BECK Der Kosmopolitische Blick
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Edition Zweite Moderne
Herausgegeben von Ulrich Beck Redaktion: Raimund Fellinger
Ulrich Beck Der kosmopolitische Blick Krieg oder: ist Frieden
Suhrkamp
Erste Auflage 2004 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004 Originalausgabe All e Re ch te vo rb eh al te n, in sb es on de re das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme ve rarbeitet, ve rv ie lf äl ti gt od er ve rb reit et we rd en . Satz: Hümme r Gm b H, Waldbüttelbrun n Druck: Pustet, Regensburg Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Wil ly Fl ec kh au s: We rn er Zeg ar ze ws ki Printed in Germany ISBN 3-518-41608-1 1 2 3 4 5 6 - 06 05 04
Inhalt Einleitung Warum der kosmopolitische Blick »kosmopolitisch« ist
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ERSTER TEIL Der kosmopolitische Realismus Kapitel I Weltsinn, Grenzenlosigkeitssinn: Zur Unterscheidung von philosophischem und sozialwissenschaftlichem Kosmopolitismus
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Kapitel II Die Wahrheit der Anderen: Vom kosmopolitischen Umgang mit Andersartigkeit - Unterscheidungen, Mißverständnisse, Paradoxien
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Kapitel III Die kosmopolitische Gesellschaft und ihre Gegner
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ZWEITER TEIL Konkretisierungen, Ausblicke Kapitel IV Die Politik der Politik: Zur Dialektik von Kosmopolitisierung und Anti-Kosmopolitisierung
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Kapitel V Krieg ist Frieden: Über den postnationalen Krieg
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Kapitel VI Kosmopolitisches Europa: Realität und Utopie
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Literatur Ausführliches Inhaltsverzeichnis
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Was ist Aufklärung? Habe den Mut, dich deines kosmopolitischen Blicks zu bedienen, das heißt, dich zu deinen vielfältigen Identitäten zu bekennen: die aus Sprache, Hautfarbe, Nationalität oder Religion erwachsenen Lebensformen mit dem Bewußtsein zu verbinden, daß in der radikalen Unsicherheit der Welt alle gleich sind und jeder anders ist.
Einleitung Warum der kosmopolitische Blick »kosmopolitisch« ist Was macht den kosmopolitischen Blick zu einem »kosmopolitischen«? Was meint »Kosmopolitismus«? Dieses Wort enthält die wundervollsten und zugleich grauenvollsten Geschichten. Die größten und fruchtbarsten Kontroversen der europäischen Aufklärung sind mit ihm verbunden - und in Vergessenheit geraten. Die einen wendeten, wie Heinrich Laube in der Mitte des 19. Jahrhunderts, den therapeutischen Wert des Vaterlandes gegen die angebliche Überforderung durch den Kosmopolitismus: »Der Patriotismus ist einseitig, klein, aber er ist praktisch, nützlich, beglückend, beruhigend; der Kosmopolitismus ist herrlich, groß, aber für einen Menschen fast zu groß, der Gedanke ist schön, aber das Resultat für dieses Leben ist innere Zerrissenheit...« (1876: 88) Am Ende reduziert sich der Kosmopolitismus auf eine schöne Idee: »Über der Menschheit vergißt man jetzt gewöhnlich die Menschen und in dieser Zeit der Brände, Kanonen und glühenden Reden ist es doch Erbärmlichkeit. Die Idee ist eine ganz schöne Sache, für fast Alle zu groß und sie bleibt immer nur Idee. Vermengt sie sich nicht mit dem Individuum, mit der Gestalt, so ist sie so gut wie nicht da gewesen.« (Ebd.: 131) Dagegen prophezeite zur gleichen Zeit Heinrich Heine, der sich selbst als eine Verkörperung des Kosmopolitismus sah, »daß dieses am Ende die allgemeine Gesinnung wird in Europa, und ... mehr Zukunft habe, als unsere deutschen Volkstümler, diese sterblichen Menschen, die nur der Vergangenheit angehören.« (1997: 710) Er kritisierte den Patriotismus des Deutschen, der darin bestehe, »daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur noch ein enger Deutscher sein will«. Er geißelt »die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Hu-jemanität, gegen jene allgemeine Menschen-Verbrüderung, gegen nen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Her7
der, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.« (Ebd.: 379; die Zitate sind alle, wie viele andere in dieser Einleitung, Thielking 2000 entnommen.) Heute ist nicht mehr darüber zu diskutieren, ob der Patriotismus zu klein, aber praktikabel, der Kosmopolitismus dagegen großartig, aber kalt und unlebbar ist. Heute steht zur Diskussion, daß die Wirklichkeit selbst kosmopolitisch geworden ist. Um diese These zu veranschaulichen, brauchen wir nur das vorläufig letzte Exemplar in der Genealogie der globalen Risiken herauszugreifen: Auch die Terrorgefa hr kennt keine Gren zen. Dasselbe gilt fü r den Protest gegen den Irak-Krieg. Erstmals wurde ein Krieg als ein weltinnenpolitisches Ereignis behandelt, an dem simultan und massenmedial vermittelt die gesamte Menschheit Anteil nahm - selbst wenn darüber die atlantische Gemeinschaft fast zerbrochen wäre. Allgemeiner gesprochen: Das Paradoxon: Widerstand, gerade gegen Globalisierung, erzeugt politische Globalisierung, ist schon länger beobachtbar. Die Globalisierung der Politik, der Wirtschaft, des Rechts, der Kulturen, der Kommunikations- und Interaktionsnetzwerke erhitzt die Gemüter, ja, an dem von globalen Risiken erzeugten Schock entzünden sich immer aufs neue weltweite politische Öffentlichkeiten . Damit hat der Kosmopolitismus aufgehört, eine bloße, dazu noch umstrittene Vernunftidee zu sein, er ist, wie verzerrt auch immer, aus den philosophischen Luftschlössern aus- und in die Wirklichkeit eingewandert. Mehr noch: Er ist zur Signatur eines neuen Zeitalters geworden, des Zeitalters der reflexiven Moderne, in der sich die nationalstaatlichen Grenzen und Unterscheidungen auflösen und im Sinne einer Politik der Politik neu verhandelt werden. Deshalb benötigen wir für diese kosmopolitisch gewordene Welt dringend einen neuen Beobachterstandpunkt - den kosmopolitischen Blick -, um zu erfassen, in welchen gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeiten wir leben und handeln. Der kosmopolitische Blick ist also Resultat und Voraussetzung begrifflicher Restrukturierung der Wahrnehmung. Gegen diese Umstrukturierung wendet sich der nationale Blick oder - auf dieErWissenschaft übertragen der methodologische Nationalismus. dominiert bisher in der-Soziologie und den anderen Sozialwissenschaften wie Geschichte, Politikwissenschaft, Na8
tionalökonomie. Sie haben die Gesellschaften als nationalstaatlich verfaßte analysiert. Folglich kam es zu einem System von Nationalstaaten und entsprechenden Soziologien, die ihre partikulare Gesellschaft in nationalstaatlichen Begriffen definieren. Im nationalen Blick gilt: Der Nationalstaat schafft und kontrolliert den »Behälter« der Gesellschaft. Damit legt er zugleich die Grenzen der »Soziologie« fest. Der in die Wirklichkeit immigrierte Kosmopolitismus ist ein vitales Thema der europäischen Zivilisation, des europäischen Bewußtseins und, weit darüber hinaus, der Welterfahrung, weil im kosmopolitischen Blick, methodologisch verfaß t, die Kr aft schlummert und geweckt werden könnte, den selbstzentrierten Narzißmus des nationalen Blicks und das taube Unverständnis, in dem er das Denken und Handeln gefangen hält, aufzubrechen und die Menschen aufzuklären über die wirkliche, innere Kosmopolitisierung ihrer Lebenswelten und Institutionen. Was befähigt und ermächtigt den Begriff des Kosmopolitismus dazu? Paradoxerweise zwei sich widersprechende Tendenzen: daß er eine uralte, unerschlossene, unerschöpfte Tradition und Schatzkammer ist - und daß er durch die Hölle auf Erden gegangen ist. Das Vergessen, ja die totale Um- und Abwertung des Kosmopolitismus zum Feindbegriff ist sein er Zwangsver wandtsch aft mit dem Holocaust und dem stalinistischen Gulag zuzuschreiben. »Kosmopolit« war im kollektiven Symbolsystem der Nazis ein anderes Wort für Todesurteil. Alle Opfer des planmäßigen Massenmordes galten als »Kosmopoliten«; und dieses Todesurteil hat sich auf das Wort übertragen, wurde an diesem gleichsam mit vollstreckt. Die Nazis sagten Juden und meinten Kosmopoliten. Die Stalinisten sagten Kosmopoliten und meinten Juden. Insofern sind »Kosmopoliten« bis heute in vielen Ländern zwischen Entwurzelten, Feinden und Insekten angesiedelt, die man vertreiben, verteufeln, vernichten kann oder sogar muß. Adorno befand: Man kann nach Auschwitz kein Gedicht mehr schreiben. Es gilt jedoch auch genau umgekehrt: Alle Gedichte schreiben oder schweigen von Auschwitz. »Welcher Schriftsteller ist nicht ein Schriftsteller Holocaust? Ich verstehe das so, heute daß der Holocaust nicht direktdeszum Thema gewählt sein muß, damit man auf den gebrochenen Ton aufmerksam wird, der die 9
moderne Kunst Europas seit Jahrzehnten beherrscht. Ich gehe noch weiter: Ich kenne überhaupt keine wirklich gute, authentische Kunst, in der ich nicht einen solchen Bruch spüren würde, so als sähe der Mensch nach einer Nacht von Alpträumen zerschlagen und ratlos in der Welt umher... Ich habe im Holocaust die Situation des Menschen erkannt, die Endstation des großen Abenteuers, an der der europäische Mensch nach zweitausend Jahren ethischer und moralischer Kultur angekommen ist ...« Und Imre Kertesz hebt die traditionenbegründende Kraft dieser Negativerfahrung hervor: »Denn nach meiner Auffassung berühre ich, wenn ich der traumatischen Wirkung von Auschwitz nachgehe, die Grundfrage der Lebensfähigkeit und kreativen Kraft des heutigen Menschen; das heißt, über Auschwitz nachdenkend, denke ich vielleicht paradoxerweise eher über die Zukunft als über die Vergangenheit nach.« (2003: 2, 51, 255) In diesem Sinne braucht das Substantiv »Kosmopolitismus« »Worte, Worte - Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und die Jahrtausende entfallen ihrem Flug« (Gottfried Benn) - nur die Schwingen zu öffnen, und das europäische Trauma entfällt seinem Flug. Das verleiht ihm eine illusionslose Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit, eine Schärfe und Hellsichtigkeit, mit der es - vielleicht - gelingt, das stahlharte Kategoriengehäuse des methodologischen Nationalismus aufzubrechen und das Wie und Inwieweit des Kosmopolitischwerdens der Weltwirklichkeit überprüfbar, sehbar und einsehbar, verstehbar, ja lebbar zu machen. Was also meint »kosmopolitischer Blick«? Weltsinn, Grenzenlosigkeitssinn. Ein alltäglicher, ein historisch wacher, ein reflexiver Blick, ein dialogischer Blick für Ambivalenzen im Milieu verschwimmender Unterscheidungen und kultureller Widersprüche. Er zeigt nicht nur die »Zerrissenheit«, sondern auch die Möglichkeiten auf, das eigene Leben und Zusammenleben in kultureller Melange zu gestalten. Er ist zugleich ein skeptischer, illusionsloser, selbstkritischer Blick. Um dies zu verdeutlichen, ist nichts so hilfreich wie einige Beispiele.
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Kosmopolitische Identitäten oder die Logik inklusiven Unterscheidens In der soziologischen Forschung ist jetzt viel die Rede von neuen Identitäten. Damit ist auch das erneute Auftrumpfen nationaler, ethnischer und lokaler Identitäten überall auf der Welt gemeint. Die Frage, was daran neu ist, beantwortet sich, wenn man deren Besonderheiten betrachtet. Es handelt sich um Identitäten, die man vielleicht etwas zu schnell als »neonationalistisch« etikettiert, die aberim Gegensatz zum Nationalismus mit faschistischer Sprengkraft, wie ihn das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat - nicht auf ideologische und militärische Eroberungsfeldzüge jenseits der eigenen Grenzen zielen. Es sind introvertierte Nationalismen, die sich gegen den »Einmarsch« der globalen Welt wehren, einigeln, abschirmen, wobei »introvertiert« nicht mit ungefährlich verwechselt werden darf. Denn in diesen Binnennationalismen entsteht sehr wohl eine gewaltbereite Intoleranz, die sich gegen jeden und jedes wenden kann. Das »Neue« liegt darin, daß hier - meist bewußt - gegen die Kosmopolitisierung der eigenen Lebenswelten Front gemacht wird, gegen die Globalisierung und Globalisierer, die vermeintlich das lokale Leben der »Einheimischen« bedrohen. Man greift zu einem strategischen Als-ob-Essentialismus der eigenen Ethnizität, um die sich verwischenden und sich neu mischenden Grenzen von innen und außen, uns und denen zu fixieren. Das heißt zweierlei: erstens ist auch in diesem Fall die alltägliche Erfahrung der Globalität vorausgesetzt. Zweitens: Ohne das Verständnis dafür, wie Globalität die Unterscheidungen aufhebt und neu mischt - also ohne kosmopolitischen Blick -, bleiben sowohl die neuen Identitäts- und Erinnerungslandschaften als auch die möglicherweise darin wurzelnden introvertierten Nationalismen schlechterdings unverständlich. Vor einiger Zeit, auf einem Flug nach Helsinki, nervte mich mein Sitznachbar, ein dänischer Geschäftsmann, damit, daß er ein übers andere Mal darlegte, wie vorteilhaft die Europäische Union für seine wirtschaftlichen Unternehmungen sei. Weniger aus Neugierde, mehr um auch mal zu Worte zu kommen, fragte ich ihn, ob er denn mehr dänisch oder mehr europäisch fühle. Weder noch, antwortete er mit dem Unterton des Erstaunens, er sei Weltbürger 11
»global Citizen«. Seine Heimat seien alle Länder der Erde. Wo er hinkomme, spreche er Englisch, das er wie eine zweite Muttersprache beherrsche. Überall stehe ein Hotelbett für ihn bereit. Er wähle die bekannten Hotelketten, bei denen er mit ortsunabhängiger Gleichartigkeit rechnen könne. In China speise er indisch, und in Indien französisch. Seine Geschäftspartner sähen die Dinge aus einem ähnlichen Blickwinkel wie er. Erfahren wie er sei, wisse er, wem er trauen könne und mißtrauen müsse, egal ob es um Business oder um Taxifahren gehe. Er sei im übrigen als Däne aufgewachsen, lebe in Dänemark, fühle dänisch. Zu Weihnachten sei er Christ, an Wahltagen Sozialdemokrat. Neulich habe er sich allerdings einer Bürgerinitiative angeschlossen, die eine restriktive Einwanderungspolitik fordere. Er sei, weiß Gott, für Fremde, fügte er ohne verlegenes Lächeln hinzu, aber die Immigrantenwelle müsse gestoppt werden! Und so weiter und so fort. Nach einem kurzen Innehalten kam er auf meine Frage zurück: Nein, Europäer - darüber habe er eigentlich noch gar nicht nachgedacht - sei er nicht. Es handelt sich hier zweifellos um das Paradebeispiel einer Identitätsbestimmung, die die Entweder-Oder-Logik durch die Sowohl-als-Auch-Logik inklusiven Unterscheidens ersetzt hat. Es wird ein Bild der eigenen Identität entworfen, das sich frei aus dem Märklin-Baukasten der Weltidentitäten bedient und das Selbstbild als fortschreitende Einschließlichkeit gestaltet. Wir haben es hier mit dem stolzen Behaupten einer bunt zusammengewürfelten, irgendwie kosmopolitischen und zugleich provinziellen Identität zu tun, deren Zentralmerkmal lautet: Die alten Zurechnungen greifen nicht länger. Daß dies nicht zwangsläufig mit einem kosmopolitischen Gutmenschentum gleichzusetzen ist, das man im allgemeinen mit dem Etikett »Weltbürger« verbindet, geht schon daraus hervor, daß für unseren »global manager« Politik eine Wahltagsangelegenheit ist, er jedoch zugleich mobil macht gegen Immigranten. Was hier zusammengefügt wird, fügt sich gerade nicht zusammen. Denn die beschworenen Zugehörigkeiten passen nicht in die fragmentarische Ko mposit ion, die mit dem Brustton innerer Überzeugung vor dem Zuhörer entwo rfen wird . Es hat etwas von einem Gemälde Picassos oder Braques, in dem der naive Betrachter nach den Signaturen einer zusammenhängenden Landschaft oder Personengruppe forscht, obwohl das Werk mit Realitätszeichen sein 12
Spiel treibt. Dieser Vergleich ist insofern berechtigt, weil sich unser dänischer Geschäftsweltbürger mit seinen fremdenfeindlichen Eruptionen aus dem historischen Scherbenhaufen der ehemals exklusiv gedachten und gelebten Identitätsformationen bedient wie der Kubismus oder Expressionismus aus den Ruinen des Realismus oder Klassizismus.
Kosmopolitische
Empathie
Nicht nur in der klassischen Soziologie, auch in der Soziobiologie sowie den ethnologischen Aggressions- und Konflikttheorien herrscht das Denken in Entweder-Oder-Kategorien vor. Der Modus exklusiven Unterscheidens wird als anthropologisch, biologisch, soziologisch, politologisch und logisch notwendiges Prinzip angesehen, das - jenseits alles falschen Idealismus - die Abgrenzung zwischen Gruppen aller Art - Ethnien, Nationen, Religionen, Klassen, Familien - erzwingt. Wer im naiven Glauben an die gute Sache diese »Logik« mißachtet, forciert Aggressionen - lautet das Argument. Auf diese Weise hat sich bis in die Kernbereiche der Sozialwissenschaften hinein die Legende bis heute ihre blutige Kraft bewahrt, die besagt: Das Eigene muß sich gegen das Fremde abund eingrenzen, damit Identität, Politik, Gesellschaft, Gemeinschaft, Demokratie möglich werden. Man könnte sie die territoriale Entweder-Oder-Theorie der Identität nennen. Diese unterstellt einen durch (mentale) Zäune befestigten Raum, damit sich Selbstbewußtsein und soziale Integration herausbilden können. Diese Meta-Theorie der Identität, der Gesellschaft und der Politik ist empirisch falsch. Sie ist im Kontext der sich territorial voneinander abgrenzenden Gesellschaften und Staaten der Ersten Moderne entstanden und universalisiert als methodologischer Nationalismus diese historische Erfahrung zur »Logik« des Sozialen und Politischen. Denn beispielsweise das Leiden der Menschen in anderen Zonen und Kulturen der Welt ist nicht länger der FreundFeind-Schematik unterworfen. Wer in kosmopolitischer Perspektive fragt, woraus sich der globale Protest gegen den Irak-Krieg in vielen Großstädten der Welt speiste, stößt auf kosmopolitische Empathie: Die Demonstrationen wurden vorangetrieben durch etwas, 13
was man die Globalisierung der Emotionen nennen kann: Man weiß, daß uns das 20. Jahrhundert eine unglaubliche Perfektionierung der Waffensysteme beschert hat. Man hat gelernt, daß das Töten und Sterben weitergeht, lange nachdem die Friedensverträge unterzeichnet wurden. Und wenn die Fernsehbilder der Kriegshandlungen und ihrer Opfer überall auf der Welt empfangen werden, hat man verstanden, daß Gewalt in dem einen Winkel des Globus Gewaltbereitschaft in vielen anderen Winkeln des Globus wachruft, so daß leicht unkontrollierbare militärische Kettenreaktionen entstehen. Dieses Wissen geht einher mit der ebenfalls nicht zuletzt massenmedial erzeugten Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Lage der anderen, der Opfer, hineinzuversetzen. Die Tränen, die wir verlegen in unseren Kino- oder Fernsehsesseln aus den Augenwinkeln wischen, sind zweifellos gezielt hergestellt worden durch die Kunstfertigkeit Hollywoods oder die Inszenierung der Nachrichten. Das ändert jedoch nichts daran, daß sie die Räume unserer emotionalen Imagination erweitert, transnationalisiert haben. Wenn Zivilisten und Kinder in Israel, Palästina, im Irak oder in Afrika leiden und sterben und dieses Leiden in ergreifenden Bil dern in den Massenmedien präsentiert wird, dann entsteht ein kosmopolitisches Mitleiden, das zum Handeln nötigt. »Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte, hervorgerufen durch grundlegende politische und technologische Transformationen«, schreibt Howard V. Perlmutter, »ist die Möglichkeit gegeben, daß der gleichzeitige Erfahrungsraum einer globalen Zivilisation entsteht, die charakterisiert ist durch tägliche globale Ereignisse, globale Kooperation und g lobale Empa thie. .. Der Gru nd dafür ist , daß wir Augenzeugen sind, wie die Möglichkeit eines Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizontes der einen Welt entsteht, in dem die Verschiedenheiten der Kulturen fortbestehen und die Interdependenzen wachsen ... Aus diesem historischen Blickwinkel entsteht nicht so etwas wie eine einheitliche Menschenzivilisation, die für alle gleich und global in ihrer Reichweite ist, aber es bildet sich eine enorme Variation gegensätzlicher Lebenswelten heraus.« (1994: 103) Es wäre allerdings kapitaler anzunehmen, die kosmopolitische Empathieeinersetze die Irrtum nationale Empathie. Vielmehr durchdringt, ergänzt, verändert, färbt die eine die andere. Es führte 14
zu einer unendlichen Verkettung von Mißverständnissen, wenn man einen falschen Gegensatz zwischen national und transnational konstruierte. Tatsächlich müssen das Transnationale und das Kosmopolitische als Integral der Redefinition des Nationalen und Lokalen verstanden werden. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die territoriale Theorie der Identität ein blutiger Irrtum ist, den man den Gefängnis-Irrtum der Identität nennen kann. Man muß die Menschen nicht, auch nicht in den weiten Räumen einer Nation, gegeneinander abschließen und organisieren, damit sie sich ihrer selbst bewußt werden und politisch handeln können. Vollständig außer Kraft setzen läßt sich das Gesellschaftsbild der gefrorenen, getrennten Welten und Identitäten, das die Erste Moderne national geordneter Einzelgesellschaften dominiert, erst, wenn man dem Modus exklusiven Unterscheidens den Modus inklusiven Unterscheidens gegenüberstellt, der in der Soziologie der Zweiten Moderne durchdacht, erforscht und entfaltet wird (Beck/ Bonß/Lau 2001, 2004). Um dies zu erläutern, betrachte man die Entstehung transnationaler Lebensformen durch massenmediale Vermittlung (Robins/Aksoy 2001). Auch hier wird der nationale Rahmen nicht aufgehoben. Aber die Grundlagen der massenmedialen Industrien und Kulturen haben sich dramatisch verändert, und zugleich sind alle Arten transnationaler Verbindungen und Konfrontationen entstanden. Die Konsequenz: Kulturelle Bindungen, Loyalitäten und Identitäten übergreifen nationale Grenzen und Kontrollen. Individuen und Gruppen, die transnationale Fernsehkanäle wählen und Sendungen konsumieren, leben hier wie dort. Wie können Soziologen türkisch und deutsch sprechende Transmigranten beschreiben, die zwar in Berlin leben, aber eben nicht nur in Berlin, sondern auch in transnationalen Netzwerken, Erwartungshorizonten, Ambitionen, Widersprüchen? Im methodologischen Nationalismus werden deutsch-türkische Sowohl-alsauch-Lebensformen entweder in dem einen oder dem anderen nationalen Bezugsrahmen verortet und analysiert und dadurch ihres Sowohl-als-auch-Charakters beraubt. So erscheinen sie dann als »entwurzelt«, »desintegriert«, »heimatlos«, »zwischen den Stühlen der Kulturen« lebend - werden mit Mangel- und Negativattributen gekennzeichnet, die den mononationalen Einheitsblick voraussetzen (Beck-Gernsheim 2004).
Als Gegenbild zur territorialen Gefängnistheorie von Identität, Gesellschaft und Politik lassen sich provisorisch fünf aufeinander verweisende Konstitutionsprinzipien des kosmopolitischen Blicks unterscheiden: Erstens das Prinzip der weltgesellschaftlichen Krisenerfahrung, das heißt der durch globale Risiken und Krisen wahrgenommenen Interdependenz und der daraus resultierenden »zivilisatorischen Schicksalsgemeinschaft«, die die Grenzen von Innen und Außen, Wir und den Anderen, National und International aufhebt; zweitens das Prinzip der Anerkennung weltgesellschaftlicher Differenzen und der daraus folgende weltgesellschaftliche Konfliktcharakter sowie die (begrenzte) Neugierde für die Andersheit der Anderen; drittens das Prinzip der kosmopolitischen Empathie und des Perspektivenwechsels und damit der virtuellen Austauschbarkeit der Lagen (als Chance und als Bedrohung); viertens das Prinzip der Unlebbarkeit einer grenzenlosen Weltgesellschaft und der daraus entstehende Drang, neu-alte Grenzen und Mauern zu ziehen und zu fixieren; fünftens das Melange-Prinzip, das heißt: lokale, nationale, ethnische, religiöse und kosmopolitische Kulturen und Traditionen durchdringen, verbinden, mischen sich: Kosmopolitismus ohne Provinzialismus ist leer, Provinzialismus ohne Kosmopolitismus ist blind. Man kann diese Prinzipien normativ-philosophisch, aber auch empirisch-soziologisch verstehen, auf ihre inneren Widersprüche hin durchleuchten und in ihren Konkretionen untersuchen. In gewisser Weise hat bereits Alexis de Tocqueville damit begonnen, allerdings im Blick auf das post-ständische, demokratische Amerika; seine Sätze lassen sich aber übertragen auf die postnationale Empathie. Im Zeitalter des kosmopolitischen Blicks kann, »da alle Menschen ungefähr gleich denken und fühlen, jeder sofort die Empfindungen aller anderen erschließen: Er wirft einen raschen Blick auf sich selbst, das genügt ihm. Es gibt demnach kein Elend, das er nicht mühelos verstünde und dessen Umfang ihm nicht der geheime Instinkt erschlösse. Ob es sich um Freunde oder Feinde handelt: Die Einbildungskraft versetzt ihn alsbald an deren Stelle. In sein Mitleid mischt sich persönliches Erleben, und es läßt ihn 16
selbst leiden, während man den Leib eines Mitmenschen zerreißt.« (1994: 216) Natan Sznaider überträgt diese Gedanken auf die transnationale Welt. Das imaginierte Mitleiden »spielte eine Schlüsselrolle in der Entstehung des westlichen Humanismus ... Wir sind alle Mitleidende, und wenn wir es nicht sind, sollten wir es sein. Unter demokratischen Umständen kann Mitleid sogar fast Repräsentation ersetzen. Öffentliches Mitleiden ist nicht nur eine individuelle Äußerung menschlichen Verhaltens und der Sorge für andere. Derartige Episoden menschlichen Verhaltens ereignen sich überall und zu allen Zeiten. Eine Soziologie des öffentlichen Mitleidens muß die sozialen und kollektiven Verhaltensmuster identifizieren und erforschen, nach denen unzählbar viele Menschen glauben, daß es eine der wichtigsten Sachen der Welt ist, das Leiden, die Schmerzen und die Erniedrigung anderer zu erleichtern.« (1998: 117-139) Die Welt des kosmopolitischen Blicks ist in gewisser Weise eine gläserne Welt. Hier müssen die Unterschiede, Gegensätze, Grenzen im Wissen um die prinzipielle Gleichartigkeit der Anderen definiert und fixier t werden. Die Gre nzen zum Ande ren sind nicht länger durch ontologische Andersartigkeit blockiert, verdunkelt, sondern durchsichtig. Diese unrevidierbare Gleichartigkeit öffnet einen Raum schwer eingrenzbarer Empathie und Aggressi on. Was aus beidem herrührt: Mitgefühl und Haß. Mitgefühl, weil der (nicht mehr andersartige) Andere im eigenen Gefühl, im eigenen (Er-)Leben präsent ist - Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung schließen sich Ignoranz nicht länger Haß, weil damit die Mauern institutionalisierter undaus. Feindschaft, die meine eigene Welt geschützt haben, zusammenbrechen. Beides: Mitgefühl und Haß, Grenzenlosigkeitssinn und die Sehnsucht nach alt-neuen Grenzen machen deutlich - der kosmopolitische Blick ist ein politisch ambivalenter, reflexiver Blick. Wo die scheinbar ewigen Unterscheidungen und Dichotomien steril werden, nicht weiterführen, sich auflösen und mischen, wo die Welt zu einem »babylonischen Narrenhaus« (Robert Musil) geworden ist, wo weder Staat noch Nation länger als Fetische der Epoche das Lebenkönnen, und Zusammenleben der Menschen ordnen undsich kontrollieren bleibt es den Menschen selbst überlassen, in den Ruinen der Gewißheiten, soweit es nur irgend mit dem Zusam17
menleben verträglich ist, ihren Weg zu suchen und ihre Interessen und Bindungen neu zu definieren.
Zur Unterscheidung von Globalisierung und Kosmopolitisierung Um die Realitätsräume des kosmopolitischen Blicks begrifflich zu erschließen, ist es sinnvoll, zwischen Globalisierung (bzw. Globalismus) und Kosmopolitisierung zu unterscheiden. Im öffentlichen Diskurs wird das politische Modewort »Globalisierung« weitgehend eindimensional als wirtschaftliche Globalisierung verstanden und in einem engen Zusammenhang gesehen zu dem, was man »Globalismus« nennen kann (Beck 1997). Globalismus vertritt die Idee des Weltmarkts, propagiert die Tugenden des neoliberalen Wachstums und den Nutzen, Kapital, Produkte und Menschen weitgehend ungehindert über Grenzen hinweg zu bewegen. Eben das steht der Wirtschaft und großen Teilen der Öffentlichkeit auch vor Augen, wenn von »Globalisierung« die Rede ist. Es wird argumentiert, Globalismus habe für das wirtschaftliche Wachstum in den letzten zwei Jahrzehnten weltweit, insbesondere in den sogenannten Entwicklungsländern, gesorgt, indem er in den achtziger Jahren die »Deregulierung« der Märkte herbeigeführt habe. Selbst der Widerstand gegen Globalismus bleibt diesem insofern verhaftet, als er die Macht des autonomen Nationalstaates voraussetzt, betont und verteidigt - eine Macht, die in der Ersten, nicht der Zweiten Moderne Bestand hatte. Kosmopolitisierung muß demgegenüber als multidimensionaler Prozeß entschlüsselt werden, der irreversibel die historische »Natur« sozialer Welten und den Stellenwert von Staaten in diesen Welten verändert hat. Kosmopolitisierung, so verstanden, schließt die Entstehung multipler Loyalitäten ebenso ein wie die Zunahme vielfältiger transnationaler Lebensformen, den Aufstieg nichtstaatlicher politischer Akteure (von Amnesty International bis zur Welthandelsorganisation), die Entstehung globaler Protestbeweandere gungen gegen den Globalisierung. (neoliberalen) Globalismus (kosmopolitische) Man streitetund für für die eine weltweite Anerkennung der Menschenrechte, der Arbeitsrechte, für globalen 18
Umweltschutz, für den Abbau der Armut etc. Insofern gibt es wie deformiert auch immer - Ansätze eines institutionalisierten Kosmopolitismus, zum Beispiel paradoxerweise in Gestalt der Anti-Globalisierungsbewegungen oder des Internationalen Gerichtshofs und der Vereinten Nationen. Wenn der Weltsicherheitsrat eine Resolution verabschiedet, wird das so wahrgenommen, als spreche er für die Menschheit als ganze. Aber, wird man einwenden, wird mit »Kosmopolitisierung« nicht doch letztlich einfach umgetauft, was bisher »Globalisierung« hieß? Nein - das ganze Buch gibt die Antwort auf diese Frage; soviel vorweg: Es wird genau umgekehrt die historisch irreversible Tatsache ins Zentrum gerückt, daß die Menschen zwischen Moskau und Paris, Rio und Tokyo längst in einem realexistierenden Interdependenzzusammenhang leben, an dessen Verdichtung sie durch Produzieren und Konsumieren ebenso beteiligt sind, wie die Zivilisationsrisi ken, die daraus hervorgehen, in ihren Alltag einschlagen. Wenn man fragt, welche Denker haben diese innere Kosmopolitisierung nationaler Gesellschaften vorgedacht, stößt man u. a. auf Adam Smith, Alexis de Tocqueville, John Dewey, aber auch auf die deutschen Klassiker - auf Kant, Goethe, Herder, Humboldt, Nietzsche, Marx, Simmel. Sie alle haben die Moderne als einen Übergang von frühen Konditionen relativ geschlossener Gemeinschaften zur »universellen Epoche« (Goethe) interdependenter Gesellschaften verstanden, wobei dieser Übergang wesentlich durch die Ausdehnung des Kommerzes und der Prinzipien des Republikanismus statt hat. Für Kant, mehr noch für Marx, aber in anderer Weise auch für Adam Smith und Georg Simmel war die Auflösung kleiner territorialer Gemeinschaften und die Verbreitung universalistischer sozialer und ökonomischer Interdependenz (noch nicht Riskanz!) das Merkmal, ja Gesetz der Weltgeschichte. Ihre Beschäftigung mit langen historischen Entwicklungslinien ließ es ihnen unplausibel erscheinen, daß Staat und Gesellschaft in ihrer nationalen Homogenitätsverfassung das Nonplusultra der Weltgeschichte verkörpern. Diese Erfahrung der Entgrenzung und Interdependenz hat sich inzwischen zu einem »banalen Kosmopolitismus« verdichtet und 19
veralltäglicht - vergleichbar dem »banalen Nationalismus«, der für die Erste Moderne charakteristisch ist (und sich beispielsweise im Schwenken nationaler Fähnchen äußert). Ein kleines Beispiel, das aber Bände spricht, mag das veranschaulichen: die moderne Odyssee der srcinal indischen Küche. Wer dem Markenzeichen »indisches Restaurant« zu entnehmen können glaubt, die indische Küche stamme aus Indien, der irrt. Die Inder in Indien kennen in ihrer Tradition kein öffentliches Restaurant. Das »indische Restaurant« ist - wie der britische Soziologe Zuabaida berichtet - eine Erfindung der in London lebenden Bengalen, einschließlich der Exotik »indischer Gerichte«, die nun weltweit als Botschafter indischer Traditionen zelebriert und konsumiert werden. Auf dem Wege ihrer Globalisierung wurde das Restaurant und seine besondere Speisekarte schließlich auch nach Indien exportiert, was am Ende die Privathaushalte in Indien dazu anregte, gemäß den Londoner Kompositionen indisch zu kochen.folgend, So kamindisch es, daß speisen man heute selbst in Indien, dem Ursprungsmythos kann. Banaler Kosmopolitismus zeigt sich ganz konkret und alltäglich darin, daß die Unterscheidungen von Wir und den Anderen, national und international durcheinander gewirbelt werden. Das Kleine, Vertraute, Nachbarschaftliche, Umgrenzte und Befestigte: das eigene Schneckenhaus wird zum Tummelplatz universeller Erfahrungen; der Ort - sei es Manhattan oder Masuren, Malmö oder München - wird zum Ort von Begegnungen, Durchdringungen oder auch eines beziehungslosen Nebeneinanders und Ineinanders von Weltmöglichkeiten, die dazu zwingen, das Verhältnis von Ort und WeltWeltgefahren, zu überdenken.
