Jerry ist Ire und lebt schon viele Jahre in Amsterdam. Er spielt Gitarre und ist selten ohne seine Klampfe zu sehen, der meist einige Saiten fehlen. Ihn kennt die halbe Stadt. Er hat einen Standartwitz, mit dem er Leute erschrickt, die ihn nicht kennen. Er erzählt, vor Jahren sei er von der IRA mit einer rostigen Kugel angeschossen worden. Er fragt die Leute, ob sie die Schusswunde sehen wollen. Willigt man ein, lässt Jerry seine Hose herab und zeigt den Leuten sein Arschloch: „Seht ihr, wie rostig die verdammte Kugel gewesen ist... “? Mich, trifft man kaum mehr im Park. Gesundheitliche Umstände und politische Zwänge nötigten mich, in einem anderen Land Exil zu nehmen. Nur manchmal, hin und wieder, bin ich im Park anzutreffen, unauffällig und inkognito, in Frauenkleidern, mit Langhaarperücke, in Gummistiefeln, mit falschem Schnurrbart und auf dem Kopf einen gelben Bauarbeiterhelm…

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Klausens Reichtum Klaus wohnte in einem alten, zum Wohnwagen umgezimmerten Bauwagen. Es war ein schwerer, altertümlicher Wagen und obwohl er nicht sehr groß war, war er schwer und nur unter großem Aufwand von der Stelle zu bewegen. Er besaß Räder aus Eisen, mit fünf dicken Speichen und Hartgummibelag, der stellenweise schon bröckelte. Ich weiß das alles, weil ich Klausens Ungetüm mit meinem alten Renault Traktor schon mehrmals von einem Ende unseres Geländes zum anderen geschleppt hatte. Klaus war einer der Wenigen unter uns, der zu naiv war um mit verbotenen Stoffen zu handeln. Er musste deshalb auf legitime Weise Geld verdienen und arbeitstätig sein... Klaus arbeitete in der Müllverbrennungsanlage auf der anderen Seite des Ij, der breiten Hauptschifffahrtsstraße des Amsterdamer Hafens. Wir konnten von unserem Gelände aus die Anlage auf der anderen Seite des Wassers sehen. Es war ein weißer, viereckiger Gebäudeblock mit drei Schornsteinen auf dem Dach. Manchmal kam Klaus mit einem Säckchen voll Münzen von der Arbeit, die als unverbrennbare Rückstände in der Asche der Verbrennungsöfen zurückgeblieben waren. Schwarz waren sie geworden, in der Glut der Öfen. Klaus verbrachte ganze Abende damit, sie mit Stahlwolle und Silberpolitur wieder verkehrsfähig zu machen. Nicht nur Münzen, brachte Klaus von seiner Arbeit mit nachhause, sondern auch andere Gegenstände, die nicht gänzlich verbrannten, wie etwa ausgeglühte Faustfeuerwaffen… Gelegentlich geschah es, dass ein Transport des Zolls bei der Verbrennungsanlage eintraf, um in Begleitung der Polizei Ladungen beschlagnahmter Heilkräuter oder Arzneistoffe, wie etwa Haschisch,

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Kokain oder Diacethylmorphin in der Glut der Verbrennungsöfen zu vernichten. Wir Jungs vom Gelände kannten die entsprechenden Anzeichen solcher Aktionen schon. Man roch es und man sah es an der Farbe und der Dichte des Rauchs. Waren dann Wind und Luftdruck günstig, sprangen wir fröhlich im Freien und sogen uns die Lungen mit den Abgasen voll, die übers Wasser von der anderen Seite des Ij zu uns herüber wehten. Wurde Haschisch verbrannt, war es üblich dass die Zollbeamten den Arbeitern der Verbrennungsanlage einige Riegel schenkten. Auf diese Weise verhinderten sie von vorne herein, dass die Waren gestohlen wurden und unnötig rechtlicher Ärger entstand. Es war eine dieser typisch Niederländischen Maßnahmen, wie Deutsche sie sich nur schwer vorstellen konnten… Auch Klaus war schon mehrmals mit einem Handteller großen Stück Haschisch von der Arbeit gekommen. Das waren dann die Abende, an denen der halbe Platz sich in Klausens Garten einfand und bei Gitarrenspiel und Trommelrhythmen, mit Bier, Wein, Wodka, Haschisch und ein wenig Kokain, am Lagerfeuer die Nacht verbrachte. Einige dieser Nächte zählen für mich zu den schönsten der damaligen Jahre… An einem frostigen Winterabend klopfte Klaus an die Tür meines Wohnwagens. „Komm rasch“, flüsterte er erregt, „Ich muss dir was zeigen“. Wir liefen durch den Schnee zu seinem Wohnwagen am anderen Ende des Geländes. Dort, in einem wohl geheizten Wageninnern, holte Klaus einen prallen grauen Abfallsack von unter seinem Bett hervor. Er knallte den Sack auf den Tisch und öffnete ihn. „Sieh dir das an“, flüsterte Klaus ehrfürchtig. Der Sack war mit gebündelten einhundert US Dollarnoten gefüllt. Klaus hatte ihn, wie er erzählte, beim Sortieren des Mülls vom Förderband genommen. Es

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waren einhundert Dollarnoten in Bündeln zu je einhundert Stück. „Das ist ein gottverdammtes Vermögen“, sagte ich erstaunt. „Hast du das schon nachgezählt“? Nein, gezählt hatte Klaus es noch nicht, nur gefürchtet hatte er sich, so ganz alleine, mit dem vielen Geld. Deswegen hatte er auch mich dazu geholt. Die Summe war rasch gezählt. Jedes Bündel ergab zehntausend Dollar und es waren hundertzwanzig Bündel. „Klaus“, verkündete ich zuletzt, „Du bist eine Million und zweihunderttausend Dollar reich“. Klaus erblasste und sah mich teils strahlend, teils verängstigt an. „Aber die Sache hat einen Haken“, fügte ich hinzu. Klaus machte große Augen, „Einen Haken? Aber wieso einen Haken? Ich habe das Geld doch ehrlich gefunden“! „Mag sein“, sagte ich. „Es ist aber Falschgeld“. „Falschgeld?“, flüsterte Klaus erschrocken und man sah selbst im düsteren Schein des Kerzenlichts, wie sein Gesicht noch mehr an Farbe verlor. „Woher willst du wissen, dass das Falschgeld ist?“ Ja, woher wollte ich das wissen? Ich hatte es geraten weil mir während des Zählens aufgefallen war, die Bündel waren von unterschiedlicher Länge. Der Unterschied war zwar nur minimal, höchstens einen halben bis einen Millimeter, aber er war vorhanden und ich bezweifelte, dass echte Dollarnoten kursierten, die von verschiedener Länge waren. Außerdem hatte ich solche Scheine vor Jahren schon einmal gesehen. Damals hatte ich ein Bündel davon für wenig Geld von einem Spanier erworben… Im Sonnenlicht des nächsten Tages, nahmen wir uns die Dollars noch einmal vor. Sie waren falsch, kein Zweifel, aber sie waren auf sonderbare Weise gefälscht. Sie waren absolut gut gedruckt, ihr Abbild bis ins Feinste ziseliert, auch hatte jeder Schein eine eigene Seriennummer, aber die Scheine waren eben von unterschiedlicher Länge und damit nicht genug, sie hatten auch nicht alle dieselbe Farbe. Sie waren zwar alle grün, aber einer war eben ein klein wenig grüner

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als der andere. Man konnte die Scheine folglich nicht bündelweise unter die Leute bringen. Es musste in einzelnen Scheinen geschehen, damit ein Betrogener nicht einen Schein mit dem anderen vergleichen konnte. Oder aber, man sortierte die Scheine ihrer Farbe und ihrer Länge nach. Das leuchtete Klaus ein. „Aber bevor du dich auf solche Geschichten einlässt“, sagte ich, „wäre es vielleicht vernünftiger, du tapeziertest deinen Wagen damit. Die Wände voller hundert Dollar Noten sieht sicher chic aus“. Doch Klaus, störrisch wie ein Kleinkind, ließ sich nicht mehr von dem Gedanken abbringen, Millionär zu sein… Damit Klaus nicht gleich im Gefängnis landete, sagte ich schließlich, „Okay Klaus. Ich helfe dir dabei. Ich werde vorerst aber nur einige in Umlauf bringen. Wir lassen sie an den Wechselstuben der Innenstadt in niederländische Gulden wechseln. Erwarte aber dabei nicht den offiziellen Wechselkurs“. Danach steckte ich zwei Bündel der Dollarnoten in meine Taschen und machte mich auf den Weg in die Stadt… Ich ging zum Rotlichtviertel und sprach zwei Jungs an, die ich kannte. Ich erzählte ihnen von den Dollarnoten, erwähnte aber nicht wie viele vorhanden waren, und schlug vor, dass sie ein Viertel der Summe bekämen, die sich beim Einwechseln ergäbe. „Klar, gib her“ sagten sie. Ich gab ihnen vier etwa gleich aussehende Scheine, sie rannten über die Straße zu einer kleinen Wechselstube und kamen kurz danach mit rund neunhundert Gulden in frischen knisternden Scheinen wieder. Das geht ja flott, dachte ich und so verbrachten wir den Rest des Tages, den überwiegenden Teil der Wechselstuben Amsterdams mit unseren falschen Dollarnoten übers Ohr zu hauen…

