Blue in Green

April 13, 2017 | Author: zwarky | Category: N/A
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Blue In Green

Blue In Green

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n der Kürze liegt die Würze. Ich möchte mit dieser faszinierenden Ballade von Bill Evans und Miles Davis zeigen, wie schlicht und dennoch wirkungsvoll eine Komposition sein kann, wie mit minimalistischsten Mitteln und elementarsten Klangzusammenhängen eine ungeheure Geschlossenheit, Konzentriertheit und atmosphärische Dichte erzielt werden kann. Entstanden ist dieses Schmuckstück aus einer Zusammenarbeit von Bill Evans und Miles Davis (zu hören auf „Kind Of Blue“ von Miles Davis). Das folgende Leadsheet orientiert sich an der Originalaufnahme (im Real Book sind dem Kopisten leider eine Reihe von Fehlern unterlaufen):

Nun zur Analyse. Das Vorzeichen (1b) deutet auf D-Moll als tonales Zentrum hin. Aus melodischer Sicht wird diese Vermutung bestätigt:

Wie schon mehrfach angesprochen, ist es bei moll-tonalen Stücken sinnvoll, die Akkordfolge der Einfachheit halber auch in der Durparallele (hier F-Dur) zu betrachten, ohne dabei die Molltonika als eigentlichen Bezugspunkt aus dem Auge zu verlieren. Dadurch werden bestimmte Funktionszusammenhänge (und die entsprechenden Skalenzuordnungen) leichter verständlich. Der erste große harmonische Bogen lässt sich folgendermaßen entschlüsseln:

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Die neue Jazzharmonielehre Das grundlegende Improvisationsmaterial ist schnell hergeleitet. Das Symbol G-6 und der Ton E im Thema bestätigen Dorisch. A7 kann als Dominante von D-7 entweder HM5(+#9) oder Alteriert sein (wobei die Melodie keinen eindeutigen Hinweis liefert). D-7 ist Äolisch. Erster Problempunkt ist Db7. Da die Akkordwechsel hier halbtaktig verlaufen, der Melodieton A aber über die Taktmitte hinaus klingt, muss er beiden Harmonien zugeordnet werden. Db7 könnte Mixo(#11) oder Alteriert sein – der Ton A (= b13) deutet auf letztere Skalenmöglichkeit hin. C-7 (als Teil einer II-V-Verbindung) ist wiederum Dorisch. F7 ist in erster Linie Mixolydisch, wird aber häufig als F7(b9) gespielt, was wiederum auf HTGT schließen lässt (13 in der Melodie, b9 im Akkord). Bbmaj7 ist natürlich Lydisch und A7 hatten wir schon. Die Skalenanalyse sieht also folgendermaßen aus:

Bei D-6 sollte das Ohr eine erste Irritation spüren. Die ursprünglich äolische Funktion weicht hier einer eher dorischen Farbe. Isoliert betrachtet könnte D-6 natürlich auch Melodisch Moll sein (was z. B. im zweiten Chorus von John Coltrane vorkommt). Als Teil des Themas hören wir jedoch sowohl im vorausgegangenen als auch im nachfolgenden Takt ein lang ausgehaltenes C, das sicherlich auch D-6 beeinflusst und Dorisch zur passenderen Wahl macht. Schlussfolgerung: D-6 ist nicht mehr eindeutig Tonika, sondern ein Drehpunkt, der auf subtile Weise schon jetzt das neue tonale Zentrum A-Moll vorbereitet und mit der dorischen Sexte den Melodieton B in Takt 9 vorwegnimmt, durch den die Modulation letztlich bestätigt wird. „Blue In Green“ hat also zwei verschiedene tonale Zentren: die Haupttonart D-Moll und eine nur kurz angespielte Nebentonart A-Moll. D-7 (Takt 10) ist wiederum Drehpunkt und das ideale Bindeglied zwischen A-7 und G-6 (Weiterführung des Quintfalls):

So einfach die Harmonik, so vertrackt die Form. Der 10-taktige Ablauf, der an ungewöhnlicher Stelle platzierte Höhepunkt (im letzten Takt) und die Tatsache, dass Tonikaklänge fast nie mit melodischen Schwerpunkten zusammenfallen, macht „Blue In Green“ zu einer Komposition, bei der man leicht die Orientierung verlieren kann. Auch in der Melodie ist weder ein klarer Anfang noch ein eindeutiger Abschluss erkennbar. Sowohl die

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Blue In Green am Höhepunkt beginnende Guide Tone Line als auch die motivische Sequenz der letzten vier Takte mit ihren Umspielungen und Auflösungen überbrücken und verschleiern den eigentlichen Formbeginn:

Die Aufnahme verstärkt den Eindruck einer Bewegung ohne Anfang und Ende. Schon ab dem Klaviersolo hören wir eine formale Diminution – eine Verdopplung des Tempos bei gleichzeitiger Halbierung des Gesamtablaufs. Nach dem Saxophonchorus ist ein zweiter Diminutionsschritt eingebaut. Die Akkordfolge zieht jetzt als harmonischer Kreisel in einem Viertel der ursprünglichen Zeit – wie im Zeitraffer – am Ohr vorbei, ohne dass ein formaler Einschnitt erkennbar wäre. Doch nun kommen wir zum wohl faszinierendsten Punkt. Im modernen Jazz besteht oft eine enge Verbindung zwischen Titel und Konzeption einer Komposition. Bei „Blue In Green“ klingt – zumindest anteilig – eine Verbindung zum Blues an. Wo aber soll bei dieser eleganten Ballade die Urwüchsigkeit des Blues stecken? Das Geheimnis lüftet sich, wenn wir uns das Harmonieschema eines Parker-Blues vergegenwärtigen. Nachfolgend seht ihr – zur Erinnerung – die Takte 1-5 der Akkordfolge von „Au Privave“, dem wohl bekanntesten Beispiel für diesen Bluestyp (in F-Dur). Mit ein paar einfachen Umdeutungen (D-7 = Fmaj7 und G-6 = Eø7) springt die Ähnlichkeit mit „Blue In Green“ sofort ins Auge:

Analysiert man die Akkordfolge in F-Dur und nicht in D-Moll, dann landet „Blue In Green“ in Takt 5 auf der Subdominante (Bbmaj7) – eines der zentralen Charakteristika des Bluesschemas. Noch frappierender werden die Parallelen, wenn man einen melodischen Vergleich zwischen den beiden Kompositionen anstellt:

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Die neue Jazzharmonielehre

Die melodischen Schwerpunkte von „Au Privave“ stimmen fast vollständig mit dem Themaverlauf von „Blue In Green“ überein. Bill Evans hat also nichts anderes getan, als die Grundsubstanz des einen Stücks (Harmonik und Guide Tone Line der Melodie) als Ausgangspunkt für eine neue Komposition zu nutzen. Die gänzlich andere Stilistik und das viel langsamere Tempo verhindern jegliche Ähnlichkeit und verschleiern die eigentlich so offensichtliche Querverbindung. Hut ab! Welch intelligente Nutzung dieses altbekannten, etablierten Themas: dasselbe Tonmaterial und dennoch eine völlig andere Wirkung. Da soll einer behaupten, man könne harmonischen und melodischen Klischees nicht immer wieder neue Klangvarianten abgewinnen. Hier bestätigt sich abermals: Nicht die Töne selbst sind entscheidend, sondern wie man mit ihnen umgeht!

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