Kosmopolitisches München Ich lebe in München. Wenn es richtig ist, daß der kosmopolitische Blick die kosmopolitischen Potenzen der Provinz aufdeckt, dann muß sich das auch am Beispiel Münchens zeigen lassen: Was meint kosmopolitisches München? Zunächst - im Sinne des banalen Kosmopolitismus - Bayern Thomas Mann schreibt:München. »München leuchtet.« Vielleicht darf man Thomas Mann trivialisieren: Bayern München leuchtet - jedenfalls 20
dann, wenn die Fußbal l-Profis dieses weltberühmten Clubs schöne Tore schießen. Steht Bayern München, stehen DIE Bayern für Bayern? Ohne jeden Zweifel. Stehen DIE Bayern für »wir sind wir« oder - wie es auf Bayerisch heißt - »mir san mir« ? Niemals! Ausgeschlossen! Wer schießt die Tore? Oft genug ein Brasilianer, dessen Ballzauber dem Münchner Fußball-Club Weltklasse verleiht. Bayern-Spieler sind selbstverständlich ursprünglich weder Bayern noch Münchner, sondern vielfältigen nationalen Ursprungs, sprechen mit vielen Zungen, haben viele Pässe. Worauf manche in Bayern so großen Wert legen: Mir san mir und die Anderen die Anderen, gilt dort nicht, wo das Bayerische Herz schlägt. Bayern München steht fü r ein profan-kosmopoli tisches Wir, in dem di e Gren zen von innen und außen, von national und international längst überwunden sind. Bayern München symbolisiert ein kosmopolitisches Bayern, das es in Bayern offiziell weder geben darf noch geben kann, nur gibt. Mehr noch: Ohne diesen selbstverständlichen Kosmopolitismus gäbe es DIE Bayern, also Bayern, nicht. Schriftsteller, die unter anderem auch über München geschrieben haben und weit über München hinaus berühmt geworden sind - Thomas Mann, L ion Feuchtwa nger und Oskar Maria Gr af-, repräsentieren in ihrer Person und in ihren Werken drei Traditionslinien eines »verwurzelten Kosmopolitismus«, eines Kosmopolitismus, der zugleich »Wurzeln« und »Flügel« hat; nämlich erstens einen nationalen Kosmopolitismus (Thomas Mann), zweitens den deutsch-jüdischen Kosmopolitismus (Lion Feuchtwanger) sowie drittens den katholischen Kosmopolitismus (Oskar Maria Graf). In seinen unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges niedergeschriebenen Betrachtungen eines Unpolitischen ringt Thomas Mann mit der Frage: Was bedeutet Kosmopolitismus? Er findet Worte der Abgrenzung - »nicht polyglotte Geübtheit und mondäner Dilettantismus«, nicht »pazifizierte Esperanto-Erde«, aber auch positive Bestimmungen: »Begegnungen«, »Durchdringungen«, mehr noch: »Weltsinn« und dann sogar, die Globalisierungsdebatte vorwegnehmend: »Grenzenlosigkeitssinn«. Er verwirft die Alternative Nationalismus versus Internationalismus und formuliert die Position eines des geistigen Deutschland, wobei er sichNationalkosmopolitismus der darin eingebauten Ambivalenzen sehr wohl bewußt ist. Entsprechend betont er, daß »es beinahe
zur deutschen Humanität gehört, sich undeutsch, und selbst antideutsch aufzuführen; daß eine den Nationalsinn zersetzende Neigung zum Kosmopolitischen nach maßgeblichem Urteil vom Wesen der deutschen Nationalität untrennbar ist; daß man seine Deutschheit möglicherweise verlieren muß, um sie zu finden; daß ohne einen Zusatz von Fremden vielleicht kein höheres Deutschtum möglich« ist (Thomas Mann 1983: 71). Thomas Mann betont also das Melange-Prin zip, das Sowohl-alsAuch von Kosmopolitismus und Nationalismus. Dabei trifft er eine problematische Unterscheidung zwischen »deutschem Weltbürgertum« und »demokratischem Internationalismus«. »Ob deutsches Weltbürgertum nicht etwas anderes ist, als demokratischer Internationalismus, und ob solches Weltbürgertum sich nicht mit tiefer nationaler Gebundenheit sehr wohl verträgt.« (Ebd.: 152) Wie leicht dieser geistesbürgerliche National-Kosmopolitismus in Dünkel und Ignoranz umschlagen kann, zeigt sich, wenn er Philosophie mit deutscher Philosophie gleichsetzt: »Kann man Philosoph sein, ohne deutsch zu sein?« (Ebd.: 92) In seinem Roman Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz (1930, 1993) läßt Lion Feuchtwanger ein Stück bayerischen, münchnerischen Kosmopolitismus aufleben, und zwar beispielsweise in der Charakterisierung des Münchner Geheimrats Sebastian von Gruber, Initiator des Münchner Museums für Technik, von dem es heißt: »Er war Bayer und Weltbürger zugleich, ein Typ, zu dem man gewiß den ganzen Schlag des Landes erziehen konnte, wenn man ihn nur von der schwerfälligen Überschätzung seiner blöden Erfolg ist aus Landhockerei abbrachte.« (1993: 505) einem kosmopolitischen Blickwinkel heraus geschrieben; zum einen, indem die Personen im Rückblick, aus der Zukunftsperspektive des Erzählers, vorgestellt werden; zum anderen, als sich hier eine harsche Kritik des in der Weimarer Republik wachsenden aggressiven Scheuklappen-Nationalismus findet: »Die Bevölkerung des Planeten zählte in jenen Jahren 1800 Millionen Menschen, darunter etwa 700 Millionen Weißhäutige. Die Kultur der Weißhäutigen wurde für besser gehalten als die der anderen, Europa als der beste aufgerichtet, Teil der Erdesehr ... Die Weißen hatten unter sich galt vielerlei Grenzen willkürliche. Sie redeten verschiedene Sprachen ... Man bekriegte sich beispiels22
weise aus nationalen Gründen, das heißt deshalb, weil man an verschiedenen Punkten der Erdoberfläche geboren war. Man schaltete den Gruppenaffekt ein, erklärte es für eine Tugend, Menschen, die außerhalb der eigenen von Behörden festgesetzten regionalen Grenzen geboren waren, für minderwertig zu halten und in gewissen, von der Regierung bestimmten Zeiten, auf sie zu schießen. Solche den Kindern von früh gelehrte und ähnliche Tugenden faßte man zusammen unter dem Begriff Patriotismus.« (Ebd.: 203) Wir haben hier noch einmal bilderbuchartig eine Kritik der nationalen Gefängnistheorie menschlicher Existenz: Eine völlig willkürliche, administrative Grenze führt, je nachdem auf welcher Seite man geboren wurde, dazu, daß man entweder Freund oder Feind ist, diese oder jene Sprache spricht, dieses oder jenes nationale Schicksal sich zu eigen macht und, wenn es der Befehl will, sich mit den Nachbarn verbündet oder diese - als Heldentat! - erschießt. Feuchtwanger verweist auf diegegenüber Überlegenheit des Nomadendaseins, der jüdischen Diaspora der Schollenbindung: »Überall ist heute der Nomade der wichtigere, lebensfähigere Typ geworden, der den schwerfälligen Bauern verdrängt... Was früher den Juden von ihren Gegnern als ihre verächtliche Eigenschaft vorgeworfen wurde ..., das erweist sich plötzlich als ungeheurer Vorzug. Daß sie seit Jahrhunderten umgetrieben wurden, daß sie sich immerzu neuen Menschen, neuen Verhältnissen anpassen mußten, macht sie in einer rasch veränderlichen Zeit schnellsten Verkehrs denen überlegen, die sich nur auf ihrer Scholle bewegen können.« (Feuchtwanger Umgekehrt gilt: National fanatische Abschließung führt1984: zur465) Verödung, Beschränkung, Verarmung, Schwächung, ist also letztlich anti-national. Noch während des Zweiten Weltkrieges, zwischen 1942 und 1943, konzipiert der damals in New York, lebende Exil-Bayer Oskar Maria Graf einen in vielerlei Hinsicht merkwürdigen Zukunftsroman, der zunächst verschiedene Titel, u. a. Die Eroberung der Welt, trägt, in der zweiten Auflage dann den Titel Die Erben des Untergangs erhält. Hier wird die totale Katastrophe, die Tabula rasa der Negativerfahrung, zur Voraussetzung für eine kosmopolitische Weltordnung. »Aus Verlorenheit und und einem Grauen überall ohne gleichen kamen andere wandernde Scharen begannen so ... Langsam, gleich Waben, fügten sich die Millionen der Parias 23
aller Länder in die unendlichen Flächen der Kontinente. Wie hatte vor langer, langer Zeit einmal ein vielbelachter Mann gesagt? >Hunger und Hände und Erde sind da! Alle drei sind von Natur aus da!< Etwas Entscheidendes geschah: Zum Boden, der seit jeher allen Anfang birgt, hatten die Geretteten zurückgefunden! Und Heimat war aufGraf, einmal (Ebd.: 44f.) der die sichganze selbstWelt!« als »religiösen Sozialisten« bezeichnet, visioniert einen zugleich demokratischen und kosmopolitischen Katholizismus: »Im Zerfall und Verlorensein hatte sich auch der Katholizismus tiefgreifend gewandelt und das eng Kirchliche, das betont Dogmatische verloren. Im grundsätzlichen Gegensatz zur Vergangenheit wählten jetzt die Gläubigen den Papst, die Bischöfe und Priester unmittelbar aus ihrer Mitte.« (Ebd.: 362) In seinem Lieblingszitat aus Tolstois Traktat Christentum und Vaterlandsliebe spiegelt sich Oskar Maria Grafs eigene Haltung: »Wenn die Menschen es dochVaterländer, endlich begreifen daß sie nicht irgendwelcher sondernwürden, die Kinder Gottes sind!«Kinder Und an anderer Stelle heißt es: »Provinziell muß die Welt werden, dann wird sie menschlich.« (Ebd.: 578) Es gibt also, allein in München, nicht nur einen Kosmopolitismus, sondern viele Kosmopolitismen, genauer: mit lokalen ethnischen, religiösen und nationalen Traditionen sich mischende Kosmopolitismen. Es ist kein Zufall, daß diese drei in München verwurzelten kosmopolitischen Schriftsteller zu Exil-Schriftstellern (gemacht) wurden: Der Grundstein kosmopolitischen nicht in München, sondern des im Exil gelegt worden,München zu einer ist Zeit, als München zur anti-kosmopolitischen »Hauptstadt der Bewegung« wurde, in der der staatlich organisierte Rassenwahn seinen Ausgang nahm. Das kosmopolitische München steht für die institutionalisierte Erinnerung daran, für den Perspektivenwechsel. Es ist das historisch bewußte München, ein München, das im Bruch mit seiner Vergangenheit lebt, das seine Identität aus der Diskontinuität seiner Geschichte schöpft. Das kosmopolitische München steht in reflexiver Distanz zu sich selbst, gewinnt daraus seine Weltwachheit, begrüßt und feiert also München den Reichtum der 180 Nationen, die in München zusammenleben, ausmachen, leuchten lassen. Was also meint kosmopolitischer Blick? Nicht die Morgenröte 24
der allgemeinen Völkerverbrüderung, nicht das Heraufdämmern der Weltrepublik, nicht einen freischwebenden Weitblick, keine verordnete Fremdenliebe. Kosmopolitismus ist auch kein Supplement, das Nationalismus und Provinzialismus ersetzen soll, und zwar schon deswegen nicht, weil die Idee der Menschenrechte und der Demokratie einen nationalen Boden benötigen. Kosmopolitischer Blick meint: In einer Welt globaler Krisen und zivilisatorisch erzeugter Gefahren verlieren die alten Unterscheidungen von innen und außen, national und international, Wir und die Anderen ihre Verbindlichkeit, und es bedarf eines neuen, kosmopolitischen Realismus, um zu überleben. Dieses Buch ist im engsten Gesprächszusammenhang und Ideenaustausch mit Daniel Levy und Natan Sznaider entstanden, deren zahlreiche Anregungen ich aufgenommen habe und die meine Entwürfemit immer wieder kommentiert haben. So werden diesem Buch hochanregend auch Ergebnisse unseres gemeinsamen Forschungsprojektes im (von der DFG finanzierten) Sonderforschungsbereich »Reflexive Modernisierung« vorgestellt (siehe auch Beck/Levy/Sznaider 2004). Dieses Forschungsprojekt ist selbst ein Exempel dafür, wovon dieses Buch handelt: Daniel Levy lehrt Soziologie an der State University of New York, Stonybrook, Natan Sznaider an dem Academic College of Tel Aviv und ich in München und London. Ohne diesen grenzenübergreifenden Erfahrungs- und Kooperationszusammenhang - der auch Michael Pollak, Soziologe Editor in New York, zahlreiche legen der Londonund School of Economics andsowie Political ScienceKoleinschließt - wäre dieses Buch nicht möglich geworden. Auch Edgar Grande, Boris Holzer und Angelika Poferl haben einzelne Kapitel sorgfältig und sehr anregend kommentiert, wofür ich herzlich danke. Schließlich hat dieses Buch viel davon profitiert, daß Elisabeth Beck- Gernsheim parallel zu unseremThema ihr Buch Wir und die Anderen geschrieben hat. Daß die vorliegende Schrift Moment einer größeren Forschungsunternehmung ist, wird durch den Band »Entgrenzung und Entscheidung« (herausgegeben von mir und Christoph Lau)gen-Sti dokumentiert. Die Volkswa ftung hat großzügig me ine Arbeit an diesem Buch unterstützt - auch dafür sei herzlich gedankt. 25
ERSTER TEIL Der kosmopolitische Realismus
Kapitel I Weltsinn, Grenzenlosigkeitssinn: Zur Unterscheidung von philosophischem und sozialwissenschaftlichem Kosmopolitismus 1. Was ist neu am kosmopolitischen Blick? Im Umgang mit dem Rätselwort »Globalisierung« in den Sozialwissenschaften lassen sich drei Phasen unterscheiden: erstens Leugnung, zweitens begriffliche Präzisierung und empirische Erforschung, drittens epistemologische Wende. In einer ersten Reaktion leugnete der Mainstream die Realität oder Relevanz der (wirtschaftlichen) Globalisierung und erklärte alles, was an Phänomenen unter dem Stichwort »Globalisierung« auf die sozialwissenschaftliche Agenda geriet, für historisch nicht neu. Derartige Wegerklärungen verloren an Glaubwürdigkeit, als Sozialwissenschaftler der verschiedensten Disziplinen sich zweitens an die Aufgabe machten, Globalisierungsphänomene begrifflich zu zerlegen und in den theoretischen und empirischen Themen der Sozialwissenschaften zu verorten (z.B. Held u.a. 1999; Beisheim/Zürn u.a. 1999; Beck 1997; Randeria 2001; Sassen 2003 und viele mehr). In dem Maße, in dem dies gelang, kristallisierte sich drittens eine epistemologische Wende heraus: Es griff die Einsicht um sich, daß dieDisziplin Untersuchungseinheiten der wenn jeweiligen sozialwissenschaftlichen kontingent werden, die Unterscheidungen von innen und außen, von national und international, von lokal und global, von Wir und den Anderen sich verwischen. (Gille/Riain 2002; Brenner 2000; Schmitt 2001; Beck 2002,2003 und viele andere mehr). Was geschieht - so lautet die Fragestellung der epistemologisch gewendeten Globalisierungsforschung -, wenn die Prämissen und Grenzen, die diese Einheiten bestimmen, zerfallen? Die Antwort, die dieses Buch gibt, lautet: Eine ganze Begriffswelt, nämlich die des »nationalen Blicks«, wird entzaubert, das heißt de-ontologisiert, historisiert, inneren entkleidet. Dies zu begründen und inihrer seinen FolgenNotwendigkeit zu durchdenken, gelingt allerdings nur im Bezugsrahmen einer interpretativen Alternative, die Onto29
logie durch Methodologie ersetzt - die im Denken und im Handeln vorherrschende nationalstaatliche Ontologie und Imagination durch das, was ich einen »methodologischen Kosmopolitismus« nennen möchte. Die Grundlagen für diese Perspektive sollen in diesem Kapitel in drei Schritten gelegt werden: Im ersten Teil unterscheide ich zwischen verschiedenen Arten von »Kosmopolitismus«: Am verbreitetsten ist die Interpretation, die für Harmonie über kulturelle und nationale Grenzen hinweg plädiert (»normativer Kosmopolitismus« oder »philosophischer Kosmopolitismus«). Dieses normative Verständnis ist zu unterscheiden von einer deskriptiv-analytischen Perspektive der Sozialwissenschaften, die sich freimacht von nationalen Kategorien (der »kosmopolitische Blick« oder »analytisch-empirischer Kosmopolitismus«). In dieser Perspektive kann die Zunahme der Interdependenz sozialer Akteure über nationale Grenzen hinweg beobachtet werden, wobei die Besonderheit darin liegt, daßNebenfolgen diese »Kosmopolitisierung« als ungewollte und ungesehene von Handlungensich durchsetzt, die nicht als »kosmopolitisch« im normativen Sinne intendiert sind (»real existierende Kosmopolitismen« oder die »Kosmopolitisierung der Wirklichkeit«). Unter bestimmten Bedingungen führt der letzte Typ der »Kosmopo litisierung« zur Entstehung von globalen Foren der Diskussion, und es bilden sich globale Regime heraus, die mit transnationalen Konfliktfragen befaßt sind (»institutionalisierter Kosmopolitismus«). Im zweiten Teil konzentriere ich mich auf den wachsenden Widerspruch zwischen »methodologischem Nationalismus« realer Kosmopolitisierung. Der dritte Teil entwirftund eine »neue Grammatik«, das Theorieund Forschungsprogramm einer »kosmopolitischen Sozialwissenschaft« und entwickelt exemplarisch vier Themenbereiche, auf die dieser Wechsel der Perspektiven hin zu einem »methodologischen Kosmopol itismus« sich konzentrieren soll: Die R isiken der modernen Gesellschaft sind ihrer inneren Logik nach transnational, und alle Versuche, sie zu kontrollieren, führen zu globalen Konfliktarenen und Debatten. Auch erlaubt der kosmopolitische Blick, die Vielfalt der Interdependenzen nicht nur zwischen Staaten, sondern auch zwischen anderen Darüber Akteurenhinaus auf verschiedenen Aggregationsebenen zu analysieren. kann die denationalisierte Sozialwissenschaft einen neuen Blick auf globale (»glokale«) Un3°
gleichheiten werfen. Schließlich lassen sich verschiedene Arten mehr oder weniger »banaler Kosmopolitisierung« unterscheiden und darauf hin befragen, unter welchen Bedingungen sie als solche bewußt werden. 1
1.1 Zur Unterscheidung von philosophischem Kosmopolitismus und sozialwissenschaftlicher Kosmopolitisierung Mit der Konzentration auf den analytisch-empirischen Kosmopolitismus, nämlich auf den Nachweis der epistemologischen Notwendigkeit des kosmopolitischen Blicks für eine entgrenzte Welt, wird ein neues Feld des Forschens und der Kontroversen erschlossen: der Wirklichkeitskosmopolitismus am Beginn des 21. Jahrhunderts. Dafür ist es erforderlich, nicht nur neue Kategorien zu finden, sondern die Grammatik des Sozialen und des Politischen umzuschreiben: Das aufregend Unerledigte ist der neue Satzbau, der kosmopolitische Satzbau der Wirklichkeit. 2 Der nationale Blick, die nationale Grammatik wird falsch, verkennt, daß politisches, ökonomisches und kulturelles Handeln samt seinen (gewußten und ungewußten) Folgen keine Grenzen kennen, ja nicht einmal der Tatsache Rechnung tragen kann, daß selbst dort, wo sich der Nationalismus an der Globalität wieder entzündet, dies nur in kosmopolitischer Perspektive begriffen werden kann. Die Erfahrungderder realen Entgrenzung, die den Reflex der Wiedereinzäunung, neonationalen Wiedereinmauerung auslöst, setzt zu ihrer Analyse den kosmopolitischen Blick voraus. Das, was in den in ihrem Eigensinn bedrohten Nationen unter dem Warum und Wohin zweifelt und kränkelt, kann nur im Zusammenhang, im Zusammenhandeln beantwortet werden. Kosmopolitischer Realismus schließt aber auch den Blick für die Unerbittlichkeit, Unheiterkeit, für die Grausamkeit, Bösartigkeit, Inhumanität 1 Zur Unterscheidung von Globalisierun g und Kosmopo S. 18 ff. 2 Siehe dazu das hervorragende Buch von Sigrid Thielking (2000), Weltbürgertum: Kosmopolitische Ideen in Literatur und politischer Publizistik, München, dem auch dieses Kapitel viel verdankt. 3
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ein, die mit dem Verschwimmen den Grenzen zwischen Wir und den Anderen auch zum Ausdruck und Ausbruch kommen. In der nationalen Moderne konnte der Kosmopolitismus nur im Kopf regieren, allein begriffen, nicht gelebt werden. Der Nationalismus dagegen schlug im Herzen. Dieser Kopf-Herz-Dualismus wird in der Zweiten Moderne umgewertet. Der Alltag ist auf banale Weise kosmopolitisch geworden, während in den Köpfen (selbst in den Theorien und Forschungsroutinen der avancierten Sozialwissenschaften) die Suggestivbegrifflichkei t des Nationalen fa st ungebrochen ihr Spukunwesen treibt. Gemäß der Unterscheidung zwischen Philosophie und Praxis unterscheide ich in diesem Buch zwischen Kosmopolitismus und realexistierender Kosmopolitisierung. Der springende Punkt dieser Unterscheidung liegt darin, die Behauptung, der Kosmop olitis mus sei eine bewußte und freiwillige (oft sogar elitäre) Wahl, zurückzuweisen. »Kosmopolitisierung« darauf aufmerksam machen,Der daßBegriff das Kosmopolitischwerden dersoll Wirklichkeit sich auch oder sogar eher als eine erzwungene Wahl oder als Nebenfolge unbewußter Entscheid ungen dur chsetzt 3: Die Wahl, ein »Ausländer«, »Fremder« zu werden oder zu bleiben, erfolgt meist nicht freiwillig, sondern ist die Konseque nz der No t, der Flucht vor politisc her Verfolgung oder des Versuchs, nicht zu verhungern. Oder Kosmopolitisierung passiert die Grenzen als blinder Passagier z.B. ganz normaler Marktentscheidungen: Jemand begeistert sich für PopMusik oder ißt gerne »indische« Gerichte; andere versuchen, globalen Risiken wieder durch andere Müllsortieren oderihrSpeisezettel-Manöver auszuweichen; investieren Geld in Staaten, die dem neoliberalen Idealbild weltmarktkonformer Politik gehorchen. »Kosmopolitisierung« meint in diesem Sinne latente Kosmopolitismen, unbewußte Kosmopolitismen, passive Kosmopolitismen, die als Nebenfolgen des Welthandels oder globaler Gefahren (Klimakatastrophe, Terrorismus, Finanzkrisen) die Wirklichkeit formen. Meine Existenz, mein Körper, mein »eigenes Leben« werden Teil einer anderen Welt, fremder Kulturen, Religionen, Historien und globaler Interdependenzrisiken, ohne daß ich es weiß und ausdrücklich will.
3 Die Zweite Moderne a ls »Zeitalter der Nebenf olge« zu begreifen, wird ausgeführt in U. Beck (1996); Beck/Bonß/Lau (2001); Beck/Holzer/Kieserling (2001). 32
Ein in diesem Sinne »banaler« Kosmopolitismus vollzieht sich unter der Oberfläche, hinter den Fassaden fortexistierender nationaler Räume, Souveränitäten, Etikettierungen, obwohl national geflaggt ist, nationale Einstellungen, Identitäten und Bewußtseinsformen dominieren. Diese Latenz macht Kosmopolitisierung gemessen an denvernachlässigenswert, hohen Standards ethischer und akademischer Moral - »trivial«, ja, dubios. Etwas, das als elitärer Anspruch durch die Weltgeschichte stolziert ist, kann sich nicht durch die Hintertüre in die Wirklichkeit von Gesellschaft und Politik einschleichen. Das darf nicht wahr sein! Heißt es nicht, einen blanken Widerspruch zu behaupten, wenn man annimmt, daß unbewußte oder halbbewußte, erzwungene Migrations- und Minderheiten-Kosmopolitismen, Kosmopolitismen der globalisierten Produktion und des globalisierten Konsums, der globalen Bewegungen und Zivilisationsrisiken die nationalstaatliche Welt von unten und innen unterwandern und verändern? Nein, realexistierende sind deformierte Kosmopolitismen. Sie werden - so argumentiert Scott L. Malcomson - von Individuen getragen, die sehr begrenzte Möglichkeiten haben, um für etwas Größeres einzutreten, als ihnen ihre Herkunft vorgibt. »Die Entscheidung, in einen politischen Raum aufzubrechen, der größer ist als der lokale, kann manchmal der Muße entstammen, kommt aber weitaus häufiger unter Bedingungen des Zwanges zustande. Im engeren Sinne durch den Markt vermittelte Entscheidungen ergeben sich meist aus demEntscheidungen, Wunsch, nicht arm sein,Konsum oder einfach Tod zu entkommen. diezudem des dem Vergnügens dienen, beruhen auf einer Palette von Optionen, die meistens jenseits der Kontrolle des individuellen Konsumenten liegen. Derartige Zwänge erklären vielleicht teilweise, warum die Masse realer Kosmopolitismen kaum die Aufmerksamkeit akademischer Diskussionen über Kosmopolitismus erregen: Wer argumentiert, daß die Wahl des Kosmopolitismus in einem bestimmten Sinn selbstbetrügerisch ist und unter Nötigung erfolgt, nimmt ihm viel von seiner ethischen Attraktivität. Wenn Kosmopolitismus beides:
unbestimmbar und unvermeidbar ist, dannGerade ist erdas scheinbar kein geeigneter Gegenstand für Theoriebildung. aber, denke ich, ist normalerweise der Fall.« (Ebd.: 240) Das heißt also: Kosmo33
politismus im Sinne Kants meint ein Aktivum, eine Aufgabe, nämlich die Welt zu ordnen. Kosmopolitisierung dagegen öffnet den Blick für unkontrollierbare Passiva, für etwas, das uns geschieht, widerfährt. Daraus nährt sich die Sicht, die Globalisierung für eine Geißel der Menschheit hält, sowie die Versuchung, sich in einer Opferrolle einzurichten - als Opferusw. der Es USA, des Westens, des Kapitalismus, des Neoliberalismus entsteht der paradoxe Eindruck: Alle erleiden scheinbar irgendwie ein Minderheitenschicksal, das Schicksal einer vom Aussterben bedrohten Spezies. Selbst Mehrheiten fühlen sich heimatvertrieben, wie Fremde im eigenen Land. »Denn alle Gemeinschaften und alle Kulturen haben den Eindruck, es mit übermächtigen Gegnern zu tun zu haben und ihr Erbe nicht unbeschadet bewahren zu können. Aus der Perspektive des Südens und Ostens ist es der Westen, der dominiert; von Paris aus gesehen, ist es Amerika; wenn man sich jedoch in die Vereinigten Staaten begibt, was sieht man? Minderheiten, die die ganze Vielfalt der Welt widerspiegeln und die alle das Bedürfnis bekunden, ihre ursprüngliche Zugehörigkeit zu behaupten. Und nachdem man alle diese Minderheiten besucht und tausendmal gehört hat, daß die Macht in den Händen männlicher Weißer ruhe, in den Händen angelsächsischer Protestanten, wird Oklahoma City plötzlich von einer ungeheuren Bombenexplosion erschüttert. Wer sind die Täter? Eben jene männlichen, weißen, angelsächsischen Protestanten, die ihrerseits überzeugt sind, daß sie die von allen am meisten vernachlässigte und verhöhnte Minderheit seien und daß mit(Maalouf der Globalisierung die Stunde geschlagen habe.« 2000: 109>ihrem f.) Die Amerika< Praxis dieser Verschwörungstheorie aber ist der Terrorismus. Kein Zweifel, ein erlittener, unfreiwilliger ist ein deformierter Kosmopolitismus. Daß die realexistierenden Kosmopolitismen nicht erkämpft, gewählt, als Edelfort schrit t, im Glän ze moralischer Aufklärungsautorität, sondern deformiert, profan, in der Dunkelheit und Anonymität der Nebenfolge auf die Welt gekommen sind, ist eine wesentliche Einstiegseinsicht des sozialwissenschaftlich gewendeten kosmopolitischen Realismus. Ein nicht deformierter Kosmopolitismus entsteht demgegenüber aus dem Gefühl, ein Teil des zivilisatorischen Experiments Menschheit zu seinselbst - mit einer eigenen Sprache und Symbolen der eigenen Kultur oder mit 34
eigenen Taten zur Abwehr globaler Gefahren daran Anteil zu nehmen, also einen Beitrag zur Weltkultur zu leisten.
1.2
Zur Unterscheidung von (latenterj Kosmopolitisierung
und kosmopolitischem Blick Die Wirklichkeit wird in ihrem Kern kosmopolitisch, während unsere Den k- und Bewußtseinsformen sowie die Autobahnen, au f denen die akademische Lehre und Forschung rollen, das Unwirklichwerden der nationalstaatlichen Welt überspielen. Eine Kritik jener Unwirklichkeitswissenschaft des Nationalen, die sich universalistisch kostümiert, aber ihre Herkunft aus dem nationalen Erfahrungshorizont weder leugnen noch abstreifen kann, setzt den kosmopolitischen Bl ick und seine methodologische Ent faltu ng Kosmopolitisierung voraus. Wie aberund unterscheiden sich (latente) der Wirklichkeit kosmopolitischer Blick ? Das ist eine diffizile Frage, die uns in diesem Buch verschiedentlich beschäftigen wird; im Kern jedoch läßt sie sich so beantworten: Die (erzwungene) Vermischung der Kulturen ist weltgeschichtlich nicht neu, im Gegenteil, die Regel: Raub- und Eroberungszüge, Völkerwanderungen, Sklavenhandel und Kolonisation, Weltkriege, ethnische Säuberungen, Umsiedelungen und Vertreibungen. Von Anfang an forderte der sich entfaltende Weltmarkt die globale Vermischung und setzte sie notfalls gewaltsam durch, wie die Öffnung Japans und Chinas im 19. Jaund hrhundert Das Kapital reißt»Fremde« alle nationalen Grenz en nieder wirbelt zeigt. das »Eigene« und das durcheinander. Neu ist also nicht die erzwungene Melange, sondern ihr Bemerken, ihr Selbstbewußtsein, politisches Auftrumpfen, ihre weltöffentliche Reflexion und Anerkennung - in den Massenmedien, in den Nachrichten, in den globalen Sozialbewegungen der Schwarzen, der Frauen, der Minderheiten, in der Hochkonjunktur alter Begriffe wie »Diaspora« in den Kulturwissenschaften. Es ist diese soziale und sozialwissenschaftliche Reflexivität, die den »kosmopolitischen Blick« zum Schlüsselbegrif f und -thema der reflex iven, 4
Zweiten Moderne macht. 4 Siehe dazu in diesem Kapitel S. 54ff. sowie Kapitel II, 2.8. 35
1.3 Zur Unterscheidung von Kosmopolitisierung und institutionalisiertem Kosmopolitismus Schließlich ist nicht nur die Unterscheidung zwischen Kosmopolitisierung und kosmopolitischem Blick, sondern auch die zwi-
institutionalisiertem Kosmopolitisschen Kosmopolitisierung undBedingungen, mus wichtig: Unter welchen in welchen Grenzen, durch welche Akteure kommt es dennoch dazu, daß bestimmte politische Prinzipien des Kosmopolitismus umgesetzt und auf Dauer gestellt werden? Paradigmatisch kann diese Frage im Rahmen der Theorie der Weltrisikogesellschaft bearbeitet und beantwortet werden. Mit der Wahrnehmung globaler Interdependenzrisiken wachsen die Konfliktzwänge, Möglichkeiten und Widerstände - zum Beispiel in der Umweltpolitik und in der Menschenrechtspolitik -, zu kosmopolitischen Lösungen zu kommen. Irgendwann in der nicht weit zurückliegenden hat sich ein qualitativer Wandel in der Wahrnehmung Vergangenheit sozialer Ordnung ereignet. Diese wi rd nicht länger primär als ein Kon flikt um die Pro duktion und Verteilung von »goods« verstanden, vielmehr widersprechen die Produktion und Verteilung von »bads« dem Kontrollanspruch der etablierten nationalstaatlichen Institutionen. Dieser kategoriale Wandel in der Selbstwahrnehmung hat die Art, in der moderne Gesellschaft en ihre Institutionen und Fun ktionen organisieren, in eine globale Interdependenzkrise gestürzt, die politisch ganz verschiedenwertige Aus druck sform en angenommen hat - Kli mawandel (»R isiko Aids Sonne«), Armu t, transnationaler Terrorismus, BS E-Krise, usw.globale Diese Interdependenzkrise nenne ich »Weltrisikogesellschaft«. Das stürzt auch die Sozialwissenschaften und die politische Theorie in eine Krise, die in einer Kombination von Karl Marx und Max Weber moderne Gesellschaften als kapitalistisch und rationalistisch begreifen. Es ist diese Entgrenzung zivilisatorisch erzeugter und interdependenter Unsicherheiten und Gefahren und die daraus entstehende Dominanz der öffentlichen, massenmedial inszenierten Risikowahrnehmung, die den epochalen Unterschied ausmachen. In der Weltrisikogesellschaft geht es dementsprechend auf über allendas Ebenen um die zwanghafte schung von Kontrolle Unkontrollierbare - in der VortäuPolitik, im Recht, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, im Alltag. 36
In räumlicher Hinsicht sehen wir uns mit Risiken konfrontiert, die keine Rücksicht auf nationalstaatliche oder andere Grenzen nehmen: Klimawandel, Luftverschmutzung und Ozonloch betreffen alle (wenn auch nicht in gleicher Weise). Analoges gilt für die zeitliche Entgrenzung: Die lange Latenzperiode von Problemen, wie z.B. bei der Beseitigung nuklearen Abfalls oder den Auswirkungen genmanipulierter Nahrungsmittel, entzieht sich den gängigen Routinen des Umgangs mit industriellen Gefahren. In der sozialen Dimension schließlich wird die Zurechnung von Gefährdungspotentialen und damit die Haftungsfrage zum Problem: Wer in einem rechtlich relevanten Sinne Umweltverschmutzung (oder auch: eine Finanzkrise) »verursacht«, ist schwer festzustellen, da diese aus dem Zusammenwirken vieler Einzelner entsteht. Zivilisatorische Gefahren stellen sich daher als weitgehend deterritorialisiert, dabei schwer zurechenbar und nationalstaatlich kaum kontrollierbar dar. mindestens drei verschiedene Konfliktachsen der Es müssen Weltrisikogesellschaft unterschieden werden: erstens ökologische Interdependenzrisiken, die aus sich heraus eine globale Dynamik freisetzen; zweitens ökonomische Interdependenzrisiken, die zunächst individualisiert und nationalisiert werden; sowie drittens die Bedrohung durch terroristische Interdependenzrisiken. Bei allen Unterschieden haben ökologische, ökonomische und terroristische Interdependenzrisiken ein wesentliches Merkmal gemeinsam: Sie können nicht als externe Risiken der Umwelt zugerechnet werden, müssen verstanden als zivilisatorisch Folgen, Taten und sondern Unsicherheiten werden.fabrizierte Insofern schärfen Zivilisationsrisiken potentiell ein globales Normenbewußtsein, stiften Öffentlichkeit und ermöglichen einen kosmopolitischen Blick. In der Weltrisikogesellschaft - so die These entzünden sich an der Frage nach den Ursachen und Verursachern globaler Gefährdung neue politische Konflikte, die im Streit um Definitionen und Zuständigkeiten einen institutionalisierten Kosmopolitismus befördern. Konflikte über Zivilisationsrisiken entstehen z.B. dann, wenn darüber gestrittenkönnen, wird, inwieweit die Industrieländer den gloAnspruch erheben daß Entwicklungsländer wichtige bale Ressourcen, wie Regenwälder, schützen, während sie gleich37
zeitig den Löwenanteil an Energieressourcen für sich selbst beanspruchen. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß wir es eben nicht mit einer Form globaler Vergesellschaftung zu tun hätten. Eine solche Sicht setzt Gesellschaft fälschlicherweise mit Konsens gleich. Dagegen haben bereits diese Konflikte selbst eine integrative Funktion, indemwerden sie deutlich machen, daßLösungsperspekkosmopolitische Lösungen gefunden müssen. Derartige tiven sind ohne neue globale Institutionen und Regelwerke und damit ohne ein gewisses Maß an Konvergenz - kaum denkbar. An den grenzübergreifenden Langzeitfolgen und Erwartungen des Unerwarteten entzünden und etablieren sich somit transnationale Risikogemeinschaften, »Folgen-Öffentlichkeiten«, die zu einer unfreiwilligen Politisierung der Weltrisikogesellschaft führen. Der alltägliche Erfahrungsraum kosmopolitischer Interdependenz entsteht nicht als ein wahrgenommenen Liebesverhältnis aller allen. GeEr entsteht und besteht in der Notmit globaler fährdungslagen. Diese Risiken erzeugen einen unübersehbaren Kooperationsdruck. Über alle nationalen Grenzen und Gräben hinweg wird mit der konstruierten und akzeptierten kosmopolitischen Gefährdungsdimension ein gemeinsamer Verantwortungsund Handlungsraum geschaffen, der, analog zum nationalen Raum, politisches Handeln zwischen Fremden stiften kann (nicht muß). Dies ist dann der Fall, wenn die akzeptierte Gefährdungsdimension zu kosmopolitischen Normen und Absprachen, also zu einem institutionalisierten Die bisherigen Kosmopolitismus, Forschungen zur führt. Entstehung entsprechender supra- und transnationaler Organisationen und Regime haben jedoch gezeigt, wie schwierig es ist, von der Gefähr dung s- zur H andlungsdefinition überzugehen. Dauerkommunikation über Gefährdungen ist ein wichtiger Bestandteil informeller kosmopolitischer Normbildung. Die Vergesellschaftung der Weltrisikogesellschaft ist deshalb nicht zureichend begriffen, wenn man ihr Potential auf neue und noch zu schaffende Institutionen erfolgreicher globaler Koordination beschränkt. Bereits vor jeder kosmopolitischen Institutionalisierung bilden globale Normen der Empörung über Sachverhalte, die mansich nicht hinnehmen zu aus können meint. Die Entstehung globaler Normen ist nicht unbedingt auf die bewuß38
ten Anstrengungen »positiver« Normsetzung angewiesen, sondern kann sich, gleichsam »negativ«, aus der Bewertung von globalen Krisen und Gefahren speisen. Das zeigt sich bereits daran, daß auch dort, wo sich Kon flikte entzünden, die Konfl iktlinien nicht einfach regional abgebildet werden können. Vielmehr ergeben sich neue Konfliktlinien, geographische Unterscheidungen terlaufen (z. B. die zwischen Erster und Dritter Welt).5 teilweise unDie analytisch-empirische Kosmopolitisierung grenzt sich also vom normativ-politischen Kosmopolitismus ab. Diese Unterscheidung ermöglicht nicht nur eine gleichsam »werturteilsfreie« Beschäftigung mit dem Alltag und der sozialwissenschaftlichen Epistemologie der Weltrisikogesellschaft. Sie zwingt zur Trennung, nicht aber zur Vernachlässigung des normativen und politischen Kosmopolitismus in einer sich selbst gefährdenden Welt. Tatsächlich erlaubt sie erst die Frage: Wie verhalten sich die kategorialen Bestimmungen Erkenntnisse deszukosmopolitischen (bzw. der Kritik und des nationalen Blicks) den Themen der Blicks kosmopolitischen Et hik und Polit ik? Wie werden kosmopolitische Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität, Recht, Politik, Staat usw. möglich? Der kosmopolitische Blickwechsel eröffnet die Möglichkeit einer nicht-nostalgischen Kritik des Nationalen - des Völkerrechts, der internationalen Institutionen, der Wende zu neuen Kriegen, die mit dem Verblassen, Versinken der leitenden Dualismen von national und international drohen - im Sinne einer cosmopolitan critical
theory (Beck 2003). Blicks Diese und umfaßt zwei Argumentationsschritte: Kritik des nationalen Vorüberlegungen zur kosmopolitischen Grammatik des Sozialen und des Politischen.
2. Kri tik des nationalen Bli cks und des methodologischen Nationalismus Der kosmopolitische Blick stellt einen der machtvollsten Pfeiler der Vorstellung von G esellschaft und P olitik in Frage. Dieser manifestiert sich in der Überzeugung, daß »moderne Gesellschaft« und 5 Die Dynamik d es Risiko-Kosmopo litismus wird in Abschnitt 3.1 sowie in Kapitel V, S. 225 ff ., weiterentwickelt.