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Als es nach Mitternacht geworden war und alle Wechselstuben geschlossen waren, verabredeten wir uns für den nächsten Tag. Ich fuhr in einem Taxi zum Gelände zurück und ging geradewegs zu Klaus. „Hier“, sagte ich, und legte zwölftausenddreihundert Gulden auf den Tisch. „Steck das weg Klaus. Morgen gibt’s noch mehr“. Ich steckte mir zur Sicherheit noch fünf Bündel Falschgeld ein und ging nachhause. Dort verbunkerte ich die Scheine gut und legte mich schlafen... Am nächsten Morgen traf ich mich wieder mit den beiden Jungs vom Tag zuvor. Diesmal nahmen wir den Zug nach Leiden, Den Haag und Delft und klapperten unterwegs so ziemlich alles an Wechselstuben ab, was auf dem Wege lag. Dort, wo sich Touristen ballten, wechselten wir einige Scheine indem wir Zigaretten kauften, oder Souvenirs. Aber so glatt wie die Geschichte zu laufen schien, wusste ich doch, dass wir rasch handeln mussten. Es war hinter uns vermutlich längst schon irgendwo der Hut hoch gegangen. Einer unserer Scheine hatte sich sicher schon als falsch erwiesen und war bei der Polizei gelandet. Ich hatte die Gefahr unseres Spieles im Urin und trat deshalb nie selbst in Erscheinung. Ich blieb im Hintergrund und ließ meine beiden Soldaten ihre Nasen zeigen. Es wurde noch ein arbeitsreicher Tag, an dem wir uns kaum eine Minute Ruhe gönnten... Ich einigte mich mit meinen beiden Jungs, dass ich sie am Ende des Tages in falschen Dollars auszahlen würde. Dafür bekamen sie doppelt so viel. Nun erhielten sie für alle zweihundert Dollar die sie einwechselten, einhundert Dollar auf die Hand. Mochten sie ihre Scheine in ihrer Freizeit einwechseln… Als ich spät in der Nacht bei Klaus eintraf, war der inzwischen halb vergangen vor Angst. Der Gute hatte befürchtet, ich sei festgenommen

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worden. Die vierunddreißigtausend Gulden, die ich auf seinen Tisch blätterte, beruhigten ihn rasch wieder. Nun, so erklärte ich Klaus, mussten wir für mindestens sechs Monate stoppen mit dem Wechseln des Falschgeldes. Inzwischen dürften nämlich einige unserer eingewechselten Scheine bei einer frisch eingerichteten Sonderkommission der Polizei liegen, zusammen mit der Beschreibung meiner beiden Soldaten. Ihnen hatte ich eingeschärft, ihre Noten gleich am nächsten Tag außerhalb Amsterdams zu wechseln, aber nicht in einer der Städte, die wir bereits besucht hatten. Ich traf sie einige Tage später. Sie hatten sich inzwischen neu eingekleidet. Wie Verbrecher, sahen sie in ihren neuen Klamotten aus. Ich konnte das nie verstehen, dass Leute, die ihren Lebensunterhalt mit illegalen Aktivitäten verdienten, sich stets wie Verbrecher kleiden mussten. Aber sie hatten sich an meinen Rat gehalten und ihre Scheine in einigen kleinen Nestern in der Nähe von Rotterdam gewechselt... Zur Sicherheit, und um Klaus nicht in Versuchung zu bringen, nahm ich an diesem Abend den ganzen Sack voll Falschgeld mit nachhause. „Keine Angst, Klaus. Das Zeug ist bei mir gut aufgehoben. In frühestens sechs Monaten siehst du alles wieder“. Tags darauf verbunkerte ich den Sack zwischen den rostigen Ankerketten, im Ankerkasten eines alten Schiffes, das einem Freund gehörte und inmitten anderer alter Schiffe am Rande einer Werft vor Anker lag. In den nächsten Wochen sah ich Klaus immer wieder fröhlich und leicht angetrunken und von Frauen umgeben. Bald sah ich ihn immer öfter mit immer derselben Frau. Mit der fuhr er öfter auch, wie ich in Erfahrung brachte, nach Scheveningen an den Strand. Ich hatte mir weiter nichts dabei gedacht, hatte mich noch gefreut, dass Klaus es sich gut gehen ließ, bis ich eines Tages seinen Wohnwagen von sicher zwanzig Männern in billigen Anzügen umstellt sah…

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Ich sah aus der Ferne zu, wie sie Klaus in Handschellen in ein Auto luden und mit ihm davon fuhren. Tags darauf war er wieder da und ich ließ mir erzählen, was geschehen war. Er hatte sich drei der Dollarbündel zurückbehalten und angefangen, damit anzugeben. Am Ende war er mit seiner Freundin regelmäßig nach Scheveningen an den Strand gefahren, um dort mit den Dollars zu verfahren, als seien sie echtes Geld. Jetzt hatte er ein Strafverfahren am Hals, weil er Falschgeld in Umlauf brachte. Doch er log sich gut aus der Affäre, der Tropf. Er behauptete einfach, er hätte nicht gewusst, dass es sich um Falschgeld handelte und weil er ebenso dumm aussah wie seine Ausrede sich anhörte, glaubte man ihm... Einige Wochen später verkaufte Klaus seinen Wohnwagen und zog mit seiner Freundin in eine Wohnung in der Stadt. Danach traf ich ihn noch einige Male, wobei ich erfuhr, die Beiden hatten inzwischen geheiratet. Unser besetztes Gelände im westlichen Hafengebiet stand kurz vor der Räumung. Nachdem es endlich geräumt worden war, war ich eigene Wege gegangen und hatte Klaus nie wieder gesehen. Was war aus dem Sack mit den restlichen Dollarnoten geworden? Der liegt noch heute am Rande der kleinen Werft zwischen den rostigen Ankerketten im Schiffsbauch der „Marijke“…

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Das Moormädchen Im Westen Amsterdams, weit hinter Sloterdijk und teils schon in der Nachbargemeinde Haarlemerliede, gab es ein weites Naturschutzgebiet von Alt Holländischer Schönheit. Dort rauschten Flächen von Schilf, wenn der Wind hindurch fuhr, dort gab es Teiche und unter überhängenden Farnen verborgen kleine, sie verbindende Kanäle voller Leben. Molche, Salamander, Kröten und Frösche jeglicher Art, tauchten dort in großer Zahl im Wasser auf und nieder. Raubvögel, kreisten am Himmel und hielten scharfäugig nach Hasen Ausschau, nach Mäusen, Eichhörnchen und anderem kleinen Getier. Tief in diesem Naturschutzgebiet gab es "Het Veen", ein Moorgebiet von geheimnisvoller Pracht. Dorthin, hatten eines Nachts Jan und ich unsere Wohnwägen gezogen. Wir waren gerade von einem illegal besetzten Gelände am Holzhafen des Amsterdamer Hafens zwangsgeräumt worden und die Polizei hielt überall Ausschau, sogar mit kleinen Fliegern aus der Luft, damit wir uns nicht gleich wieder anderswo niederlassen konnten, wo es verboten war. Und verboten war es im Grunde überall, außer auf Campingplätzen, wo keiner von uns hin wollte... Ich hatte meinen großen Standwohnwagen von Aluminium, mit meinem alten Renault Traktor, meinem getreuen „zweizylindrigen Ross“, an den Rand des Veens geschleppt. Jan besaß einen selbstgebauten Wagen mit geschnitzten Holztüren, schön gearbeitet, zigeunerhaft bemalt und romantisch anzusehen. Dieser Wagen wurde von zwei echten Pferden gezogen, von zwei schweren Belgischen Ackergäulen. Schwere mächtige Tiere waren es, zottig und mit Hufen, breit wie Suppenteller. Dort, am Rande des Moores, fühlten nicht nur Jan und ich uns wohl, auch die beiden Pferde schienen sich dort

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zuhause zu fühlen. Fest gebunden an dreißig Meter langen Ketten, liefen sie einmal hierhin, einmal dorthin und fraßen unterwegs alles, was ihnen vor die Zähne kam. Sonderbar genug wussten diese Pferde genau, wo im unsicheren Moor sie ihre Hufe niedersetzen durften, um nicht plötzlich zu versinken. Fanden sie keine vertrauenswürdige Stelle auf der sie gefahrlos laufen konnten, machten sie ruhig kehrt und versuchten es andernorts erneut. Es war ein faszinierend schönes Fleckchen Erde, ein kleines Paradies, das wir gefunden hatten... Zahlreiche Kaninchen gab es am Veen, zahm und zutraulich. Sie blieben stehen, stellten sich auf die Hinterbeine, ließen die Vorderpfötchen hängen, hielten ihr Köpfchen schief und blickten fragend zu einem hoch. Nachts, schwirrten Scharen kleiner Fledermäuse über unseren Köpfen, die man ärgern konnte, warf man Haselnüsse in die Höhe. Mit ihrem akustischen Radar die Nuss erfassend glaubten sie, es handele sich um besonders fettes Nachtinsekt. Sie flogen geschwinde darauf zu und, BUMMS, stießen sich daran die Näschen. Tagsüber lärmte im Gras mit Zirpen und Pfeifen auf angenehme Weise unzähliges Insektentier, am Abend quakten und brummten im Wasser Frosch- und Krötenscharen. Orchideen wuchsen im Grase und überhaupt Blumen von solcher Vielfalt und Farbenpracht, dass es einem den Atem nahm. Freilich würde sich nach unserem Willen dieses Jahr auch der Hanf zur Flora dieses bezaubernden Ortes gesellen... Als Jan und ich eines Tages zufrieden auf Klappstühlen vor unseren Wägen in der Sonne saßen, raschelte das Schilf und hervor aus den Röhren trat ein junges Mädchen. Unbefangen, trat sie an uns heran, setzte sich vor uns ins Gras und sagte, „ Guten Tag. Ich bin Judith. Sind das eure Pferde“? „Es sind meine Pferde“, erwiderte Jan brummig.