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»moderne Politik« nur als nationalstaatlich organisierte existieren können. Gesellschaft wird gleichgesetzt mit nationaler, territorialer, staatlich organisierter und begrenzter Gesellschaft. Wenn soziale Akteure diesem Glauben anhängen, dann spreche ich von »nationalem Blick«; bestimmt er die wissenschaftliche Beobachterperspektive, dann spreche ich von »methodologischem mus«. Diese Unterscheidung zwischen der Perspektive Nationalisdes sozial Handelnden und der Beobachterperspektive der Sozialwissenschaft ist wichtig, weil es keine logische Verbindung zwischen den beiden gibt, nur eine historische. Der Aufstieg der Soziologie fiel zusammen mit dem Aufstieg des Nationalstaates, des Systems internationaler Politik und des Nationalismus. Allein aus dieser historischen Eingebundenheit ergibt sich die Axiomatik des methodologischen Nationalismus, nach der Nation, Staat, Gesellschaft die »natürlichen« sozialen und politischen Formen der modernen Welt Diesind. Welt, die als Ganze von den Folgeproblemen ihrer zivilisatorischen Siege in ihren Grundlagen erschüttert wird, kann weder im nationalen Blick (Akteur) noch im Bezugsrahmen des methodologischen Nationalismus (wissenschaftliche Beobachterperspektive) angemessen erfaßt und verstanden, erforscht und erklärt werden.
2.1
Prinzipien und Fehler des methodologischen Nationalismus
Woran der nationale Blick krankt - sein klinischer Wirklichkeitsverlust -, mag zunächst an einem Beispiel, dem sogenannten Herkunftsdialog, gezeigt werden. Elisabeth Beck-Gernsheim schreibt: »Wer Michael Schmid oder Petra Paulhuber heißt, dazu blaue Augen hat, blond oder braunhaarig ist, der wird, wenn er sich auf öffentlichen Plätzen, in deutschen Geschäften, Schulen, Diskotheken bewegt, selbstverständlich als Einheimischer gelten: Er - oder sie - paßt ins Bild des Normaldeutschen. Anders dagegen bei denjenigen, die Namen, zwar einen haben, aber fremd klingenden einedeutschen dunklere Paß Hautfarbe, etwaseinen anders geschnittene Gesichtszüge. Sie werden, weil sie vom standarddeut40
schen Format abweichen, regelmäßig mit der Frage konfrontiert: >Wo kommen Sie her?< Es beginnt dann, was Santina Battaglia selbst eine mit ausländisch klingendem Namen - den Herkunftsdialog nennt. Er verläuft in ritualisierten Bahnen, nach immer wieder ähnlichem Muster. Zum Beispiel so: Woher kommst - >Aus Essen.< >Nein, ich meinedu?< ursprünglich?* - >Ich bin in Essen geboren.< >Aber deine Eltern?< - >Meine Mutter kommt auch aus Essen.< Aber dein Vater?< - >Mein Vater ist Italiener.< >Aha ...!< >Ist das ein italienischer Name?< - >Ja.< >Woher aus Italien kommst du denn?< - >Ich komme nicht aus Italien.< >Aber deine Eltern?*... Aber so absehbar, so immer wieder ähnlich solche Gesprächssituationen verlaufen, so unterschiedlich gleichzeitig die nehmungen der Interaktionspartner. Dersind >Einheimische< (derWahrNormaldeutsche, der weiße US-Amerikaner, der weiße Brite) sieht jemand vor sich, der seinem mononationalen, monokulturellen Erwartungsblick nicht entspricht. Er reagiert darauf mit Neugier, ja, wie er meint, mit Offenheit und Interesse am Gegenüber. Doch der ist oft peinlich berührt, ja fühlt sich diskriminiert, ausgegrenzt im wörtlichen Sinn. (...) Nicht zufällig nennt Battaglia den Herkunftsdialog ein >Verhandeln über die Verwurzelungdouble-bindWenn Betroffene Grenzen setzen, fühlen sich Fragende unangemessen zurückgewiesen. Wenn die Befragten darauf eingehen, entsteht unvermeidlich eine Situation einseitiger Entblößung.Wer bin ich? Wo gehöre ich hin?< gibt es demnach nicht mehr eine einzige und lebenslang gleichbleibende Antwort. Vielmehr bestehen verschiedene Antwortmöglichkeiten, so wie ebenWelche verschiedene Zugehörigkeiten undIdentitätsschicht Identitätsschichten existieren. Antwort gewählt, welche jeweils betont wird, hängt von äußeren Umständen ab wie von den Wünschen und Neigungen der handelnden Person. Da spielen dann situative Bedingungen herein, erst recht politische, und nicht zuletzt Phasen im Lebenslauf. Wer in München aufgewachsen ist als Kind griechischer Arbeitsmigranten, mag bei den Sommerferien in Thessaloniki die Wärme der griechischen Sonne und der griechischen Großfamilie genießen, ja eine Sehnsucht nach den griechischen Wurzeln empfinden; wenn er nach München-Giesing zurückgekehrt er wieder begeisterter von 1860 München (...);ist,amwird Arbeitsplatz ist ein er weder GriecheFan noch Bayer, sondern Computer-Spezialist oder Teil der Siemens-Belegschaft; und falls er einmal nach Schwarz-Afrika reist, fühlt er sich erst recht nicht als Grieche oder als Deutscher, sondern noch einmal anders: nämlich als Weißer und Europäer.« (Beck-Gernsheim 2004: 103 f.) Und doch ist die territoriale Sozialontologie des nationalen Blicks nicht nur »beheimatet« im Partyalltag, in den Massenmedien und in der Politik, vielmehr auch im Recht und sogar in der Sozialwissenschaft: Das fundamentale Dual des natio ks Ausländer-Inländer - begreift die Wirklichkeit nichtnalen mehr.Blic »Alle Untersuchungsmethoden, die mit statistischen Begriffen wie >Aus42
länder< und >Inländer< arbeiten, sind nicht vorbereitet auf eine Lebenswirklichkeit, die zunehmend transnational wird, die durch mehrfache Zugehörigkeiten über Länder- und Nationalitätsschranken hinweg gekennzeichnet ist. Die Daten, die mit solchen Untersuchungsmethoden produziert werden, sind deshalb im besseren Fall irrelevant - und im schlimmsten Fall irreführend, ja falsch.« (Ebd.: 106; siehe für entsprechende Belege das gesamte Buch.) Das Denken und Forschen in exklusiven Unterscheidungen ist ungeeignet, um eine Sowohl-als-Auch-Wirklichkeit zu erfassen, die in vielen Bereichen den Prinzipien des inklusiven Unterscheidens folgt (Beck/Bonß/Lau 2004). Findet man bereits bei den Klassikern Teilargumente, die über den methodologischen Nationalismus hinaus weisen (s. oben S. 19 f.), so sind es vor allem gegenwärtig die in den vergangenen zehn Jahren aufblühenden Transnationalisierungsforschungen (weniger in der Soziologie als in de n Cultural Studies, der Ethnol ogie, Ethnographie, Geographie usw.), die den methodologischen Nationalismus des Mainstream empirisch-methodisch wirkungsvoll in Frage stellen (siehe Kapitel III). Der empirisch-analytische Kosmopolitismus hat den methodologischen Nationalismus im Visier, er zielt aber nicht auf eine Polemik gegen den politischen Kosmopolitismus (wie »Grandhotel-Kosmopolitismus«, »Business-Lounge-Kosmopolitismus« oder »Tölpelpatriotismus«). Auch steht (zunächst) nicht das normativ-politische Element im Zentrum, wie nämlich kosmopolitische Demokratie wird. Statt und dessen geht es Verhältnisse schlicht um die Erkenntnis dermöglich gesellschaftlichen politischen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Kritik des methodologischen Nationalismus durch den kosmopolitischen Blick betrifft die sozialwissenschaftliche Beobachterperspektive. Der Vorwurf des methodologischen Nationalismus behauptet nicht, daß bestimmte oder alle Sozialwissenschaftler Nationalisten sind. Auch NichtNationalisten oder Anti-Nationalisten denken und forschen - das ist die These -, wenn sie die sozialwissenschaftliche Grammatik zur Grundlage ihrer Problemstellungen machen, im Bezugsrahmen des methodologischen Nationalismus. Solange derartige Problemstellungen sich der sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit bedienen, setzen sie unbefragt die Glaubenssätze des methodologischen Na43
tionalismus voraus. Welche Prinzipien des methodologischen Nationalismus lassen sich unterscheiden?6
Gesellschaft wird dem Staat untergeordnet Ein erstes Prinzi besagt: De r Nationalstaat die wählt National gesellschaft und pnicht umgekehrt. Nicht die definiert Gesellschaft denStaat - der Staat verspricht Sicherheit, befestigt Grenzen, schafft Verwaltungsapparate, die es erlauben, die »Nationalgesellschaft« zu gestalten und zu kontrollieren. Daraus folgt: Es gibt nicht eine, sondern viele Gesellschaften. Genauer: Es gibt ebenso viele Nationalgesellschaften wie Nationalstaaten und Nationalsoziologien. Der methodologische Nationalismus impliziert den Plural von Gesellschaften. Er setzt ein territoriales Verständnis von Gesellschaft durch, das auf staatlich konstruierten und kontrollierten Grenzen beruht. Dieses »Container-Modell« gegeneinander abgegrenzter das PrinNationalgesellschaften bestätigt und erneuert sich durch zip der reziproken Determination zwischen Staat und Gesellschaft: Der territoriale Nationalstaat ist beides, Schöpfer und Garant der individuellen Bürgerrechte, und die Bürger organisieren sich selbst mit Hilfe nationaler politischer Parteien, um staatliche Handlungen zu beeinflussen und zu legitimieren. Diese Axiomatik findet sich in Reinkultur beispielsweise in den Gesellschaftstheorien von Emile Durkheim und Talcott Parsons, aber auch bei Joh n Rawls (1988: n 1 f.). Dieser formuli ert seine Theorie der Gerechtigkeit im vollständiges Blick auf denTy pusgeschlossenes einer »politischen Gesellschaft«, die er »als ein und soziales System« betrachtet. »Es ist vollständig, weil es sich selbst genügt und Raum für alle wichtigen Lebenszwecke bietet. Es ist geschlossen, weil Geburt und Tod die einzigen Formen des Eintritts und Austritts sind ... Zunächst einmal lassen wir die Beziehungen zu anderen Gesellschaften vollständig außer acht ...« Diese Vorstellung einer national geschlossenen Gesellschaft und Demokratie klammert all die Fragen theoretisch-axiomatisch aus, die mit der Entkoppelung von Nation, Gesellschaft und Staat zunehmend an 6
Zur Diskussion um den methodologischen Nationalismus siehe u.a.H. Martins 1974; A.D. Smith 1996; Beck 1999,2000; Gilroy 1993; Zürn 2000; J.C. Scott 1998; Sassen 2000; Falk i995;Taylor 1995; Shaw 2000b; Luard 1990; McNeill 1985.
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Brisanz gewinnen, nämlich zum Beispiel die: Wie kann im Zeitalter der »liquid modernity« (Zygmunt Bauman), der flows und networks die Unterscheidung von Ausländern und Inländern, von Bürgern und Nicht-Bürgern, von Menschenrechten und Bürgerrechten in konkreten gesellschaftlichen Kontexten (Wer darf abstimmen, wer nicht und auf welcher Grundlage ?) getroffe n werden, wenn selbst das Verfassungsverständnis aufs engste mit dem Suggestivbegriff der Nation verwoben ist, der seinerseits immer fiktiver wird, ja, in offenen Widerspruch gerät zu den sich universalisierenden und normalisierenden transnationalen Wirklichkeiten und Kausalitäten? 7 Martin Shaw hat für die Forschungspraxis der dem Prinzip des methodologischen Nat ionalismus gehorchenden Sozialwissenschaften die Metapher des Briefmarken-Sammeins vorgeschlagen. Briefmarken werden von nationalen Institutionen ausgegeben. Sie sind die Symbole des Staates und tragen seinen »Stempel«. Wer sie sammelt, verhält sich wie derjenige, der »soziale Fakten« sammelt: er folgt der Logik des nationalen Blicks. Man sortiert die Briefmarken und gesellschaftlichen Tatsachen nach Symbolen und Datierungen entlang der Unterscheidung zwischen intra-nationaler und inter-nationaler Kommunikation. Soziale Beziehungen und Symbole, die diese Zuordnung von Territorium und Staat unterlaufen oder quervernetzen, fallen durch das Wahrnehmungsraster. Wie der Briefmarkensammler geht der Sozialwissenschaftler davon aus, daß die sozialen Grenzen zusammenfallen mit Staatsgrenzen und insofern auch die Forschungsgrenzen mit Staatsgrenzen gleichgesetzt werden können und müssen.
7 Es stellt sich die Frage: Wie einflußreich ist der methodologische Nationalismus in der soziologischen Theorie? Auf den ersten Blick ist der ausdrückliche Bezug auf »Nationalgesellschaften« gar nicht so oft zu finden. Das hat sicherlich damit zu tun, daß die avancierten soziologischen Theoretiker der modernen Gesellschaft sich eines methodologischen Universalismus bedienen, der den methodologischen Nationalismus mehr oder weniger bis zur Unkenntlichkeit verinnerlicht und sublimiert hat - mehr bei Niklas Luhmann, weniger bei Claus Offe (2000) und Pierre Bourdieu. Es bleibt nachzuweisen, daß der methodologische Universalismus beispielsweise der Luhmannschen Systemtheorie in der EntwederOder-Logik des binären Codes und der Konstruktion von Systemgrenzen die Hintergrundannahmen des methodologischen Nationalismus teilt. 45
Das Weltbild der Sozialwissenschaften wird durch die Opposition von national und international bestimmt Für die sozialwissenschaftliche Theorie und Imagination ebenso wie für die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis ist die Gegenüberstellung von national und international fundamental. Es gibt nicht nur eine interne nationale, sondern auch eine externe internationale Anerkennung von Gesellschaften und Staaten. Eine Nationalgesellschaft ist ein Unbegriff. Es können nur viele Nationalgesellschaften existieren, die durch gegenseitige, eben internationale Anerkennung entstehen und bestehen. Die im Inneren von Nationalstaaten geltenden Prinzipien des Rechts, der Demokratie usw. können folglich nicht ohne weiteres auf interstaatliche Beziehungen übertragen werden. Das Nationale setzt das Internationale voraus und umgekehrt.
Universalistischer Fehlschluß von der partikularen Nationalgesellschaft auf die universelle Gesellschaft Es besteht eine innere Verwandtschaft zwischen nationaler und universeller Perspektive: Die eigene Gesellschaft gilt als Abbild der Gesellschaft. Woraus folgt, daß man aus der Analyse dieser Gesellschaft Grundcharakteristika der universellen Gesellschaft erschließen kann. So entdeckte Marx in der britischen Gesellschaft den britischen Kapitalismus, den er zum Kapitalismus der modernen verallgemeinerte. universalisierte die ErfahrungGesellschaft der preußischen Bürokratie Weber zu dem Rationalitätstypus der Moderne. Wenn C. Wright Mills die »Machteliten« kritisierte, dann kritisierte er nicht nur die amerikanische, sondern die moderne Gesellschaft schlechthin. Dieser Fehlschluß von der nationalen auf die universelle Gesellschaft wurde früh kritisiert und korrigiert durch die Methode des internationalen Vergleichs. Danach sind Einzelfallstudien zwar notwendig, aber nicht hinreichend, um allgemeine Aussagen über die moderne Gesellschaft zu treffen. Doch die Komparatistik wurde und wirdSie als setzt Vergleich nationalerdie Gesellschaften konzipiert und praktiziert. also ihrerseits nationalstaatlichen Einheiten voraus und damit all die Annahmen, die den methodologi46
schen Nationalismus kennzeichnen. So verbleibt die Möglichkeit, daß sich die Einheit von Staat und Nation auflöst, entkoppelt oder als Ganzes verändert, auße rhalb des sozialwissenschaftlich Er wartbaren. Wer unbefragt die sich wechselseitig bestätigende Unterscheidung von national und international voraussetzt, muß das Globale als die maximale Steigerungsform des Nationalen denken. So geht etwa die Weltsystemtheorie von Immanuel Wallerstein von der Unterscheidung zwischen national und international aus. Das Ergebnis ist eine Globalperspektive, die das Verhältnis der Nationalstaaten im »Weltsystem« analysiert. In einer anderen Variante des globalen Blicks untersuchen John Meye r und seine Autoren gruppe die Diffusion globaler Normen; auch hier wird das National-International-Dual nicht aufgebrochen, sondern dient als Folie, um die globale Homogenisierung nationaler Erfahrungs- und Handlungsräume zu prognostizieren und zu erforschen.
Das territoriale Mißverständnis kultureller Pluralität: Entweder universelle Homogenisierung oder Unvergleichbarkeit der Perspektiven Der methodologische Nationalismus enthält und bestärkt ein territoriales (Miß-)Verständnis von Kultur und kultureller Pluralität. Wenn Kultur territorial eingegrenzt begriffen wird, dann führt die Frage nach der Pluralität in die Sackgasse einer falschen Alternative: entweder universelle Unvergleichbarkeit der Angleichung Perspektiven (»McDonaldisierung«) (Inkommensurabilität). oder Viele Kritiker sehen die kosmopolitische Kultur entsprechend als natürlichen Nachfolger oder sogar als das Produkt der postmodernen Kultur. Aus der Verbindung des Postmodernismus mit dem Postnationalismus entstünden vielfältige Bewegungen von kulturellem Eklektizismus und Ambivalenz, letztlich eine allgemeine kulturelle Plastizität. Man bediene sich, manchmal verspielt, manchmal satirisch, der verschiedenen Stile, Symbole und Begriffe, die aus älteren historischen Kulturen in Literatur, Musik, Malerei, Architektur und für die Massenmedien aufbereitet wurden. Aberentnommen genau betrachtet, werde diese vermeintliche Pluralität immer wieder zurechtgestutzt und zu einem Universalis47
mus des ununterscheidbaren Durcheinanders von allem mit allem verschmolzen. Dieser flache Kulturkosmopolitismus des Zitats, der Zitatmontage könne zwar die Vergangenheit für die Zwecke seiner eigenen Erneuerung immer wieder ausbeuten und als modische Erfindungen um die Welt jagen. Aber er, so die verbreitete Meinung, könne in der Geschichte verorten, und den kulturelle Grundtatbestand nichtsich aus nicht der Welt schaffen, daß Kulturen Imagination historisch spezifisch und verwurzelt, also territorial sind. »Kurz, eine zeitlose, globale Kultur beantwortet keine lebendigen Bedürfnisse und enthält keine Erinnerungen. Wenn das kollektive Gedächtnis zentral ist für Identität, dann können wir keine globale Identität, die im Entstehen begriffen ist, ausmachen, kein Verlangen danach, keine kollektive Amnestie, um bestehende tiefe Kulturen durch eine kosmopolitische >flache< Kultur zu ersetzen. Die letztere bleibt einMasse Traum, einige Intellektuelle träumen. Für die überwältigende derden Menschen, die getrennt sind nach ihren habituellen Gemeinschaften der Klasse, des Geschlechts, der Region und der Religion und der Kultur schlägt das keine Funken.«8 Der kosmopolitische Blick träumt genau davon nicht. Smith bezieht sich auf das Feindbild des Kosmopolitismus, das die Prämissen und Fehler des methodologischen Nationalismus wiederholt. Dieser menschheitliche Universalismus behauptet die wachsende Angleichung, also die Auslöschung der Pluralität, als faktische Tendenz. Die Zustimmung dazu läuft letztlich auf die Aufforderung zum kulturellen Selbstmord hinaus. Kosmopolitismus dagegen meint genau umgekehrt die Anerkennung der Andersheit der Anderen - jenseits des Mißverständnisses von Territorialität und Homogenisierung. Wird also im menschheitlichen Universalismus die Differenz weguniversalisiert, so wird im methodologischen Nationalismus die territoriale Ontologie der Differenz erneuert. Das Ergebnis ist: Kultur wird im nationalen Blick als territorial abgegrenzte, introvertierte Einheit begriffen; zwischen Kulturen herrscht im Extremfall das (bestenfalls rauschende) Schweigen der Unvergleichbarkeit 8 A.D. Smith 1996: 24; zur Kriti k siehe Levy/Sznai der 2001. 48
(Inkommensurabilität) der Perspektiven. De r Glaube daran spricht frei von der Arbeit am Gespräch, führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Imperialismus, Kulturkampf, Kulturkrieg (clash of civilizations). Die Absurdität dieses Container-Modells der Pluralität springt ins Auge: Beispielsweise transnationale Netzwerke, Lebens-, Arbeits- und Handlungsformen, ja sogar die neue Grenzenlosigkeitserfahrung der seßhaften Fernsehkonsumenten kann und darf es nicht geben, weil diese die Sprach- und Gruppengrenzen zwischen den Kulturen verwischen und vermischen.
Der nationale ist auch ein essentialistischer Blick, er trennt kulturell und politisch, was historisch miteinander verwoben war In der Ersten Moderne regierte das Entweder-Oder im Denken und Handeln - damit auch im geschichtlichen Selbstbild, im Entwurf von Vergangenheit und Zukunft. Demgemäß hat das nationalstaatliche Europa »nicht nur die politischen Grenzen im Nahen Osten gezogen. Es projiziert diese Grenzen auch auf die Geschichte, die Kunst und die Ku ltur des Orients. In seiner Kulturund Wissenschaftspolitik trennt Europa jüdische und islamische Traditionen voneinander und befestigt damit ideologische Grenzlinien, die bis heute eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts verhindern. Die Literaturen und die Künste, die Küche und die religiösen Traditionen des arabisch geprägten Kulturraums sind historisch so eng miteinander verflochten - oft bis zur UnUnterscheidbarkeit -, daß sie nur im Zusammenhang studiert und dargestellt werden können. So setzt sich die islamische Theologie zu einem beträchtlichen Teil aus Antworten auf Fragen zusammen, die vom Judentum und vom Christentum an sie herangetragen worden sind - an den Höfen und in den Gelehrtenstuben von Bagdad, Kufa oder Cördoba. Ohne diese Fragen zu kennen, werden auch die Antworten nicht verständlich. Nicht viel anders steht es mit dem Judentum: Nicht nur das christliche Europa, auch das rabbinische Denken hat das antike Erbe zum großen Teil in der Prägung durch die islamische Kultur empfangen. Ohne Kenntnis sich nicht verstehen, wie das Judentum nicht nur dieser auf denKultur Islam,läßt sondern später der Islam auch auf das Judentum zurückgewirkt hat, in der 49
Theologie und noch deutlicher in der Mystik sowie in der Literatur.« (Kermani/Lepenies 2003) 9 Das Ideal ethnischer und nationaler Homogenität geht paradoxerweise auf die nationalen Imperien der Ersten Moderne zurück, die, wie nie in der Geschichte zuvor, die Territorialbindung der Kulturen gewaltsam durchbrochen, die ethnischen Grenzen zwischen den Kulturen aufgehoben und die Identitäten durchmischt haben. Wie William McNeill (1985) argumentiert: Die Polyethnizität ist die Regel in der Weltgeschichte, die nationale und ethnische Homogenität dagegen die Ausnahme. Und Dan Diner schreibt: »Nicht, daß die national komponierten und dynastisch legitimierten Imperien eine angemessene analytische Folie für ein zu rekonstruierendes Europa und seine Identität darstellten, aber sie kommen ihrer ethnischen wie korporatistisch-institutionellen Vielfalt wegen einer europäischen Perspektive der Geschichte wohl näher als die ihnen nachfolgende Realität einer sich gegeneinander abgrenzenden und sich obendrein homogen verhärtenden nationalen Staatenvielfalt.« (2003: 14)
Die bestimmte Ausschließlichkeit der Entgegensetzung: Der nationale Blick schließt den kosmopolitischen Blick aus, der kosmopolitische schließt den nationalen Blick ein Auch die Sozialwissenschaften haben sich im vergangenen Jahrzehnt (unterschiedliche Fächer in unterschiedlichem Maße) für globale Transformationen und Kategorien geöffnet, ja das »Glo9 Die Tatsache, daß der Islam in seiner Geschichte auf eine frühe Periode der Koexistenz und Toleranz mit dem Anderen zurückblicken kann, wurde etwa am Beispiel des muslimischen Spanien bereits im 18. und 19. Jahrhundert von westlichen Gelehrten gewürdigt (Kohlhammer 2003). So feierte Herder das arabische Andalusien als die »erste Aufklärung« Europas; ihm zufolge waren die Araber die »Lehrer Europas«. Dieser Enthusiasmus übersieht allerdings leicht, daß die andalusische Regierung auf einem religiös begründeten Herrschaftsmodell beruhte. Christen und Juden, die die religiöse Herkunft in der Figur Abrahams mit dem Islam teilten, wurde der Status fre mder Minderheiten zugewiesen. Z war konnten sie in der Hierarchie aufsteigen, aber sie blieben Bürger zweiter Klasse, mußten besondere Steuern zahlen und sich an bestimmte Kleidernormen halten. Auch kam Gewaltausbrüchen, wie dem Massenvertreibung Mord an Tausendenvon vonC Juden 1066 es in zu Granada oder der gew altsamen hristenimimJahre Jahre 1126. 5°
bale« ist zum Zentrum eines neuen, selbstkritischen Diskurses geworden. Wobei mehr und mehr klar wird, daß die diskursive Verinnerlichung des Globalen die Substanz der sozialwissenschaftlichen Kategorien, Theorien, Methoden und Forschungsorganisation berührt. Manche versuchen, diese Herausforderungen der globalen Transformation zu unterlaufen, indem sie sich auf regionalen oder transnationalen Wandel im Gegensatz zum globalen Wandel konzentrieren. Der regionale bzw. transnationale Blick ist jedoch eine Variante des nationalen Blicks. Der methodologische Nationalismus denkt und erforscht das Soziale, das Kulturelle und das Politische in Entweder-OderKategorien, der methodologische Kosmopolitismus denkt und erforscht das Soziale und das Politische in Sowohl-als-Auch-Kategorien. Der nationale Blick schließt den kosmopolitischen Blick aus. Der kosmopolitische Blick dagegen begreift den nationalen Blick als nationalen und überführt ihn der in ihm eingebauten Fehler. Woraus folgt: Der kosmopolitische Blick erschließt dieselbe nationale Wirklichkeit anders und andere, zusätzliche Wirklichkeiten neu. Der kosmopolitische Blick schließt also die Wirklichkeit des nationalen Blicks ein und deutet diese um, während der nationale Blick blind ist, blind macht für die Wirklichkeiten des kosmopolitischen Zeitalters.
Zur Unterscheidung von methodologischem Nationalismus im engeren und weiteren Sinne Es gibt eine ganze Reihe von Stimmen, die den methodologischen Nationalismus kritisieren, und sie alle tragen dazu bei, eine kosmopolitische Methodologie für die Sozialwissenschaft zu kreieren. Vielleicht ist es gleichwohl hilfreich, zwischen methodologischem Nationalismus im engeren und weiteren Sinne zu unterscheiden. Im engeren Sinne zielt die Kritik des methodologischen Nationalismus auf die Kernbegrifflichkeit der Sozialwissenschaften; im weiteren Sinne wird darauf verwiesen, wie schwierig es ist, eine Ausweich- und Alternativbegrifflichkeit zu finden. Selbst die Begriffe »Diaspora«, »Hybridisierung«, ja sogar »Denationalisierung« und »Transnationalisierung« bleiben in einigen Punkten dem Horizont des methodologischen Nationalismus - gleichsam 5i
negativ - verhaftet (Robins/Aksoy 2001). Die darüber hinausweisende Frage lautet nämlich: Was heißt zum Beispiel »Entortung« von Souveränität? Oder allgemeiner: Was bedeutet es, wenn das Dual von national und international zerbricht, was bedeutet »Ungleichheit«, »Gerechtigkeit«, »Nation«, »Bürger«, »Staat«, »Sicherheit«, »Grenze«, »Risiko« in verschiedenen Regionen der Welt und der Weltpolitik? Einerseits verlieren die Stabilisatoren der national-internationalen Ordnung an Kraft, andererseits sind keine neuen Stabilisatoren der Weltpolitik jenseits von national und international in Sicht. Legt man die Begriffsmaßstäbe der alten Ordnung an, dann regiert das Nicht: keine bindende Entscheidung, keine Demokratie, keine Regierung und keine Opposition. Der Analogieschluß vom Nationalen auf den entgrenzten post-internationalen Raum gelangt in die Leere. Es entsteht nicht nur ein kognitives, auch ein weltmachtpolitisches Vakuum, wobei dieses durch jenes verdeckt bleibt. Verhaftet im methodologischen Nationalismus, verrennt sich die Debatte beispielsweise um das neue transatlantische Verhältnis in die Sackgasse der falschen Alternative: Diesseits des Atlantiks, in Europa (aber auch in Südamerika, Afrika, Asien), klammert man sich an die Ruinen der alten Ordnung - das durch und durch nationalstaatlich codierte »Völkerrecht« -, um sich gegen die Machtlüsternheit der militärisch einzigen und einzigartigen Weltmacht USA zu versichern. Man leugnet und verleumdet den kosmopolitischen Grenzenlosigkeitssinn und richtet sich protektionistisch in den Ruinen des methodologischen Nationalismus - der guten, alten internationalen Weltordnung - ein, um die eigene Schrumpfsouveränität zu verteidigen. Auf der US-Seite des Atlantiks dagegen wendet man den nationalen Blick global.
Zur Unterscheidung von international und kosmopolitisch Auch der Kalte Krieg, die Entstehung des »Westens« und des »Ostens«, wurde und wird in den Kategorien des Nationalen und des Internationalen, nicht aber des Globalen gedacht und erforscht. Man reduzierte globale und kosmopolitische auf internationale Beziehungen (Shaw 2000 b; Wapner/Ruiz 2000; Held /Kön ig/Archibugi 2003; Archibugi/Held/Köhler 1998). Die Entstehung der 52
Welthandelsorganisation und der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, der Nato usw. wurden als Beispiele für den institutionalisierten Internationalismus, nicht jedoch als Beispiele für einen institutionalisierten Kosmopolitismus gedeutet, der die globale Welt jenseits von national und international zu gestalten und zu ordnen sucht. Der Internationalismus und der Kosmopolitismus sind jedoch keineswegs zwei Wege, dieselbe Idee zu verfolgen. Zweifellos setzen kosmopolitische Beziehungen unter anderem internationale Beziehungen voraus; zugleich aber transformieren sie diese, indem sie Grenzen öffnen und neu ziehen, die Beziehungen von Wir und den Anderen aufheben oder umpolen und auf diese Weise nicht zuletzt das Verhältnis von Staat, Politik und Nation kosmopolitisch umschreiben. International und kosmopolitisch lassen sich nicht gleichsetzen. Der kosmopolitische Blick erfasst die Veränderung der sozialen und politischen Grammatik, also beispielsweise die Integration durch reflexive Globalität. Das entweder Innen oder Außen, das der Unterscheidung von national und international zugrunde liegt, wird aufgehoben durch das sowohl Innen als auch Außen. Der kosmopolitische Blick bestimmt vielfältige Wirklichkeiten des räumlichen, zeitlichen und sachlichen Sowohl-als-Auch, für die der internationale Blick blind ist. Was also ist der Kernpunkt der Kritik am methodologischen Nationalismus? Die wesentliche Kritik richtet sich dagegen, daß der Nationalstaat »als selbstverständlicher Ausgangspunkt gesehen wird« (Levy im persönlichen Gespräch). Umgekehrt bleibt im kosmopolitischen Blick der Bezug auf den Nationalstaat erhalten, aber der Horizont, in dem dieser verortet und analysiert wird, ändert sich radikal (siehe dazu Kapitel III). Falsch wird der Zirkel des methodologischen Nationalismus: Der nationale Blick analysiert den Nationalstaat auf der unbefragten Basis seiner eigenen Prämissen. Richtig und notwendig wird der kosmopolitische Blick auf den Nationalstaat und die in Fluß geratenen internationalen Verhältnisse. Der kosmopolitische Blick schärft ja nicht nur das Verständnis von globalen Interdependenzen, sondern auch dafür, wie jene sich auf den Nationalstaat auswirken. Ob im Bezugsrahmen ler Interdependenzen, Risiken und Krisen Nationalstaatenglobasich verflüssigen, verfestigen, sich denationalisieren, renationalisieren 53
oder transnationalisieren, ist eine offene empirische Frage, die in Abhängigkeit von verschiedenen Konstellationen verschieden beantwortet werden kann und muß.
3. Vorüberlegungen zu einer kosmopolit ischen Sozialwissenschaft oder Die neue Grammatik des Sozialen und des Politischen Die epistemologische Wende, der empirisch-analytische Kosmopolitismus, den dieses Buch entfaltet, hat also zwei Stoßrichtungen: die Kritik des Bestehenden, des methodologischen Nationalismus, und die Entfaltung des Neuen, des methodologischen Kosmopolitismus. Konkret und sozialwissenschaftlich glaubhaft wird die Kritik des nationalen Blicks erst, wenn gezeigt wird, daß und wie der kosmopolitische Blickwechsel die sozialwissenschaftliche Grammatik verändert, also die etablierten Themenbereiche der Sozialwissenschaften umpolt und in ein neues Licht taucht. Diese inhaltliche, begriffliche, methodische Transformation sozialwissenschaftlicher Kernthemen soll nun - skizzenhaft - demonstriert werden an: (1) Risiko-Kosmopolitismus: Weltöffentlichkeit als Nebenfolge; (2) Interferenz der Nebenfolgen: Post-internationaler Politik; (3) die Unsichtbarkeit globaler Ungleichheit; (4) wie der Alltag kosmopolitisch wird: banaler Kosmopolitismus.
3.1 Risiko-Kosmopolitismus: Weltöffentlichkeit als Nehenfolge Wir haben oben (Seite 31 ff.) unterschieden zwischen Kosmopolitisierung und kosmopolitischem Blick und damit die These verknüpft: Kosmopolitisierung vollzieht sich meist als Nebenfolge, ungewollt und erzwungen; ob Nebenfolgen-Kosmopolitisierung bewußt wird - zu einem kosmopolitischen Blick führt - oder sogar eine globale Öffentlichkeit stiftet, ist eine gänzlich andere Frage. Die Theorie der Weltrisikogesellschaft (Beck 1986, 1999; Beck/Holzer 2004) bietet ein Modell von Interdependenzkrisen an, an dem dieser Zusammenhang zwischen latenter, erzwungener 54
Kosmopolitisierung und deren Bewußtwerdung durch weltöffentliche Skandalisierungen theoretisch und empirisch studiert werden kann. Es ist ein System des »Risiko-Kosmopolitismus« im Entstehen begriffen, in dem ein exzeptionelles Ausmaß an kosmopolitischer Interdependenz als Nebenfolge der Nebenfolge Weltöffentlichkeiten transnationale Konflikte und Gemeinsamkeiten in die Alltagspraktiken hineinträgt, die zum politischen (staatlichen) und subpolitischen (zivilgesellschaftlichen) Handeln nötigen. Das Nachrichtenmagazin Time widmet eine Titelstory dem Thema »Leben mit Risiko« (28. Ju li 2003), in der es im Detail nachzeichnet, wie unentrinnbar die Menschen in der entwickelten Zivilisation in schwer entscheidbare Risiken und durch Wissenschaften erzeugte, nicht auflösbare Unsicherheiten verstrickt sind. Wissenschaftler können die potentiellen Gefahren, die von genetisch manipulierten Nahrungsmitteln, Mobiltelefonen und der alltäglichen Verwendung von Chemikalien ausgehen, im besten Fall im Rahmen ihrer Wahrscheinlichkeitsrechnungen immer genauer bestimmen; aber das sagt nichts darüber aus, ob sie real sind und wie der Konsument sich in einer konkreten Situation »rational« entscheiden kann. Wie besorgt muß man sein? Wo liegen die Grenzen zwischen angemessener Sorge, handlungslähmender Angst und Hysterie? Und wer entscheidet darüber? Die Wissenschaftler, deren Ergebnisse zu einem gegebenen Zeitpunkt sich oft widersprechen, über längere Zeiträume hinweg sich sogar radikal ändern, so daß das, was wir heute als »akzeptabel« geschluckt haben, zwei Jahre später im wissenschaftlichen Urteil als »krebserregend« gilt? Sollen wir den Politikern und den Massenmedien glauben - die einen propagieren das Nullrisiko der neuen Technologie, um Arbeitslosigkeit abzubauen, die anderen propagieren die Riskanz des Risikos, um ihre Auflagen zu steigern? Über all dies berichtet Time in vielen Details. Das Magazin sagt allerdings nichts darüber, was es tut, und was wesentlich zum Risiko dazugehört: Es stiftet das öffentliche Bewußtsein, stellt die Öffentlichkeit für das Risiko her. Man kann es an den großen Risi kokonflikten der letzten zwanzig Jahre ablesen - an der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ebenso wie der AIDS-Krise, der BSE-Krise, der um genetischanmanipulierte »Frankenstein-Food« bis Kontroverse hin zum 11. September 2001, der Geburtsstunde des globalen Terrorr isikos; immer gilt 55
das Gesetz der doppelten Nebenfolge: Die sich selbst gefährdende Zivilisation erzeugt Nebenfolgen ersten Grades - eher weniger als mehr berechenbare Risiken und Unsicherheiten die als Nebenfolge zweiten Grades grenzenübergreifende Öffentlichkeiten und entsprechende Entwertungen von Produkten, Alltagspraktiken, bürokratischen Routinen, Einbrüche von Märkten, Zuweisung von Verantwortung und Kosten, Konflikte, Gemeinsamkeiten, Handlungszwänge schaffen. Beides: Die Nebenfolgen ersten und die Nebenfolgen zweiten Grades erzeugen und beschleunigen die Kosmopolitisierung durch Interdependenz - ja, sogar mehr als das, das Verhältnis der zwei Arten von Nebenfolgen-Kosmopolitisierung verweist zugleich darauf, wie die latente, erzwungene Kosmopolitisierung in eine erzwungene Bewußtwerdung der RisikoKosmopolitisierung umschlagen kann (Beck 1999). Die Theorie der Weltrisikogesellschaft darf also keineswegs verwechselt werden mit einer neuen Variante einer Theorie des bevorstehenden Untergangs des Abendlandes; es handelt sich vielmehr um eine Theorie der Ambivalenz: Auf der einen Seite existiert eine sinistre Perspektive für die Welt nach dem 11. September 2001. Diese zeichnet das Bild, daß das unkontrollierbare Terrorrisiko nun in alle Vorgänge der Lebensführung in den entwickelten Gesellschaften eindringt und diese von innen her verändert. Doch es gibt auch eine andere Seite. Man hat oft darüber nachgedacht, was die Welt einen könnte. Und die Antwort, die immer wieder gegeben wurde, lautet: ein Angriff vom Mars. In einem bestimmten Sinne war das, was am 11. September geschah, ein Angriff von unserem »inneren Mars«. Und tatsächlich passierte - wenigstens für eine Zeitlang - das, was man vorausgesagt hatte: Die zerstrittenen Lager in der internationalen und nationalen Politik schlossen sich zusammen gegen den gemeinsamen Feind, den globalen Terrorismus. In einem Zeitalter, in dem das Vertrauen und der Glaube an Klasse, Nation und Fortschritt mehr oder weniger fragwürdig geworden sind, hat sich gezeigt, daß die globale Wahrnehmung des globalen Risikos vielleicht eine letzte - ambivalente - Quelle für neue Gemeinsamkeiten und Handlungszusammenhänge darstellt. So paradox es erscheinen mag: die Weltrisikogesellschaft eine Epoche markiert, in der die daß erzwungene Risiko-Kosmopolitisierung umschlägt in eine nicht weniger erzwungene weltöffentliche Be56
wußtwerdung der laufenden Risiko-Kosmopolitisierung, bietet auch Grund zur Hoff nun g. Das Gesetz der doppelten Nebenfolge enthält somit auch eine aufklärerische Funktion. Um diese Perspektive zu entfalten, ist eine Verschiebung des Fokus wesentlich: nicht - wie die konventionelle Politiktheorie unterstellt - die Entscheidung selbst, sondern deren unabsehbaren Konsequenzen und Risiken bilden die Quelle des Öffentlichen und des Politischen (Dewey 1954). Insbesondere an der gewußten Unvorstellbarkeit und Unausdenklichkeit der Folgen entzündet sich in einer risikosensiblen Weltöffentlichkeit die Machtfrage. Der grenzenübergreifende Verantwortungszusammenhang des gemeinsamen Risikos, der auf diese Weise geschaffen wird, ist in einem doppelten Sinne negativ bestimmt: Zum einen richtet er sich nicht auf das, was sein soll, sondern auf das, was auf keinen Fall sein soll. Es handelt sich also nicht um eine Werteintegration (wie der methodologische Nationalismus unterstellt), vielmehr um eine Gefahren- und Gefahrenabwehrintegration, deren Bindekraft mit dem Ausmaß der wahrgenommenen Gefahr wächst. An die Stelle von nationaler und universeller Werteintegration tritt mit der weltöffentlich reflektierten Globalität der Gefah ren eine neuartige Dialektik von Konflikt und Kooperation über Grenzen hinweg. Nur so können und müssen bei Strafe des Untergangs Konsensformeln für internationales Handeln und Institutionen erfunden, ausgehandelt werden. Selbstverständlich bleibt offen, ob dies gelingt. Zum anderen sind es weniger oder jedenfalls nicht ausschließlich die sozialen Bewegungen oder gar revolutionäre Umstürze, sondern katastrophale Zuspitzungen der Weltrisiken selbst, die »ungewollt« und »ungesehen« die Weltöffentlichkeit herstellen. Je größer die massenmediale Allpräsenz der Bedrohung, desto grenzensprengender die politische Kraft der Risikoperzeption (Adam/Beck/van Loon 2000). In diesem Sinne können Risiken als negative Kommunikationsmedien verstanden werden; fast alle wollen sie verheimlichen, vertuschen. Im Unterschied zu den positiven Kommunikationsmedien Geld, Wahrheit und Macht stiften Risiken ungewollte Handlungszusammenhänge über nationale und Systemgrenzen hinweg. So erzwingt das negative Kommunikationsmedium Risiko Kommunikation zwischen denjenigen, die nicht miteinander kommunizieren wollen, Öffentlichkeit, wo Öffentlichkeit verhindert 57
werden soll. Es weist Verpflichtungen und Kosten denjenigen zu, die diese ablehnen (und dabei oft sogar das geltende Recht auf ihrer Seite haben). Mit anderen Worten: Risiken durchschlagen die Selbstbezüglichkeit der Systeme und der nationalen und internationalen Tagesordnungen der Politik, stürzen deren Prioritäten um und stiften Handlungszusammenhänge zwischen Parteien und Lagern, die sich ignorieren und bekämpfen.
3.2 Interferenz der Nebenfolgen: Post-internationale Politik Es vollzieht sich der Ubergang von der nationalstaatlich zentrierten internationalen Sicherheitspolitik zur nicht-nationalstaatlichzentrierten post-internationalen Risikopolitik. Dieser Paradigmenwechsel folgt der Unterscheidung von Erster und Zweiter Moderne. Die klassische nationalstaatliche Hochmoderne brachte eine Ordnungs- und Politiklogik zur Geltung, die erst jetzt, wo sie ausklingt, also nach dem Ende des Kalten Krieges, deutlich erkennbar wird: Sie zog trennscharfe Grenzen nicht nur zwischen Nationen und Staaten, sondern ganz allgemein zwischen Menschen, Dingen, Funktions- und Praxisfeldern und schuf auf diese Weise (zumindest der Erwartung nach) eindeutige institutionelle Zuschreibungen von Kompetenz und Verantwortung. Heute dagegen gilt: Weltöffentlich reflektierte Nebenfolgen radikalisierter Modernisierung stiften das Bewußtsein neuer Weltgefahren. Mit der Globalität und der (gewußten) Unberechenbarkeit dieser Zivilisationsgefahren erodieren Basisunterscheidungen und Grundinstitutionen der Ersten Moderne: dort identifizierbare, begrenzte Gefahren, hier schwer identifizierbare, unbegrenzte Risiken und Unsicherheiten; dort (gewußtes) Wissen und Berechenbarkeit, hier (gewußtes) Nicht-Wissen (beziehungsweise nicht-gewußtes Nicht-Wissen) und Unberechenbarkeit. Jene setzen staatliche Souveränität voraus, diese heben Souveränität auf, Prävention folgt dort der Abschreckungslogik, hier der Logik zwischenstaatlicher und post-staatlicher Kooperation. Das aber heißt: Es beginnt der Streit um Formen und Inhalte eines institutionalisierten Kosmopolitismus im Sinne dauerhafter Kooperation zwischen staatlichen 58
und nicht-staatlichen Akteuren im globalen und lokalen Raum sowie zivilgesellschaftlichen Gruppen und Netzen, Konzernen, internationalen Organisationen, UN, »Kirchen« usw. Zugleich ist es allerdings keineswegs so, daß sich alle Grenzen und Dualismen verwischen und vermischen. Richtig ist vielmehr genau umgekehrt das ist der springende Punkt der Theorie reflexiver Modernisierung (Beck/Bonß/Lau 2004) -, daß Entgrenzung Entscheidung erzwingt, je mehr Entgrenzung, desto mehr Entscheidungszwänge, desto mehr provisorische Grenzkonstruktionen, permanente Grenzpolitik, Grenzkonflikte. Alle Handelnden - Regierungen ebenso wie internationale Organisationen, politische Parteien und zivilgesellschaftliche Bewegungen - müssen sich in diesem transnationalen Kraftfeld neu situieren: Lasten und Kosten verteilen, Ziele definieren, Wege finden, Koalitionen schmieden und Zukünfte einer gemeinsamen Welt imaginieren, woraus tiefgreifende Verwerfungen und Konflikte entstehen. Das meint nicht-nationalstaatlich-zentrierte, post-internationale Risikopolitik (Daase/ Feske/Peters 2002; Pauly/Grande 2004). »Die längst bestehende ökonomische, soziale und technische Einheit der Welt, die sämtliche Akteure einschließende Verantwortung für die Erhaltung der Lebensbedingungen auf der übervölkerten Erde und das stetig wachsende militärische Potential, das jeweils nur wenige schützt, aber alle gefährdet«, machen den kosmopolitischen Blick notwendig. »Das Neue der gegenwärtigen Lage ist, daß uns die Probleme dieser Welt nicht mehr viel Zeit lassen, um eine politische Weltordnung zu schaffen, in der das Recht nicht nur ein formaler Titel, sondern selbst eine Macht im Leben der Völker ist. Gelingt es den Menschen nicht, ihrer real gegebenen Einheit eine politische Form zu geben und mit ihr Organisationen zu schaffen, die ein Handeln nach Prioritäten ermöglichen, dürften auch die Tage der jetzigen Ordnungsmächte gezählt sein.« (Gerhardt 2003: 566) Was aber heißt das für den Begriff »international«, der dem Fach »Internationale Beziehungen« die Richtung weist? (Wapner/Ruiz 2000; Held/Koenig-Archibugi 2003) Der Terminus »international« muß keineswegs aus dem Sprachschatz der Politik undStaaten Politikwissenschaft werden. Beziehungen zwischen sind nach wiegestrichen vor zentral, aber eben nicht mehr exklusiv, nicht mehr monopolisierbar, vor allem ver59
ändern sie ihre Grammatik: Auch die erzwungene und unbewußte Kosmopolitisierung der internationalen Beziehungen erfolgt nach dem Modell der Interferenz der Nebenfolgen - von Kapitalströmen, Strömen kultureller Symbole, globalen Risiken, Terrorakten, Migrationsbewegungen, Antiglobalisierungsbewegungen, ökologischen und ökonomischen Krisen. Die Einheiten internationaler Beziehungen - die Faszinationsbegriffe »Staat« und »Nation« werden entkernt: -weil in der Weltrisikogesellschaft nationale Probleme nicht mehr national gelöst werden können; - weil Menschenrechte gegen Staaten gewendet und von Staaten gegen Staaten »verteidigt« werden; - weil das hochmobile Kapital die territorial fixierten Staaten zur Selbstentmachtung, zur Selbsttransformation zwingt. Trans-internationale Politik meint also eine Ebene organisierter, mehr oder weniger informeller inner-, außer-, zwischen- und substaatlicher Politik, die alle anderen Phänomene spiegelt: Weltwirtschaftliche Machtverhältnisse, Krisen und Strategien, nationalstaatliche Lagen und Reaktionen einzeln er Länder und Ländergruppen , weltöffentliche Interventionen und Terrorgefahren usw. Transinternationale Politik liegt quer zur internationalen Politik. Sie enthält also internationale Politik ebenso wie umgekehrt gilt: Die internationale Politik wird zum Austragungsort trans-internationaler Politiken. Der kosmopolitische Beobachterblick erschließt also den »grammatikalischen« Wandel des »Internationalen« (vgl. dazu z. B. Shaw 2000; Held 2003; Rosenau 1998; Kaldo r 2003; Kö hler 1998, Linklater 1998; Wapner/Ruiz 2000). Die Theorie der internationalen Beziehungen ist blind für die Dynamiken der Globalität - es sei denn, Globalität wird auf die räumlichen Beziehungen zwischen Staaten eingeengt. Zugespitzt gesagt: Die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit erscheint als Gegner der internationalen Theorie - scheint diese doch die Denkautorität der Staatstheorie zu untergraben, das Politikmonopol des Nationalstaates und der internationalen Beziehungen abzuschaffen. Gerade aber in dieser befürchteten Selbstnegation verkennt die internationale Perspektive die Dynamik und die Wirklichkeit der Kosmopolitisierung der internationalen Beziehungen. Es geht gar nicht um Untergraben oder Überwinde n, sondern um Transformation, Neudefi nitio n 60
und Ergänzung von Politik- und Staatsformen und zwischenstaatlichen Beziehungen, Akteuren und Dynamiken.
3.3
Die Unsichtbarkeit globaler Ungleichheit
Wir stehen vor folgender Paradoxie: Die globalen Ungleichheiten wachsen dramatisch (Doyle 2000; Wade 2003), aber finden im methodologischen Nationalismus der Ungleichheitssoziologie keine oder nur eine randständige Aufmerksamkeit. Wie ist dies zu verstehen? 10 Wer fragt, wie sich soziale Ungleichheiten rechtfertigen lassen, erhält in der nationalstaatlich orientierten Soziologie die Standardantwort: durch das Leistungsprinzip. Dieses gilt innerhalb von Nationalstaaten, betrifft also gesellschaftliche Binnenungleichheiten. Demgegenüber erschließt der kosmopolitische Blick das Nationalstaatsprinzip als Legitimation globaler Ungleichheiten. Wobei der springende Punkt darin liegt, daß das Nationalstaatsprinzip gemäß der Introvertiertheit des nationalen Blicks globale Ungleichheiten verdeckt. Der methodologische Nationalismus kann, weil er sich nur auf binnen-nationale Ungleichheiten konzentriert, erstens die Frage, Wie werden globale Ungleichheiten legitimiert, und zweitens die Frage nach der Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten weder systematisch stellen und entfalten noch beantworten. Das Leistungsprinzip ermöglicht eine »positive« Legitimation inner-nationaler Ungleichheiten. Das Nationalstaatsprinzip beruht auf einer »negativen« Legitimation globaler Ungleichheiten. »Positive« Legitimation heißt, daß das Leistungsprinzip als reziproke und reflexive Legitimation erfahrener Ungleichheit fungiert. Leistung (wie immer diese operationalisiert sein mag) ist der Maßstab, mit dem wenigstens im Prinzip zwischen legitimer und illegitimer Reichtumsverteilung, gerade auch von den Betroffenen selbst, unterschieden werden kann. Das Nationalstaatsprinzip dagegen muß als ein »negativer« Legitimationsmodus begriffen werden, weil es 10 Das Folgende faßt mit le ichten Akzentverschiebungen zusammen, was ic h ausführlich in meinem Buch Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter dargestellt habe (S. 54-69).
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globale Ungleichheiten ausblendet. Dem Leistungsvergleich nach innen entspricht die institutionalisierte Blindheit nach außen. Dies schließt die Akzeptanz derjenigen aus, die als Arme ausgeschlossen werden. Genauer betrachtet, legitimiert also das Nationalstaatsprinzip globale Ungleichheiten nicht. Vielmehr wird die NichtLegitimation durch die Introvertiertheit des nationalen Blicks unsichtbar gemacht und dadurch stabilisiert. Welche Prinzipien liegen dieser institutionalisierten Invisibilität globaler Ungleichheiten (Stichweh 2000) zugrunde?
Nationale Fragmentierung Wie die Weltgesellschaft im nationalen Blick in fragmentierte, gegeneinander abgegrenzte, territorial gebundene, staatlich organisierte Nationalgesellschaften zerfällt, die sich alle nach innen orientieren und nach außen abschotten, so werden die globalen Ungleichheiten, Ungleichheitsko nflikte und Ungleichheitsdynamiken fragmentiert in nationalstaatliche Ungleichheiten und erscheinen als globale Ungleichheiten gar nicht mehr im Wahrnehmungshorizont des nationalen Blicks und der nationalen Soziologien. Im nationalen Rahmen werden soziale Ungleichheiten im Wechselverhältnis von Wohlfahrtssystemen und Individuum verortet. Die Verantwortung für Ungleichheit wird teils den Individuen, teils dem Staat zugerechnet. Entsprechend wird Gerechtigkeit bestimmt, werden soziale Ansprüche an eine staatliche Umverteilungspolitik artikuliert und eingeklagt. Das motiviert und aktiviert soziale Bewegungen, wie die Arbeiterbewegung oder die Frauenbewegung, die ihre jeweilige Unterprivilegierung anprangern und kompensatorische Leistungen vom Staat fordern. Daß nationale Ungleichheiten möglicherweise nicht national, sondern global bedingt sind, globalen Kapitalströmen, Krisen, Umwälzungen zuzurechnen sind, bleibt eine Standardvermutung, die aber selten wirklich konsequenzenreich durchdacht und erforscht wird. Erst im kosmopolitischen Blick - auf die nationalen wie auf die globalen und transnationalen Ungleichheiten - wird diese Einkäfigungandererseits des Denkens, Fragens Hier und geraten Forschens einerseits aufgedeckt, überwindbar. nationale Wohlfahrtsstaaten nicht nur als Garanten individueller sozialer 62
Sicherheit ins Blickfeld. Vielmehr stellt sich die Frage, wie und wie weit nationale Wohlfahrtsstaaten die Armutsrisiken auf andere Staaten und Länder abwälzen. Das vorläufig letzte Lehrbuchbeispiel hierfür lieferte eine Weltkonferenz im Sommer 2003, auf der in selten gewordener transatlantischer Einmütigkeit eine amerikanisch-europäische »Koalition der Unwilligen« den westlichen Protektionismus in der Landwirtschaft verteidigte gegenüber Forderungen afrikanischer und lateinamerikanischer Staaten, ihnen endlich - im Sinne des urwestlichen Prinzips freier Marktwirtschaft - Zugänge zu westlichen Märkten zu öffnen.
Begrenzte Gleichheitsnormen Ungleichheiten werden als Ungleichheiten nur dann erkannt und anerkannt, wenn und soweit soziale Gleichheitsnormen (Bürgerrechte) gelten. In dem Maße, in dem die Unterscheidungen zwischen Bürger und Nicht-Bürger, Ausländer und Inländer, Menschenrechten und Staatsbürgerrechten unscharf werden, wird es auch schwieriger, nicht-nationale und nationale Ungleichheiten genau zu trennen. Mit anderen Worten: Der nationalstaatliche Erfahrungsraum wird mehr und mehr zum Tummelplatz globaler Ungleichheiten, Gegensätze und Gerecht igkeitsfragen. Realistischerweise ist es nicht länger möglich, die Grenze zwischen national und international auch in den Feldern sozialer Ungleichheiten politisch, aber eben auch soziologisch-begrifflich zu ziehen.
Institutionalisierte Unvergleichharkeit Damit globale Ungleichheiten zwischen verschiedenen nationalstaatlichen Räumen institutionell unsichtbar bleiben, müssen sie unvergleichbar sein. Was innerhalb von Nationalstaaten politisch notwendig ist, nämlich Ungleichheiten zu vergleichen, ist zwischen Staaten zwar nicht ausgeschlossen, aber politisch effektlos - genau das leistet die Introvertiertheit des nationalen Blicks. Wenn sich allerdings im nationalen Erfahrungsraum die internationalen und globalen Ungleichheiten tummeln - teils in Form legaler und illegaler Migrations- und Mobilitätsströme, teils in Form der Repräsentation der Gegensätze und Lebensstile in den Massenmedien -, 63
verliert die institutionalisierte Unvergleichbarkeit ihre Kraft. Im Aufeinandertreffen der transnationalen Gegensätze an Orten und innerhalb nationalstaatlicher Politik müssen sozusagen »unvergleichbare Vergleichbarkeiten« gelebt und kulturell-politisch verkraftet und soziologisch erforscht werden. Schon an diesen wenigen, skizzenhaften Überlegungen wird deutlich: Wenn die festgefügte Welt nationalstaatlicher Unterscheidungen und Grenzen in Bewegung gerät, verlieren die Prinzipien der nationalstaatlichen Blindheit gegenüber globalen Ungleichheiten an Verbindlichkeit. Die Folge ist: Das Ineinander von intranationalen, inter-nationalen und trans-nationalen Ungleichheiten wird politisch brisant. Der kosmopolitische Blick, der Grenzenlosigkeitssinn zeichnet eine hochambivalente Wirklichkeit und Zukunft: Grenzenlos sind die Chancen, aber grenzenlos sind auch die Bedrohungen. Die Vermutung, daß grenzenlose Bedrohungen die grenzenlosen Chancen erdrosseln, ist schwer zu entkräften. Denn zu den Gefahren gesellt sich die Unfähigkeit, diese Gefahren mit den vorhandenen Begriffen zu begreifen und mit den bestehenden Institutionen zu beantworten. Daher wächst mit der Gefahr die Unwiderstehlichkeit der Versuchung, die Gefahr zu leugnen oder sie auf jenes Normalmaß zurückzustutzen, auf daß sie in die etablierten Antwortkategorien paßt. Im Fall des Terrorrisikos heißt das: Krieg gegen Staaten. Der Irakkrieg war der erste Krieg gegen ein globales Risiko, nämlich das Terrorrisiko, der als Krieg gegen einen Staat geführt wurde. Nur so wird das Terrorrisiko - scheinbar- staatlich kontrollierbar, »staatsverdaulich«. Diese Staatsverdaulichkeit des unstaatlichen Terrorismus wird dadurch hergestellt, daß der Terrorismus erstens mit den terrorismusduldenden, terrorismushätschelnden Bösewicht-Staaten in Verbindung gebracht wird, die zweitens mit den konventionellen Mitteln des Staat-gegen-Staat-Krieges niedergerungen werden können. Hier ergibt sich eine neue, verdeckte transnationale Gemeinsamkeit, die darauf beruht, daß beide Seiten die Neuheit der Terrorgefahr leugnen. Der Krieg gegen den Terror als Krieg gegen Staaten ist nur dannKrieg zu rechtfertigen, zwischenzur Terror und aufgehoben wenn wird. der Nur Artunterschied wenn die Terrorgefahr Kriegsgefahr zurückverwandelt wird, ist sie mit konventionellen 64
Begriffen verstehbar und mit konventione llen Mitteln militärische r Überlegenheit kontrollierbar. Dann endlich gibt es keinen Grund mehr für die mächtigste Nation der Welt, sich unsicher zu fühlen.
3.4
Wie der Alltag kosmopolitisch wird: Banaler Kosmopolitismus
Die Konsumgesellschaft ist die real existierende Weltgesellschaft; und insofern kann man sagen: Ein Paradebeispiel für die Nebenfolgen-Kosmopolitisierung ist der Konsum, bei dem die Grenzen zwischen Zwang und Entscheidung, Nebenfolge und Absicht schwer zu ziehen ist. Kosmopolitisierung vollzieht sich nicht nur ungesehen (z. B. dadurch, daß national etikettierte Automarken wie VWoder Londoner Taxis nach dem transnationalen Bastei-Prinzip zusammengebaut werden). Kosmopolitismus ist auch selbst zur Ware geworden. Der Glanz kultureller Differenz verkauft sich gut. Entsprechend werden die Images des Dazwischen, des schwarzen Körpers, der exotischen Schönheit, der exotischen Musik, des exotischen Essens usw. in entsprechenden Massenprodukten, Massenmärkten global ausgeschlachtet, inszeniert und konsumiert. »People see black people as trendsetters, they see what we're on and they wonna onto the same thing, figuring it's gonna the next big thing. They try to take things away from us every time. Slang we come up with ends up on t-shirts. We ain't making no t-shirts«, schreibt der African-American Kleidungsdesigner Carl Williams, der seine Entwürfe unter der Handelsmarke »Karl Kane« vermarktet. 11 Wer »Schwarzen-Musik« hört, auf seinem T-Shirt Bilder oder Sprüche von Schwarzen trägt, muß sich sicherlich nicht mit der Kultur identifizieren, aus der die Bilder und Sprüche entnommen sind. Aber er macht sich zum Träger von Bildern und Botschaften, die Grenzen überschreiten und ansonsten getrennte Erfahrungsräume durchdringen. Man verkauft schwarze Kultur, Stile und Kreativität an ein Publikum, das keine Grenzen kennt. Wir haben es hier wieder mit einer Art »banalem Kosmopolitismus« zu tun. Man trägt keine Symbole eines »banalen Nationalis11 Zitiert nach Paul Gi lr oy 2000: 241. 65
mus« zur Schau, sondern zeigt (gewollt oder ungewollt) kosmopolitisch Flagge. Banaler Kosmopolitismus ist aufs engste mit allen Formen des Konsums verbunden. Er läßt sich nicht nur durch das riesige, kunterbunte Gemisch von Speisen, Nahrungsmitteln, Restaurants und Menukarten illustrieren, das routinemäßig in fast jeder Stadt in allen Winkeln der Welt präsent ist. Er durchdringt auch andere Bereiche der Alltagskultur, die Musik z.B. »Auch dort herrscht eine unüberschaubare Fülle. Aus Algerien erreichen uns oft die schrecklichsten Nachrichten. Von dem Land geht aber auch eine srcinelle Musik aus, die von jungen Leuten gemacht wird, die in arabischer, französischer oder kabylischer Sprache singen ... Der Lebensweg dieser Menschen erinnert ein wenig an die sehr viel ältere und ausgedehntere Odyssee jener Afrikaner, die einst als Sklaven nach Amerika verschleppt wurden. Ihre von Louisiana sowie vom karibischen Raum ausgehende Musik hat sich mittlerweile über die ganze Welt verbreitet und ist Teil unseres musikalischen und affektiven Erbes.« Auch das meint »banale« Kosmopolitisierung: »Nie zuvor verfügte die Menschheit über die technischen Mittel, so viele unterschiedliche Arten von Musik zu hören, die Stimmen aus Kamerun, Spanien, Ägypten, Argentinien, Brasilien, von den Kapverden ebenso wie die aus Liverpool, Memphis, Brüssel oder Neapel. Noch nie hatten so viele Menschen die Möglichkeit, zu komponieren, zu musizieren, zu singen - und Gehör zu finden.« (Maalouf 2000: 99; siehe zum Zusammenhang zwischen Konsum, Globalisierung und Alltags-Kultur unter anderen auch Katz/Liebes 1993; Held u.a. 1999; Beisheim/Zürn 1999: 69-99; Gebesmair 2000; Beck/Sznaider/Winter 2003) Was in postmoderner Perspektive als »Eklektizismus« oder »Inauthentizität« (und in kulturkritischer Perspektive als »Entwurzelung« und »Gedächtnislosigkeit«) erscheint, kann als eine neue Reflexivität entschlüsselt werden. Hier werden dauernd Elemente verglichen, verworfen, zusammengefügt und neu verbunden, die aus vielen Ländern und Kulturen stammen. Zu Ende gedacht entsteht ein Geflecht alltäglicher Praktiken und Kompetenzen, mit einem hohen Grad an Interdependenz und Globalität umzugehen. Die Frage, inwieweit diese innere Kosmopolitisierung von Lebenswelten sich nur »objektiv« vollzieht oder auch institutio66
nalisiert »reflexiv« wird, verweist nicht zuletzt auf die Rolle der Massenmedien (Appadurai 1995,1998; Aksoy/Robins 2003; Schiller 1989; Caglar 2002). Die Zugänglichkeit anderer Kulturen und Erfahrungsräume, die mit der Verfügbarkeit von Kanälen und Programmen und der Möglichkeit, zwischen diesen zu wechseln, potenziert wird, kann durchaus dazu führen, daß die alltägliche kosmopolitische Interdependenz den Fernsehzuschauern allmählich bewußter wird - allerdings ist dies eine empirische Frage (dazu später). Mike Featherstone faßt dieses Argument zusammen: »Die Ströme der Information, des Wissens, des Geldes, der Güter und der Menschen und Bilder haben sich in einem Maße intensiviert, daß der Sinn räumlicher Distanz, die die Menschen gegeneinander isolierte und von der Notwendigkeit befreite, die Angelegenheiten aller anderen Menschen mit zu bedenken, erodiert ist. Damit jedoch hat sich das Bild der Humanität grundlegend verändert.« (1993:169) Indem also der globale Alltag zum integralen Bestandteil von Medienwelten wird, vollzieht sich eine Art Globalisierung der Emotionen und der Empathie. Die Menschen erfahren sich selbst als Teil einer fragmentierten, gefährdeten Zivilisation und Zivilgesellschaft, die durch die Gleichzeitigkeit von Ereignissen und das Wissen um diese Gleichzeitigkeit überall in der Welt gekennzeichnet ist. John Tomlinson redefiniert das Konzept des Kosmopolitischen in diesem Sinne. Er versucht begrifflich zu fassen, wie sich die Beziehungen zwischen und Lokalem transformiert haben (1999: 194-207). Die Globalem Entgegensetzung von lokal und kosmopolitisch wird falsch, argumentiert er, weil die Moral der Lebenswelten gerade nicht mehr diesem Gegensatz gehorcht. Er sieht einen Kosmopolitismus im Entstehen begriffen, der moralischen Ambitionen und Ambiguitäten sowohl in der Nähe als auch über Entfernungen hinweg Wirksamkeit verleiht. Diese Verbindung von Lokalität und Kosmopolitismus erzwingt einen Blick auf die grenzenübergreifenden Moralvorstellungen und Aktivitäten innerhalb bestimmter lebensweltlicher Kontexte. Bronislaw Szerszynski und John Urry (2002: 470) haben für Forschungszwecke die folgenden kosmopolitischen Prädispositionen und Praktiken unterschieden: 67
- »Extensive Mobilität, in der Menschen über die Möglichkeit verfügen, zu >reisen< - und zwar real, imaginär und virtuell, und wo die Menschen auch in einer signifikanten Zahl über die entsprechenden Mittel zu reisen verfügen; - die Kapazität, viele Plätze und Umwelten zu >konsumierenLandkarte< der eigenen Gesellschaft und ihrer Kultur in einem entsprechenden historisch-geographischen Wissen zu zeichnen, sowie die Fähigkeit, ästhetisch zwischen verschiedenen Orten, Naturen und Gesellschaften zu unterscheiden und diese zu beurteilen; - semiotische Kunstfertigkeiten, die es ermöglichen, die Selbstund Fremdbilder verschiedener Anderer zu interpretieren und zu verstehen, was mit ihnen gemeint ist; und zu erkennen, wenn sie ironisch gemeint sind; - eine Offenheit gegenüber anderen Menschen und Kulturen und eine Bereitschaft/Fähigkeit, einzelne Bestandteile der Sprache und Kulturen der >Anderen< als Bereicherung zu empfinden.« Die Forschungsergebnisse der Autoren verweisen in der Tat auf die weite Verbreitung - ein »Versickern« - eines allgemeinen Kosmopolitismus. Immer mehr Menschen, so zeigen diese Forschungen, sind sich sehr wohl bewußt, daß sie in einem Zeitalter globaler Geld- und Güterströme sowie grenzenloser Risiken leben; daß die Interdependenzen anderen zunehmen; daß diemit Grenzen derMenschen, Nationen, Plätzen Kulturenund undUmwelten Religionen sich verwischen und vermischen; und daß sie irreversibel eingebunden sind in einen Erfahrungsraum, in dem sich lokale, nationale und globale Einflüsse und Inhalte durchdringen. Wie ein befragter Interviewpartner es formulierte: Kosmopolitisierung »ist greifbar geworden als Möglichkeit und als Wirklichkeit.« (Ebd.: 472) In den qualitativ gewonnenen Untersuchungsergebnissen wird deutlicher, wie lokale Loyalität, globale Offenheit und moralische Interdependenz aufeinander bezogen werden. »Die meisten, wenn nichtund alleverpflichtenden der Antwortenden brachten irgendeine Art eines aktiven Gemeinschaftsbildes zum Ausdruck, und zwar im Sinne eines tatsächlich existierenden Lebensstils, einer 68
verlorenen Welt der Vergangenheit oder als ein Ideal für die Zukunft. Interessanterweise wurde dieses Gemeinschaftsbild meistens gerade nicht mit einem begrenzten Territorium verschmolzen. Die befragten Individuen sahen sich selbst vielmehr eingebunden in weitergefaßte, zersplitterte Gemeinschaften, die nicht geographisch gebunden waren, aber auf geteilten Interessen oder Emotionen beruhten und organisiert wurden durch Praktiken und Themen wie beispielsweise Fußball, Engagement für hilfsbedürftige An dere, Arbeit, Umw elt, Studentenorganisationen, Motorspor t usw.« (Ebd.: 474) Viele der Befragten waren sich sehr wohl der globalisierten Kultur bewußt, in der sie leben, und formulierten ihre gemeinschaftlichen Bindungen in Begriffen, die Scott Lash für die Zweite Moderne entstehen sieht und die gekennzeichnet sind durch die Gleichzeitigkeit von Wählbarkeit und Vorgegebenheit, von Verschweigen und Erinnerung (Lash 1999: 14). 12 es auch? so etwas wiesich einenicht (ungleiche) Kosmopolitisierung Biographie derGibt Zeigt diese darin, daß für den, der ein elitäres Leben führt, Grenzen immer durchlässiger werden, während für die anderen, die arm sind, dieselben Grenzen unüberwindlich sind? Kosmopolitisierung der Biographie heißt: Die Gegensätze der Welt finden in ungleich verteilter Weise nicht nur dort draußen, sondern auch im Zentrum des eigenen Lebens statt. Ist es, idealtypisch gesprochen, das »ortsmonogame« Leben, das die nationalstaatliche Moderne kennzeichnet, so drückt sich die innere Globalisierung der Biographie in einer Art Ortspolygamie aus (Beck 1997).mehr Das Symbol der im Inneren phie ist nicht der »Flaneur«, sondernentgrenzten das Leben Biogramit der Mailbox: Man ist da und nicht da, man antwortet nicht und doch automatisch, sendet und empfängt - zeitlich und örtlich versetzt Nachrichten, die man technisch von allen Orten der Welt empfangen kann und gespeichert hat. Derartige ortspolygame Lebensformen und Biographien entfalten sich allerdings quer zu Stand und Klasse, Legalität und Illegalität, Mobilität und Migration. Es sind gerade die illegalen Migranten, die gegen den staatlichen Machtund Kontrollzugriff ihre grenzenübergreifende Ortspolygamie im alltäglichen Kampf immer wieder aufs neue sicherstellen müssen. 12 Zur qualitativen Erforschung der »banalen« Kosmopolitisierung siehe auch Kapitel III.
69
4. Von der Notwen digk eit und der Schwierigk eit, zwischen emanzipatorischem und despotischem Kosmopolitismus zu unterscheiden Was Kosmopolitismus ist, läßt sich letztlich nicht davon trennen, was Kosmopolitismus sein sollte. Kosmopolitismus ist nicht länger ein Traum, sondern ist, wie verzerrt auch immer, zur sozialen Realität geworden, die es zu entdecken gilt. In diesem Buch steht diese neue analytisch-empirische Dimension des Kosmopolitismus im Zentrum - daher die Rede vom »kosmopolitischen Blick«. Wenn deshalb die normative Frage, was Kosmopolitismus sein sollte, zunächst zurückgestellt wurde, so heißt das nicht, daß sie ausgeklammert werden könnte oder sollte. Vielmehr eröffnet die Beschäftigung mit der kosmopolitischen Erweiterung und begrifflichen Neufassung des sozialwissenschaftlichen Blicks auch neue Wege und Aussichten auf die Dilemmata und die normativen und politischen Gehalte eines globalen Kosmopolitismus (Cheah/Robbins 1998;Vertorec/Cohen 2002; Wapner/Ruiz 2000; Held/König/ Archibugi 2003). Das, was dem Kosmopolitismus bislang angekreidet wurde, sein Idealismus - »Sentimentalbrei« -, kann sich auf dem Wege in die Realpolitik als paradoxe Gefahr erweisen: Die Ideenwelt des Kosmopolitismus hatte noch keine Chance, sich als Utopie zu verbrauchen. Diese »Chance« hatte allerdings der Nationalismus, und er hat sie, wie die Vordenker des Kosmopolitismus vorhersahen --,»deutschtolle »Patriotismus der Inhumanität« usw. zur blutigen Harlekinade«, Selbstwiderlegung genutzt. Aber selbst durch die vernichtende Kritik des Nationalismus wird noch niemand zum Kosmopolit. Man kann auch ein beiderseitiger Atheist sein: weder dem Nationalismus noch dem Kosmopolitismus Glauben schenken. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Staatenwelt des Ostblocks hat einmal mehr bewiesen, »daß sich Nationen rein administrativ und von außen, von einem Jahr aufs andere, zunichte machen lassen; er beweist damit die Hinfälligkeit des Prinzips Nationalität. Natürlich macht uns dieser Vorgang nicht zu Kosmopoliten. Obwohl lebt der Idee der Nation objektiv äußerst nichts Handfestes mehr entspricht, sie subjektiv, als Illusion, zäh weiter.« (Hans Magnus Enzensberger 1992 a: 192) 7°
Nach einem Jahrhundert wie dem 20., in dem die Ideologien die Menschheit fast zugrunde gerichtet haben, ist der Glaube an die Gutheit des Guten schlicht nicht gut genug. Der kosmopolitische Blick, wenn er sich das Ehrenprädikat »realistisch« verdienen will, muß sich für die Dilemmata öffne n, für die Träume wie fü r die Albträume, für das Gutgemeinte wie für die absehbaren Katastrophen. Anders gesagt: Ein Optimist des kosmopolitischen Blicks kann sehr wohl ein Pessimist der kosmopolitischen Mission sein (Beck 2002 a, Schluß-Kapitel). Es gibt keine direkte, lineare, ethische Begründung eines kosmopolitischen Projekts, keinen direkten Beweis seiner moralischen oder funktionalen oder pragmatischen Überlegenheit. Es gibt nur den »Umweg«, seine fundamentalen Ambiguitäten und Mißbrauchsformen vorwegeilend aufzuspüren. Wer eine kosmopolitische Ethik und Politik begründen und entwerfen will, muß zunächst danach fahnden, welcher ideologische Machtmißbrauch der gutgesinnte Kosmopolitismus eröffnet: Selbstideologiekritik lautet das Gütekriterium des neuen Kosmopolitismus. Es führt demnach kein Weg daran vorbei, auszuloten, wie notwendig und abschüssig die Unterscheidung zwischen emanzipatorischem und despotischem Kosmopolitismus ist.