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„Darf ich darauf reiten?“, fragte das junge Mädchen und ich antwortete rasch, nicht wenig zu Jans Verdruss, der seine Pferde über alles liebte und nicht gerne unter fremdem Kommando sah, „Aber sicher darfst du darauf reiten. Nur zu“. Noch nie zuvor hatten wir ein junges Mädchen so leichtfüßig auf den Rücken eines Pferdes springen sehen. Knoletje, wie der Schimmel unter Jans Pferden hieß, schien nur darauf gewartet zu haben. Ohne dass Judith oder Jan auch nur den leisesten Befehl gegeben hatten, setzte Knoletje sich in Bewegung und ging ruhigen Schritts geradewegs auf das tückische Moor zu. Ich stand auf und wollte den Gaul zurück halten, doch Jan legte beruhigend seine Hand auf meinen Arm. „Lass nur“, sagte er, „Knoletje kennt den Weg“. Ich setzte mich wieder und genas das herrliche Bild, dass Judiths Anwesenheit erzeugte. Der Anblick dieses jungen schmächtigen Menschenwesens auf dem großen gewaltigen Pferd, das sich sicheren Schrittes durch das gefährliche Moor bewog, war ein Bild wie man es mit keinem Geld der Welt erkaufen konnte... Von diesem Tag an sahen wir Judith öfters. Sie fühlte sich bei uns am Moor so richtig wohl. Sie bestellte einen kleinen Kräuter- und Gemüsegarten und sammelte die Schnecken von unseren Hanfstauden. Sie brachte von zuhause frisches Obst mit und Gemüse und kochte sogar. Sie säte und pflanzte Blumen, nicht in Beeten, sondern wild in die Landschaft hinein. Wenige Wochen später saßen wir inmitten eines Meeres bunter, bezaubernd duftender Blüten. „Das ist Judith“, pflegte Jan zu sagen, wenn des Abends der Wind die süßen Düfte der vielen Blüten durch die geöffneten Fenster in unsere Wägen trug… So verging der Sommer und es wurde Herbst. Um uns her wandelte sich die Welt und wurde zu Kupfer und Gold in unzähligen Rot- und Brauntönen. Jan und ich lebten mit den Elementen, dem Wind, dem

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Regen und dem Sonnenschein. An den Abenden saßen wir oft in einem unserer Wägen und spielten Schach im gelben, flackernden Schein von Petroleumlampen, während draußen Stürme fauchten, der Wind lärmend über das Dach rollte, an den Fenstern rüttelte und die ganze Behausung hin und her schüttelte als befänden wir uns auf hoher See… Während des wilden und farbenprächtigen Herbstes kam Judith noch zu Besuch. Sie versorgte Jans Gäule, fütterte sie mit Möhren und bürstete ihnen Dornen und Kletten aus dem zottigen Fell. Doch Ende Dezember kam der erste Schnee und wir mussten uns um Heizmaterial kümmern, dass sich nicht gänzlich aus der Umgebung sammeln ließ. Judith hatten wir unterdessen schon drei Wochen nicht mehr gesehen. Es war ihr wohl zu kalt geworden, redeten wir uns ein, die Reise von der Stadt hierher zu beschwerlich. Eines Tages musste ich zur Stadt um Kartoffel und eine Ladung Kohlen zu holen. Dabei kam ich an den Fenstern der Polizeidienststelle Houtmankade vorbei. Mein Herz sank mit dumpfem Schmerz in bodenlose Tiefen, als ich in einem der Fenster einen Steckbrief mit Judiths Bild sah. Darüber stand in fetten roten Buchstaben das Wort „Mord“, und darunter, „25000 Gulden Belohnung“… Auf diesem Steckbrief war Judiths Gesicht kaum wieder zu erkennen. Es war geschwollen und wies blutige Verletzungen auf. Ihre Augen waren geschlossen. Wäre mir ihr Bild nicht so vertraut gewesen, ich hätte sie auf diesem Steckbrief nicht erkannt. Unter der Summe der Belohnung stand ihr Name und ihr Alter: „Judith Van Damme. 17 jaar“… Wie in Trance, betrat ich die Polizeistation und sprach den Polizisten an, der hinter dem Tresen stand. „Ich kannte sie“, sagte ich und wies

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auf Judiths Steckbrief. Danach erzählte ich die Geschichte von Judith, den Pferden und den Blumen im Moor. Als ich geendet hatte, erfuhr ich, Judith war im Osten der Stadt in einem Polder, einer großen, von Wasser befreiten Senke, tot aufgefunden worden. Sie war mit Prügeln, vermutlich Baseballschläger, erschlagen worden. Dabei wurden alle ihre Knochen gebrochen, ihre Arme, ihre Beine, ihre Hände und Füße, ihre Rippen, ihr Schädel und ihr Rückgrat, alles war ihr zertrümmert worden. Judith, fröhliches Mädchen vom Moor. Mir kommen die Tränen, jetzt da ich an dich denke und dies schreibe. Ich werde zur Polizei gehen sobald ich wieder in der Stadt bin und fragen, ob die Ungeheuer, die dich so zugerichtet hatten, schon gefunden wurden. Und ich werde dich besuchen, im kleinen St. Barbara Friedhof, gleich rechts des ersten Weges unter der Rotbuche, nicht weit von Annas Grab. Und ich werde Blumen mitbringen, von der Stelle am Moor, wo du sie gesät hattest. Ich bin nach Jahren wieder dort und sah, sie blühen dort noch...

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Abschied von Amsterdam Mein Held, Justizminister der Niederlande, Frits Korthals Altes, hatte einen Auslieferungsantrag aus Deutschland zu meinen Gunsten niedergeschlagen. Zu meinem Bedauern verlor aber seine Partei die nächste Wahl und ein anderer Justizminister rückte auf seinen Stuhl. Die Amsterdamer Fremdenpolizei nahm sofort die Gelegenheit wahr und informierte den neuen Justizminister von dem schwerwiegenden Fehler, den sein Vorgänger in meinem Fall begangen hatte... Der zurückgezogene Auslieferungsantrag war zwar unumstößlich und konnte nicht wieder revidiert werden, aber ich hatte noch stets keine Aufenthaltsgenehmigung und verkehrte somit in prekärer rechtlicher Situation. Keine zwei Wochen nachdem Korthals Altes, der gute Frits, seinen Schreibtisch geräumt und seinem Nachfolger Platz gemacht hatte, bekam ich einen Brief vom Justizministerium. Man teilte mir mit, „Sie gelten in diesem Lande als unerwünschter Ausländer. Wir fordern Sie deshalb auf, das Gebiet der Niederlande binnen sieben Tagen zu verlassen. Kommen Sie dieser Aufforderung nicht nach, bringen wir Sie mit der Polizei zur nächsten Grenze“. Damit ich die Aufforderung auch ja nicht ignorierte, (...woher wollen die Pinsel wissen ob ich das Land verlassen habe), hatten sie eine Karte beigelegt, die ich beim Verlassen des Landes beim Niederländischen Grenzposten abgeben musste. Der würde die Karte mit Datum- und Uhrzeitstempel versehen und an das Justizministerium senden, damit dort erkannt wurde, ich hatte die Landesgrenze überschritten. Sehr klug, hatten sie sich das ausgedacht... Ich rief meinen Anwalt an und fragte, “Was soll ich nur tun? Sie haben eine Karte beigelegt, die ich an der Grenze abgeben muss. Trifft

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diese Karte nicht bald beim Ministerium ein, erlassen sie einen Haftbefehl“. Mein Anwalt riet ruhig, „Fahre einfach am Wochenende nach Belgien. Dort arbeitet am Wochenende niemand an der Grenze. Werfe die Karte einfach in den Briefkasten eines Grenzhäuschens und fahre wieder nachhause…“. Am Wochenende bat ich Jeroen, mich nach Belgien zu fahren. In seinem Betriebswagen, einem blauen Range Rover, fuhren wir schließlich Schlangenlinien über die Niederländisch- Belgische Grenze. Wie sich zeigte, stand an keinem Grenzübergang ein Grenzhäuschen. Geschlagene acht Stunden fuhren wir in Schlangenlinien von Holland nach Belgien und von Belgien wieder nach Holland. Streckenweise wussten wir schon nicht mehr, wo wir uns gerade befanden, in Belgien oder in Holland, und mussten Passanten fragen. Wir wollten die Suche nach einem Grenzhäuschen schon aufgeben, als Jeroen plötzlich mit dem Finger wies und rief, „Guck, dort ist ein Grenzhäuschen“! Wir hielten an, ich sprang aus dem Wagen und lief mit meiner vermaledeiten Karte in der Hand zuversichtlich auf das Grenzhäuschen zu, „Halt!“, rief Jeroen hinter mir her, „Halt! Wir haben uns verfahren und sind auf dem Wege von Belgien nach Holland. Du läufst gerade auf das Belgische Grenzhäuschen zu! Du musst aber von Holland nach Belgien“! Auf der anderen Seite der Straße sah ich, etwa dreihundert Meter entfernt, das Niederländische Grenzhäuschen.... Das Niederländische Grenzhäuschen war verschlossen. Ich spähte durch die Fenster. Es war kein Mensch zu sehen. In einem Raum, offenbar die Kantine, standen eine Kaffeemaschine und mehrere umgedrehte Kaffeetassen. Ich suchte nach einem Briefkasten und fand keinen. Dieses Grenzhäuschen hatte keinen Briefkasten. Nachdem wir acht Stunden gefahren waren um das verdammte Häuschen zu finden,

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hatte es keinen Briefkasten?! Verärgert lief ich zu Jeroens Range Rover. Ich holte einen Hammer und einen zwanzig Zentimeter langen Zimmermannsnagel aus dem Werkzeugkasten und lief damit zum Grenzhäuschen zurück. Dort nagelte ich die verfluchte Karte an die Tür und schlug vor Zorn auch noch den Nagel krumm... Ich weiß nicht, wie sie dahinter kamen das ich noch im Lande war? Jedenfalls erhielt ich sechs Monate später erneut eine Aufforderung des Justizministeriums, binnen sieben Tagen das Land zu verlassen. Eine Karte, hatten sie diesmal keine beigelegt. Fürchteten sie etwa, ich beschädigte damit eine weitere Tür eines Grenzhäuschens? Ich warf die Aufforderung weg und kümmerte mich weiter nicht darum… Von diesem Tage an wurde ich alle sechs Monate schriftlich aufgefordert, das Land zu verlassen. Ich warf die Aufforderungen jedes Mal achtlos weg und nie wurde ich, wie angedroht, mit der Polizei zur nächsten Grenze gebracht. Achtzehn Jahre und sechsunddreißig Briefe später, traf wieder einer ein. Diesmal waren die Umstände anders. Diesmal dachte ich selbst schon daran, die Niederlande zu verlassen. Es waren insgesamt schon zwanzig Jahre vergangen, seitdem ich aus Deutschland geflohen war. Damit war alles womit ich rechtlich belangt werden konnte verjährt… Ich ging in Amsterdam zur Deutschen Botschaft und erklärte der jungen Frau hinter dem Schalter, ich wolle nach Deutschland auswandern. Da ich mich aber mit der Geographie dieses Landes nicht auskannte, bat ich, „Nennen Sie mir bitte eine Stadt in der Nähe der Deutsch-Niederländischen Grenze, damit ich nicht so weit reisen muss“. Ohne zu zögern erwiderte die junge Frau, „Aachen. Fahren Sie doch nach Aachen“…

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Ich ließ den letzten Brief mit der Aufforderung des Niederländischen Justizministeriums drei Wochen lang in meiner Hosentasche. Danach ging ich damit zur Polizeistation an der Koninginenstraat und sagte zu dem Polizisten hinter dem Tresen, „Ich habe einen Brief von deinem Chef. Darin steht, du brächtest mich mit deinem Auto zur Grenze“. Ich legte den Brief des Ministeriums auf den Tresen. Der Polizeibeamte nahm ihn, las kurz und legte ihn wieder nieder. „Sie hätten bereits vor zwei Wochen außer Landes sein sollen“, bemerkte er ganz richtig. „Bei uns sind Sie jedenfalls verkehrt“, fuhr er fort. „Damit müssen Sie zur Fremdenpolizei“. Er sah auf seine Armbanduhr. „Heute ist Freitag. Ich fürchte, die Kollegen von der Fremdenpolizei haben bereits geschlossen. Am Besten, Sie gehen gleich Montagmorgen hin“. Man sieht wie viel sie wert waren, die Drohbriefe des Niederländischen Justizministeriums… Ich nahm ein Taxi zum Hauptbahnhof und stieg dort in den Zug nach Aachen. Während der Zugfahrt erschienen zwei Kartenkontrolleure. „Ich habe keine Karte“, sagte ich kühl. „Und bevor Sie danach fragen sage ich Ihnen auch gleich, meine Ausweispapiere zeige ich Ihnen nicht und Geld, gebe ich Ihnen auch keines“. Die beiden Kontrolleure sahen sich an. Schließlich sagte einer, „In dem Fall müssen wir Sie bitten, an der nächsten Haltestelle auszusteigen“. „Ich steige nicht aus“, sagte ich trotzig. „Dann müssen wir Sie leider mit Gewalt aus diesem Zug entfernen“, meinten die beiden daraufhin. „Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun“, riet ich und reichte ihnen meinen Brief vom Niederländischen Justizministerium. „Entfernten Sie mich aus diesem Zug, setzten sie einen unerwünschten Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung auf dem Hoheitsgebiet der Niederlande aus und damit macht man sich strafbar“. Das sahen die Beiden ein und so ließen sie mich ohne Karte und ohne zu bezahlen weiterfahren...

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Dritter Teil

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Konzert mit neuronaler Orgel Die neuronale Orgel war ursprünglich eine Entwicklung der Krowalski Stiftung, die aus dem Nachlass des verstorbenen Nobelpreisträgers Professor Boris Krowalski hervor gegangen war. Eigentlich zu Forschungszwecken entwickelt, fand das Instrument bald als ungewöhnlicher Zeitvertreib das Interesse elitärer Kreise… Die neuronale Orgel bestand aus zwei übereinander gelagerten Klaviaturen, wobei die Tasten der oberen von schwarz bis hellgrau gefärbt waren und die der unteren von weiß über gelb, orange, rot, grün, blau und violett, in allen Farben des Regenbogens. Die beiden Klaviaturen waren über Signalgeber mit Sensoren an den Nervensträngen des Rückgrats und Regionen des Hinterkopfes eines geeigneten menschlichen Mediums verbunden. Auf diese Weise erzeugte jeder Druck auf eine Taste der neuronalen Orgel eine bestimmte emotionale Reaktion im Nervensystem des Mediums… Vom visuellen Cortex des Mediums gaben Neuronal / Digitalwandler elektronische Impulse zu optischen Darstellungsgeräten, auf denen emotionale Reaktionen in Form und Farbe sichtbar gemacht wurden. Damit schuf ein begabter Künstler, mithilfe eines geeigneten Mediums, auf der neuronalen Orgel ganze emotionale Akkorde, die als traumhafte Bilder von Form und Farbe auf den Darstellungsgeräten erschienen. Fanden begabter Künstler und geeignetes Medium zueinander, entstanden wahre visuelle Meisterwerke… Das Medium, in aller Regel ein Mensch aus einfachen Verhältnissen, lag dabei reglos eingeengt in einem Käfig. Seine Gesichtszüge und Teilansicht oder Vollansicht seines Körpers wurden von Kameras

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festgehalten und durch Register an der Orgel in stufenlos regelbarer Transparenz über die eigentliche Darstellung projetziert... Die Villa des Herzogs Die Villa des Herzogs und ihre weite Terrasse, die frei über der Brandung des Meeres hing, waren in einem Stück aus den weißen Marmorklippen der Steilküste gemeißelt worden. Stand man auf der freitragenden Terrasse, hatte man das Himmelsgewölbe über sich und unter sich die tosende See. Auf dieser Terrasse sollte gen Mitternacht der kommenden Sommersonnenwende, zur Ehre des Herzogs und zur Erbauung örtlicher Noblesse, das alljährliche Konzert auf der neuronalen Orgel gegeben werden… Als Künstler des Abends hatte der Herzog den Organisten Piotr Koskini anreisen lassen, wie man sich erzählte, ein begabter Virtuose auf den Klaviaturen der neuronalen Orgel und ein junger Günstling des Herzogs. Als Medium hatte man ein Sklave aus den Transuranfabriken des Nordens gewählt, der, wie man zu berichten wusste, über außergewöhnlich diffizile Empfindungsspektren verfügte. Als Darstellungsgerät war eine Lasereinrichtung gewählt worden, die das visuelle Produkt von Meister und Medium als holografische Darstellung in den Nachthimmel zaubern sollte… Die neuronale Orgel konnte frei nach der Fantasie des Künstlers, oder auch nach einer musikalischen Vorgabe bespielt werden. An diesem Abend, so war beschlossen worden, sollte es nach musikalischer Vorgabe geschehen. Seit Wochen kursierten schon Gerüchte darüber, welches musikalische Stück der Gastgeber zu diesem Anlasse gewählt haben mochte...

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Beginn des Abends Leuchtende Sternenpracht empfing die Gäste auf der weiß-marmornen Terrasse des Herzogs. Bezaubernd funkelte das Kreuz des Südens. An den Eingängen wurden zur Erbauung der Gäste auf goldenen Tellern diverse natürliche und halbsynthetische Halluzinogene gereicht, die zwar intensiv von Wirkung, aber kurz von Wirkdauer waren. Runde Tische, von der Tafel bis zum Fuß aus einem Stück hellgrünem, halbtransparentem Alabaster gehauen und bequeme Sessel aus weichem Büffelkalbsleder waren so arrangiert, dass alle Gäste mühelos den Nachthimmel schauten, der noch reglos über dem dunklen, bewegten Meere hing.... Madam Beaumont, deren verblichener Gatte durch finanzielle Derivate zu Reichtum gekommen war, nahm mit ihren beiden Söhnen neben der dicht mit Schlinggewächs umwundenen Balustrade Platz, wo kleine schillernde Eidechsen unter dem rankenden Blätterwerk dahin huschten und listig nach handtellergroßen Nachtfaltern schnappten, die mit ausgebreiteten Flügeln, reglos auf violetten Trichterblüten saßen und verträumt durch entrollte Rüssel süßen Nektar schlürften. Aus kunstvoll verzierten Terrakottatöpfen strebten entlang knochenbleichen Korallenskeletten karnivore Pflanzen mit scharlachroten Blüten in die Höhe, deren herbe, betäubende Düfte summendes Nachtgetier verworren in endgültiges Verderben taumeln ließen. Landschildkröten mit farbigen Leuchtdioden auf den Panzern, krochen träge zwischen den Füßen der Gäste am Boden dahin... An einem Tisch in der Mitte der Terrasse, hatten einige Steuerbeamte aus den Ländereien jenseits der beiden Flüsse Platz genommen. Ihre lautstarke Unterhaltung, unterbrochen von nicht minder lautem Gelächter, erregte die Aufmerksamkeit der Gäste. Die

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Herren hatten gut lachen, war ihnen in ihrem Distrikt doch die Besteuerung natürlichen Regens gelungen, wobei sich die Höhe der Abgabe nach der Füllmenge verstreut aufgestellter Niederschlagsmesser bemaß, die mit einem Duftstoff versehen waren der streunende Hunde animierte, sie voll zu urinieren. Gerade besprachen die Herren Pläne zur Einführung einer Reinluftsteuer mit dem Argument, allgemein nützliche Industrie verunreinige allgemeine Atemluft, weshalb es nur recht und billig sei, die neu zu installierenden Abgasfilter sowie die Kosten ihres Betriebes aus Steuern der Allgemeinheit zu finanzieren… Während das Gelächter der Steuerbeamten zunahm, liefen in kanariengelbe Livree gekleidete Lakaien mit Tellern, Schüsseln und Gläsern umher und deckten die Tafeln. Junge, muskulöse Männer, bekleidet nur mit blütenweißer Küchenschürze, schoben silberne Wägelchen zwischen den Tischen dahin und servierten das Mahl… Das Abendmahl Weder Mühen noch Kosten hatte der Herzog gescheut, um seine Gäste zum Anlasse dieses besonderen Abends standesgemäß zu bewirten. Als Vorspeise servierte man die gerösteten Finger neugeborener madagassischer Lemuren, kandiert mit zart gewürztem Waldhonig, dekorativ umrandet von gebackenen assyrischen Wanderheuschrecken, ihre gespreizten Flügel bepudert mit purem Gold. Das Hauptgericht bestand aus gebratener Giraffenzunge, garniert mit gerösteten Oberlippenspitzen argentinischer Pampatapire und umgossen mit milder grasgrüner Pfefferminzsoße aus wilden Minzen javanischer Urwälder. Zum Dessert gab es süßsauer eingelegte Gehirnhälften embryonaler asiatischer Seidenäffchen, durchspickt mit feuerroten gegabelten Zungen burmesischer Bambusottern. Umgeben war diese