4.1
Drei historische Momente des emanzipatorischen Kosmopolitismus
In Konzentration auf die europäische Geistesgeschichte lassen sich (mindestens drei) historische Momente eines emanzipatorischen Kosmopolitismus unterscheiden: antiker Kosmopolitismus (Stoa); das jus cosmopolitica der Aufklä rung (Immanuel Kant); Verbrechen gegen die Menschheit (Karl Jaspers, Hannah Arendt) - vgl. Fine/ Cohen 2002. (1)Die altgriechische Philosophie der Stoa entwirft mit dem Doppelbegriff - »Kosmos« und »Polis« - die begriffslogische Architektur der kosmopolitischen Idee. Das kosmopolitische Dual die kosmischepolitischen Polis und die Mitgliedschaft in nicht mehr auf oderder weniger abgegrenzten Gemeinden - beruht Negation des Entweder-Oder, sondern auf dem Prinzip des Sowohl71
als-Auch. Das heißt: das eine verweist auf das andere, keines ist ohne das andere möglich, beides konkretisiert, stärkt sich wechselseitig. Es handelte sich allerdings um ein »hierarchisches Sowohl-als-Auch«: Die kosmische Polis (modern gesprochen: die Menschenrechte) verkörpert das »höhere« Prinzip, demgegenüber die Besonderheiten der Gemeinde nachgeordnet erscheinen. Die Menschen-Polis und die Stadt- bzw. Staats-Polis bilden ein inklusives Dual, das die Aufmerksamkeit darauf richtet, in welchen Spannungen diese Pole zueinander stehen, wie sie sich politisch ermöglichen, in Frage stellen, stabilisieren und individuell und kollektiv gelebt werden können. (2) Der kosmopolitische Aufklärer Kant legt 1784 den Text vor, der, wie Patrick Bahners treffend bemerkt, »ein geheimer Grundtext der Gegenwart« ist. In seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht verbindet Kant zwei Absichten: Die Sehnsucht nach dem ewigen Frieden, die die Aufklärer bewegte, wird zum einen zu einer gleichsam evolutionären Theorie der Weltbürgerlichkeit umgeformt, zum anderen in die Prägnanz juristischer Kategorien gefaßt: »Es ist zwar ein befremdlicher und, im Anscheinen nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen; es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein Roman zustande kommen. Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur, selbst im Spiegel der menschlichen Freiheit, nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könnte diese Ideesind, dochden wohl brauchbar werden; und, ob wir gleich zu kurzsichtig geheimen Mechanismus ihrer Veranstaltung zu durchschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, einen sonst planlosen Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im Großen, als System darzustellen.« (1977a: 154, zit. nach Sigrid Thielking) Kants geschichtsoptimistisches Argument ist realistisch, weil es die Anarchie der Staatenwelt und damit deren Tendenz zu kriegerischen Verwicklungen zur Grundlage nimmt. Insof ern geht Kant in seinem Entwurf Zum Ewigen Frieden vom Staatsbürgerrecht und
jus Völkerrecht ausWenn und die begründet daneben Verfassung und dazwischen einStaat cosmopolitica. staatsbürgerliche in jedem republikanisch ist und wenn das Völkerrecht freier Staaten födera7
2
listisch ist, dann läßt sich ein drittes Recht, das Recht auf Hospitalität, hinzufügen. Kants Argumente sind also weder transstaatlich noch transnational; sie begründen vielmehr die Legitimität des kosmopolitischen Rechts unter den Voraussetzungen eines Aufklärungsoptimismus, einer sich zum republikanischen föderalistischen Prinzip hin entwickelnden Staatenwelt. (3) Schon Kants Entwurf einer republikanischen Moderne in kosmopolitischer Absicht richtet sich gegen den Horror des Krieges und der Gewalt, der seine Blutspur durch die Jahrhunderte zieht. Karl Jaspers und Hannah Arendt sehen sich am Ende des Zweiten Weltkrieges und angesichts der staatlich organisierten Judenvernichtung mit bis dahin unvorstellbaren Steigerungsformen bestialischer Inhumanität konfrontiert. In der daran anschließenden Diskussion über politische Versöhnung, Vergebung von Schuld entfalten Karl Jaspers und Hannah Arendt in ihrem Briefwechsel (1985) die sich damit stellenden philosophischen, politischen und juristischen Fragen exemplarisch. Beide nehmen den »Zivilisationsbruch« des Holocaust zum Ausgangspunkt. Wäh rend Jaspers von »metaphysischer Schuld« spricht, die in authentischer Buße gesühnt werden sollte, betont Hannah Arendt den politischen Aspekt der Verantwortung, der ohne »Authentizität« auskommen kann. Jedes Handeln, argumentiert sie, verstrickt sich in die Irreversibilität seiner Folgen. Nicht nur Gott muß verzeihen, die Menschen müssen den Menschen verzeihen, und zwar öffentlich, weil nur so die Fähigkeit, weiter zu handeln, zurückgewonnen werden kann. Gilt das allgemein, so gilt es insbesondere angesichts der monströsen Verbrechen des Holocaust. Die wahre Vergebung besteht darin, wie Jacques Derrida argumentiert, das Unvergebbare zu vergeben. Wenn Vergebung nur das Vergebbare vergibt, dann wird die Idee der Vergebung verschwinden. Es ist die historisch neue Kategorie des »Verbrechens gegen die Menschheit«, an der sich die Dilemmata eines politischen Kosmopolitismus als Antwort auf den Holocaust nachzeichnen lassen. Diese cosmopolitan moments (deren Argumentationsreichtum hier fast unverantwort lich verkür zt wurde) weisen drei Schwächen auf: Sie verbleiben im Horizontheißt: des Normativen und des Rechts, was, andersherum gewendet, erstens mangelt es bis heute an einer hinreichend komplexen politischen Theorie des Kosmo73
politismus; zweitens tauchen in den bisherigen Debatten die Fragen eines empirisch-analytischen Kosmopolitismus gar nicht auf; drittens werden die fundamentalen Ambiguitäten, die mit der Kosmopolitisierung der Wirklichkeit aufbrechen, zwar gestreift, aber nicht systematisch aufgedeckt und durchdacht. Dieses letztere soll hier wenigstens in einer Gedankenskizze angedeutet werden, bevor es im Kapitel V systematisch aufgegr iffen wird.
4.2
Das Menschenrechtsregime zwischen Ewigem Frieden und Ewigem Krieg
Das Menschenrechtsregime ist das Schlüsselbeispiel dafür, wie die Unterscheidung zwischen national und international aufgehoben und die innere Kosmop olitisieru ng der Nationalgesellschaften vorangetrieben, wird. also die Grammatik desdie Sozialen und Politischen umgeschrieben Wird damit doch Selbstverpflichtung globalisiert, die so oder so definierten Menschenrechte - unter Strafe von deren (selbst militärischer) Durchsetzung durch andere - sowie die Basisregeln der Demokratie zu achten, und zwar überall. Die globale Verinnerlichung der Menschenrechte destabilisiert die despotischen Regime von innen wie von außen. Menschenrechtsuniversalisierung erzeugt nicht nur ein nationales Legitimationsvakuum, sondern auch ein Herrscha ftsvaku um, weil despotische Herr schaft ihr Unterdrückungssystem nicht mehr hinter den gesicherten souveränen Grenzen perfektionieren kann. Gleichheit, Reziprozität und Universalismus des Rechts berauben Staaten der Attribute ihrer Machtfülle und der unbegrenzten Selbstbestimmung. Diktatoren können für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden, das heißt insbesondere auch, die herrschenden Eliten werden ihrer Unangreifbarkeit und Machtprivilegien beraubt. Solange und weil keine Weltregierung existiert, sind es die Menschenrechte und die über ihre Einhaltung oder Verletzung urteilenden Instanzen, die Legitimität stiften, zusprechen oder entziehen und damit - das ist die Kehrseite - Staaten, Länder, Regionen der anderer die Staaten preisgeben. Die »legitimen« Sprache der Gewaltintervention Menschenrechte verändert Grundlagen der Weltpolitik, weil sie alle Ebenen und Bereiche nationaler Politik 74
und Gesellschaft durchdringt, für externe Beurteilungen, Kontrollen und Interventionen öffnet: Von der lokalen über die nationale bis zur globalen Ebene werden die Konflikte und Konfliktregulierungen rekonzeptualisiert. Ehemals lokale Konflikte werden nun ebenso wie nationale Konflikte von innen her internationalisiert, politisch globalisiert. Menschenrechte heben auf, hebeln aus scheinbar ewigen Grenzen und erzwingen neue Grenzziehungen, neue Selektivitäten, die jedoch nicht der Logik des Rechts, sondern der Logik der Macht folgen. Diese Einsicht ist wesentlich: Das Menschenrechtsregime wirkt zutiefst zweischneidig. Es erlaub t nicht nur Konfliktreg ulierung en über Grenzen hinweg. Es eröffnet auch »humanitären Interventionen« in andere Länder Tor und Tür. Seine Wirkung kann mit einem speienden Vulkan verglichen werden, der die Welt mit einer feuerroten Lavamasse kriegerischer Konf likte überzieht. Gerade weil die Durchsetzung der Menschenrechte nationale Widerstände überwindet und überwinden muß, schlägt das Versprechen auf Befriedigung und Stabilität durch Menschenrechte - der »Ewige Frieden«, den Kant vordachte - so leicht in Entfriedung und Destabilisierung durch Ewige Kriege um. Erst der advocatus diaholi, der die kosmopolitische Gutwilligkeit auf ihre emanzipatorische Leistung oder den Mißbrauch befragt, eröf fnet die Kontr overse um die Ethi k und Politik des Kosmopolitismus.
Kapitel II Die Wahrheit der Anderen: Vom kosmopolitischen Umgang mit Andersartigkeit - Unterscheidungen, Mißverständnisse, Paradoxien
Die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit ist nicht - so wurde im vorangegangenen Kapitel argumentiert - das Ergebnis einer listigen Verschwörung von Seiten der »globalen Kapitalisten« oder des »amerikanischen Griffs nach der Weltherrschaft«, sondern die ungesehene soziale Folge von Handlungen, die auf andere Ergebnisse gerichtet waren, ausgeführt von Menschen, die im Netzwerk globaler Interdependenzrisiken agieren. Diese oft erzwungene, meist ungesehene und ungewollte Nebenfolgen-Kosmopolitisierung durchkreuzt die Gleichsetzung von Nationalstaat mit Nationalstaatsgesellschaft und schafft transnationale Kommunikationsund Lebensformen, Zurechnungen, Verantwortlichkeiten, Selbstund Fremdbilder von Gruppen und Individuen. In dem Maße, in dem diese historische Lage - nämlich, daß der Nationalstaat zunehmend gleichsam von einer planetarischen Interdependenz belagert und durchdrungen wird, von ökologischen, ökonomischen und terroristischen Risiken, die die getrennten Welten unterentwickelter und entwickelter Nationen aneinander binden - weltöffentlich reflektiert wird, entsteht etwas historisch Neues: kosmopolitischer Blick, in dem sich die Menschen zugleich alsein Teil einer gefährdeten Welt und als Teil ihrer lokalen Geschichten und Lagen sehen. Hier liegen die Ansatz- und Ausgangspunkte eines realistischen Kosmopolitismus, eines kosmopolitischen Realismus. Was aber unterscheidet den kosmopolitischen Blick von einem universalistischen, relativistischen, multikulturellen Blick? Und was macht den kosmopolitischen Blick zu Beginn des 21. Jahrhunderts »realistisch« - im Unterschied zum kosmopolitischen Idealismus? Dies sind die Fragen, die dieses Kapitel und untersucht. Dabei wird »realistisch« (wie in aufrollt der bisherigen Argumentation), vereinfacht gesprochen, gleichgesetzt mit »sozialwissenschaftlich«: 76
Der realistische Kosmopolitismus soll, abgelöst von der philosophischen Vorgeschichte, auf ein Grundproblem der Zweiten Moderne bezogen werden: Wie gehen »Gesellschaften« in der globalen Interdependenzkrise mit »Andersartigkeit« und »Grenze« um? In der Beantwortung dieser Frage werden zwei Argumentationsschritte vorgestellt und entfaltet: Erstens werden verschiedene gesellschaftliche Modalitäten im Umgang mit Andersartigkeit unterschieden - Universalismus, Relativismus, Ethnizismus, Nationalismus, Kosmopolitismus, Multikulturalismus usw. -, die ihrerseits auf historische Gesellschaftsformationen - Erste Moderne, Zweite Moderne, Postmoderne - bezogen werden. Dabei soll unter anderem herausgearbeitet werden, daß beispielsweise die universalistische Praxis (aber ebenso der Relativismus usw.) widersprüchliche Impulse enthält: Der Universalismus verpflichtet dazu, den Anderen als prinzipiell gleich zu respektieren, enthält jedoch gerade deswegen keine Aufforderu ng, die die Neugierde fü r die Andersheit der Anderen wachrufen würde. Im Gegenteil: Die Besonderheit der Anderen wird der Unterstellung der universellen Gleichheit geopfert, die ihrerseits den eigenen Entstehungs- und Interessenzusammenhang verleugnet. So entsteht das Doppelgesicht des Universalismus: Respekt und Hegemonie, Rationalität und Terror. Ähnlich entspringt die Betonung des Kontextes und der Relativität der Standpunkte dem Impuls, die Andersheit der Anderen anzuerkennen, verabsolutiert gedacht und praktiziert, schlägt dies jedoch um in die Behauptung der Unvergleichbarkeit der Perspektiven, die in prästabilisierte Ignoranz mündet. Zweitens: Realistischer Kosmopolitismus - so lautet die Schlußfolgerung - darf nicht exklusiv, sondern muß in einem bestimmten Sinne inklusiv zu Universalismus, Kontextualismus, Nationalismus, Transnationalismus usw. verstanden, präzisiert und praktiziert werden. Es ist die besondere Kombination von Bedeutungselementen, die der kosmopolitische Blick mit dem universalistischen, relativistischen, nationalen Blick teilt und mit der er sich zugleich gegen diese abgrenzt.
universalistisches Der realistische Kosmopolitismus setzt ein Minimum voraus. Dazu gehören inhaltliche Normen, die auf keinen Fall verletzt werd en dürfen : daß Kinder, Frauen nicht verkau ft, 77
nicht versklavt werden dürfen und daß jedermann aussprechen darf, was er von Gott und seiner Regierung hält, ohne gefoltert und mit dem Tode bedroht zu werden, ist eine solche Selbstverständlichkeit, daß ein Verstoß dagegen nicht auf kosmopolitische Toleranz stoßen darf. Von einem »kosmopolitischen Common sense« kann dann die Rede sein, wenn es gute Gründe gibt anzunehmen, daß die Mehrheit der Menschen dort, wo diese universalistischen Minimalia gelten, bereit ist, diese gegebenenfalls zu verteidigen. Zum anderen schließt der realistische Kosmopolitismus universelle prozessurale Normen ein, da es diese überhaupt erst ermöglichen, den Umgang mit Andersheit grenzenübergreifend zu regulieren. Auf diese Weise muß sich der realistische Kosmopolitismus auch mit der bitteren Frage nach seinen eigenen Grenzen auseinandersetzen: Bezieht sich die Anerkennung der Freiheit der Anderen gleichermaßen auf Despoten wie auf Demokraten, auf antikosmopolitische Füchse wie auf die Hühner, die sie jagen? Anders gesagt: Der realistische Kosmopolitismus muß sich mit einem Gedanken auseinandersetzen, der dem Kosmopolitismus besonders fremd ist: daß er, der die Anerkennung des Anderen zum Kern seiner Au ffassung von Gesellschaft und Politik macht, Gegner erzeugt, die nur mit Gewalt niedergehalten werden können; woraus folgt: Man muß sich in den Widerspruch hineinbegeben, die eigenen Grundsätze die Freiheitsrechte zu schützen und die Andersartigkeit der Anderen zu gewährleisten - notfalls zu brechen, um sie zu bewahren. Der kosmopolitische Realismus negiert Nationalismus nicht, sondern setzt ihn vorausWo unddie verwandelt ihnStabilisatoren zu einem kosmopolitischen Nationalismus. nationalen im Umgang mit Differenz fehlen, da droht der Kosmopolitismus ins philosophische Wolkenkuckucksheim abzuheben.
1. Zum gesellschaftlichen Umgang mit Andersartigkeit 1.1 Das Doppelgesicht des Universalismus Wer Beginn desAndersheit 21. Jahrhunderts über umdie Frage,diewieDiskussionen die westlicheam Welt mit der der Anderen geht, anhand einflußreicher Texte wie dem Buch von Samuel Hun78
tington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (1996) und dem von Francis Fukuyama, The End of History (1989), aus einer historischen Perspektive betrachtet, bemerkt mit Erstaunen, wie sehr die Debatten auf der legendären Konferenz von Valladolid im Jahre 1 5 5 0 - wo darüber gestritten wurde, bis zu welchem Ausmaß die Indianer verschieden von den Europäern und daher minderwertig seien - den gegenwärtigen Kontroversen ähneln. Die Huntington-These besagt: Die großen Konfliktlinien während des Kalten Krieges waren offen politisch und gewannen ihre Brisanz aus nationalen und internationalen Sicherheitsbelangen, die Konfliktlinien heute dagegen laufen entlang großer Kulturantagonismen, in ihnen brechen zivilisatorische Wertgegensätze auf. Die Kultur, die Identität und der religiöse Glauben, die früher politischen und militärischen Strategien untergeordnet waren, bestimmen nun die Prioritäten der internationalen politischen Agenda. Wir erleben die Invasion der Kultur in die Politik. Zivilisatorische Trennungslinien verwandeln sich in Bedrohungen der internationalen Stabilität und der Weltordnung. Die demokratischen Werte des Westens und die vormodernen Werte der islamischen Welt stehen sich immer bedrohlicher, feindlicher gegenüber, kollidieren, und zwar sowohl innerhalb von Nationalstaaten als auch zwischen Weltregionen. Fukuyama beantwortet die Frage, welche Zukunft das westliche Modell der liberalen Demokratie hat, holzschnittartig zusammengefaßt, folgendermaßen: Nachdem dasist,System desliberalen sowjetischen Kommunismus zusammengebrochen gibt es zur Marktwirtschaft à la Américain keine historische Alternative mehr. Der »demokratische Kapitalismus« ist die einzig wahre Vision von Modernität, und gemäß seiner inneren Logik wird diese Vision die ganze Welt durchdringen und umformen. Auf diese Weise wird eine universelle Zivilisation entstehen, mit der die Geschichte endet. Diese zwei Modalitäten im Umgang mit Andersartigkeit standen sich schon vor mehr als vierhundert Jahren au f jener Konf erenz von Valladolid gegenüber, damals verkörpert durch aristotelischen Philosophen Juan Ginés de Sepulveda und den den dominikanischen Priester Bartolome de Las Casas: der Universalismus der Verschie79
denartigkeit und der Universalismus der Gleichartigkeit. Sepülveda - ähnlich wie der Politiktheoretiker Huntington heute - fand, daß die Hierarchie der Werte, de Las Casas - ähnlich wie der Politikwissenschaftler Fukuyama -, daß die Gleichheit der Zivilisation für die Menschheit charakteristisch sei. Entsprechend strich der Philosoph die Unterschiede zwischen den Spaniern und den Indianern heraus. Für ihn war ausschlaggebend, daß die Indianer nackt herumliefen, Menschen opferten, den Gebrauch der Pferde und Esel nicht kannten und nichts vom Geld oder der christlichen Religion wußten. Der Philosoph gliederte die Gattung der Menschheit in gleichzeitig lebende Völker verschiedener Kult urstu fen. Für ihn war Verschiedenheit gleichbedeutend mit Minderwertigkeit, was die doppelte Konsequenz hatte: Zum einen zeige sich, blicke man vom zivilen Europa auf das barbarische Amerika, daß der Mensch des Menschen Gott sei. Zum anderen leite sich daher die Unterwerfung und Ausbeutung als pädagogischer Auftrag ab. Ähnlich denkt Huntington heute das Verhältnis der westlichen Welt zu dem kulturell Anderen, der islamischen Zivilisation, als eine vertikale Andersartigkeit, die zwei Momente enthält: Den »Anderen« wird der Status der Gleichartigkeit und der Gleichwertigkeit abgesprochen, weshalb sie hierarchisch untergeordnet werden und als minderwertig gelten. Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, kulturell Andere als »Barbaren« zu bezeichnen und zu behandeln - sei es, daß man sie zu den wahren Werten des Christentums bzw. des demokratischen Kapitalismus bekehren, sei es, daß man sich gegen die Bedrohung, dieWehr von setzen ihnen muß. ausgeht, mit entsprechenden militärischen Mitteln zur Dabei fällt auf, wie der aristotelische Philosoph damals vor selbstgewisser Überlegenheit geradezu platzte, während Huntingtons Schrekkensdiagnose eher mit einem apokalyptischen Unterton vorgetragen wird. Ein neuer »Untergang des Abendlandes« droht, wenn wir uns nicht die Hände reichen und gemeinsam gegen die »islamische Gefahr« und für die Werte des Westens in die Schlacht ziehen. Der dominikanische Priester de Las Casas verteidigte eloquent die Rechte der Indianer. Sie, so argumentierte er, glichen denchristEuropäern in überraschender Weise. Sie erfüllten die Ideale der lichen Religion, welche keinen Unterschied in der Hautfarbe und 80
Herkunft kennt. Die Indianer seien überaus freundlich und bescheiden, achteten die Normen der Zwischenmenschlichkeit, die Familienwerte, ihre Traditionen und seien insofern mehr als viele andere Nationen der Welt auf das Beste vorbereitet, das Wort Gottes zu hören und seine Wahrheit zu praktizieren. Der Priesterverfocht einen christlichen Universalismus. Deshalb wendet er sich vehement gegen das Weltbild der hierarchischen Verschiedenartigkeit. Das G egenprin zip zur hierarchischen Unterordnung und Minderwertigkeit des Anderen behauptet die Auflösung der Unterschiede - sei es als anthropologisches Faktum, sei es im Fortgang der Zivilisation (Modernisierung). Der Umgang mit der Andersartigkeit der Anderen weist im Falle des Universalismus ein prinzipielles Doppelgesicht auf. Es tritt bereits in der Position des Dominikaners hervor: Nicht die Andersheit, sondern die Gleichartigkeit der Anderen bestimmt das Verhältnis von Wir und den Anderen. Unter dem universalisierenden Blick werden alle Formen menschlichen Lebens innerhalb einer einzigen zivilisatorischen Ordnung angesiedelt - mit der Folge: Kulturelle Differenzen werden entweder aufgehoben oder ausgegrenzt. Insofern handelt es sich um ein hegemoniales Projekt, das die Stimme des Anderen nur als Stimme des Gleichen zuläßt, als Selbstbestätigung, Selbstbespiegelung, Selbstgespräch. Übertragen auf einen afrikanischen Universalismus hieße das: Der wahre Weiße hat eine schwarze Seele. Selbst die amerikanische Nation, die alle Ethnizitäten, Nationen und ReligionenEin in sich beheimatet, hat ein ambivalentes Verhältnis zur Differenz. Amerikaner zu sein, heißt, mit der Differenz in direkter Nachbarschaft zu leben; und das heißt nicht selten, in der »Huntington-Angst« zu leben, daß mit der Betonung der ethnischen Unterschiede der Untergang des Abendlandes droht, daß ethnische Unterschiede niemals überbrückt werden können und daß ohne nationale Assimilation, ohne die nationale Aufhebung der Differenz, das Chaos, das unter der Oberfläche wütet, hervorbricht. Gerade weil die ethnische Differenz ein integraler Bestandteil des amerikanischen Nationalbewußtseins ist, greift die Furcht, Amerika sei ein Volk können, von Völkern, nicht aufs im »Schmelztiegel« amalgamiert werden immerdiewieder neue um sich und fordert und fördert einen Zwang zu Gleichheit und Konfor81
mismus. Hier liegt die Dialektik von Differenz und Konformität begründet, mit der der Nationalismus sich gegen die Gefahr der ethnischen Auflösung zur Wehr setzt: Je größer die Vielfalt und je größer und unüberbrückbarer die ethnischen Differenzen inszeniert werden und erscheinen, desto lauter wird der Ruf nach dem Konformismus der Gemeinschaft, der das nationale Ethos verkündet (Kommunitarismus). 1 Von Paulus über Kant und Popper bis zu Lyotard und Rorty lassen sich verschiedene Varianten derselben Dialektik unterscheiden, die Gefahr, die von der ethnischen Differenz ausgeht, durch die Betonung einer allgemein verbindlichen Humanität für alle, also im Rüc kgriff auf den westlichen Universalismus, einzuschränken. Die ethnische Vielfalt, die real existiert, besitzt in dieser Perspektive keinen Wert an sich, wie dies der Universalismus gleichsam natürlich für sich reklamiert. Bejaht wird nicht die Forderung, daß wir alle die Andersheit der Anderen anerkennen müssen, sondern daß wir letztlich gleiche Menschen sind und den Anspruch auf gleiche Rechte haben. Im Konfliktfall, wenn die ethnische Vielfalt die Universalwerte des Humanen in Frage stellt, gilt es, den Universalismus gegen die Partikularismen zu verteidigen. Um dies zu verdeutlichen, greifen wir noch einmal den christlichen Universalismus, also das Dual »Christen-Heiden« heraus: Seine Kraft bezieht er daraus, daß alle Menschen aus den ihnen scheinbar unablösbaren Bindungen an die Hautfarbe, Herkunft, das Geschlecht, das Alter, die Nationalität, die Klassenzugehörigkeit herausgelöst und als Gleiche vor Gott, also in der existentiellen Glaubensgemeinschaft der Christenheit, angesprochen werden. Das Dual leugnet also die Asymmetrie, die es setzt. »Der Gegensatz zwischen allen Menschen einerseits, und den getauften andererseits, ist auch nicht mehr quantifizierbar wie die bisherigen Bezeich1 Inso fern besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Popularität und po litischen Wirksamkeit kommunitaristischer Strömungen und dem Huntingtonschen Schlagwort vom Kampf der Kulturen in den USA, das die zivilisationszerstörende Absicht einzig nicht-westlichen Gesellschaften und nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften zuschreibt. Dabei werden zwei Deutungen charakteristischerweise von vornherein ausgeschlossen: daß im Westen selber die Barbarei wieder aufbrechen könnte, hält niemand fü r möglich; ebensowenig wird systematisch erwogen, daß es die Nebenfolgen globaler Interdependenzrisiken sind, aus denen das Konfliktpotential sich speist. 82
nungen, vielmehr handelt es sich um eine Verdoppelung derselben Bezugsgruppe. Jeder Mensch soll C hrist werden, wenn er nicht der ewigen Verdammnis anheim fallen will.« (Koselleck 1989: 231) Der imperiale christliche Universalismus setzt auf diese Weise emanzipatorische Impulse frei, die sich bis in die Befreiungsbewegungen der Sklaverei zurückverfolgen lassen. Feministische Bewegungen haben sich auf Paulus berufen. Doch auch hier zeigt sich das Doppelgesicht: Erst im grenzennegierenden Universalismus - wie er sich im Chr istentum und in der Aufklä rung begründet - wird das Schwarzsein der Schwarzen, das Jüdischsein der Juden oder das Weiblichsein der Frauen zu einem »Partikularismus«, der als moralisch minderwertig gilt. Wer die Gleichheit leugnet, grenzt oder löscht die Andersheit der Anderen aus. Alle, die etwas anderes als den Universalismus behaupten, grenzen sich selbst aus, während die Verkünder der universellen Moral und Wahrheit immer dann, wenn der Universalismus in Frage gestellt wird, Chaos, Unordnung, eben die zersetzende Kraft ethnischer Partikularismen wittern. Wer den Universalismus ablehnt, verkennt die höhere Moral, die diesen auszeichnet, und verfällt damit selbst dem Verdikt des amoralischen, anti-moralischen Partikularen. Dadurch wird das Partikulare, das man selbst repräsentiert, universalistisch verklärt und verdrängt. Im selben Zug überhöht - die Mehrheit - ihre eigene Ethnizität und erklärt ihre Norm zur allgemeinen Norm. In den von Weißen dominierten Ländern heißt Weißsein das Privileg, nicht zu bemerken, daß man weiß ist. Der postulierten abstrakten entspricht Gleichheitsanspruch der Druck auf die ethnisch Anderen, sich Gleichheit diesem partikularen zu beugen, sprich: die Position des Unterschieds aufzugeben. Im nationalen Rahmen laufen alle Versuche, den Universalismus und den Partikularismus zu verbinden, auf die Vermutung, Zumutung hinaus: der wirkliche Schwarze ist der Nicht-Schwarze; der wirkliche Jude ist der Nicht-Jude; oder die wirkliche Frau ist die nichtweibliche Frau. Wenn sich Schwarze, Juden, Chinesen, Japaner und Frauen dann Schwarzer, Jude, Chinese, Japaner und Frau nennen, dann sind sie theoretisch und philosophisch unautorisiert, nicht up-to-date, strukturkonservativ und Gefangene »antiquierten« Selbstbildes. »Ethnisch korrekt«, also nichteines ethnisch human, ist das Selbstverständnis der »Partikularen« nur dann, wenn sie sich 83
von ihrer Ethnizität emanzipieren und dem offiziellen Modell des nicht-schwarzen Schwarzen, des nicht-jüdischen Juden, der nichtweiblichen Frau beugen. Oder in der Terminologie der Mainstream-Modernisierungssoziologie formuliert: Die Andersheit der Anderen ist ein Relikt, das mit Größe fortschreitender Modernisierung zu einer letztlich irrelevanten wird. Sowohl bei de Las Casas als auch bei Fukuyama wird dieses Verschwinden der Verschiedenartigkeit als Zivilisations prozeß gedacht - dort durch die christliche Bekehrung und Taufe, hier durch die ansteckende Überlegenheit der westlichen Werte (Marktwirtschaft, Demokratie). Damals wie heute gilt: Alternative ausgeschlossen! Es gibt keinen anderen Weg als den des christlich-westlichen Universalismus. So betrachtet, begann - ironisch gesagt - das »Ende der Geschichte« schon vor mehr als vierhundert Jahren. Doch zum Universalismus gehört auch, daß nurDoppelgesicht er Prinzipien des von westlichen Freiheit und Gleichheit global einfordert. Es können nicht auf der einen Seite globale Menschenrechte verkündet werden, und auf der anderen Seite gibt es eine muslimische, afrikanische, jüdische, christliche, asiatische Menschenrechtscharta. Die Andersheit des Anderen zu respektieren, seine Geschichte zu achten, verlangt, daß man ihn als Angehörigen derselben und nicht einer anderen, zweitklassigen Menschheit betrachtet. Menschenrecht bricht das Recht, Traditionen gegen »externe Übergriffe« abzuschirmen. Die Achtung menschenrechtsverletzender Traditionen kommt einer Mißachtung ihrer Opfer gleich. Daraus entstehen schwer auflösbare Dilemmata: Wer die globale Verantwortungsfrage aufwirft, sieht sich damals wie heute mit den Verlockungen und Gefahren des »Kolonialismus« konfrontiert. Damals hieß Kolonialismus Kolonialismus, heute dagegen »humanitäre Intervention«. Das Kernproblem lautet: Kann man in einer Welt globaler Interdependenzrisiken die Angelegenheiten der Anderen allein als Angelegenheiten der Anderen ansehen und auf diese abwälzen? Oder hat man gar keine andere Wahl, als sich in die »inneren Angelegenheiten aller« und einzumischen, wennSicherheit man nicht seine »eigenen« Werte verraten seine »eigene« gefährden will? 84
Man kann dieses Dilemma am Beispiel des im Sommer 2003 diskutierten westlichen Militärengagements in Afrika, genauer in Liberia, veranschaulichen. Für die Bevölkerung Liberias, die zwei Jahrzehnte lang unter Krieg, Banditentum und einer Reihe verbrecherischer Regime zu leiden hatte, kann eine solche Intervention gar nicht früh genug kommen. Man jubelt ein ordnungsstiftendes militärisches Engagement des Westens unter der Leitung der USA geradezu herbei. Kann man sich dem entziehen, ohne angesichts der Welle kosmopolitischen Mitleidens als kaltherziger Ignorant dazustehen, der sich zwar angesichts der Ölinteressen im Irak zur Eroberung desselben hinreißen ließ, nun aber in Liberia, wo es nun wirklich nichts zu holen gibt außer einer blutigen Nase, der Doppelmoral überführt ist? Gilt Hegels Verdikt - »an dieser Stelle verlassen wir Afrika, um es nicht wieder zu erwähnen« - immer noch? Kann man wirklich immer noch davon ausgehen, daß die »afrikanischen Barbaren«, die »da unten« ihr Spukunwesen treiben, ihre selbstverschuldete Katastrophe ausbaden müssen? Oder ist es nicht letztlich gerade der Universalismus, der dazu zwingt, in immer mehr Teilen der Welt - zunächst Bosnien, Kosovo und Mazedonien, dann Afghanistan und Irak und nun möglicherweise Liberia usw. - das Zwitterwesen eines »Menschenrechts-Kolonialismus« in Gestalt von »UN-Protektoraten« zu praktizieren?
1.2
Das Doppelgesicht des Relativismus
Wer gegen den Universalismus votiert, plädiert für den Relativismus - so das Denken in Entweder-oder-Alternativen. Während der Universalismus die Grenzen zu den kulturell Anderen aufhebt, erlaubt, erzwingt, konstruiert der Relativismus neue Grenzen. Wo und wie diese verlaufen bzw. gezogen werden, hängt davon ab, mit wem sich der Relativismus verbündet: Nationalismus (nationaler Relativismus), der Einheit de s Lokalen (lokaler Relativismus), K ulturalismus (kultureller Relativismus). Zielt der Universalismus auf die Aufh ebun g, so zielt der Relativismus auf die Hervorh ebung der Unterschiede. Entsprechend er nur mit die Entschiedenheit das, was der Universalismus bejaht:leugnet daß auch Möglichkeit bestehen könnte, allgemeine Normen zu entwickeln und anzuerkennen. 85
Die Geltung solcher Normen setzt Nietzsches Wille zur Macht voraus. Universalismus und Hegemonie sind insofern in der Perspektive des Relativismus zwei Seiten derselben Medaille. Der Relativismus weist wie der Universalismus ein Doppelgesicht auf. Der Universalismus hat - wie gesagt - den Nachteil, seinen Standpunkt anderen aberseiden das Schicksal der Anderen ernstaufzudrängen, zu nehmen, als es Vorteil, sein eigenes Schicksal. Das Doppelgesicht des Relativismus läßt sich komplementär begreifen: Auf der einen Seite kann eine Dosis Relativismus als Gegengift gegen die Hybris des Universalismus wirken. Relativismus und kontextuelles Denken schärfen den Respekt vor der kulturellen Differenz und können den Perspektivwechsel mit den kulturell Anderen reizvoll und nötig machen. Allerdings schlägt, wenn Relativismus und Kontextualismus verabsolutiert werden, diese Aufmerksamkeit für den Anderen in das Gegenteil um: Der Perspektivenwechsel dadurch daß erum schlicht und einfach fü r unmöglichwird erklärt wird.verweigert, Das Instrument, den Blick für Andere ebenso zu verschließen wie den Blick der Anderen auf die »eigene« Kultur abzulehnen, ist das Inkommensurabilitätsprinzip, das Prinzip der Unvergleichbarkeit der Perspektiven. Wenn alles relativ ist, hat der Eroberer seinen Standpunkt und der Eroberte seinen, das beobachtende Publikum nimmt weitere Standpunkte ein. Zwischen allen diesen klaffen mehr oder weniger unüberwindliche Abgründe. Mit dem Ergebnis: Alle sind, wie sie sind. Es entsteht ein desorientierter Relativismus, dem die Nabelschau Weltschau wird. der relativistischen InkommensuraDas zur unfreiwillig Ironische bilitätsthese ist, daß sie einer essentialistischen Weltsicht zum Verwechseln ähnelt. Sie (ver-)führt zu einem postmodernen Quasiessentialismus, der mit dem eindeutigen gemeinsam hat, daß man die Dinge nun einmal so hinnehmen muß, wie sie sind. Verallgemeinerter Relativismus ist ein vornehmes Wort für Nichteinmischung. Hier herrscht der ewige (Nicht-)Frieden des ewigen Relativismus. Man will seine Ruhe haben und andere in Ruhe lassen und begründet dies damit, die Gräben zwischen den Kultur en seien-unüberbrückbar. as mag - was die Motivz uschreibung betrifft eine polemischeDund falsche Formulierung sein. Aber die Inkommensurabilitätsvermutung läuft auf einen Nicht86
einmischungspakt zwischen den Kulturen hinaus, der in einer Welt, in der Nichteinmischung unmöglich, Einmischung immer schon gegeben ist, leicht in Gewalt umschlägt. Ein strikter Relativismus ist überdies historisch-empirisch falsch. Er verkennt oder verfälscht zum einen die historischen Fakten wechselseitig durchdringenden Historien; zum den anderenderistsich er blind dafür, daß die Grenzziehungen zwischen kulturellen Räumen, die der Relativismus voraussetzt und verdin glicht, ein europäisches Projekt und Produkt der ersten, nationalstaatlichen Moderne des 19. Jahrhunderts ist (McNeill 1985; Said 1978; McGrane 1989; Gilroy 2000). Ein kontextueller Universalismus geht demgegenüber von dem Gegensachverhalt aus, daß die kulturelle Durchdringung historisch real (der Norm alfall) und Nichteinmischung unmöglich sind. Denn genau dies meint: Wir leben in einer Ära der globalen Interdependenzkrise. Alle Versuche, sich herauszuhalten, in die lung getrennter Welten zu flüchten, sind grotesk, sind vonVorstelunfreiwilliger Komik. Die Welt ist zur Karikatur eines unwiderruflichen, miteinander aneinander vorbeiredenden (Nicht-)Gespräches geworden. Es soll hier keine falsche Alternative beschworen werden. Die Gegenthese zur Inkommensurabilitätsvermutung lautet nicht, es findet ein Gespräch statt. Die Gegenthese ist: Es gibt keine getrennten Welten. Angesichts des kunterbunt global zusammenhanglosen Zusammenhangs, erscheint das Nichtgespräch, das Nichteinmischen idyllisch. Antritt die der Stelle des Nichteinmischungspaktes wegen Unmöglichkeit kosmopolitische Realismus. Dieser besagt: Die vorgetäuschten Glücke der Inkommensurabilität sind illusionäre Fluchtwege aus der Falle des interkulturellen Zwangsschicksals, zu dem die sich selbst gefährdende Zivilisation geworden ist. Entsprechend steht nicht das Ob, sondern das Wie des Einmischens, des Eingemischtwerdens, Mit- und Gegenmischens zur Debatte. Wir können uns schon deswegen aus der afrikanischen Misere nicht heraushalten, weil es das Afrika »da unten« jenseits der Sicherheit und Verantwortung des Westens nicht gibt. Und daß die Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, heißt ja nicht, daß eskontextuellen sie nicht gibt, sondern daß sie fortwährend nach einer aktuellen, Definition verlangt. 87
1.3 Das Doppelgesicht des Nationalismus Die Art, wie der Nationalismus den gesellschaftlichen Umgang mit Andersartigkeit strategisch handhabt, läßt sich als eine Kombination der bisher genannten Strategien - hierarchische Andersartigkeit, der Gleichartigkeit - verstehen. Universalismus Hierarchische Andersartigkeit gilt und im Relativismus Außenverhältnis, der Universalismus der Gleichartigkeit im Innenverhältnis, und der Relativismus ist ein territorialer Relativismus, der mit nationalen Grenzen zusammenfällt. Im Innern leugnet Nationalismus die Andersheit der Anderen, nach außen behauptet, produziert und stabilisiert er sie. Es gibt zwar eine politisch effektvolle Solidarität mit Gleichen, also die Pflicht, Steuern zu zahlen, Anrechte auf Sozialhilfeleistungen, Bildungsmöglichkeiten und politische Partizipation; aber sie macht halt am nationalen Gartenzaun und kann sogar dazu die Gleichberechtigung verweigern, dienen, diese zuanderen BarbarenNationen zu stilisieren und damit selbst zuzu Barbaren zu werden. Dieser territorial begrenzte historische »Kompromiß« von Universalismus, Andersartigkeit und Relativismus ist der typische Modus des Umgangs mit Andersartigkeit in der Ersten Moderne. Das Doppelgesicht des Nationalismus zeigt sich bekanntlich nicht nur darin, daß der Gegensatz zwischen Wir und den Barbaren genutzt wird, um die nationale Gleichheit und Integration herzustellen, sondern auch im Verhältnis - wie es im nationalen Blick heißt von »Mehrheit« zu »Minderheiten«.