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Augenweide von Scheibchen leicht angebrühter und fein gewürzter Eier des australischen Schnabeltiers. Als passendes Getränk hatte der aufmerksame Gastherr schon in den Morgenstunden einen leicht mit kubanischer Zuckerrohrmelasse gesüßten, hauchzart vergorenen Gehirnliquor pubertierender brasilianischer Faultiere kaltgestellt. Kredenzt wurde diese Kostbarkeit von nackten Knaben mit kaffeebraunen Körpern, glänzend von edlen Ölen. Zum Abschluss des Mahles brachten junge nackte Mädchen, milchweiß ihre Haut und rabenschwarz ihr langes, lockiges Haar, Karaffen voll eines honiggelben hochkonzentrierten alkoholischen Destillats aus den vergorenen Flügelspitzen gefallener Engel… Während die Gäste schmausten, etablierte sich an der vordersten Balustrade das Orchester. Neben den Musikanten stand bereits die neuronale Orgel bereit. Ihre bunten Anschlüsse lagen noch leer an langen Kabeln am Boden. Intoniert von den Klängen des Orchesters das seine Instrumente stimmte, schoben sechs Lakaien des Herzogs das Medium auf die Terrasse, bereits im Käfig etabliert und versehen mit den nötigen Anschlüssen... Ein Raunen ging durch die Menge, als der Künstler des Abends, Piotr Koskini, die Terrasse betrat. Ohne sich auch nur umzusehen, schritt er geradewegs an die neuronale Orgel und nahm auf ihrem Schemel Platz. In weiße Kittel gekleidete Techniker huschten herbei und verbanden die Kabelanschlüsse der Orgel mit den Anschlüssen am Käfig des Mediums. Danach justierten sie noch einige Kameras in unmittelbarer Nähe des Käfigs und verschwanden lautlos wieder. Alle Lichter erloschen und sogar die leuchtenden Landschildkröten am Boden wurden eingesammelt. Stille kehrte ein, auf der Terrasse des Herzogs und nur das Rauschen der Brandung tönte noch aus der Tiefe

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empor, unterbrochen von vereinzelten Rufen einsamer Meeresvögel. Die Musikanten des Orchesters griffen zu ihren Instrumenten… Spiel der neuronalen Orgel Sanft von Sternenlicht durchschienen und weit größer als ein voller Mond, erschien das halbtransparente Antlitz des Mediums am Nachthimmel, sein Gesicht angstvoll verzerrt und Panik in seinen unruhigen Blicken… Als musikalische Vorgabe für diesen Abend hatte der Gastgeber Maurice Ravels Bolero gewählt. Schon stiegen die ersten Klänge vom Orchester auf, geblasene Hölzer und kaum wahrnehmbar darunter, wie aus großer Tiefe steigend, an und abschwellend wie das Rauschen entfernten Regens, gestrichene Saiten. Zärtlich, legte Piotr Koskini seine Finger auf die Tasten der neuronalen Orgel. Oben am Nachthimmel entspannten sich die Züge des Mediums und, als erfahre er zartestes Traumgesicht, umspielte ein verträumtes Lächeln seinen Mund… Spielerisch, schwang die Melodie des Orchesters hin und her. Erste kurze Bassstöße wurden hörbar. Waldhorn erklang. Während im Hintergrund blaue Sphären am Himmel pulsierten, erschienen zarte rostrote und gelbe Linien im Osten und zogen bis zum westlichen Horizont majestätische Bögen. Das davor schwebende, halbtransparente Gesicht des Mediums öffnete die Augen. Plötzlich veränderte sich am Himmel die gesamte Szenerie. Blendend weiße Schneelandschaften erschienen über dem Meere. Schneeflocken, groß wie Kinderfäuste und so detailliert gezeichnet dass ihre individuelle kristalline Struktur zu erkennen war, schwebten in Zeitlupe von den Sternen herab und taumelten leicht wie Feengeschenke auf die

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schneebedeckte Landschaft hinab. Eisbären erschienen und amüsierten die Gäste mit vergebenen Versuchen, die harsch vereiste Schneedecke unter Einsatz ihres gesamten Körpergewichts zu durchstoßen, um an das frisch geborene Robbenjunge zu gelangen, das darunter verbogen lag. Jäger, ausgerüstet mit Präzisionsgewehren, beobachteten die Bären aus der Ferne und lachten, ihre braunen Gesichter umgeben von rauchigen Pelzen, ihr Atem dampfend im klirrenden Frost ihrer eisigen Welt... Trompeten erklangen in dem sich wiederholenden musikalischen Thema. Staunen, legte sich über die Züge des halbtransparenten, am Nachthimmel schwebenden Antlitzes des Mediums. Rasant schmolz die Schneelandschaft dahin. Schmelzwasser floss in kristallklaren Bächen, die sich in Kaskaden ungestümer Wasserfälle schäumend ins nächtliche Meer ergossen… Vor dem Hintergrund entfernter Felsengebirge, erschienen begrünte Hügel, an deren Flanken sich eine altertümliche Siedlung schmiegte, ihre Hütten aus grob gehauenem Holze, samtbraun schimmernd im goldenen Laserlicht. Kaum hatten die Gäste sich auf die veränderte Szenerie eingestellt, bestimmten plötzlich Marschtrommeln den Rhythmus der Musik. Alles Grün verdorrte, rasant verfielen hölzerne Hütten und Felsengebirge in der Ferne zu feinem, gelbem Sand… Zur Wüste war die Landschaft geworden unter den harten Schlägen der Marschtrommeln, mit gelben Dünen in Formen, wie es sie nur in Landschaften und an Frauenkörpern zu sehen gab. Vom Osten her näherten sich Reiter auf Kamelen, bewaffnet mit altertümlichen Gewehren. Vom Westen rasten in rostigen Geländefahrzeugen bewaffnete Soldaten heran. Während die Beteiligung der

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Marschtrommeln noch zu nahm, eröffneten beide Seiten aufeinander das Feuer... Paukenschläge erklangen. Die Kameras am Käfig des Mediums schwangen von seinem Gesicht zu seinen Genitalien. Das halbtransparente Antlitz am Nachthimmel wich einem gigantischen halbtransparenten Penis, der mit jedem Paukenschlage noch an Größe zunahm. Unter den Gästen ging ein Raunen durch die Herren und ein Stöhnen durch die Damen. Danach wurde es wieder still und jeder sah gebannt zum Nachthimmel empor. Dort schwoll der halbtransparente Penis zum Rhythmus der Paukenschläge zu nie geschauter Größe und wechselte dabei, wie ein zorniger Krake, seine Farbe von sanftem Rot zu tiefem Violett. Als die Spannung unter den Gästen am größten und kaum noch zu steigern war, erklang der finale Paukenschlag des Bolero. Mit ihm, schoss ein silberner Spermastrahl in weitem Bogen vom Osten her quer über das Firmament und versank unter dem Flackern eines künstlich erzeugten Nordlichts am westlichen Horizont… Die Gäste des Herzogs sprangen von ihren Sesseln und applaudierten begeistert. Madam Beaumont, die während des finalen Paukenschlags mit einem lang gezogenem Seufzer ohnmächtig aus ihrem Sessel zu Boden geglitten war, wurde behutsam von vier herbeigeeilten Lakaien des Herzogs hinweg getragen, wobei ein fünfter neben ihnen her lief und der Erschöpften aufmerksam mit einem roten chinesischen Fächer Frischluft zuwedelte... Da Medien ein Bespielen mit der neuronalen Orgel nicht lange ohne dauerhaften Schaden durchstanden und man den guten Mann nicht opfern wollte, er war immerhin Vorarbeiter in den Transuranfabriken, befreite man ihn aus seinem Käfig. Der Herzog persönlich warf ihm

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eine Decke über, reichte ihm die Hand und gab ihm einen Taler, der hinreichend schien um den einfachen Arbeiter zu beglücken. Unterdessen spielte das Orchester ohne visuelle Begleitung weiter… Ein junger Emporkömmling aus der Armee des Herzogs, Louis Soucerie, Lieutenant des XIV Grenadierregiment, hatte in einem Winkel der Terrasse, beschwingt vom honiggelben Engelstrunke, so ungestüm zu den Rhythmen des Orchesters getanzt, dass er mit einem Bein durch den Terrassenboden gebrochen war, wo er fest stak und gefährlich hoch über dem tosenden Meere hing. Lakaien des Herzogs, alarmiert vom Ruf verängstigter Damen, eilten herbei und halfen dem Unglücklichen wieder auf sicheren Boden… Das Ende des Abends Als krönenden Abschluss des Abends hatte der Herzog beschlossen, seinen Gästen einen Blick auf seine berühmte Sammlung zu gewähren, die tief in den Gewölben der Villa verborgen lag. Der Herzog persönlich hatte sie damals als junger Soldat, nachdem in internationalem Einvernehmen die Vernichtung des Landes unter dem Banner des Kreuzes beschlossen worden war, eigenhändig aus der noch heißen, radioaktiven Asche geborgen, die letzten geschmolzenen Überreste einer Nation, perfekt im Täuschen und rücksichtslos in Lüge und Betrug... Rufe der Begeisterung erklangen, als die Gäste von dieser Gunst des Herzogs vernahmen. Keinen gab es unter ihnen, der sich nicht der großen Ehre bewusst gewesen wäre, als sie von Lakaien des Herzogs in die verzweigten Gewölbe der Villa geführt wurden...

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Nachdem die Terrasse sich geleert hatte, ließ der Herzog den Künstler Piotr Koskini zu sich rufen. Aus der Ferne klang der unheildrohende Schrei eines Meeresvogels. Der Herzog nahm eine Karaffe voll des goldgelben Engeltrunks zur Hand und goss zwei Gläser voll. Wortlos, reichte er eines dem Künstler. Danach wandte der Herzog sich ab. Er trat an die Balustrade seiner Terrasse und sah sorgenvoll hinaus auf die schwarze, unruhige See …

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Qualle Qualle stank wie eine verwesende Katze. Wo er auch ging, stand, saß oder lag, drang ihm dieser furchtbare Gestank aus Maul und Poren. Als Qualle zwei Monate abzusitzen hatte, schafften sie ihn drei Mal täglich in die Waschräume, massierten ihm Schmierseife unter die Haut und spritzten ihn mit Feuerwehrschläuchen ab. Aber vergebens. Nichts half. Schon eine halbe Stunde danach stank Qualle wieder wie zuvor. Am Ende kamen alle zu dem Schluss, es müsse sich wohl um etwas „Genetisches“ handeln... Qualle war, was man einen „Dauerbrenner“ nannte. Er metabolisierte den Stoff so rasch, dass sein Kopf nur wenige Herzschläge nach dem Abdrücken der letzten Injektion schon wieder Schlichen ersann, wie er an die nächste Dosis käme… Qualle fand seit Jahren keine brauchbare Vene mehr. Doch wie manche Körper mit schlecht durchbluteten Herzkranzgefäßen zuweilen neue, lebensrettende Blutgefäße sprießen ließen, so spross Qualle eine Verlängerung seiner Zungenvene. Am Ende dieser Verlängerung, die Qualle zusammengerollt unter seiner Zunge trug, befand sich ein verschließbarer Spalt, ähnlich dem Kehlkopf einer Schlange. Qualle setzte sich vor seine aufgekochte Lösung, entrollte diese Venenverlängerung und tauchte ihr Ende in die bittere Brühe. Dabei öffnete sich dieser Spalt und Qualle schlürfte den heißen, bitteren Lebenssaft direkt in seinen Blutkreislauf... Qualle lebte sehr zurückgezogen. Oft verbrachte er ganze Nächte alleine im Stadtpark, wo er im Grase lag und in schauerlichen Tönen den Mond anheulte. Stand der Wind günstig, konnte man ihn bis zum

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Marktlatz jaulen hören, wo man Touristen erzählte, die schauerlichen Töne seien die Klagegesänge des Ritters Oskar, der vor 500 Jahren im nahe gelegenen Schlosse unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sei… Wie man sich erzählte, trug Qualle dünne Gummischläuche bei sich, auf deren Enden lange Hohlnadeln staken. Diese Schläuche seien, wie man hörte, mit einem roten Gummiball gekoppelt. Drücke Qualle diesen Ball, erzeuge er in einem Schläuchen Überdruck und im anderen Unterdruck. Damit schliche Qualle des Nachts noch durch die entlegensten Winkel der Stadt, fiebernd auf der Suche nach einem überdosierten Opfer. Fände Qualle eines, so wurde erzählt, hole er seine Schläuche hervor und verbinde damit den Blutkreislauf seines Opfers direkt mit dem seinen. Danach betätige er den Gummiball, womit er das heroingesättigte Blut seines Opfers durch seinen Körper strömen ließe... Auf diese Weise erlebe sogar der Dauerbrenner Qualle einige Atemzüge lang Erleichterung. Käme sein Opfer unterdessen in Qualen der Entwöhnung zu sich, zöge Qualle rasch die Hohlnadel aus dessen Vene, rolle seine Schläuche auf, lüpfe höflich den Hut und empfehle sich unter Hinterlassung einer Strähne seines Gestanks… Wie man hörte, gab es zu jedem gegebenen Zeitpunkt wenigstens ein Opfer Qualles, das diese Prozedur überlebt hatte und davon erzählen konnte. In aller Regel wurden solche Leute aber als Lügner abgetan, denen niemand glaubte. Und tatsächlich, man sollte nur wenig von dem glauben, was auf Drogenszenen erzählt wird…

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Wieder frei! Wer schon persönlich erfahren hat, wie feindlich kalt und abweisend Straßenasphalt glitzern kann, der kann nachempfinden, wie einsam ich mich damals fühlte. Ich war erst tags zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden, hatte keine eigene Bleibe und kaum Geld in der Tasche. Freunde und Bekannte von früher waren durch den Wirbelsturm rigoroser Btm Gesetze und Btm Rechtsprechung entweder tot, im Gefängnis oder in alle Winde verstreut... Man hatte mir in einem Heim für Strafentlassene Unterkunft gegeben. Ein schauerlicher Ort voll widerstrebender Normalbürger, betäubt rund um die Uhr mit billigem Alkohol. Ich war in völlig unpassende Lebensumstände gezwungen worden und es wurde von mir gefordert, ich solle mich entsprechend diesen widrigen Umständen wandeln. Dass die Gefängnisdirektion die Kriminalpolizei von meiner Freilassung unterrichtet hatte, wusste ich nicht. Aber was konnte das auch schon schaden? Dein Freund und Helfer…? Ich lief die Leopoldstraße entlang Richtung Münchner Freiheit, als etwa einhundert Meter vor mir ein roter BMW hielt. Eine Frau sprang heraus und der Wagen fuhr ohne sie weiter. Als die Frau näher kam erkannte ich, es war Doris! Doris die Schlampe, von der ich Jahre zuvor Filzläuse empfangen hatte, die zum Glück kurz darauf von meinem Blut getrunken hatten und an einer Überdosis Heroin zugrunde gegangen waren. Eine Kehrschaufel voller „Drogentoter“. Gefundenes Fressen für jeden „Antidrogenpropagandisten“. Diesen Vorfall hatte ich Doris gegenüber nie erwähnt. Gegenüber den anderen Jungs freilich schon. Immerhin, wer wollte schon an einer Filzlausepidemie mitverantwortlich sein?

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Hallo K.“, rief Doris schon von weitem. Ihre Wiedersehensfreude schien ein wenig übertrieben, aber das fiel mir erst später auf, als es schon zu spät war. Ich war einfach außer Übung. Ich hatte mich zwei Jahre nicht mehr auf diesem Terrain bewegt und die Zeit im Käfig hatte meine Instinkte geschwächt… Wir gingen zusammen ins nächste Cafe, ein hübsches Gartencafe, von der Straße geschieden durch eine rote Backsteinmauer voll hellgrüner Flechten. In dieser Abgeschiedenheit erzählte ich Doris die Essenz meiner gegenwärtigen Situation. „Du wohnst selbstverständlich bei mir“, sagte sie prompt. Danach gingen wir noch in verschiedene kleine Geschäfte der Schwabinger Seitenstraßen und kauften Lebensmittel, mit Waldhonig glasierte Schneckenfühler, angedünstete Hinterschenkel Assyrischer Schnabelheuschrecken, gegrillte Oberlippen Argentinischer Pampatapire und ähnliche snobistische Schweinerein. Gut mit Futter bepackt, bestiegen wir ein Taxi und fuhren zu Doris’ Bleibe... Ich mochte diese Appartements in den Appartementhäusern von München. Man lief lange Korridore entlang, die links und rechts, wie Gefängniskorridore, identische Türen hatten, aber zivile Türen, ohne Riegel und ohne Schlösser daran, groß wie Suppenteller. Man öffnete eine Tür und betrat eine Diele von der eine weitere Tür ins Bad führte und eine in den Wohnraum. Dort stand meist ein großes Bett, einige Sitzmöbel, ein Tisch und ein Schränkchen oder eine Kommode. Vom Wohnraum führte eine Tür zum kleinen Balkon und eine zur kleinen Küche. Fragte man sich, wo in solchen Taubenschlägen der ganze übliche Krempel eines Haushaltes verborgen lag, war die Antwort einfach: Er lag zusammen mit der Bettwäsche im Innern des

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aufklappbaren Bettkastens. Ich mochte das Direkte, das Unmittelbare solcher Taubenschläge… Wir knabberten an den erworbenen Ferkeleien und schwatzten über Vergangenes. Danach öffnete Doris die Lade eines Schränkchens und holte, ressourcenreich, einen Specksteinnapf voll eierschalenfarbener Heroinbase und zwei steril verpackte Einmalspritzen hervor... Ich fragte Doris nicht, ob sie vielleicht schon wieder Filzläuse zu verteilen hatte. Es ergab sich irgendwie keine passende Gelegenheit dazu, oder zumindest keine, in der ich sie mit dieser Frage nicht verletzte. Optisch jedenfalls, konnte man sich nicht davon überzeugen. Dazu war die Beleuchtung im Raum zu duster und die Biester ganz einfach zu klein. Mit einer Halogenschreibtischlampe und einem kräftigen Leseglas wäre es vermutlich möglich gewesen. Nur, wie erklärte man Doris, was man mit einer Halogenschreibtischlampe und einem kräftigen Leseglas zwischen ihren Beinen zu suchen hatte…? Die Nacht war anstrengend. Während die eierschalenfarbene Heroinbase mein Bewusstsein in blaue zähflüssige Sphären zog, zerrte Doris unentwegt an meiner Nudel in der Hoffnung, dadurch doch noch etwas Regung zu erzeugen. Derart die Nacht hindurch hin und her gerissen, saß ich am folgenden Morgen entsprechend unkonzentriert mit Doris am Frühstückstisch und gab mir alle Mühe, ihren Worten zu folgen. Einer ihrer „guten Freunde“, so schien sie zu erzählen, von dem nebenbei bemerkt auch die fabelhafte eierschalenfarbene Heroinbase stamme, hole jeden Monat größere Mengen Heroin aus den Niederlanden. Wie aber der Teufel spiele, sei er unversehens schwer erkrankt und könne deshalb die geplante Reise in die Niederlande nicht antreten. Als wäre Doris gerade eben erst auf den grandiosen Gedanken

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gekommen und sei er nicht vielmehr schon vor Tagen vom Landessicherheitshauptamt ausgebrütet worden, schlug sie gelassen vor, „Warum holst du nicht für ihn das Heroin aus den Niederlanden? Ich bin überzeugt, er würde dich gut dafür bezahlen“. Man musste entweder ein gigantisches Arschloch sein und dumm genug, sich auf solche vagen Geschichten einzulassen, oder man musste in einer Situation verkehren wie der meinen und verzweifelt genug um nicht weiter darüber nachzudenken. „Bringe mich mit dem Mann in Verbindung“, sagte ich Esel und lutschte den letzten gezuckerten Tropfen des Frühstückskaffees aus der geblümten Kaffeetasse… Am Telefon machte Frank keinen gesunden Eindruck. Er stotterte, stöhnte und schrie zwischendurch sogar. Begriff ich die medizinischen Details seines Zustandes korrekt, so litt er an einem bösartigen Geschwür, das langsam seinen Arsch zu wucherte. Er erweckte jedenfalls enormes Mitleid mit seinem Gejammer und sein Dank schien grenzenlos, als ich zu verstehen gab, ich sei bereit an seiner Stelle in die Niederlande zu reisen um sein Heroin zu holen… Ich gebe zu, im letzten Jahr meiner Gefangenschaft in einem Familienknast in U., war es dem Personal gelungen, mich elementar zu schwächen. Sie behandelten mich wie ein exotisches Tier, das man mit Feuer und spitzen Stangen in seiner Ecke halten musste. Nahezu zwei Meter groß, zwar stark morphingewöhnt aber völlig gesund und kräftig wie ein Puma, war ich mit einem Körpergewicht von zweiundneunzig Kilogramm ins Gefängnis gebracht worden. Zwei Jahre später wurde ich, entwöhnt, gesundheitlich angeschlagen und mit nur zweiundsechzig Kilogramm wieder entlassen…