1.4
Das Doppelgesicht des Ethnizismus
Zur Abwehr globaler Interdependenzen taucht neuerdings ein Argument auf, das interessanterweise aus dem Arsenal des Antikolonialismus stammt: Südamerika den Südamerikanern, Kuba den Kubanern, Algerien den Algeriern, Afrika den Afrikanern. Diese Losungen einer ethnischen Territorialautonomie werden - paradoxerweise - auchden vonEuropäern« den Europäern um nach dem Motto »Europa gegenaufgegriffen, die bevorstehende Invasion »der Türken«, »der Russen« usw. mobil zu machen. 88
Allerdings ist das Doppelgesicht des neuen Ethnizismus nur allzu evident. Immer mehr Gemeinsamkeiten werden aufgekündigt. Wenn das Freiheitsbewußtsein, das die Moderne einschärft, zum Bestandteil des eigenen Selbstbildes geworden ist und mit radikaler Armut und Diskriminierung zusammentrifft, dann drehen die Ausgeschlossenen den von Spieß um und schotten mit sichsystematiihrerseits ab. Diese Überschneidung Freiheitsbewußtsein scher Verletzung der Würde ist die historische Geburtsstunde des ugly Citizen: Dieser ist in der Entstehungsgeschichte des Citizen, der in der politischen Theorie und Philosophie als guter Citizen verstanden wird, nicht vorgesehen. Hier droht in vielen Erdteilen die Gefahr, daß der autistische Ethnizismus, aufgeladen durch das Freiheitsbewußtsein der Moderne, selbst noch den nationalen Kompromiß, der Minderheitenrechte immerhin kennt und anerkennt, absichtlich zerstört. Das gewaltlose mitausnahmslos kulturell Anderen ist eine Zumutung, die sichZusammenleben in der Zivilisation jedermann gefallen lassen muß. Wer glaubt, das Menschenrecht zu haben, aus Nachbarn Fremde zu machen und diese mit dem Recht des geschichtlich erlittenen Unrechts gewaltsam zu vertreiben, darf nicht mit der Toleran z rechnen, die er durch seine Taten aufkü ndigt . Man kann Gewalt gegen Nachbarn, die aus diesen oder jenen Gründen plötzlich als Fremde ausgegrenzt werden, weder mit dem Hinweis auf Gegengewalt rechtfertigen noch damit, daß dies die Antwort auf die systematische Verletzung der eigenen Würde sei. Wenn sich eine palästinensische Frausitzen, in einem afe,Luft in dem auch israelische Frauen mit ihren Kindern in Cdie sprengt, dann müsse man - hört man gelegentlich gewiß nicht entschuldigend, aber doch verstehend - auch in Rechnu ng stellen: Man habe es mit »armen Schweinen« zu tun, deren Taten ihre eigene Unterdrükkungsgeschichte widerspiegeln; und von derart zutiefst in ihrer Würde verletzten Personen könne man schließlich nicht ohne weiteres die Einsicht erwarten, daß das in die Luftsprengen von Kindern, strenggenommen, nicht statthaft ist. Die Ab- und Ausgrenzung, die Betonung der Ethnizität setzt eine Gewaltdynamik frei, in der das zivilisatorische Minimum nichts mehr gilt.
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2. Was ist »realistisch« am realistischen Kosmopolitismus? Während Universalismus, Relativismus und Nationalismus auf dem Prinzip des Entweder-Oder basieren, beruht der Kosmopolitismus auf dem Prinzip des Sowohl-als-Auch Kosmopolitismus meint, wie gesagt, im Kern die Anerkennung von Andersheit sowohl im Inneren als auch nach außen. Kulturelle Unterschiede werden weder in einer Hierarchie der Andersartigkeit geordnet, noch werden sie universalistisch aufgelöst, sondern akzeptiert. Was das im einzelnen heißt, soll nun auf dem Hintergrund der zuvor unterschiedenen Modalitäten im gesellschaftlichen Umgang mit Andersheit präzisiert werden. Die These, die den Zugang eröffn et, lautet: Die Debatten um Universalismus versu s Relativismus, versus Verschiedenartigkeit werden meist nachGleichartigkeit dem Entw eder-O der-P rinzip geführt. Vomusw. Standpunkt des kosmopolitischen Realismus aus betrachtet, läßt sich dieses entweder Universalismus oder Relativismus, entweder Verschiedenartigkeit oder Gleichartigkeit usw. als Sackgassen-Debatte der falschen Alternativen aufdecken und überwinden, indem die verschiedenen Strategien im gesellschaftlichen Umgang mit Andersheit nach dem Sowohl-als-Auch-Prinzip neu durchdacht, gegeneinander abgegrenzt und aufeinander bezogen werden. Realistischer Kosmopolitismus ist nicht in Opposition zu, sondern als Summen- und Synthesebegriff Universalismus, Relativismus, Nationalismus, Ethnizismus zuvon verstehen und zu entfalten. Die verschiedenen Strategien im gesellschaftlichen Umgang mit Andersartigkeit schließen sich keineswegs aus (wie gemäß dem Selbstverständnis dieser Positionen zumeist unterstellt wird) - sie setzen sich voraus, korrigieren, begrenzen und bewahren sich wechselseitig: ohne Universalismus und Relativismus und Nationalismus und Ethnizismus - jeweils in einem bestimmten Sinne! - ist ein realistischer Kosmopo litismus nicht denkbar, nicht praktikabel. Da s, was am neuen Kosmopolitismus »realistisch« ist, ergibt sich zum einen aus anderen der wechselseitigen Korrektur dieser zum daraus, daß die Verbindung mehrBedeutungselemente, ist als die Teile. Anders gesagt: Auch Universalismus bleibt nicht Universalismus, 9°
Kontextualismus nicht Kontextualismus usw., sie verändern vielmehr ihre Bedeutung, wenn sie im und zum kosmopolitischen Realismus verschmolzen werden. Dies soll nun - zumindest skizzenhaft - dargelegt werden.
2. 1 Weder Huntington noch Fukuyama; Kosmopolitismus meint, was in beiden Positionen ausgeschlossen wird: den Anderen als verschieden und gleich zu bejahen Da der Kosmopolitismus Andersheit anerkennt, muß er sich einerseits gegen Universalismus und dessen totalisierenden Impulse abgrenzen, andererseits nach Wegen suchen, um die Akzeptanz von Andersartigkeit universell erträglich zu machen. Der Universalismus ist also für sich genommen ebenso ignorant wie unverzichtbar. Greifen wirinzunächst noch einmal die Kontrove rse von Valladolid zurück, der exemplarisch dasauf Entweder-Oder zwischen dem Universalismus der Verschiedenartigkeit - vertreten durch den aristotelischen Philosophen - und dem Universalismus der Gleichartigkeit - vertreten durch den Dominikanerpater - hervortrat. Man hat oft die Fortschrittlichkeit des Dominikaners hervorgehoben und den frühen Rassismus des Aristotelikers kritisiert. Doch im kosmopolitischen Blick sind die Gemeinsamkeiten beider Positionen nicht weniger interessant, und zwar in zweierlei Hinsicht: Keine der frühen Antithesen ließ zu, daß die Indianer beides: ver-
und gleich, schieden sind. Beide der Positionen unterstellten einen universellen Wertmaßstab, Unterschiede, logisch ferner zwingend, in Überlegenheit und Unterlegenheit verwandelt. Auch der gute Mensch de Las Casas, der Christ, akzeptierte die Gleichheit der Indianer nur deshalb, weil sie in seinen Augen fähig und bereit waren, die universelle Wahrheit des Christentums anzuerkennen. Das Dua l: hier alle Menschen, dort die durch Christ us Befr eiten, ist nur überwindbar, wenn die Dichotomie nicht bestehen bleiben soll: Die Antithese zwischen Christ und Heide muß zeitlich aufhebbar gedacht und gemacht werden. Der Barbar kann getauft, kann der universellen Wahrheit des Christentums teilhaftig werden. Oder im Sinne Fukuyamas argumentiert: Die nicht-westlichen Zivilisationen können »modernisiert« werden, das heißt in der Taufe der 9i
Marktwirtschaft und der Demokratie das Heil des westlichen UniVersalismus erlangen. Kosmopolitismus, realistisch gewendet, meint das, was in beiden Positionen ausgeschlossen wird: die Anderen als verschieden und gleich zu bejahen. Damit wird zugleich die Falschheit der Alternative zwischen hierarchischer und universeller Gleichheit aufgedeckt. Denn Verschiedenartigkeit damit werden zwei Positionen überwunden, der Rassismus wie der apodiktische Universalismus. Kosmopolitisch heißt: scheinbar zeitlosem und damit zukunftsfähigem Rassismus die Zukunft streitig zu machen. Das heißt aber auch: den ethnozentristischen Universalismus des Westens als einen überwindbaren Anachronismus darzustellen.
2.2
Der postmoderne Partikularismus
Der realistische Kosmopolitismus kann sich nicht damit begnügen, sich gegen bestimmte totalitäre Züge des Universalismus abzugrenzen, er bedarf auch des Universalismus, um nicht umgekehrt in die Falle des postmodernen Partikularismus zu geraten. Dabei handelt es sich um eine Strategie, Andersartigkeit zu tolerieren, und zwar auf der Grundlage der Verabsolutierung von Andersartigkeit und ohne ein verbindendes Gerüst von Normen. Dieser Ansatz kombiniert das Prinzip der Gleichartigkeit mit dem Relativismusprinzip der Inkommensurabilität der Perspektiven und behauptet damit, zu Ende gedacht, dieman Unmöglichkeit von Ordnungskrit erien.nennen: Grob vereinfacht könnte dies den postmodernen Ansatz Kosmopolitismus ohne Universalismus - das läßt sich hier erkennen - droht in diese Art von postmoderner Multikulti-Beliebigkeit abzugleiten. Wie aber läßt sich ein begrenzter, relativistischer oder kontextueller Universalismus erfinden, dem die Quadratur des Kreises gelingt, universalistische Normen zu behaupten und diesen den imperialen Stachel zu ziehen?
92
2.3
Der Realitätstest des Kosmopolitismus besteht in der gemeinsamen Abwehr von Übeln
Eine Antwort auf diese Frage läuft darauf hinaus, kosmopolitische Normen nicht positiv, sondern negativ zu bestimmen; eine zweite beruft sich auf einen prozeduralen Universalismus; eine dritte schließlich lotet die Möglichkeiten und Ambivalenzen eines kontextuellen Universalismus aus. Der Realismus des realistischen Kosmopolitismus drückt sich vielleicht gerade darin aus, daß man ihn nicht dadurch zu charakterisieren sucht, was er will, sondern dadurch, was er auf keinen Fall will: diktatorische Gleichschaltung, systematische Verletzung der Menschenwürde, Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit. Da der Kosmopolitismus Vielfalt respektiert, lautet die politische Kernfrage an Kosmopoliten: Sind sie überhaupt entscheidungs-
Taten? Wie und handlungsfähig? Was mit sind dem ihre Zwang läßt sich die Anerkennung der Vielfalt zum also Handeln verbinden? Die Antwort lautet: Der Realitäts-, sprich: Praxistest des Kosmopolitismus entsteht und besteht in der gemeinsamen Abwehr von Übeln. Inwieweit stiftet diese Negativität eine grenzenübergreifende Gemeinsamkeit, die zum Beispiel nicht fragt, ob es erlaubt ist, einen souveränen Mitgliedstaat der UNO anzugreifen, weil er einen Vernichtungskrieg gegen die eigenen Minderheiten führt, sondern entsprechend handelt (wie dies im Kosovo-Krieg der Fall war)? Dach dieses negativ definierten Platz Kosmopolitismus habenUnter danndem die vielfältigsten Kosmopolitismen - vorausgesetzt, alle akzeptieren eine zweite Grundnorm, die des prozeduralen Universalismus. Dieser besagt, es bedarf bestimmter Verfahren und Institutionen der Konfliktregulierung im transnationalen Raum. Daß dadurch Streitigkeiten bestenfalls besänftigt, nie aber konsensuell aufgelöst werden können, verweist auf die Ambivalenzen und Dilemmata der Zweiten Moderne, die der realistische Kosmopolitismus diagnostiziert. Kosmopolitismus ist also ein anderes Wort für Konflikt, nicht für Konsens. Man müßte in diesem Sinne auch die Sprechsituation« Habermas) realistisch wenden und»ideale eine Konflikttheorie der(Jürgen Wahrheit der Anderen in der sich selbst gefährdenden Zivilisati on entwerfen. 93
Diesseits des negativen und prozeduralen Universalismus offnen sich die Räume für vielfältige »kontextuelle Universalismen« (Beck 1997:141 ff.). Damit sind Beziehungen zwischen sich im gängigen Verständnis ausschließenden Oppositionen gemeint. Diese können, kosmopolitisch gewendet, eine sich wechselseitig bewahrende und korrigierende eingehen. Auf diese Weise ist der Kontextualismus ein Verbindung Gegengift gegen die Aufhebung der Andersheit, die der Universalismus propagiert, und der Universalismus ein Gegengift gegen die Unvergleichbarkeit der Perspektiven, mit der sich der Kontextualist in der falschen Idy lle autonomer Relativwelten einmauert. Recht kann als ein gutes Beispiel für kontextuellen Universalismus und die damit verbundenen Konflikte gelten. Obwohl westlichen Ursprungs, sind die Menschenrechte und ihr universalistischer Anspruch für nicht-westliche Kulturen weder fremd noch irrelevant. Vielmehr verbinden und behaupten lokale Gruppen mit kontextuellen, auf diebezogenen eigenen kulturellen wie politischen Traditionen und Religionen Auslegungen lokale und nationale Machtpositionen. Aus den Kontextualisierungen universellen Rechts entstehen neue national-kosmopolitische und lokal-kosmopolitische Identitäten, ja, bei diesen Übersetzungen handelt es sich um Beispiele einer aktiven inneren Kosmopolitisierung des Nationalen und Lokalen. Das Verständnis des kontextuellen Universalismus führt dann vielleicht zu einem »Kosmopolitismus der Demut« (Scott L. Malcamson) und des Zuhörens - im Gegensatz zu dem, was man einen pädagogischen Kosmopolitismus Ungeduld nennen könnte, wie er dem Habitus des Westlersder entspricht. Auch im Debattenund Handlungsraum von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stehen sich oft nicht-westliche kulturelle Relativisten und westliche Universalisten gegenüber. Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahre 1993 wurde diese Opposition exemplarisch durch »kontextuelle Universalisten« aufgebrochen und überwunden, und zwar von einer Allianz afrikanischer, lateinamerikanischer und asiatischer NG Os. Die Themen, um die es ging, waren überaus heikel: Gewalt gegen Frauen, einschließlich ehelicher Gewalt und Inzest; die inwieweit die Einhaltung von Menschenrechten Aufgabe vonFrage, UN-Friedensmissionen sein kann usw. Die Kontextualismus-Universalismus-Synthese, die die NGO-Allianz zur 94
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen erarbeitete, ist insofern bemerkenswert, als sie sich gegen die westliche Überheblichkeit und gegen die Erwartungen der eigenen Regierungen wendete. Die Frauen der islamischen Welt verbanden das universelle Konzept des Menschenrechts, etwa des Menschenrechts auf westliche Erziehung, mit dem Anspruch, daß sie an erster Stelle Muslime sind und auch in ihrem Denken und Handeln bleiben wollen. Viele, sogar solche Frauen, die sich selbst als säkular beschreiben, verteidigten andere Frauen, die das Kopftuchtragen gewählt und sich für eine konservative Theologie entschieden haben. Ein solcher Sowohl-als-Auch-Kosmopolitismus verdeutlicht die politisch-kulturell kreative Kraft, die kontextuelle Varianten von Universalismen freisetzen können. Vielleicht kann auf diese Weise verhindert werden, daß der neue Kosmopolitismus zu einem »eurozentrischen, >rationalistischenkolonialisierten< Cities charakterisierte, lange diese auch zu charakteristischen Merkmalen der Cities der >Kolonialisieren108
den< wurden, die Form der Übersetzung und der Transkulturation, die die >kolonialen Verhältnisse< von ihrem frühesten Stadium an gekennzeichnet haben, die Nicht-Anerkennung und das Dazwischen, das Hier-wie-Dort, sprechen die Sprache der kolonialen Aporias und deren Verdoppelungen, die schon immer im kolonialen Diskurs verhandelt wurden ...« (Hall 1996: 251) Der Diskurs des Postkolonialismus hat dieses Vergessen kulturell und politisch wirkungsvoll durchbrochen. Dies spiegelt sich in den Verläufen und Effekten der verschiedensten transnationalen politischen Bewegungen wider, in denen sogenannte »marginalisierte Minoritäten« ihr politisches und kulturelles Eigenleben und Selbstverständnis entdeckt und entwickelt haben. Damit ist jeder Weg zurück zu ethnisch geschlossenen und zentrierten, originären »Ursprungsgeschichten« abgeschnitten. Zu Ende gedacht kann damit niemand mehr für sich das Recht beanspruchen, daß er oder sie versteht, wie die kulturellen Praktiken beschaffen sind noch nicht einmal innerhalb eines gegebenen Ortes. Keine Seite, weder »wir« noch »die« in ihrer vorgestellten Autonomie und Gleichgültigkeit, kann sich entwickeln, ohne die signifikanten und/ oder ausgeschlossenen Anderen in ihr Selbstverständnis einzubeziehen. Wenn das »europäische Selbst« derart mit den »exkludierten Anderen« der kolonialisierten Welt verwoben ist, dann verändert der postkoloniale Diskurs das europäische Selbstverständnis, trägt wesentlich dazu bei, daß das nationale zu einem kosmopolitischen Europa undsich erweitert werden kann. (3) Esgeöffnet vollzieht eine Umwertung der Werte und Worte symbolisiert durch eine wahre Flut von Worten wie »Diaspora«, »kulturelle Melange«, »Hybridität«. Diese tauchen aus dem Dunkel der Abwertung auf und verbreiten sich wie eine ansteckende Wahrheit, die von einem positiv bewerteten Grundzustand des Menschen spricht. Die Erfahrung der Fremdheit, des DazwischenLebens, der Verlust des Weltvertrauens, die gesellschaftliche Isolation und die existentielle Verbannung, die Rede von Ambivalenz und Mehrdeutigkeit, ja, selbst das klagende Wort der »Heimatlosigkeit« hat viel von seiner Bedeutung verloren. geDas Fragezeichen ist zu einerapokalyptischen positiv konnotierten Existenzform worden - sicher nicht, was die Mehrheit der seßhaften Bevölke109
rungen be trif ft, aber im Raum der identitätsstiftenden, kollektiven Symbole. Auch hat das beliebteste Personalpronomen, das mystische und bedrohliche »Wir«, global und we ltöffentlich viel von seiner Selbstverständlichkeit eingebüßt. Ja, man kann sagen, die Auflösung des nationalen Idioms zeigt sich nicht zuletzt in der Entzauberung des Wir: Welches Wir meinen wir, wenn wir über Wir reden? Diese Umwertung, Verkehrung der in der nationalen Axiomatik selbstverständlichen Wir-Aussage in eine überall immer offensichtlicher unbeantwortbare Wir-Frage zeigt an, wie fundamental die Wirheit des Wir offen geworden ist. Daß die Vielfalt der Bedeutung und Verwendungsarten von Wörtern wie »Diaspora« buchstäblich explodiert, beweist nicht nur die analytische Unschärfe dieses Begriffes, es verweist auch darauf, was dieses Wortbild zu einem alternativen Verständnis von »Gleichheit« und »Solidarität« beiträgt. Denn der Begriff »Diaspora« enthält gesellschaftliche Umgangsformen mit Andersheit, die sich der Entgegensetzung des Ent weder-Ode r verweigern, also nicht die kulturellen Unterschiede innerhalb einer »entorteten« Gruppe unterdrücken oder verheimlichen müssen, um die Unterschiede zwischen einer »essentialisierten« Gemeinschaft und ihren Anderen zu maximieren. Der Diaspora-Begriff liebäugelt mit dem, was im nationalen Entweder-Oder als »entwurzelt«, »entfremdet« gilt, und pflegt ein wohlbehütetes Unbehagen gegenüber den unreflektiert und rücksichtslos überintegrierten Begriffen von Kultur und Gesellschaft . Hier paart sich ein diffuses Interesse, die Partikularität zu bewahren, mit einem Wissen, daß dies nur dann gelingt, wenn ein strategischer Universalismus der Menschenrechte den Globus überall (jenseits von Heimat oder Nicht-He imat) zu einem bewohnbaren Ort macht. Der Begriff »Diaspora« zeigt, daß die Frage »wer bin ich« unwiderruflich vom Rückgriff auf Ursprung und Wesen abgeschnitten ist, es aber dennoch Antworten gibt, die mehr oder weniger authentisch sein können. So betrachtet zeigt der inflationäre Gebrauch des Wortes »Diaspora« innerhalb der Kulturwissenschaft, aber auch innerhalb des kulturellen Selbstverständnisses Minoritäten und ihren Aktivitäten überall auf der Welt nicht von nur die (vielfach vermutete) analytische Entleerung dieses Begriffes an, sondern II O
wie sehr im Selbstverständnis von Bewegungen, Gruppen, Individuen und Öffentlichkeiten ein quasi-kollektives Bewußtsein des Sowohl-als-Auch im Entstehen begriffen ist.
Kapitel III Die kosmopolitische Gesellschaft und ihre Gegner
Der kosmopolitische Blick öffnet und schärft sich mit der eingelebten Melange der Kulturen und Identitäten, beschleunigt durch die Dynamik von Kapital und Konsum, ermächtigt durch den die Staatsgrenzen unterhöhlenden Weltmarkt, angeregt durch die Weltöffentlichkeit transnationaler sozialer Bewegungen, geleitet und ermutigt durch die Evidenz grenzenloser Kommunikation (oft ein anderes Wort für Mißverstehen) in zentralen Themenfeldern wie Wissenschaft, Recht, Kunst, Mode, Musik, nicht zuletzt Politik. Die weltöffentliche Wahrnehmung und Debatte über die globale ökologische Bedrohung oder auch technisch-ökonomische Globalrisiken haben über die kosmopolitische Bedeutung der Angst aufgeklärt. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß auch Terror und Krieg ein kosmopolitisches Gesicht angenommen haben, so liegt er mit dem n. September 2001 und dem Krieg gegen den Irak im Jahre 2003 vor. Damit ist es an der Zeit, das Kriteri um, das Peter L. Ber ger fü r das soziologische Denken (neben der »Kunst des Mißtrauens« und der Faszination für die weniger »feinen« Seiten der Gesellschaft) hervorhebt, nämlich »Seit das »Motiv Kosmopolitismus«, methodologisch einzulösen. uralten des Zeiten waren es immer die Städte, in denen Weltoffenheit, der Sinn für andere Weisen des Denkens und Tuns, zu Hause war. Ob wi r an Athen oder Alexandria, an das mittelalterliche Paris oder das Florenz der Renaissance denken, aber auch an die rastlosen Metropolen der modernen Zeit - immer stoßen wir auf ein gewisses kosmopolitisches Flair, das typisch für jede Stadtkultur ist. Ein Mensch, der nicht nur zufällig in der Stadt wohnt, sondern den sie geprägt hat, ein wirklicher Städter also, reist im Geiste um die ganze, große Erde, wie sehr er auch an der Heimatstadt hängen zu mag. Seinewo Phantasie, wenn nicht gar Körper und Seele, sind überall Hause, Menschen denken. Dieses Vagantentum des Geistes ist ein besonders fruchtbares Lebenselement für das so112
ziologische Bewußtsein, während der enge Kirchturmhorizont immer Gefahr für die Soziologie bedeutet.« (1977: 6zi.) Es gilt, den nationalen Kirchturmhorizont der Soziologie durch einen methodologischen Kosmopolitismus aufzubrechen und zu erweitern. Was also heißt »Kosmopolitisierung«? Kosmopolitisierung ist ein nichtlinearer, dialektischer Prozeß, in dem das Universelle und das Kontextuelle, das Gleichartige und das Verschiedenartige, das Globale und das Lokale nicht als kulturelle Polaritäten, sondern als zusammenhängende und sich gegenseitig durchdringende Prinzipien zu entschlüsseln sind. Die erfahrbare globale Interdependenz und die Risiken verändern die gesellschaftliche und politische Qualität der Nationalstaatsgesellschaften. Genau das macht die Besonderheit der Kosmopolitisierung aus: Sie ist eine innere und verinnerlichte aus dem Inneren der Nationalgesellschaften oder der lokalen Kulturen heraus; aber auch - wie deformiert auch immer eine des Selbst und des nationalen Bewußtseins. Auf diese Weise werden die Grundlagen des Alltagsbewußtseins und der Identitäten entscheidend verändert. Themen von globaler Bedeutung werden integraler Teil der Alltagserfahrungen und der »moralischen Lebenswelten« der Menschen. Und sie stellen die nationalen Bewußtseinsformen und Institutionen in Frage. Insofern führen sie überall auf der Welt zu enormen Konflikten. Darin sind drei Thesen enthalten: Erstens meint Kosmopolitisierung: Die Wirklichkeit selbst die »Sozialstrukturen« - werden kosmopolitisch. Anders gesagt: Zu beobachten ist (»wie«, das ist die Frage, uns in diesem Kapitel beschäftigen wird) die Entstehung einer die zunehmend » kosmopolitischen Interdependenz«, das heißt einer sich selbst gefährdenden zivilisatorischen Zweitwirklichkeit, die den Nationalstaat transzendiert und in das Innerste unserer Gedanken und Gefühle, Erfahrungen und Erwartungen hineinreicht. Zweitens: Diese Kosmopolitisierung der Nationalgesellschaften ist ein langfristiger und letztlich wohl irreversibler Prozeß. Für diese Irreversibilitätsthese spricht nicht nur der reale Zusammenhang der Welt, an dessen Verdichtung die Menschen durch Konsum und Arbeit sindglobale und der sichandurch so anschaulich bestätigt wiebeteiligt durch die Kritik ihm. nichts Diese Irreversibilität und das Bewußtsein für sie werden auch hervorgerufen - wie ge3
zeigt werden soll - durch die neue Dialektik globaler Gefahren. Globale Gefahren stellen das Überleben der Menschheit in Frage und eröffnen dadurch globale Handlungschancen. Die Prognose liegt nahe: Das Jahrhundert der Selbstgefährdung des Glo bus wird wie nie zuvor das Jahrhundert der »Einen Welt« sein. Das Wissen, daß die Tragödien unserer Zeit in Herkunft und Reichweite alle global sind, läßt einen kosmopolitischen Erfahrungs- und Erwartungshorizont entstehen. Die Vorstellungswelt gegeneinander abgegrenzter, nationaler Sozialstrukturen wird durch die Erfahrung globaler Interdependenzkrisen falsifiziert. Die Einsicht wächst: Wir leben in einem globalen Verantwortungszusammenhang, aus dem niemand sich herausstehlen kann. In diesem Sinne hat zuletzt der 11. September 2001 öffentlich sichtbar gemacht (und zwar zum ersten Mal in den letzten 50 Jahren), daß Frieden und Sicherheit des Westens nicht länger vereinbar sind mit der Existenz von Krisenherden in anderen Teilenkönnen der Welt. Er hat aber auch gezeigt: Gegner der Kosmopolitisierung blutige »Erfolge« vorweisen. Aber wie ist dies möglich, wenn Kosmopolitisierung ein unaufhaltsamer Prozeß ist? Die Antwort gibt die dritte These: Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir konfrontiert mit der fundamentalen Ambivalenz und im Ausgang offenen Dialektik: Es entsteht und vers chärft sich der Widerspruch zwischen der Ko smopolitisierung der Wirklichkeit und den nationalstaatlich normierten Kategorien des Wirklichkeitsverständ nisses. Die wahrgenommene Kosmopolitisierung kann sehr wohl den Verriegelungseffekt des nationalstaatlichen Denkens auslösen. Die verschiedenen Gegenbewegungen versuchen, die Kosmopolitisierung anti-kosmopolitisch zu wenden, also die nationalen Zwecke und Kategorien zu restaurieren und kosmopolitisch zu legitimieren. Sie wenden die technologischen Instrumente der Globalisierung und die Begriffe der kulturellen Vielfalt gegen sich selbst - im Dienste der alten, nationalstaatlichen Ordnungsmetaphysik oder, wie beim Anschlag am 11. September 2001, der Ethnisierung und religiösen Fundamentalisierung der postnationalen Welt. Wenn ich von Kosmopolitisierung und Anti-Kosmopolitisierung als zwei konkurrierenden Bebeidewidersprechenden wegungen spreche, dann versteheund ich sich als Konsequenz der fortschreitenden inneren Kosmopolitisierung der Wirklichkeit. Es 114
gibt keine notwendige Beziehung zwischen der inneren Kosmopolitisierung von Nationalgesellschaften und der Entstehung eines kosmopolitischen Bewußtseins, Subjekts oder Akteurs - wenngleich einige Kulturtheoretiker offenbar davon überzeugt sind. Das Grundargument lautet also: Die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit ist irreversibel - Bewußtsein und Politik sind gerade deshalb fundamental ambivalent. Aber es gilt auch umgekehrt: Weil Bewußtsein und Politik fundamental ambivalent sind, schreitet die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit voran. Alle »Globalisierungsgegner« beispielsweise teilen mit ihren »Gegnern« die globalen Kommunikationsmedien (deren Anwendungsmöglichkeiten für die Zwecke transnationaler Protestbewegungen und ihrer Organisierbarkeit sie damit erweitern). Die globalisierte Ökonomie läßt sich nur global in geregelte Bahnen lenken - allein wer global dafür kämpft, hat überhaupt eine Chance auf Erfolg usw. Dieses Ineinander und Gegeneinander von Kosmopolitisierung und AntiKosmopolitisierung soll in zwei Schritten entfaltet werden (der erste in diesem Kapitel, der zweite im Kapitel IV): (1) Methodologischer Kosmopolitismus: Wenn der methodologische Nationalismus alles, was wir in den Sozialwissenschaften tun, durchdrungen hat und bestimmt, wie kann er dann überwunden werden? Erforderlich ist es, eine Beobachterperspektive zu kreieren, die die ursprüngliche soziologische Neugierde, das soziologische Denken des Konkreten wiederbelebt. Das ist gewiß leichter gesagt als getan. Um die Problemautobahnen akademischer Sozialwissenschaft in neue Gegenden zu leiten, also den »soziologischen Blick« für die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit zu öffnen, bleibt nichts anderes übrig als der Entwurf eines Gegenbegriffsrahmens und die Erzeugung neuer empirischer Daten. (2) Pluralisierung und Politisierung der Grenzkonstruktionen: Die Unterscheidung zwischen einer Kosmopolitisierung, die unaufhaltsam, und einer, die heiß umstritten ist, leitet zu dem zweiten Argument (Kapitel IV) über: Kosmopolitisierung schließt Politisierung der Horizonte ein. In welchen Formen und Formationen bricht der Widerspruch zwischen nationalstaatlich-universellen Kategorien und realer Kosmopolitisierung bzw. Anti-Kosmopolitisierung hervor, und wie bestimmt er Bewußtsein und Handeln im nationalen und transnationalen Raum. Politische Kosmopolitisie"S
rung, zu Ende gedacht, zielt auch darauf, wie neue politische Formen geschaffen werden können, die in der Lage sind, die Probleme der Kosmopo litisierung zu lösen. Dies verw eist auf die prinzipielle Schwierigkeit, daß die nationalstaatliche Metaphysik die institutionelle Phantasie total lähmt. Die Fragen des politischen Kosmopolitismus können also erst in einem anderen Bezugsrahmen systematisch aufgeworfen werden. Also: Die institutionelle Architektur der kosmopolitischen Moderne ist und bleibt unterentwickelt, solange die kosmopolitischen »Anschauungsformen« nicht entfaltet sind.