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Um die Gesundheit der Gefangenen zu gewährleisten, bemaß manihre Nahrung genau nach Kalorien. Eine Liste mit der entsprechenden Mengen- und Kalorienangabe der Woche, hing für jeden sichtbar im Korridor des Erdgeschosses. Darauf stand zum Beispiel aufs Gramm genau, wie viel Wurst ein Gefangener zum Abendbrot erhielt. Doch das Personal stahl unsere Lebensmittel. Sie teilten einfach weniger aus als den Gefangenen zustand und teilten sich anschließend was übrig blieb. Gaben sie jedem Gefangenen auch nur zehn Gramm Wurst zu wenig, ergab das bei einhundert Gefangenen bereits ein ganzes Kilogramm Wurst, das sie untereinander teilten und mit nachhause nahmen. Sie stahlen alles, unentwegt, täglich und bei jeder Gelegenheit, Wurst, Fleisch, Gemüse, Käse, Obst, Zucker, sie stahlen sogar Margarine. Sie stahlen alles an Lebensmittel, was gestohlen werden konnte… Ein Paragraph, ich glaube in der Strafvollzugsordnung, räumte jedem Gefangenen das Recht ein, im eigenen Beisein seine Essensration in der Gefängnisküche nachwiegen zu lassen. Von diesem Recht machte ich eines Abends Gebrauch. Damit nicht auch die anderen Gefangenen auf dieselbe Idee kamen, schloss man sie alle in ihren Zellen ein, bevor ich aus der Zelle geholt und mit meinem Abendbrot auf einem Teller in die Gefängnisküche geführt wurde. Dort erwarteten mich mehrere Beamte. Sie standen umher, verlagerten nervös ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und mieden meinen Blick. Von der Wurst meines Abendbrotes fehlten exakt zwanzig Gramm. Aber man musste sein Essen nicht nachwiegen um zu wissen, es war zu wenig. Man sah es an der geringen Menge des Essens und an den Gefangenen, die davon leben mussten. Wer glaubt, man brächte solche Information an die Außenwelt, der irrt. Es gelang mir nie, entscheidenden Stellen oder auch nur irgendjemanden vom anhaltenden Diebstahl unserer

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Lebensmittel zu berichten. Entsprechende Post unterschlug die Gefängniszensur. Irgendwann gelang mir dann doch der Kontakt zu einem Staatsanwalt. In enger Zusammenarbeit mit der diebischen Gefängnisleitung "nahm er sich des Falles an" und regelte die Angelegenheit am Ende so, dass der Diebstahl ungehindert weiter gehen konnte... Ja, ich gebe zu, es war ihnen gelungen, mich ziemlich zu schwächen, während der Zeit meiner letzten Gefangenschaft. Sie hatten aber auch alle Register gezogen. Medizinische Versorgung beschränkte sich auf die Kontrolle des Blutdrucks. Lebensmittel wurden gestohlen und Schikanen wurden so geschickt ausgeführt, dass sie keine sichtbaren Spuren hinterließen die direkte Rückschlüsse auf ihre Ursache zuließen. Man war auch immerhin nur ein „Rauschgiftsüchtiger“, also kein echter Mensch… Sollte es der Polizei nicht streng verboten sein, in Gefangenschaft geschwächte morphinbedürftige Menschen unmittelbar nach ihrer Freilassung mit Heroin zu locken, um sie in neue Btm Vergehen zu verwickeln und erneut in Gefangenschaft zu bringen? Oder wollen wir uns alle damit einverstanden erklären, dass es ihr nach eigenem Ermessen frei steht, alle Menschenrechte mit Füßen zu treten? Ich nahm den Intercity von München nach Köln und von dort den Regionalzug nach Aachen. Ich wollte nämlich den Grenzübertritt genießen. Ich nahm deshalb den langsamen Zug der örtlichen Ameisendealer von Aachen nach Heerlen und von dort weiter mit der Niederländischen Bahn über Eindhoven nach Amsterdam…

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Überschritt man die Grenze von Deutschland in Richtung der Niederlande, musste man nicht aus dem Fenster sehen um zu wissen, ob man die Grenze schon überschritten hatte. Man fühlte es, sobald man sie überquerte. Ein Gewicht fiel von einem ab, sobald man Deutschland den Rücken kehrte. Es war den meisten Fahrgästen anzusehen. Sie wirkten mit einem Mal entspannter als noch eben zuvor. Sie wirkten offener, freier, heiterer. Es war, als hätten sie einen bösen Geist hinter sich gelassen, verbittert, weil er nicht mit durfte. Es war, als sei ein bleierner Zwerg von ihren Schultern gesprungen und am Grenzübertritt abgesetzt worden, wo er ungeduldig die Rückkehr seiner Opfer erwartete, um sich gleich wieder schwer wie Blei auf ihren Schultern niederzulassen. Es war das politisch-propagandistische Gift Deutschlands, das man hinter sich ließ und eintauschte gegen das weitaus subtilere, leichtere und süßere politisch-propagandistische Gift der Niederlande. Hieß ein gewöhnliches getrocknetes Kraut eben noch „Rauschgift“, so hieß es nun plötzlich „gewoon droog Weed“, gewöhnliches getrocknetes Kraut… Amsterdam, meine Wahlheimat. Hier kannte ich jede Straße, jede Gasse, jeden Winkel und jeden Geruch. Der kranke Frank, zurück geblieben im Lande der bösen Geister, hatte im Silver Rose Hotel reservieren lassen. Ob er wohl wusste, dass gleich um die Ecke dieses Hotels der Zeedijk begann, Amsterdams Heroin und Kokain Meile? Es war Freitagabend. Samstagvormittag, sollte ich im Hotel angerufen werden und erfahren, wo ich die Handelsware übernehmen konnte. Sonntagabend sollte ich bereits wieder in München sein… Amsterdams Rotlichtviertel, für oberflächlich interessierte Touristen vielleicht eine Attraktion, für erfahrene Einheimische die Hintergründe und Untergründe der Gegend kannten, eher ein Trauerspiel. Frauen mit

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aufgemaltem Berufslächeln hinter rot beleuchteten Fenstern und Hauseingängen. Diese rot beleuchteten Ausstellungs- und Arbeitsräume kosteten, je nach Lage im Viertel, zwischen fünfundsiebzig und hundertundfünfzig Euro pro acht Stundenschicht. Damit reichte der Nettoverdienst dieser Frauen oft nicht mehr für die Miete der Wohnung zuhause… In der Luft, süßsaure Gerüche Südasiatischer und Chinesischer Küchen. In dieser Gegend fand man die besten gebratenen Enten der Stadt, süßsauer, für jene, die Süßsauer mochten. Der Touristenstrom in diesem zentral gelegenen Teil der Stadt brachte viel Geld mit sich. Man spürte an jeder Straßenecke förmlich das feine Knistern der Kleinkriminalität. Man hörte die kleinen schrägen Geschäftsabschlüsse wie das Summen von Stechmücken. Kümmerte man sich um seine eigenen Angelegenheiten, war es wenig wahrscheinlich, der Polizei zu begegnen. In Deutschland dagegen, schien es immer schwieriger zu werden, ihr aus dem Wege zu gehen... Am schwarzen Medikamentenmarkt, den so genannten „Pillenbrücken“ zwischen Achterzijds Voorburgwal und Nieuwemarkt, eilten Menschen hin und her und hielten nervös Ausschau nach Leuten die gerade die Pillen anboten die sie suchten, oder nach Leuten die gerade die Pillen suchten die man anbot. Trafen beide aufeinander, wechselte Geld und Ware die Person, still und unauffällig wie Infektionskrankheiten… Von beiden Seiten der Straße grüßten alte Bekannte. Kleine Händler verpanschter Waren umringten einen, versicherten, sie kannten einen schon seit der Geburt und zogen alle Register, um ihren Dreck an den Mann zu bringen. Dabei sah man ihnen den Betrüger schon von weitem

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an. Ihr bedürftiges Aussehen verriet, sie verfügten nicht über Ware von zufriedenstellender Qualität… Fabrice, der junge Italiener, den man häufig an den Pillenbrücken traf, schlug sich überwiegend mit einer Haarsträhne durchs Leben, die er geschickt über sein rechtes Auge hängen ließ. Mit diesem Auge, einmal von der Haarsträhne verdeckt, ein andermal sichtbar, erweckte Fabrice so viel Neugierde, dass er redlich davon leben konnte. Der livrierte Türsteher des Silver Rose Hotels war früher Türsteher beim Sexclub Casa Rosso. Er fand seine Anstellungen mithilfe seines längsten Schnurrbartes der Niederlande. Er war seit Jahren unbestrittener Schnurbartnationalchampion und profitierte somit, wie auch Fabrice, von Haaren, die er geschickt zu nutzen verstand... Der Anruf kam gegen zehn Uhr Vormittag. Bert, hieß der Amsterdamer Kontakt des kranken Franks, der krank zuhause lag im Land der bleiernen Zwerge. Bert und ich verabredeten uns für fünfzehn Uhr, am kleinen See im Westerpark. Gegen dreizehn Uhr ging ich noch rasch chinesisch essen. Man findet die besten chinesischen Restaurants im Amsterdamer Chinesenviertel, indem man darauf achtet ob Europäer mit Messer und Gabel an den Tischen saßen, oder Chinesen mit Essstäbchen klapperten. An einer Ecke, fast schon am Ende des Zeedijk, kurz vor dem Nieuwemarkt, gibt es rechterhand ein chinesisches Restaurant das man leicht übersieht. Es hat nur einen schlichten Namen über der Tür und nirgendwo Neonlicht oder andere auffallende Reklamen. Dort essen überwiegend Chinesen. Ganze chinesische Familien klappern dort mit ihren Stäbchen auf die Speisen ein. Das Essen ist billig und vorzüglich. Zum knusprig gebackenen und in handliche Scheiben gehackten Schweinebraten von dem schmackhafte Soße trieft, gibt es verschiedene Gemüse, wovon ein jedes je nach