1. Methodologischer Kosmopolitismus Wie ist es möglich, das Gebäude der überkommenen nationalstaatlichen Metaphysik zum der Einsturz zu bringen, andersund gesagt: es für die Kosmopolitisierung Wirklichkeit zu öffnen komplett umzubauen? Das ist keine akademische, sondern eine historische Angelegenheit. Es braucht neue Denker außerhalb der Zünfte, aber auch eine kosmopolitische Revolte in der sozialwissenschaftlichen Zunft. Diese muß den Ruf »zurück zu den Sachen selbst - weg von den reinen Theorien um ihrer selbst Willen - weg von den Büchern!« auf ihre Fahnen schreiben. Dafür ist die Unterscheidung wesentlich zwischen einem gelehrten Gegenstand, der akademisch selbstreferentiell konstituiert wird, und einer gedachten Sache-, der der bohrende Wirklichkeit. Die sozialwissenschaftlicheKosmopolitisierung Neugierde muß eine Qualität gewinnen, die die falschen Gewißheiten der etablierten Sozialwissenschaften durchlässig macht für die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit. Wenn ich sage, daß »die Wirklichkeit« kosmopolitisch geworden ist, dann ist das selbstverständlich nicht naiv realistisch, sondern als anti-konstruktivistische Provokation gemeint. Die scheinbare Naivität des Wortes »Wirklichkeit«, das in den konstruktivistischen Sozialwissenschaften in den Mund zu nehmen einem Eklat gleichkommt, soll die Radikalität anzeigen, mit der die Soziologie (aber auch Sozialwissenschaften) thematisch, methodologisch undandere organisatorisch eben für die sich Möglichkeit einer kosmopolitischen Wirklichkeit öffnen muß. Mit guten Gründen erlaubt ii 6
die Soziologie einen privilegierten Standpunkt, der einen direkten Zugriff auf »die Wirklichkeit« behauptet. Insofern muß das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit, alltäglicher Interpretation und wissenschaftlicher Beobachtung klar herausgearbeitet werden - wie es die Idee des »methodologischen Kosmopolitismus« versucht (siehe Kapitel I, II und IV). Und die Frage, ob, wann und warum sich ein kosmopolitischer Blick durchsetzt, ist dann allerdings weniger eine Frage der angemessenen Widerspiegelung »der Wirklichkeit«, sondern vielmehr eine Frage nach den »Definitionsverhältnissen« (Beck 1988, 1999) : Wer verfügt über den Zugang und die Art der Ressourcen, die notwendig sind, um den kosmopolitischen Blick sozial verbindlich als notwendig zu definieren? Wie im Kapitel I. 3. gezeigt wurde, enthalten und entfalten die strukturellen Interdependenzrisiken und -krisen Potentiale, die ihre weltöffentliche Bewußtwerdung hervorrufen. Sicher, den methodologischen Nationalismus zu überwinden und ihn durch einen methodologischen Kosmopolitismus zu ersetzen, ist nichts, das sich von heute auf morgen vollzieht. Sozialwissenschaft ist das kollektive Unternehmen einer weltweiten Forschergemeinschaft. Diese sozialwissenschaftliche Weltsicht ist eine kollektive Weltsicht und infolgedessen etwas, das nur über lange Zeiträume hinweg verändert werden kann. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die großen Fragen über die moderne Gesellschaft überhaupt gestellt wurden. Die Frage, die der methodologische Kosmopolitismus jetzt beantworten muß, lautet: Wo anfangen, wie anfangen? Wie können wir diedaß Fragen der Kosmopolitisierung der Wirklichkeit so stellen, ihrenach methodische Beantwortung 1 möglich wird? 1 Elisabeth Beck -Ger nshei m (2004) kombiniert in ihrem Buch als Antwo rt auf die gleiche Frage empirische Daten und Datenanalysen mit einer reflexiven Soziologie, das heißt einer Soziologie der Soziologie, die ihre eigene Stellung im Verhältnis von Wir und den Anderen, Einheimischen und Fremden selbstkritisch mitreflektiert. Dadurch könnte jene »bohrende Qualität« erzeugt werden, die der einfachen Datenpräsentation abgeht. Dennoch werden wir hier zunächst nur diese empirische Methodik des kosmopolitischen Realismus konzeptionell entwickeln; schon das ist viel. Daß erst die Kombination mit einer selbstkritischen Soziologie der Soziologie dem methodologischen Kosmopolitismus zum Durchbruch verhelfen könnte, soll damit keineswegs bestritten werden; dazu ist parallel das Buch von Beck-Gernsheim verfaßt worden und erschienen, das gleichsam im Sinne eines methodologischen Kosmopolitismus von unten gelesen werden kann. 7
Die Kosmopolitisierungsanalyse kann und muß in zwei Dimensionen angelegt werden: der Raumdimension und der Zeitdimension (Cox 1997; Jessop 1999; Jonas 1994). Die erste ist ausgearbeitet, die zweite unterbelichtet. Ja, man kann den Raum-Primat des Globalisierungsdiskurses kritisieren, da die Kosmopolitisierung der Zeit, der Geschichte und der Erinnerung bislang weitgehend ausgeklammert worden sind (vgl. hierzu Levy/Sznaider 2001; Beck/ Levy/Sznaider 2004). Wie läßt sich - zunächst in der Raumdimension - die Kosmopolitisierung der Gesellschaft präzisieren? Anknüpfe nd an D. Mato (1 997), Bremer (2000) und Smith (2001 ) kann man die Grundthese reformulieren: Mit der Kosmopolitisierung treten an die Stelle von national-nationalen Beziehungen translokale, lokal-globale, trans-nationale, national-globale und globalglobale Beziehungsmuster. So wichtig es ist, solche Unterscheidungen zu treffen, so richtig ist diese es auch zu erkennen, daß im kosmopolitischen raum analytischen Trennungen wiederum zeitlichErfahrungsund räumlich vermischt werden. Wer bewohnt den transnationalen Raum? Nicht nur Kapital- und Wissenseliten, auch der durchschnittliche Migrant, advokatorische Bewegungen, »Black Atlantic«, muslimische Europäer usw. Altmodische Modernisten glauben (positiv oder negativ), daß nur ein allumfassendes, nationales Projekt, zusammengehalten durch Sprache, Militärdienst und Patriotismus, die Integration der modernen Gesellschaft ermöglicht und gewährleistet. Kosmopolitisierung bedeutet demgegenüber, daß sich Identitäten und Loyalitäten nationalverhalten. pluralisieren und plural-loyal zu verschiedenen Nationalstaaten Wie Natan Sznaider (2000) zeigt, bedeutet Israeli sein beispielsweise, daß man russische Zeitungen liest, russisches Fernsehen sieht, ins russische Theater geht und sich russische Rock-Musik anhört. Aber Israeli sein bedeutet ebenso, daß man seine jüdischorientalische Identität ernst nimmt und daß man paradoxerweise, beeinflußt durch westlichen Multikulturalismus, alles Westliche ablehnt. Israeli sein bedeutet schließlich auch, daß nicht-jüdische Israelis, die Palästinenser mit israelischem Paß, Autonomie für sich innerhalb fordern. Für die Israels Bewohner der nationalstaatlichen Moderne, die die patriotische Identität als die wahre und einzig legitime betrachten, 118
sind solche »ethnischen« Konflikte nicht mehr als eine primitive Stammesfehde, die durch die Modernisierung in einem alles umfassenden Staat aufgelöst werden wird. Die Bewohner der kosmopolitischen Moderne dagegen sind ständig damit beschäftigt, Kategorien über den Haufen zu werfen. Die Mischung, die dabei herauskommt, ist kein Zeichen des Integrationsversagens, Scheiterns. Sie ist vielmehr just jene Individualität, die in der kosmopolitischen Gesellschaft Identität und Integration bestimmt. So entsteht Individualität durch Überschneidungen und Konflikte mit anderen Identitäten. Jeder einzelne erbringt dabei eine besondere Leistung. Die nationalen Öffentlichkeiten werden zu Räumen, in denen Spaltungen durch Konflikte überwunden werden können und in denen bestimmte Arten von Gleichgültigkeit und sozialer Distanz einen positiven Beitrag zur Integration der Gesellschaft leisten. Konflikt ist die treibende Integrationskraft. Kosmopolitische Gesellschaft entsteht, weil und insofern die nationalen Gesellschaften gespalten, »desintegriert« werden. Die Spannungen innerhalb nationaler Öffentlichkeiten werden durch den kosmopolitischen Blick zugleich abgepuff ert und durch transnationale Identitäten und Netzwerke relativiert. Das kosmopolitische Projekt enthält das nationale Projekt und erweitert es zugleich. Aus der Perspektive transnationaler Erfahrungs- und Handlungsräume wird es möglich, Optionen und Perspektivenwechsel, die durch Grenzen ausgeklammert werden, zu erproben und zu kombinieren. Man wählt und gewichtet verschiedene sich überschneidende sozusagenWidersprüche. im Zwischenraum der Kombination Identitäten und der inund sie lebt eingebauten Der kosmopolitische Blick hat seinen Wohnsitz im Erstaunen, in jenem sich ausweitenden Zwischenraum, in dem die scheinbar ewigen Gewißheiten, Grenzen und Unterscheidungen sich verwischen und vermischen. Die Folge ist: Im kosmopolitischen Erfahrungsraum wird der geschlossene Raum des Nationalstaates instrumentell-optional kombinierbar, obwohl er als solcher gerade nicht mehr existiert. Die verschiedenen Gruppen halten ständig Verbindung über die staatlichen Grenzen hinweg - nicht nur zum Nutzen Wirtschaft und zur Entfaltung der Wissenschaft, sondern auchder zur Einbindung und Eindämmung nationaler Spaltungen und Konflikte in ii 9
quer dazu liegenden transnationalen Lebensformen und Loyalitäten. Die Frage ist also entscheidend, für wen - welche Akteure und Institutionen - die verschiedenen Beziehungsformen der Kosmopolitisierung zutreffen. Und: inwieweit die Zunahme an translokalen, lokal-globalen, trans-nationalen und global-globalen Beziehungsmustern die im Bewußtsein und in deraufbrechen Forschung oder vorherrschenden national-nationalen Beziehungen verstärken, entwirklichen oder erneuern? Diese Beziehung sformen betreff en im wesentlichen das Verhältnis von Raum und Gesellschaft. Davon ist die Zeitlichkeit, die Geschichts- und Erinnerungsdimension der Kosmopolitisierung zu unterscheiden. Raumdimension ohne Zeitdimension verleitet zu einem flachen Realkosmopolitismus, zu der Verdinglichung einer a-historisch globalen Gegenwart (Adam 1998,2003; Cwerner 2000). Der historisch blinde, nur räumlich-kosmopolitische Blick erschöpft sich in Konzentration auf die Pluralisierung und Durchdringung vonder Identitäten und Grenzkonstruktionen sowie den daraus entstehenden, unerschöpflichen Konfliktquellen. Der vertiefte Realkosmopolitismus öffnet demgegenüber den Blick für die empirisch-analytischen, aber auch normativen Fragen, die aus der Kosmopolitisierung von Gesellschaft und Politik, Geschichte und Erinnerung in der Zeitdimension hervorgehen: Welche »Realität« gewinnt die Globalisierung von Risiken und Krisen auf dem Hintergrund verschiedener historischer Erfahrungszusammenhänge, und wie werden sie politisch verarbeitet? Wie bricht sich die Globalität historisch in der Ungleichzeitigkeit gleichzeitiger Lagen und Selbstdefinitionen? Wie wird die soziale undkultureller politische Verantwortung historisch - Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft verteilt? Inwieweit determinieren zum Beispiel technologiepolitische Entscheidungen der Gegenwart die Lebensbedingungen und Folgen, die die zukünftigen Generationen auszubaden haben? Die Gegenwart kolonialisiert die Zukunft und die Vergangenheit. Die nur in der Raumdimension erweite rte Polis wi rd als die Expansion von Loyalitäten, Identitäten, Verpflichtungen und Rechten gedacht. Darauf beschränkt bleibt der kosmopolitische Blick eingeschlossen in die(Cwerner Metaphysik der335). ewigen, turbulenten, katastrophalen Gegenwart 2000: Doch wie läßt sich die Kosmopolitisierung der Gesellschaft in der Zeitdimension begriffl ich fassen? 12 0
Die Erfahrung globaler Risiken und Krisen heißt: Auf der ganzen Welt denken Menschen über eine kollektiv geteilte und zugleich bedrohte Gegenwart und Zukunft nach, die aus der Krisenerfahrung der Kon front ation der kosmopolitischen Gesellschaf t mit sich selbst entsteht und mit der nationalstaatlichen Schematik von Gedächtnis und Geschichte im Widerspruch steht. 2 Es gibt kein globales Gedächtnis der globalen Vergangenheit. Selbstverständlich gilt die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft sowohl für die Erste wie für die Zweite Moderne. Doch während beim methodologischen Nationalismus die zukünftigen Implikationen einer national geteilten Vergangenheit imVordergrund stehen, geht es im methodologischen Kosmopolitismus um die gegenwärtigen Implikationen einer global geteilten Zukunft. Welche Zukunft wird heute wie erzeugt? Auf die Frage, wie die Integration der kosmopolitischen Gesellschaft möglich wird, zeichnenerfahrener sich zwei ZukunftsbedroAntworten ab: durch zeitlich die Konstruktion gegenwärtig hungen infolge zivilisatorischer Selbstgefährdungen (siehe oben Kapitel I, 1.9 und 3.1); und aus der Imagination der transnational geteilten Vergangenheit, die sich in der Dialektik von Erinnerung und Vergebung konkretisiert. Insofern gilt es, ein verändertes Verständnis von Vergangenheit - zum Beispiel post-heroisch versus heroisch - und Zukunft - zum Beispiel Fortschritt versus Ungewißheit - zu untersuchen (Levy/Sznaider 2001). Auch hier muß zwischen Bewußtsein und Handeln unterschieden werden: Das Bewußtsein globale Bewußtsein von der Handlungsformen. kollektiv geteilten Zukunft ist ein ohne etablierte Die Mehrzahl der Handlungsformen, insbesondere in den Bereichen Politik und Recht (weniger in den Bereichen Wissenschaft und Wirtschaft) sind nationalstaatsfixiert und damit vergangenheitsorientiert - für Gegentendenzen sprechen allerdings die internationale Rechtsprechung und die Errichtung des Internationalen Gerichtshofes. Für eine Politik der kollektiv geteilten und bedrohten Zukunft existieren bislang nur spärliche Handlungsinstitutionen. Wichtiger ist jedoch, daß zwischen dem jetztzeitlichen 2 Selbstverständlich soll und kann damit nicht behauptet werden, daß das für alle Menschen unter allen Bedingungen gilt. Zu den Bedingungen der Bewußtwerdung siehe S. 5 4 ff . 121
Bewußtsein einer global bedrohten und geteilten Zukunft ohne angemessene Formen institutionellen Handelns und einem vergangenheitsorientierten nationalen Gedächtnis ohne eine global kollektiv geteilte Zukunft ein offener Widerspruch herrscht.
2. Die drei Konz epte der sozialwissens chaftlichen Globalisierungsforschung Während die Nationalstaatsepoche eine monologische Imagination der Ab- und Ausgrenzung der Anderen und Fremden hervorgebracht und institutionalisiert hat, beruht die kosmopolitische Epoche auf einer dialogischen Imagination des internalisierten Anderen. Es müssen im Alltag wie in der Politik, in allen Handlungsbereichen Antworten auf die Probleme gefunden werden, die aus individuellen der Gleichzeitigkeit konkurrierender Lebenswege entstehen, innerhalb der Erfahrung sowie der Notwendigkeit widersprüchliche Gewißheiten zu vergleichen, zu reflektieren, zu kritisieren, zu verstehen und zu verbinden. Friedrich Nietzsche sprach in diesem Zusammenhang vom »Zeitalter der Vergleichung«. Er meinte damit nicht nur, daß das Individuum aufgefordert sei, zwischen konkurrierenden Traditionsbeständen zu wählen und diese in seinem eigenen Lebenszusammenhang zu kombinieren. Noch wichtiger war ihm, daß sich die verschiedenen Weltkulturen gegenseitig zu durchdringen begannen. Er sah voraus, daß dieser Prozeß werde, bis schließlich die Ideen Kulturensich in fortsetzen Kombination, Vergleich, Widerspruch undsämtlicher Konkurrenz an allen Orten und zu allen Zeiten Seite an Seite präsent sein würden. Die Dämonie des nationalen Blicks liegt nicht zuletzt darin, daß er sich selbst zum Maßstab der Welt überhöht. Der kosmopolitische Blick bricht demgegenüber mit dieser Versuchung des insulären Nationalbewußtseins, indem er sich für die Welt der Anderen öffnet, die Anderen respektiert, den Blick der anderen verinnerlicht. In diesem Spiel mit Grenzen, das der kosmopolitische Blick als Perspektivenwechsel praktiziert und perfektioniert, wird diese alternativer Weltsicht zur Imagination Wege innerhalb und zwischen verschiedenen Kulturen und Modernen (siehe Kapitel II). 122
Ein methodologischer Kosmopolitism us muß nicht nur das Problem des Ausgangspunktes - der Untersuchungseinheit - und das Problem des Vergleiches lösen. Vielmehr muß auch der sozialwissenschaftliche Begriffsrahmen neu definiert werden. Wenn man dies in der Absicht tut, empirische Forschung zu betreiben, dann lassen sich dabei verschiedene Konzepte der empirischen Globalisierungs- bzw. Kosmopolitisierungsforschung unterscheiden, an denen zur Zeit gearbeitet wird:
2.1
Interconnectedness
Dieses Konzept haben Pioniere der sozialwissenschaftlichen Globalisierungsforschung - die Gruppe um David Held in Großbritannien und die G rupp e um Michael Zürn in Deutschland - begri fflich ausgefeilt, operationalisiert und mit gewonnenen empirischen Daten in seiner Nützlich keitden unddadurch Fruchtbarkeit erwiesen (David Held u. a. 1999; Beisheim/Zürn u. a. 1999). Damit liegen vorzügliche empirisch-qualitative Studien vor, die (ähnlich wie Gerhards/Russel 1999 und Gerhards 2003) die Reflexion über Kosmopolitisierung fundie ren. Das Konzept der »interconnectedness« bricht mit dem methodologischen Nationalismus insofern, als die zunehmende Verwobenheit und Interdependenz nationalstaatlicher Räume begrifflich erschlossen und empirisch durchleuchtet wird. Es bleibt jedoch dem methodologischen Nationalismus zugleich insofern verhaftet, als esund immer noch von der Grundannahme territorialer Staatseinheiten Nationalgesellschaften ausgeht. Sind es doch diese, die zunehmend verbunden und vernetzt sind. Dependenztheoretiker, die die Abhängigkeit der Dritten von der Ersten Welt betonen, wenden ein, daß die Rede von »Inter dependenz« eine Wechselseitigkeit der Abhängigkeiten vortäusche, die angesichts wachsender Ungleichheiten leicht zu einem semantischen Euphemismus gerate. So berechtigt diese Kritik sein mag, sie verfehlt den springenden Punkt der neuen Bedeutung von »Interdependenz« in der Weltrisikogesellschaft: Auch die Mächtigen, Reichen, die Dependenzen schaffen, sindnicht-kontrollierbare nun (im GegensatzRizu früheren Formen der Ausbeutung) durch siken (Umwelt, Migration, Terror usw.) gefährdet. 123
2.2
Die neue Metapher der »Liquidität«
Weder Grenzen noch Beziehungen markieren den Unterschied zwischen dem einen Ort und dem anderen. Statt dessen verwischen sich Grenzen, aber es entstehen auch neue, während die Beziehungsmuster sich unaufhörlich selbst verändern. In diesem Sinne argumentieren auch Lash und Urry (1994), daß die Strukturen des Sozialen sich auflösen und in »Ströme« verwandeln - von Menschen, Informationen, Gütern und besonderen Zeichen oder kulturellen Symbolen. Hier liegt der Ausgangspunkt für eine »Soziologie jenseits der Gesellschaft« (Urry 2000), die begrifflich und empirisch ihre Aufmerksamkeit ganz konsequent auf »Mobilitäten« richtet; dabei ersetzt die begriffliche Entfaltung der Kategorie Mobilität das geheiligte Konzept der »Struktur« und »Gemeinschaft«. Ähnlich argumentiert Appadurai (1990), daß die neuen Einheiten, um die Welt »fließen«, Kapital, Medien,die Ideologien, Technolo gien »Sozioscapes« und Menschensind, fortwdie ähren d in Bewegung und zueinander in Beziehung setzen. Da die Metapher des »Stromes« und des »Fließens« so eingängig ist, ergibt sich die Frage, ob »Ströme« (oder »Netzwerke«, die Manuel Castells (1997) zum Schlüsselbegriff erklärt hat) derart unabhängig von nationalen, transnationalen und politisch-ökonomischen Strukturen sein können, daß der sozialwissenschaftliche Blick sich von diesen ab- und jenen zuwendet. Nationale Räume und ihre institutionellen Verfestigungen und Manifestationen bilden wie vor ein strukturierendes Machtzentrum. Auch giltdie es, den nach ambivalenten Charakter der Kosmopolitisierung, nämlich Gegenbewegung der Anti-Kosmopolitisierung, im Auge zu behalten. Darüber hinaus thematisiert die Metapher der »Ströme« nicht, inwieweit diese Prozesse durch die Handlungsfähigkeit oder Ohnmacht bestimmter Akteursgr uppen forcie rt oder gebremst werden. Indem man von »Strömen« redet, wird ausgeklammert, inwieweit diese Strukturen und Grenzen unterminierenden »Ströme« die Verbindung zu Handelnden, ja die Handlungsmöglichkeiten der Akteure selbst definieren. Insofern verleitet die Strom-Metapher dazu, die Analyse von Machtbeziehungen zu vernachlässigen. Wieder andere versuchen, das Soziale jenseits des methodologischen Nationalismus als das Transnationale begrifflich zu bestim124
men und empirisch zu untersuchen (siehe oben Kapitel II, 2.6). Für Schiller (1997) analysieren transnationale Untersuchungen die verschiedenen Wege, die das Überbrücken von Grenzen durch Menschen, Texte, Diskurse und Repräsentationen auf Dauer stellen. Das Transnationale wird o ft als Antithese zum Globali smus verstanden, wobei »Globalismus« eine Globalisierung von oben und im Interesse des Managements multinationaler Konzerne und mit ihnen vernetzter, politischer Eliten meint. Manchmal wird Transnationalismus begrenzt auf Kosmopolitisierung von unten, auf Aktivitäten von Migranten, sozialen Bewegungen und Gruppen, die Netzwerke und Lebensformen über Grenzen hinweg aufbauen und mit Leben füllen. Hier ist in den vergangenen Jahrzehnten eine solche Fülle hochanregender und methodisch aufschlußreicher Studien entstanden, daß hier nur sehr selektiv auf wenige hingewiesen werden kann: Aksoy/Robins 2003; Albrow 1997; Appadurai 1985; Burawoy u. a. 2002; Caglat 2001; Caglar 2001, 2002; Deltson 2000; Duerrschmidt 2000; Czeh/Espinoz 2002; Eade 1997; Hannerz 1987; Hiebert 2002; Katz/Liebes 1993; Kline 1995; Kyle 2000; Pieterse 1998; Pries 1987; Ong 1997,1999; Randeria 1999, 2001; Schiller, H. 1989; Schiller, N. G. 1997; Salih 2000; Skiair 2001; Soysal 2002; Tomlinson i999;Trojanow 2003.
2.3
Kosmopolitisierung und methodologischer Kosmopolitismus
Von den bisherigen Ansätzen zur empirischen Globalisierungsforschung unterscheidet sich der Kosmopolitisierungsansatz grundsätzlich dadurch, daß er (a) systematisch zwischen sozialer Akteursperspektive und sozialwissenschaftlicher Beobachterperspektive unterscheidet, (b) die Entgegensetzung von national oder »Ströme«, »Netzwerke«, »Scapes« ersetzt durch eine Typologie des Sowohlals-Auch (transnational, translokal, global-lokal, global-national usw.) und (c) nach der Kongruenz bzw. Inko ngruenz von Akte ursund Beobachterperspektive fragt und auf diese Weise diskrepante Optionsräume für gesellschaftliche und politische Akteure und Institutionen einerseits und sozialwissenschaftliche Zugänge und Perspektiven andererseits aufzeigt und (im Hinblick auf das so125
zialwissenschaftliche Begriffs- und Theorieverständnis z.B. von Konflikt und Integration, Herrschaft, Ungleichheit, Staat) durchdenkt.3 (a) Die Unterscheidung von Akteursperspektive (Gesellschaft und Politik) und Beobachterperspektive (Sozialwissenschaft) erweist Brisanz Optionserweiterungen erst dann, wenn die durch die Kosmopolitisierungihre eröffneten in beiden Perspektiven betrachtet werden. Dann tritt hervor, daß Kosmopolitisierung in der Handlungsperspektive wie in der Beobachterperspektive als eine neue Politik der Perspektiven (der Ausgangspunkte, Zugänge, Maßstäbe, Rahmungen, Vordergründe und Hintergründe usw.) entfaltet werden muß (zur »politics of scale« - der Aushandlung der Hierarchie und der Legitimität verschiedener »scales« sozialer Interaktion siehe Brenner 1999,2000;Tsing 2000; Jonas 1994; Burawoy u.a. 2000). Das heißt, die Beziehungsmuster transnational, translokal, global-lokal, global-national, national-global, globalglobal können sozialwissenschaftlich: - in einem lokalen Fokus (z. B. transnationale Lebensfo rmen von Türken in London; globale Kooperation und Konflikte innerhalb der Welthandelsorganisation, der amerikanischen Regierung oder der NGOs; Konflikte zwischen nationalen und kommunalen Regierungen bei Fragen der Geburtenregelung; Armutsbekämpfung in Neu Delhi; die Auswirkungen des BSE-Risikos in einer landwirtschaftlich geprägten Gemeinde in Schottland) konzeptionell erschlossen und thematisiert werden; oder
Fokus Ländern, -in einem nationalen (z.B. transnationale Ehe-Kommuund Familienformen in verschiedenen transnationale nikationsformen und -häufigkeiten in den USA, Rußland, China, Nordkor ea und Südafrika; Pässe und Sprac hen von Kindern bei der Einschulung in verschiedenen Ländern usw.); -in einem transnationalen (bzw. translokalen) Fokus (z.B. Deutsch-Türken, die transnationale Lebensformen zwischen Berlin und Istanbul entwickelt haben, werden sowohl in Berlin als auch in Istanbul untersucht, und zwar in einem methodischen Perspektivwechsel, der die nationalstaatlichen Rahmungen der Türkei und Deutschlands systematisch zueinander in Beziehung setzt - im 3 Siehe dazu in diesem Buch Kapitel I, 3., sowie den 3. Abschnitt dieses Kapitels. 126
Hinblick auf Werte, administrative Regelungen, kulturelle Stereotypen usw., die die Transnationalisierung bedingen, ermöglichen, behindern; die transnationale Risiko- und Konfliktdynamik der BSE-Krise sowie die kulturellen Wahrnehmungen und Wertungen werden in einem europäischen Ländervergleich untersucht); - in einem globalen Fokus (wie weit ist die innere und äußere Kosmopolitisierung nationalstaatlicher Erfahrungsräume in einzelnen Ländern fortgeschritten, welche Konsequenzen sind damit verbunden und welche Schlußfolgerungen - theoretisch, empirisch und politisch - können daraus gezogen werden?). Der methodologische Kosmopolitismus ist also nicht monoperspektivisch, sondern multiperspektivisch, genauer: Er kann und muß die grenzenübergreifende, grenzenmischende Multiperspektivität sozial und politisch Handelnder durch ganz verschiedene »Linsen« betrachten und untersuchen. Wobei dasselbe Phänomen zum Beispiel Transnationalität - sowohl als lokal als auch als auch transnational als auch translokal auch globalnational analysiert werden kann, vielleicht auch muß. Daraus ergibt sich eine Fülle methodologischer Probleme, die hier nicht im einzelnen erörtert, geschweige denn gelöst werden können. Wie ist diese Optionalität und damit Politik der Perspektiven in ihren epistemologischen Folgen durchsichtig und methodologisch handhabbar zu machen? Welche inhaltlichen, thematischtheoretischen, aber auch welche gesellschaftlichen und politischen Folgen sind mit den jeweiligen »Linsen« verbunden, und welche Konsequenzen hat diesöffentliche wiederum Präsenz für die Stellung der Sozialwissenschaft (Finanzierung, und Legitimation, Verwendungszusammenhänge) in den nationalen, zwischennationalen und internationalen Feldern? Wie kann die sich damit auf tuende Komplexität und Kontingenz im Binnen- und Außenverhältnis nationaler und internationaler Soziologien methodologisch bewältigt werden? Ist damit ein Abstieg, ein kultureller Relativismus, eine Subjektivierung der Sozialwissenschaften verbunden, oder ist vielleicht genau das Gegenteil zu erwarten, nämlich, daß die Sozialwissenschaften ihren Erkenntnisanspruch thematisch, methodologisch und politisch jenseits vonbringen Staat ?und Nation weltöffentlichkeitswirksam neu zur Geltung Wann und wie wird das eine oder das andere möglich, wahrscheinlich oder ausgeschlossen? 127
3. Meh r über die Poli tik der Perspekti ven Eine Politik der Perspektive muß nicht nur auf das Verhältnis von Akteursperspektive und Beobachterperspektive angewandt werden, sondern auch auf das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Akteursperspektiven. Mitdiesen anderen Worten: Die Logik sozialer Beziehungen und die auf aufbauenden Bedeutungen sozialwissenschaftlicher Grundbegriffe (Typologien und Theorien) verändern sich. Dies soll (1) anhand von Arten und Ursachen von Konflikten und (2) Arten und Ursachen von Integration (skizzenhaft) erläutert werden.
3.1
Arten und Ursachen von Konflikten
Im methodologischen Kosmopolitismus ist sozialwissenschaftliches zu untersuchen, inwieweit bestimmte Konfliktformen und ihr Verständnis innerhalb nationalstaatlicher Kategorien verbleiben und wie sich die Konfliktkonstellation sowie das sozialwissenschaftliche Instrumentarium verändern, wenn die Inkongruenz zwischen verschiedenen Akteursperspektiven sowie Akteurs- und Beobachterperspektiven ins Zentrum gerückt wird. Die bisherige monoperspektivische Logik sozialer Konflikte wird dann aufgebrochen, wenn mindestens eine der Konfliktparteien sich die neuen Sowohl-als-Auch-Formen zu eigen macht. Dann nämlich wird der nationale Rahmen alsEsvon allen geteilte Arena»Meta-Ungleichheit« der Konfliktaustragung aufgekündigt. entsteht eine neue zwischen den Konfliktparteien. Eine der Konfliktparteien verfügt über die Möglichkeit transnationalen Handelns, die andere realiter oder scheinbar nicht (siehe Kapitel I, 3.3). Da damit zugleich die (in Gesetzen gefaßte) nationale Solidarität aufgekündigt wird, sind diese national-transnationalen Konfliktformen eine schier unerschöpfliche Quelle nationaler und transnationaler Auseinandersetzungen: - Die Beziehungen von Kapital und Staat: Weltwirtschaftliche Akteure sindden keineswegs mächtiger Staaten, aber sie haben sich früher aus Bornierungen der als nationalen Orthodoxie gelöst und verfügen über eine hocheffektive Form der globalen Macht: 128
Ihr Zwangsmittel ist nicht Einmarsch, sondern die Drohung mit dem Ausmarsch. Aus der Perspektive der Weltwirtschaft betrachtet, sollten Staaten leicht ersetzbar und voll austauschbar sein, sich in Konkurrenz mit einer möglichst großen Zahl gleichartiger Staaten befinden und das neoliberale Weltmarktregime verinnerlicht haben (Beck 2002: 193 ff.). Da die Weltwirtschaft nicht politisch handeln kann, ist sie dennoch auf Staaten angewiesen, die sie durch die globale Subpolitik der Kapitalströme zu einer »Selbsttransformation« bewegen kann - ohne demokratisches Mandat und im offenen Bruch mit der nationalstaatlichen Solidarität. - Die Beziehung von Arbeit und Kapital: Kapital wird transnational und global, Arbeit (Gewerkschaften) bleibt national. Das mobile Kapital kann die Politik der Perspektiven ausschöpfen und ausspielen, gerät dabei aber - in der nationalstaatlichen Perspektive - in das Zwielicht illegitimer (Il-)Legalität - während die in ihren sozialstaatlichen Absicherungen territorial undorganisierten national gebundenen Berufsgruppen sowie die nationalstaatlich Gewerk schaften zu protektionistischen Verfechtern des Status quo der nationalstaatlichen Solidarität und Gesetze werden. - Staat-Staat-Beziehungen: Auch in den Beziehungen zwischen Staaten trifft die alte Monoperspektivität (national-international) auf die neue Politik der Perspektiven, indem einzelne Staaten ihren Handlungsraum transnational oder global-national festlegen, das heißt, sich das Recht herausnehmen, in fremde Staaten zu intervenieren; auch hier treffen die »staatlichen Pioniere«, die den transnationalen und globalen Machtraum (auf der Grundlage Menschenrechten, Kapitalströmen und globaler Risikopr äventiovon n) erobern, auf den Widerstand der Staaten, die auf der Grundlage des nationalstaatlich geprägten Völkerrechts die Prämissen der national-internationalen Ordnung verteidigen; und auch hier gilt: Diejenigen Regierungen und Länder, die die völkerrechtlich gefaßte Solidarität aufkündigen, geraten in das Zwielicht von Illegitimität und Illegalität ihrer Handlungen. - Die Beziehung von Staat zu Nichtregierungsorganisationen und internationalen Organisationen: Auch im Verhältnis zwischen nationalagierenden und territorial gebundenen staatlichen Akteuren und transnational NGOs und internationalen Organisationen (Welthandelsorganisation, IWF) manifestiert sich der Bruch 129
zwischen nationalen Ordnungsprämissen und transnationaler Politik der Perspektiven, und auch hier sehen sich die Abenteurer des Transnationalen und Globalen, sprich: Greenpeace, Amnesty International, leicht dem Verdacht ausgesetzt, ohne demokratische Legitimation und ohne Mandat in nationalstaatlich verfaßte Mehroder-weniger-Demokratien zu intervenieren. - Beziehung transnationaler Gruppen zu Staaten: Die Transnationalität und Translokalität der Lebenszusammenhänge (US-Chinesen, britische Türken, indische Afr ikaner) treffen auf das Unverständnis und die Blockadehaltung von Staaten und Gesellschaften, die sich national verstehen und organisieren; auch hier gilt: Transnationalität wird in der Perspektive der nationalstaatlichen Seßhaftigkeit als desintegrierend, illoyal, subversiv, wurzellos, kriminell verdächtigt; während es hier umgekehrt ethnische Minderheiten und Migranten sind, die an der Grenze der Illegalität und Illegitimität die Grauzonen-Handlungsräume des Transnationalen für sich erschließen. - Beziehung Mehrheit-Minderheit: In der nationalen Mehrheitsgesellschaft gibt die Mehrheitsgruppe das kulturelle Verständnis »der« Gesellschaft, »des« Staates vor, wobei das National-partikulare als das Universelle dargestellt wird. Dies gilt allerdings nur für das Selbstverständnis der Mehrheit, deren Perspektivität zum Maßstab wird, an dem nationale und transnationale Minderheitenlebensformen abgewertet und ausgeschlossen werden.4
3.2 Arten und Ursachen von Integration Auch bei Integrationsproblemen verkennt der nationale Blick des sozialwissenschaftlichen Beobachters die Realitäten. In stillschweigender Übereinkunft zwischen den national-nationalen Akteuren und den national-nationalen Beobachtern erscheint der Aufbruch ins Transnationale als »desintegrierend«, »fragmentierend«. Entsprechend herrscht in der Politik wie in der Wissenschaft das Vorurteil, transnationale Identitäten und Institutionen zersetzten nationale Bindungen. Das ist nicht ausgeschlossen. Tatsächlich je4 Diese Punkte und Argumente werden in Kapitel IV wieder aufgegri ffen. 130
doch können transnationale Identitäten, Loyalitäten und Lebensformen - transnationale Konflikte im nationalen und im transnationalen Raum entschärfen; - durch transnationale Brückenschläge, Durchdringungen und Verbindungen die Introvertiertheit des nationalen Blicks überwinden - den »Weltsinn«, »Grenzenlosigkeitssinn« im nationalen Erfahrungsraum schärfen und auf diese Weise aktuelle und potentielle Konfli ktquell en entschärfen; - dazu beitragen, daß in Zeiten globaler Risiken und Krisen transnationale und globale Kooperation und Integration ermöglicht und verbessert werden; - schließlich können transnationale Netzwerke transnationale Konflikte innerhalb und zwischen nationalen Öffentlichkeiten organisieren und auf diese Weise die transnational-öffentliche Selbstreflexivität die eine Voraussetzung der Politik des Transnationalen herstellen, ist. Damit sollte zumindest folgendes klar sein. Wenn an die Stelle des methodologischen Nationalismus der methodologische Kosmopolitismus tritt, entsteht eine neue Sicht der Welt. Im Horizont des Transnationalen wird plötzlich klar, daß weder das Nationale von dem Internationalen klar zu unterscheiden ist, noch daß sich auf diese Weise homogene Einheiten gegeneinander abgrenzen lassen. Nationale Räume werden denationalisiert, so daß national nicht mehr national, international nicht mehr international ist. Insofern ist klar,und daßSassen das Konzept der »De-Nationalisierung«, das Zürn (1998) (2003) vorschlagen, als Teil der Kosmopolitisierung verstanden werden kann. Im Zuge der Transnationalisierung wird der Machtbehälter des Nationalstaates zugleich von innen und außen aufgebrochen, und es entstehen eine neue Pluralität von Raum und Zeit, neue Koordinaten des Sozialen und des Politischen, wie gesagt: eine neue Gestalt der Welt, die einen neuen Epochenbegriff rechtfertigt, nämlich den der Zweiten Moderne und ihres kosmopolitischen Blicks.
4. Qualitative Forschung: Das Globale kann lokal erforscht werden - Die Analyse der banalen Kosmopolitisierung Der banale Nationalismus der Ersten Moderne wird von einem
banalen der Zweiten Moderne unterlaufen (siehe S. 65 ff.).Kosmopolitismus Nimmt man Entertainment als einen exemplarischen Bereich realexistierender, banaler Kosmopolitismen heraus, dann stellt sich sofort die Assoziation der »Amerikanisierung« und »McDonaldisierung« ein. Wie sehr diese Gleichsetzung die komplexen Zusammenhänge verkürzt, haben unter anderen Elihu Katz und Tamar Liebes (1993) aufgedeckt. Die Autoren zeigen am Beispiel der weltweit konsumierten amerikanischen Fernsehserie Dallas, daß je nachdem, ob arabische Israelis, russische Israelis, Amerikaner, Japaner usw. diese Fernsehserie sehen, Dallas nicht gleich Dallas ist. Dieses werden Beispielim läßt sichihrer verallgemeinern: Euroamerikanische Produkte Zuge aktiven Aneignungen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten nicht selten bis zur Unkenntlichkeit verwandelt (Lash/Urry 2003). Ein anderes, weniger banales Beispiel realexistierender Kosmopolitismen bilden die Transnationalisierung des Rechts und der legale Pluralismus. Der kosmopolitische Realismus besagt hier, daß auf der Baustelle Weltpolitik nicht zuletzt Formen des staatlichen und nichtstaatlichen Rechts jenseits der klaren Unterscheidung von national und international nebeneinander entstehen und bestehen, was sich gemäß dem methodologischen Nationalismus auszuschließen scheint. Kosmopolitisierung geht einher mit Fragmentierung, Kontextualisierung und Pluralisierung des Rechts. Im Strafrecht hat der Nationalstaat sein Monopol bislang weitgehend verteidigen können. In Fragen des Patentrechts, aber auch in anderen Kernbereichen wirtschaftlichen Handelns greift inzwischen ein staatlich-nichtstaatliches öffentlich-privates Sowohl-als-Auch um sich. Das umfaßt ein breites Spektrum von Akteuren, das von NGOs, transnationalen Konzernen, privaten law firms, bis zu internationalen Rechtskomitees, der WTO, dem IMF, der Weltbank usw. reicht. entmachtet Auch in Fragen desirrelevant; Rechts istaber der er Nationalstaat keineswegs oder gar ist in einemalso unübersichtlichen Sowohl-als-Auch zu einer mächtigen Instanz unter 132
anderen geworden, im Süden der Welt noch deutlicher als im Norden. Was methodologisch zur Folge hat: Die banale Kosmopolitisierung des Rechts kann weder lokal noch national, sie muß in ihren neuen Mischformen, Grenzkonstruktionen, Ambivalenzen und deren machtstrategischen Instrumentalisierungen durch Regierungen, Konzerne, NGOs usw. in multi-lokalen und multi-nationalen Perspektiven und Fallstudien analysiert werden (Marcus 1998/ Beck 2002). Dieser »banale« Kosmopolitismus läßt sich überraschenderweise auch an einem weniger banalen Akteur exemplarisch zeigen, dessen zur Zeit sich vollzie hende »kosmopolitische Erneuerung« mit Mißtrauen beäugt wird. Ich meine das Militär, insbesondere die Nato. Innerhalb Europas, aber auch im Verhältnis zu den USA hat das Militärmanagement die kuriosen Umstände geschaffen, unter denen die Institution, die geradezu als Verkörperung des Allerheiligsten des Nationalen galt, ist in die ihrem Innersten denationalisiert wurde. Besonders aufregend Transnationalisierung der Waffenproduktion - der Panzer, neuer Kampf- und Transportflugzeuge, Informationssysteme usw. Längst wurde so stillschweigend die einst grundlegende Prämisse der nationalen Autarkie aufgehoben und in ihr Gegenteil verkehrt. Militärische Sicherheit und Macht sind heute auf internationale Kooperation angewiesen, also nur in der Selbstaufhebung nationaler militärischer Souveränität und Sicherheit möglich, denen doch zugleich alles dienen soll. Die höheren Befehlszentralen sind selbst vom multikulturellen Virus befallen und zersetzt worden, zu kosmopolitischen Miniaturgesellschaften In ihnen ja mischen sich und kooperieren - übrigens wie ingeworden. multinationalen Konzernen - Offiziere und Mannschaften aus allen Mitgliedsländern. Große Militärübungen werden zu transnationalen Unternehmen und dienen der Einübung von Transnationalität. Und am Ende stellt sich dann die keineswegs banale Frage: Wofür sterben beispielsweise deutsche Soldaten in Afghanistan? Die StandardAntwort der Nationalepochen - für das Vaterland oder die Sicherheitsinteressen Deutschlands - wird zur Floskel, die vorübergehend die Verlegenheit einer nationalstaatlichen Verfassungskonformität, nicht denBeispiel Wirklichkeitsverlust zu überspielen vermag. An aber diesem läßt sich zugleich erneut zeigen, daß die nationale Doktrin kultureller Homogenität die historische Ausnahme 13 3
ist, die nur für die im weltgeschichtlichen Maßstab kurze Phase der nationalen Ersten Moderne gilt (McNeill 1985). Die Vorstellung, daß Heere national, das heißt ethnisch homogen, zusammengesetzt sein sollen, konnten sich die früheren Imperien und Imperatoren gar nicht leisten. Die großen Welteroberungen von Cäsar bis zu Napoleon waren nurman aufneue der Soldaten Grundlage multiethnischer Heereselbstverständlich möglich. Nur indem jenseits der Grenzen des eigenen Stadtstaates zog und band, konnte ein Imperium errichtet und gesichert werden. Es war nicht zuletzt die Bereitschaft Roms, die Bürgerrechte nicht ethnisch einzugrenzen, sondern für einen immer größeren Kreis möglicher Rekruten zu öffnen, die seine Siege erst ermöglichten. Aus diesen Beispielen einer banalen Kosmopolitisierung läßt sich eine zentrale Konsequenz ziehen: Daß der Erfahrungsraum und der Erwartungshorizont nationaler Gesellschaften 5 gegeneinanderPolitik abgegrenzt und durchsind, eine wird einheitliche Sprache, und gekennzeichnet mehr und mehr Identität zu einer Legende. Was als national gilt und ausgezeichnet wird, ist in seiner Essenz mehr und mehr transnational oder kosmopolitisch. Dadurch wird das Verhältnis zwischen unserem Wissen von der Welt und den sozialen Strukturen paradox: Soziale Strukturen und Prozesse werden kosmopolitisch, während das W issen in der Axi omatik des Nationalen befangen bleibt. Dabei ist es absehbar, daß sich diese Paradoxie von Wissen und Realität im Zuge der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung eher verstärkt als abschwächt. So gesehen sind die gesellschaftlichen für den Nationalstaat, nämlich die Identität von Voraussetzungen Raum, Volk und Staat, nicht mehr gegeben - auch wenn sich neue Organisationsformen des (Kosmo)Politischen noch nicht klar abzeichnen. Für eine kosmopolitische Soziologie bleibt noch das Problem zu lösen: Wie erforscht man das Globale? Ist das total Globale nicht ein wenig zu global? Und muß eine Soziologie des Globalen die Soziologie nicht zwangsläufig zurückentwickeln in eine Zweigstelle der Metaphysik ohne einen systematischen Bezug zur empirischen Falsifikation ihrer Hypothesen? Wie also wird eine empirische Soziologie des Globalen ermöglicht?