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seiner Art anders zubereitet ist. Eines ist roh, ein anderes gekocht und wieder ein anderes nur leicht angedünstet... Auf den Wiesen des Westerparks warfen spielende Kinder Bälle und Flugscheiben umher. Sie kreischten vergnügt, liefen kreuz und quer und purzelten vor Lebenslust übereinander, während ihre Mütter eingeölt und schläfrig auf Badetüchern in der Sonne lagen um sich zu bräunen. Bert, Franks Kontakt in Amsterdam, war ein jovialer Mann. Er lachte viel. Sein Gelächter kam tief aus seinem Bauch, schwang sich dann durch sein Gekröse nach oben, schallte im geblähten Halse hin und her und trat schließlich wie Trompetenschall aus seinem Maul ins Freie. Dabei zerrte Bert seine Mundwinkel so weit auseinander, dass seine speckig glänzenden Wangen feist wurden und Hartgummibällen glichen. Unter der warmen Sonne des Weserparks, zwischen trägen Müttern und lärmenden Kindern, reichte Bert mir eine Plastiktüte mit fünfhundert Gramm Heroinbase. Geld, wollte er keines. Alles sei längst geregelt und bezahlt, versicherte er und lachte. Bert, lachte ungemein viel. Hätte ich in diesen Augenblicken gewusst was er wusste, ich hätte vermutlich auch viel gelacht. „Und grüße Frank von mir“, rief Bert noch, bevor er mit zunehmend leiser werdendem Gelächter in dem Fußgängertunnel verschwand, der Park und Sparndammerbuurt verband... Da Bert Deutscher war und Deutsche in Amsterdam selten bei geistiger Gesundheit waren, schenkte ich seinem albernen Auftritt nicht die gebührende Beachtung. Ich fuhr mit einem Taxi zum Hotel zurück. Dort verstaute ich den Beutel mit der Heroinbase in meiner Reisetasche, verschloss sie und stopfte sie in den Schrank. Danach bummelte ich noch ein wenig durch die Stadt…

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Nachts vor dem Schlafengehen, probierte ich Berts Base. Ich schnupfte ein wenig davon. Es war gute Ware, kein Zweifel. Danach, im Bett, hatte ich schwer mit mir zu kämpfen. Ich lag in einem Amsterdamer Hotel und hatte ein Pfund Heroinbase bei mir. Mit meinen Verbindungen in dieser Stadt wäre das Pfund im Nu versilbert. Dann besäße ich Geld genug um in Amsterdam zu bleiben. Scheiß auf Frank, mit seinem zugewucherten Arsch! Aber andererseits war ich das Leben unter illegalen Bedingungen auch satt. Zwanzig Jahre, hatte ich schon unter illegalen Bedingungen verbracht. Ich kannte nur zu gut die Schwierigkeiten, die ständig dabei am Wegesrand lauerten. Ich wünschte mir wenigstens für einige Jahre eine ruhige Bleibe mit halbwegs geregeltem Dasein… Fünftausend Euro, hatte Frank für den Transport versprochen. Damit könnte man eine kleine Wohnung mieten, sogar Kaution hinblättern und zwei drei Mieten im Voraus zahlen. Vielleicht käme man dabei endlich auch zum Schreiben, etwas, das ich schon seit Jahren wollte, aber nie konnte, weil ich nie die nötige Ruhe fand und tobsüchtige Staatsschergen ständig meine Existenz bedrohten. Man würde sehen. Jetzt musste das Pulver jedenfalls erst nach München gebracht werden. Ich schlief schließlich doch noch gut, in jener Nacht. Mir träumte von weißen Stränden, über die ich schon spaziert war, als ich noch die Ehre hatte, mit internationalem Haftbefehl gesucht zu werden… Sonntagmorgen um zehn Uhr schien das Wetter mir wohl gesonnen. Der Himmel war türkisblau und wolkenlos. Selbst eine Stadt wie Amsterdam, die niemals schlief, war an Sonntagen ruhiger als gewöhnlich. Ich verabschiedete mich vom schnurrbärtigen Türsteher des Silver Rose Hotels und ging zum Bahnhof...

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Der Schnellzug von Amsterdam nach München über Köln, war zu meiden. Dort gingen Beamte des Deutschen Zolls durch die Wagons und belästigten die Fahrgäste mit ihren Drogenproblemen. In diesem Zug hatte man sogar die Fenster verschraubt und versiegelt, damit man auch ja keine Contrabande, wie etwa ein Tütchen getrockneter Pflanzenreste, aus dem Zugfenster werfen und von Kollegen einsammeln lassen konnte. Dieser Schnellzug von Amsterdam über Köln nach München, war der Zug psychotischer Drogenproblematiker schlechthin. Der Intercity von Amsterdam nach München kam ebenso wenig in Frage, wie überhaupt jede direkte Verbindung. Kam man aus Amsterdam, war man im Lande der hinterhältigen Menschenverächter grundsätzlich verdächtig und das konnte ich in meiner Lage auf keinen Fall gebrauchen. Ich beschloss deshalb, den Zug von Amsterdam nach Heerlen zu nehmen, von dort den Regionalbus nach Aachen, von Aachen den Zug nach Köln und von dort einen Bummelzug nach München... Als ich von Heerlen auf dem Wege nach Aachen im Bus saß und die Deutsche Grenze überquerte, stand er dort schon, der bleierne Zwerg, den ich bei der Hinreise zurück gelassen hatte. Eh ich mich umsah, saß er auch schon wieder drückend auf meiner Schulter. Er schien schwerer geworden zu sein, in der Zwischenzeit. Auch der böse Geist stellte sich wieder ein und umfing mich mit bedrückenden, unheildrohenden Schwingen… Kluge Leute begingen ihre Fehler nur ein Mal, doch dieses eine Mal konnte verheerende Folgen haben. Diesen Fehler hatte ich noch nie begangen und er hatte verheerende Folgen. Glücklich in Köln eingetroffen, rief ich Frank an und teilte ihm den Zeitpunkt mit, an dem ich im Münchner Hauptbahnhof eintreffen würde…

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Das leichte Rütteln und die regelmäßigen Geräusche des fahrenden Zuges ermüdeten mich. Im Halbschlaf dachte ich daran, dass ich billige Möbel kaufen würde. Hübsch, mussten sie nicht sein, solange sie nur funktionierten. Etwas von Ikea vielleicht? Ein Bett benötigte ich keines. Betten brachen immer nur unter mir zusammen, folglich legte man die Matratze besser gleich auf den Boden. Ein kleiner billiger Computer musste auf jeden Fall her, damit man endlich zum Schreiben kam… Als der Zug im Münchner Vorort Pasing hielt, verspürte ich den starken Drang, schon hier auszusteigen und nicht erst am Münchner Hauptbahnhof. Ist man fit und kerngesund, folgt man solchen Instinkten eher. Ist man aber angekränkelt und geschwächt, weil man Jahre in unzuträglicher Gefangenschaft zugebracht hatte, folgt man leichter seinem Verstand und torkelt auf höchst intelligente Weise seinem Verderben entgegen. Da ich keinen vernünftigen Grund sah, den Zug schon in Pasing zu verlassen, blieb ich bis zum Münchner Hauptbahnhof sitzen… Der Endbahnhof München Hauptbahnhof hatte etwas Heimisches in seiner weiten geschlossenen Bauweise. München, „Die Hauptstadt der Bewegung“, die es eigentlich noch immer war. Der Zug bremste schon weit vor den Bahnsteigen und fuhr geradezu im Schritttempo in die Bahnhofshalle ein. Als er schließlich zum Stehen kam, stieg ich aus. Der Bahnsteig war voller Menschen. Leute, die Freunde oder Familie begrüßten und andere, die sich von solchen verabschiedeten. Umarmungen, Rufe, Tränen sogar, Menschen mit- und untereinander… Sie hatten sich gut in der allgemeinen Menschenmenge verborgen. Deshalb konnte man auch nicht nachvollziehen, woher sie so plötzlich kamen. Jedenfalls fand ich mich plötzlich von Männern mit identisch

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finsteren Gesichtsausdrücken umgeben. Einige hielten, halb verborgen unter ihrer Kleidung, Pistolen in Händen. Eine Stimme erklang, „Sie sind festgenommen. Machen Sie keine Dummheiten“. Bevor ich begriff was geschah, klickten auch schon Handschellen um meine Handgelenke… Tags darauf, in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses, las ich in der Tageszeitung, „Kaum aus der Haft entlassen, nahm der notorische Rauschgifthändler K. seine alte Tätigkeit wieder auf. Durch Hinweise aus der Bevölkerung konnte die Polizei verhindern, dass er Heroin im Straßenwert von fünf Millionen Euro nach München schmuggelte“. Komisch, dachte ich. Irgendwie hatte ich das alles dann doch anders in Erinnerung… Das allerdings die Polizei Kriminalfälle, die sie so lobenswert löst, von vorne herein selbst gestaltet und das der eine oder andere dieser Kriminalfall gar nicht gelöst, stattdessen aber illegal Geld abgesahnt wird, interessiert den zahmen Bürger nicht. Er will nur, dass seine Vorurteile bestätigt werden, die böse staatliche Propaganda unaufhörlich mithilfe der Medien wie Gift in sein Gehirn träufelt… Will man Leuten die Wahrheit nahe bringen, müsste man sie erst von ihren Zeitungen loslösen, von ihren Magazinen und ihren elektronischen Hypnosegeräten und ihnen stattdessen geschriebene Erzählungen präsentieren, gespickt mit Heroin, mit Weibern, mit Filzläusen und Leuten die davon leben, dass sie sich Haarsträhnen über die Augen hängen lassen, unterhaltsam und interessant genug, dass sie auch bis zum Ende gelesen werden... ENDE

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