5 Zwisch en Erfahr ungsr aum und Erwartu ngshor izont unterscheidet systematisch R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1989. 13 4
Man glaube es mir oder nicht, für mich gibt es eine einfache Antwort auf diese Frage, die jedoch von gängigen Bildern und Mißverständnissen über Globalisierung verdeckt wird , von den Paradoxien der Globalisierung. Die erste Paradoxie besagt, daß es bei Globalisierung um Globalisierung geht. Das ist nicht wahr. Bei Globalisierung geht es auch um Verortung, Lokalisierung. Man kann nicht einmal über Globalisierung nachdenken, ohne sich auf spezielle Orte und Plätze zu beziehen. Eine der wichtigen Voraussetzungen und Folgen des Kosmopolitisierungstheorems ist die Wiederentdeckung und Neudefinition des Lokalen. Roland Robertson (1992; Robertson/Khondker 1998) hat genau diese Global-lokal-Dialektik vor Augen, wenn er von »Glokalisierung« spricht (daran hat sich eine breite Debatte angeschlossen: Ong 1996, 1999; Kyle 2000; Cox 1997; Miller/Slater 2000; Miller 1995). Fü r die Sozialwissenschaften bedeutet das, daß die Kosmopolitisierung nicht dort draußen passiert, sondern hier drinnen. Deshalb kann die Soziologie das Globale lokal erforschen. Wie Saskia Sassen (2000, 2003) in ihrer Arbeit zeigt, ergeben sich daraus wichtige Auswirkungen auf die Analyse von Städten: Sie bilden keine umgrenzten territorialen Einheiten, sondern sind ein Knotenpunkt in einem Net z grenzüberschreitender Prozesse. Darüb er hinaus kann dieser Typ von globalisierter Stadt nicht in einer einfachen Hierarchie verortet werden, die sie dem Nationalen, dem Globalen, dem Regionalen unterordnet. Die Stadt ist einer der Räume des Globalen und steht mit dem Globalen direkt in Verbindung, oft unter Umgehung des Nationalen (siehe auch Duerrschmidt 2000; Eade 1997; Isin 2000; Espinoza 1999). Wie das funktioniert, wird klar, wenn wir ein zweites Mißverständnis über Globalisierung aufgreifen, demzufolge Globalisierung als additiver und nicht als substitutiver Aspekt der Nationalstaatsgesellschaft und der soziologischen Imagination angesehen wird. Im Globalisierungsdiskurs trifft man häufig auf die An nahme, Globalisierung verändere nur die Beziehung zwischen den Nationalstaaten und Gesellschaften, aber nicht die innere Qualität des Gesellschaftlichen und Politischen. D och Globalisierung meint
innen, verinnerlichte Globalisierung Globalisierung. Aus diesem Blickwinkelvon betrachtet, bleibt das Nationale nicht länger das Nationale. Das Nationale muß als das verinnerlichte Globale wie35
derentdeckt werden. Um mit Saskia Sassen zu sprechen: »Of particular interest here is the implied correspondence of national territory to the national, and the associated implication that the national and the non-national are two mutually exclusive conditions. We are now seeing their partial unbundling.« Sassen argumentiert, »thatthat oneaofprocess, the features the current facea of globalisation is the fact whichofhappens within territory of sovereign State does not necessarily mean, that it is a national process. C onversely, the national (such as firms, capital, culture) may increasingly be located outside the national territory, for instance, in a foreign country or digital spaces. This localisation of the global, or of the non-national, in national territories, and of the national outside national territories , undermined a key-dualit y running through many of the methods and conceptual frameworks prevalent in social sciences, that the national and the non-national are mutually exclusive.« 2000,145 f.)Schlußfolgerung lautet: Es ist nicht notDie (Sassen methodologische wendig, das Globale total global zu erforschen. Wir können einen neuen, zweckmäßigen, historisch sensiblen Empirismus der ambivalenten Folgen der Globalisierung in grenzüberschreitenden und multilokalen Forschungsnetzwerken entwickeln - eine Fortsetzung der Gemeindestudien der Chicagoer Schule in kosmopolitischer Absicht und Erneuerung. Was kennzeichnet einen Erfahrungsraum oder Erwartungshorizont als »kosmopolitisch« im Unterschied zu einem nationalen? Mein Vorschlag Kosmopolitische Sensibilität und life. Kompeof cultures within one's own tenz entsteht auslautet: dem clash Die kosmopolitische Konstellation als Erfahrungsraum und Erwartungshorizont bezeichnet die internalisierte Andersheit der Anderen, die Ko-Gegenwart, Ko-Existenz rivalisierender Lebensstile, contradictory certainties im individuellen und sozialen Erfahrungsraum. Gemeint ist eine Welt, in der es zur Notwendigkeit geworden ist, die Andersheit der Anderen zu verstehen, zu reflektieren, zu kritisieren und auf diese Weise sich selbst und andere als verschieden und deshalb gleichwertig zu behaupten und anzuerkennen. und kosmopolitische dialogischen Imagination - Sensibilität eröffnenKosmopolitischer einen Raum derBlick als Praxis im Alltag wie in den diesbezüglichen Wissenschaften. Die kosmo136
politische Kompetenz - veralltäglicht und verwissenschaftlicht zwingt zur Kunst des Übersetzens und Überbrückens. Das schließt zweierlei ein: zum einen die eigene Lebensform im Horizont anderer Möglichkeiten zu verorten und zu relativieren; zum anderen die Fähigkeit, sich selbst aus der Perspektive der kulturell Anderen zu sehen, und dies in dem eigenen Erfahrungsraum durch grenzenübergreifende Imagination zu praktizieren. Wieweit und in welchen Konstellationen dies gelingt, ist eine gänzlich offene empirische Frage, auf die ich bislang so gut wie keine angemessene Antwort kenne. Ja, es ist sogar wichtig, einem kosmopolitischen Mythos, einem kosmopolitischen Fehlschluß frühzeitig entgegenzutreten: Leben zwischen Grenzen oder in der Diaspora wohnt kein Automatismus zu mehr Weltoffenheit inne. Wie gesagt: Kosmopolitisierung und Anti-Kosmopolitisierung greifen ineinander. Spätestens an diesem Fehlschluß Punkt ist eszunotwendig, vorgrundlegende einem mögkosmopolitischen lichen warnen. Die Tatsache, daß der Erfahrungsraum der Menschen sich durch die Öffnung zur Kosmopolitisierung auf subtile Weise ändert, darf nicht zur Annahme verleiten, wir würden allesamt zu Kosmopoliten. Auch die positivste denkmö gliche Entwi cklung - eine Entgrenzung der kulturellen Horizonte und eine wachsende Sensibilität gegenüber anderen, nicht vertrauten Lebens- und Koexistenzgeographien - fördert nicht notwendigerweise ein Gefühl der kosmopolitischen Verantwortung. Die Frage, wie dieses überhaupt ermöglicht werden könnte, wurde bislang kaum je wirklich gestellt, geschweige denn erforscht. Aber die innere Kosmopolitisierung nationalstaatlich organisierter und gedachter Gesellschaften erhöht auch die Wahrscheinlichkeit eines nationalen Fehlschlusses. Es ist dies der Glaube, daß, was sich im Container dieses oder jenes Nationalstaates abspielt, auch national verortet, verstanden und erklärt werden könne. Dieser »nationale oder territoriale Fehlschluß« trifft nicht zuletzt auf einen Großteil der Statistiken zu, die von nationalstaatlich orientierten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften erstel lt werden (Beck-Gernsheim Die Rede von 2004). Kosmopolitisierung hat eine offensichtliche Schwäche: Sie legt nahe, das Lokale als »Fußabdruck« des Globa137
len zu verstehen. Auf diese Weise wird die genaue Analyse ausgeklammert, wie die Verbindung und Durchdringun g von global und lokal hergestellt, gestaltet wird, inwieweit also die Mischung der Grenzen eine Politik des Lokalen ermöglicht, erzwingt oder vielleicht sogar ein Ergebnis desselben ist? Ist das Lokale vielleicht nicht dienur »Kreuzung« der globalen Netzwerke Scales,nur nicht der »Exekutionsort« desStröme, Globalen? Muß dasund Gesicht der Lokalität vielleicht genau umgekehrt als Produkt von Strategien entschlüsselt werden, die konkrete transnationale Akteure in konkreten Situationen verfolgen? Wer entwickelt die Perspektiven, die das Lokale von innen her verwandeln? Mit anderen Worten: Auch der sozialwissenschaftliche Interaktionismus, Pragmatismus, die Ethnomethodologie, Ethnographie usw. sowie deren empirisch-methodologisches Know-how müssen in die Debatte und Erforschung der Kosmopolitisierung eingeführt werden. In diesem Sinne »ist« oder das Glokale nicht, sondern es wird gemacht, und das zwarLokale in Glokalisierungs-Praktiken und -Projekten, »die damit befaßt sind, die Verbindungen, Skalen, Grenzen sowie den Charakter besonderer Plätze und besonderer sozialer Ordnungen zu redefinieren« (Gille/Riain 2002: 277; siehe auch Kyle 2000; Riccio 2000; Papadakis 2000). Der methodologischstrategische Vorteil dieser globalen Ethnographie des Lokalen liegt zum einen darin, daß die allgemein vorausgesetzte Hierarchie der Kongruenz von Akteursperspektiven und Analyseeinheiten in der Beobachtersprache hinfällig wird und zum anderen die Erweiterung, Durchdringung und Neukonstruktion von Grenzen und Skalen selbst zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung und Rekonstruktion gemacht werden können. Die Fragen, die hier im Rahmen ethnographischer Methodensophistikation entfaltet und untersucht werden können, lauten beispielsweise: Inwieweit sind lokale Akteure in der Lage, Vorteile daraus zu ziehen, daß die sozialräumlichen Hierarchien, die auf den Nationalstaat zentriert sind, destabilisiert werden? Inwieweit ermöglicht diese Destabilisierung des nationalen Kosmos die Herstellung neuer, translokaler und transnationaler Verbindungen? Welche sozialen Akteure wirken gegen welche Widerstände mit an des der Konstruktion »globaler Imaginationen«, die den Charakter Ortes verändern, und fordern auf diese Weise die vorhandenen Definitio138
nen des Lokalen, Nationalen und Globalen sowie die damit eingebauten Grenzziehungen heraus ? Etwas genauer läßt sich dann auch untersuchen (Lin 1998; Lopez 2000; Gille 2000; Soto 2000; Goldman 2001): Wer öffnet wie warum und gegen welche Widerstände globalen Akteuren lokal die Türen? Wie werden globale wirtschaftliche und kulturelle und politische Unternehmungen im Ort verwurzelt oder eben gerade nicht? Kommt es zu einer Assimilation oder verwandelt das globale das lokale Kolorit? Wie also läßt sich die »Durchdringung«, die relative Öffnung und Schließung im einzelnen rekonstruieren und bestimmen? Wie wird mit dem Prototyp des »Migranten« - transnationalen Konzernen, Nichtregierungsorganisationen, Touristen und Flüchtlingen - umgegangen? Werden die »Transnationalen« nur oder vornehmlich in den Gehegen der Freizeitkultur (Buntheit von Restaurants und Stadtteilen) »geduldet«, oder werden sie auch zur politischen Partizipation, zur Übernahme von Entsteht Verantwortung in Schulen, Poliz ei- und Sozialdiensten ermutigt? ein öff entlicher Raum, in dem die scheinbar klaren Gegensätze zwischen »Wir und den Anderen« sich verwischen und eine Konflikt-Kooperationskultur zur transnationalen Öffnung und Redefinition des Lokalen entsteht? Werden vielleicht sogar im Lokalen und im Nationalen gegensätzliche Visionen des Lokalen e ntworfen und vertreten, die konfliktvoll aufeinandertreffen? Ist es möglich, daß eine Stadt sich selbstbewußt weltoffen erfindet, aber dabei auf den Widerstand der Gesetze und Interventionen trifft, die die Landesund diktieren ? Existiert vielleicht eine mehr oderBundesregierung weniger reflektierte Verbindung zwischen der sogar Weltoffenheit einer Stadt (bzw. einer Nationalgesellschaft) und ihrer weltwirtschaftlichen Einbindung und ihrer Prosperität? Ist vielleicht sogar die Vision eines global-lokal vernetzten Lebenszusammenhanges mit offenen Grenzen nach innen und außen eine Eintrittskarte in die globale Öffentlichkeit und damit auch eine Markt- und Werbestrategie für einzelne Orte, die dadurch kollidieren können mit der nationalstaatlichen Schließungspolitik? Kann man in diesem Sinne vielleicht sogar sagen, daß die Erweiterung Politikmit durch transnationale Subpolitik, insbesondereder dielokalen Kooperation Nichtregierungsorganisationen eine Bereicherung der Stadtpolitik mit sich bringt, weil auf diese Weise 13 9
beides: globale Verbindungen und weltöffentlichkeitswirksame Werbung, verwirklicht werden? Woraus entstehen die Widerstände gegen diese aktive Kosmopolitisierung des Lokalen? Wer schmiedet die protektionistischen Koalitionen, und inwieweit sind diese bevorteilt durch die existierenden Institutionen (des Rechts, der Parteienorganisation, derexistierenden Gew erksch aften usw.)? Inwieweit spaltet lokale Kosmopolitik die politischen Organisationsformen? Wird das Ressentiment gegen Fremde, die die Kosmopolitisierung erzeugt, zu einer wesentlichen Quelle der Wählerzustimmung? Alles dies und vieles andere mehr kann in qualitativen Feldstudien erschlossen und erarbeitet werden. Auf diese Weise wird der Bann durchbrochen, der die Frage nach der Analyseeinheit - das »Lokale« - konfundiert mit der Frage nach der Wirklichkeit der Kosmopolitisierung und wie sie auf der Ebene des Lokalen manifestiert und erforscht Das Partikulare Partikulare, sondern werden zugleichkann. das Globale, ebenso ist wienicht das das Globale nicht das Globale, sondern das Partikulare, das Lokale ist. Insofern kann und muß man in der Tat die Analyseeinheiten klar unterscheiden von den translokalen, transnationalen Verflechtungen und Durchdringungen, die auf dieser Ebene (aber eben auch auf der nationalen oder transnationalen Ebene) in ihren Herstellungsprozessen und Ausdrucksformen untersucht werden können.
5. Quantitat ive Forschung: Indikatoren der Kosmopolitisierung Der empirisch-analytische kosmopolitische Blick kann auf zweierlei Weise in empirische Forschung umgesetzt werden: zum einen wie soeben gezeigt - durch qualitative Forschung, die die aktive und passive Kosmopolitisierung der Wirklichkeit aufdeckt, rekonstruiert und durchleuchtet; zum anderen durch quantitative Analysen, die die folgenden empiris chen Indikatoren der Kosmopolitisierung verwenden. In beiden Fällen mußwerden. der sozialwissenschaftliche kus, die Analyseeinheit, bestimmt Schärfer gefaßt und Foals Einwand formuliert: Verfängt sich der methodologische Kosmo14 0
politismus nicht dann, wenn er empirische Forschungen anleiten will, in einem offenen Widerspruch, nämlich dem, daß er die nationalen (oder lokalen) Analyseeinheiten, die er angeblich aufhebt, selbst zum Bezugsrahmen wählt? Nein, lautet die Antwort: zum einen weil die In kongruenz von Akteursperspektive und sozialwissenschaftlicher Beobachterperspektive die methodische Leitidee ist. Im lokalen oder nationalen Fokus wird nach transnationalen, translokalen, glokalen, global-nationalen Beziehungsmustern und Strukturbildungen gefahndet. Das heißt: Der nationale Fokus ist nicht mehr der nationale Fokus (des methodologischen Nationalismus), da die alten Unterscheidungen von national und nicht-national aufgehoben werden, aber deren Sowohl-als-Auch (in Erscheinungsformen, Grenzen, Widersprüchen, Widerständen) erforscht wird. Der methodisch gewählte nationale (oder lokale) Fokus zwingt also zur konzeptionellen Selbsttranszendierung, empirischen Selbstkorrektur; er ist nicht mehr und nicht weniger als ein Ausgangspunkt, um mit einer postnationalen Begrifflichkeit das Ausmaß und die Formen der Trans-, De- und Re-Nationalisierung empirisch zu ermitteln. Zum anderen ist der nationale Fokus nur einer unter vielen, der es vor allem erlaubt, in einem ersten Schritt die innere Kosmopolitisierung nationalstaatlicher Handlungs- und Erfahrungsräume über nationale Grenzen hinweg begrifflich-methodisch zu analysieren. Weitere methodologische Schritte können und müssen folgen. Transnationale Interdependenzen und Ströme müssenWie auchgesagt: »transnational«, im systematischen Wechsel der Perspektiven zwischen nationalstaatlichen Rahmungen erfaßt und erforscht werden; auch können Transnationalisierungen in globalglobaler Perspektive erfragt und erforscht werden usw. Die nationale Optik ist also gerade nicht die des methodologischen Nationalismus, weil sie erstens mit einer kosmopolitischen Begrifflichkeit arbeitet, zweitens die Durchdringung, Vermischung und Neudefinition der Grenzen untersucht und drittens einen Einstieg darstellt, der durch Methoden einer transnationalen Komparatistik ergänzt und vervollständigt werden muß. sollen nun exemplarisch (ohne Nach diesen Einschränkungen Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Entfaltung) einige 14 1
quantitative Indikatoren der Kosmopolitisierung angeführt werden: - Indikator: Kulturelle Güter, das heißt Im- und Export von kulturellen Gütern: Transnationalisierung des Buchwesens, Entwicklung der Im- und Exporte von Zeitschriften, der Anzahl und Anteile in- bzw. bzw. ausländischer ausländischer Produktionen Filme im Kino;imEntwicklung des Anteils inFernsehen, entsprechender Radiosendungen usw. - Indikator: Doppelte Staatsbürgerschaft; Rechtsgrundlagen und behördliche Praxis im Umgang mit Migranten, Asylbewerbern; wie werden »Fremde« statistisch definiert, in der Öffentlichkeit und im Alltag (der Verwaltung) behandelt? - Indikator: Politische Intensitäten; inwieweit sind verschiedene ethnische Gruppen in den Zentren der nationalen Macht - Parteien, Parlamenten, Regierungen, Gewerkschaften - vertreten und präsent? - Indikator: Sprache; wer spricht wie viele Sprachen? (So ging beispielsweise vor kurzem die Nachricht durch die Medien, daß in einer bayerischen Kleinstadt - Landshut - inzwischen von 30 Kindern in einer Hauptschulklasse mehr als 15 Sprachen gesprochen werden.) - Indikator: Mobilität; permanente Zuwander ung, Entwicklu ng der Einwanderung, der Arbeitsemigration; temporäre Zuwanderung, Entwicklung der Flüchtlingszahlen, der Zahl ausländischer Studierender; Indikator: Kommunikationsströme; das heißt der Entwicklung der- internationalen und nationalen Briefsendungen, internationalen und nationalen Telefongespräche, des entsprechenden Datenverkehrs über das Internet usw. - Indikator: Reisen; das heißt Entwicklung des internationalen Personenflugverkehrs, des internationalen Tourismus, der Zahl und Anteile der Auslandsreisen; - Indikator: Aktivität in transnationalen Initiativen und Organisationen; das heißt: vorübergehende oder dauerhafte Teilhabe an Aktionen von Greenpeace, Amnesty International usw., Partizipation usw.; an internationalen Unterschriftenaktionen, Käuferboykotts - Indikator: Kriminalität; Entwicklung der internationalen (or142
ganisierten) Kriminalität, der politisch motivierten Anschläge bzw. Gewalttaten von Ausländern bzw. von ausländischen Gruppierungen; - Indikator: Transnationale Lebensformen; Diasporagemeinden und ihre grenzenüberschreitenden privaten und öffentlic hen N etz werke und Entscheidungsstrukturen, Zahl und Art transnationaler Ehen, Geburten transnationaler Kinder usw.; - Indikator: Transnationale Berichterstattung; beispielsweise über Kriege im Fernsehen; inwieweit findet hier ein Wechsel der Perspektiven statt? - Indikator: Nationale Identitäten; wie verhalten sich Zahl und Art nationaler Identitäten zur Staatsbürgeridentität? Hebt Kosmopolitisierung die nationale Identität auf? Oder gibt es so etwas wie eine »kosmopolitische Nation«, und was heißt das? - Indikator: Ökologische Krise; Entwicklung der stratosphärischender Ozonschicht, des Weltklimas,Luftder weltweiten Fischressourcen, grenzenüberschreitenden und Wasserverschmutzung, die Entwicklung der Einstellungen zu lokalen, nationalen und globalen Weltkrisen, Umweltgesetze, Umweltgerichtsbarkeit, Umweltmärkte, Umweltarbeitsplätze usw. Die quantitative Entwicklung dieser Indikatoren ist sicherlich schon aufgrund der Datenlage und der immensen Probleme ihrer Vergleichbarkeit schwer zu beurteilen. Und doch zeigen die ersten systematischen Analysen (Held u.a. 1999; Beisheim/Zürn 1999; Gerhards/Rössel 2003), daß Kosmopolitisierung auch empirisch als ein vielfach Prozeß dargestellt werden kann, der gebrochener je nach Land und verstanden Dimensionund erheblich variiert. Allerdings nimmt spätestens seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts Kosmopolitisierung in ihrer Breite und Intensität tatsächlich eine neue Qualität an, und diese übertrifft bei weitem das, was zu Beginn dieses Jahrhunderts zu beobachten war. Parallel zur Kosmopolitisierung auf der Mikro-Ebene in den Lebenswelten, Lebensformen und Alltagsinstitutionen der Gesellschaft (wie Schule, Gemeinde) findet auch eine Kosmopolitisierung auf der Makro-Ebene statt, und zwar nicht nur durch Abhängigkeiten auf dem Weltmarkt, sondern auch im inter- und supranationalen Institutionengeflecht.
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5.1 Reflexive Kosmopolitisierung Damit ist immer noch nicht geklärt, was eine kosmopolitische Gesellschaft ist. Leichter ist es wohl zu sagen, was sie nicht ist. Es ist sicher nicht sinnvoll, von einer kosmopolitischen Gesellschaft zu sprechen, wenn Kosmopolitisierung ausschließlich aufvom objektiver Ebene fortschreitet, aber zugleich (aktiv) verdeckt wird dominierenden nationalen Blick - in den Kommunen, den politischen Parteien, in der Regierung, in der Öffentlichkeit, in der Polizei, in der Bildung, in der Wissenschaft usw. Daraus folgt: Von Kosmopolitisierung kann sinnvoll erst dann die Rede sein, wenn diese öffent lich reflektiert, kommentiert und am Ende dann institutio nalisiert wird (z. B. durch eine entsprechende Migrationspolitik). Das wiederum heißt: Der kosmopolitische Blick muß den nationalen umgreifen und kritisieren, verändern, erweitern.
Bewußtwerden undkosBeEs war wohl Roland Robertson,Projekts der das- das, wußtsein des kosmopolitischen was ich den mopolitischen Blick nenne - zum Indikator der Kosmopolitisierung gemacht hat (Robertson 1992). Entsprechend unterscheidet auch Albr ow (1998) zwischen Globalisierung und »Globali tät«, wo bei »Globalität« das alltägliche Bewußtsein derselben einschließt. Ähnlich argumentiert Armin Nassehi, wenn er Kosmopolitisierung an das Thomas-Theorem bindet und damit an die Selbstdefinition und öffentliche Reflexivität transnationaler Lebensformen und Lebenslagen nicht nur im Oben, sondern auch im Unten und in1998). der Mitte einer entstehenden Weltbürgergesellschaft (Nassehi Also: »Objektive« und »reflexive« Kosmopolitisierung überlappen sich, sind empirisch nicht scharf zu trennen. Keiner der beiden Aspekte kann ohne den anderen angemessen verstanden werden. Der empirisch-analytische kosmopolitische Blick legt Entwicklungen offen, die als »Kosmopolitisierung« gelten können, er ist, mit anderen Worten, ein Relationsbegriff, in dem die Zusammenhänge zwischen kosmopolitischen Veränderungen und Bewegungen einerseits und dadurch ausgelösten Widerständen und Blockaden werden. Kosmopolitisierung deutet alsoandererseits keineswegs analysiert »eine« kosmopolitische Gesellschaft, besondern das Wechselverhältnis von De- und Re-Nationalisierung, De144
und Re-Ethnisierung, De- und Re -Lokalisierung in Gesellschaft und Politik. Um dieses zu erfassen und zu erforschen, bietet sich eine prozeßorientierte Soziologie an, also der methodische Versuch, eine Prozeßreduktion durch statische Konzepte zu vermeiden. Entsprechend muß der Versuchung widerstanden werden, Kosmopolitisierung als ein Phasenmodell zu entwickeln. Wird dies einlinear entworfen, ist es zum Scheitern verurteilt. Denn die Kosmopolitisierung ist nicht länger nur ein objektiver, mit empirischen Kategorien zu beschreibender Prozeß, sondern ein politischer Machtkampf, in dem Gruppen in revolteähnlicher Form aus ihrer nationalstaatlichen Identitätshörigkeit ausbrechen, andere sich hinter ihrer regionalen Identität verschanzen. Das Symbol des »Schmelztiegels« - das Integrationsmodell der Ersten Moderne - wird ersetzt durch das der »Salatschüssel«, eine Vorstellungswelt, die Elemente eines entterritorialisierten Gesellschaftsverständnisses vorwegnimmt, aber auf diese Weise in ein dorniges Gestrüpp von Widersprüchen gerät (Beck-Gernsheim 2000, 2004). Auch gilt es, verschiedene politische Reaktionsformen auf die Kosmopolitisierung zu unterscheiden. Da ist zunächst die Minderheiten-Revolution in der Mehrheitsdominanz. In diesem öffentlich ausgetragenen Konflikt zerbricht das nationale Gedächtnismonopol, und es werden vielfältige, lose verknüpfte, grenzenübergreifende Erinnerungsschichten freigelegt, entfaltet (und erfunden!). 6 Eine solche Kritik des kollektiven Gedächtnisses schärft den Blick der verschiedenen Minderheiten für ihre Unterdrückungsgeschichte, löst diese aus ihrer Verklammerung mit der nationalstaatlichen Gleichsetzung von Raum, Zeit und Sozietät.
5.2 Klassenanalyse und Kosmopolitisierungsanalyse Es gibt eine gewisse Parallele zwischen der »Kosmopolitisierungsanalyse«, wie sie hier vorgeschlagen wird, und der »Klassenanalyse«, wie sie Marx (immer nur unvollständig) entw orfen hat: EbenZur Funktion des Gedächtnisses im kosmopolitischen Zeitalter s. Levy/Sznaider 6
(2001). 14 5
so wie die Klassenanalyse den Kernkonflikt der Ersten Moderne, versucht die Kosmopolitisierungsanalyse den Kernkonflikt der Zweiten Moderne aufzudecken. Und ebenso wie Marx die Unterscheidung zwischen Klasse »an sich« und Klasse »für sich« getroffen hat, könnte man hier eine Unterscheidung zwischen Kosmopolitisierung »an sich« und Kosmopolitisierun g »für sich« tref fen. Kosmopolitisierung »an sich« wäre dasselbe wie innere Kosmopolitisierung, Kosmopolitisierung von innen (banale Kosmopolitisierung). Kosmopolitisierung »für sich« dagegen könnte zu einem Begriffsschlüssel gemacht werden, um die verriegelten Tore zu den neuen kosmopolitischen Konfliktlandschaften und ihnen möglicherweise in Zukunft entsprechenden konfliktregulierenden Institutionen aufzuschließen. Die Annahme lautet hier: Eine kosmopolitische Demokratie ist möglich. Dem entspräche eine Architektur transnationaler Macht und Herrschaft, die auf die Transnationalisierung des Kapitals und der zivilisatorischen Risiken antwortet. Die Parallele zwischen Kosmopolitisierungs- und Klassenanalyse ließe sich auch noch durch einen weiteren Punkt ergänzen: Auch Marx ging davon aus, daß die Differenz zwischen der Klasse an sich - erzeugt durch die wachsende Interdependenz der Arbeitsteilung und der Märkte - irreversibel ist, und die Klasse für sich die politischen Institutionen, die es erlauben, daß die »kosmopolitische Interdependenz« politisch bewußt und gestaltet wird - macht das Herz der marxistischen Analyse aus. Da endet allerdings auch schon die Parallele: Zum einen hat die Kosmopolitisierungsanalyse jeglichen Geschichtsoptimismus abgestreift und ihm abgeschworen. Es gibt keinen wie auch immer verklausulierten Optimismus eines anschwellenden Bewußt- und Politischwerdens der Kosmopolitisierung. Noch einschneidender dürfte aber dieser Gegensatz sein: Nicht die Ökonomie bestimmt das Bewußtsein, sondern der nationale Blick verriegelt die Options- und Handlungsräume, die staatlichen Akteuren in Kooperation mit anderen Staaten, aber auch zivilgesellschaftlichen Bewegungen, internationalen Organisationen und so weiter(Risiko, sich darbieten. Es gilt, in den strukturellen denzen Technologie, Migration) das PotentialInterdepeneines kosmopolitischen Bewußtseins zu erkennen - und zu nutzen. 146
Die kosmopolitische Gesellschaft meint die Steigerungsform der offenen, nämlich die weltoffene Gesellschaft. Was dies methodologisch, aber auch politisch heißt, gilt es nun weiter zu klären.
ZWEITER
TEIL
Konkretisierungen, Ausblicke
Kapitel IV Die Politik der Politik: Zur Dialektik von Kosmopolitisierung und Anti-Kosmopolitisierung
Worin liegt die Besonderheit der politischen Dimension des Zusammenlebens von Menschen, und warum hat sie eine so enorme philosophische Aufmerksamkeit erfahren von Plato und Aristoteles zu Machiavelli und Hannah Arendt, Carl Schmitt und Mao? Schlicht formuliert: Was meint die Kategorie des Politischen? Die Antwort, die alles Denken und Handeln beherrscht, ist die Antwort des methodologischen Nationalismus: Von »Politik« kann dann und nur dann sinnvoll die Rede sein, wenn der Einheit einer Gesellschaft als Ganzes ein Monopol der Entscheidungsgewalt zukommt, über das der souveräne politische Staat verfügt. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand bestimmt, sagt Carl Schmitt. In diesem Verständnis verschmelzen Politik und Nation. Politische Macht wird primär durch Nationen ausgeübt, und jede Nation muß als politische Einheit verstanden und organisiert werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Grenzen, Grundunterscheidungen und Grundlagen, auf denen die Ineinssetzung von Nation und Politik beruht - anders gesagt: die Regelsysteme der Macht nationaler und internationaler Politik - selbst zum Objekt der Veränderung durch Politik geworden. Wir haben es kategorial und historisch mit einer Politik der Politik zu tun - mit einer MetaPolitik -, in der das, was eine unauflösbare Einheit zu bilden schien: Politik und Nation, Politik und Staat politisch entkoppelt und umgestaltet wird (Beck 2002; Nassehi/Schroer 2003). Im historischen Kontext einer sich (aufgrund ihrer Erfolge!) selbst gefährdenden Zivilisation zielen verschiedenartige, auch verschiedenartig machtvolle globale Akteure (also nicht nur global engagierte Hegemonialstaaten) wie das globale Kapital und NGOs durch ihre Interventionen darauf, das System nationaler Souveränität teilsder aufzubrechen, teils umzubauen. in die Kategorie Politik eingebaute nationale Das Blickheißt: wird Der historisch falsch, versteht die Welt nicht mehr, weil er blind ist und blind 5
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macht für die Fragen, Realitäten, Konflikte, Dilemmata und fundamentalen Ambivalenzen, die mit der Politik der Politik hervorbrechen. Umgekehrt ist die Erarbeitung eines kosmopolitischen Beobachterstandpunktes die notwendige Bedingung dafür, um zu verstehen, warum die Welt zu einem babylonischen Narrenhaus geworden ist, und zwar ganz unabhängig davon, ob kosmopolitische oder anti-kosmopolitische Bewegungen die Zukunft bestimmen. Diese Frage wird beispielsweise weder von Niklas Luhmann noch von Jürgen Habermas beantwortet. Von Luhmann nicht, weil er Weltgesellschaft postuliert, und zwar als nachpolitische Weltgesellschaft, ohne das politisch-kulturelle Selbstverständnis der Weltbürger im Verhältnis zu den Nationalbürgern zu bestimmen.1 Politik wird bei Luhmann im Jahrtausendgegensatz begriffen und verabschiedet: Der Weltgesellschaft, die das Nationalstaats-Paradigma aushöhlt, entspricht eine nationalstaatliche Politik, die gerade deswegen zum Absterben verurteilt ist. Genauer: Niklas Luhmann formuliert die Zombie-Theorie nationalstaatlicher Politik in der Weltgesellschaft - Politik wird zum lebenden Toten, der nicht wirklich sterben kann. Es handelt sich zugleich um eine Theorie des weltweit falschen Bewußtseins: Wir spielen zwar noch Demokratie, aber als epochaler Phantomschmerz und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Wo Politik im nationalstaatlichen Paradigma ihren Ort hatte, entsteht eine Leerstelle, welche durch die Theorie f unktionale r Diffe renzierung im Weltmaßstab (nicht) ausgefüllt wir d. Jürgen Habermas dagegen untersucht, wie Politik und Demokratie in der postnationalen Konstellation möglich werden. Er sucht »nach Möglichkeiten einer politischen Schließung einer global vernetzten, hochinterdependenten Weltgesellschaft ohne Regression«.2 Letztlich meint er damit ein »europäisches Volk« als Subjekt einer postnationalen Demokratie. Politik wird hier wie dort nach dem Modell des Nationalstaates gedacht: das eine Mal (bei Luhmann) als Zombie-Politik oder als Restpolitik; das andere Mal (bei Habermas) als erweiterte nationale Politik, eine historische Nummer größer (europäische Demokra1 Luhmann 1975: 51-63. 2 Habermas 1998. 15 2
tie, europäischer Nationalstaat, europäischer Sozialstaat usw.): Habermas verfängt sich dabei letztlich in den Widersprüchen einer Theorie der post -nationalen Nation Europa. Die Politik der Politik ist durch drei Grundmerkmale charakterisierbar: erstens durch einen »Meta-Machtkampf«, der die Spielregeln der Weltpolitik verändert (siehe dazu Beck 2002 a); zweitens den Abschied vom staatsmonopolistischen Politikb egrif f; die No twendigkeit also, nicht-staatliche, globale Akteure in die Themen und Machtstrategien der Politik der Politik einzubeziehen; drittens die Dialektik von Kosmopolitisierung und Anti-Kosmopolitisierung, die sich quer zu der Unterscheidung von national und international sowie innernationalen Gegensätzen entfaltet (da ich dem ersten Punkt ein Buch gewidmet habe, sollen im folgenden nur die letzten beiden Punkte erläutert werden).
Globale Akteure der Meta-Politik Kann man in der Tat, wie hier geschehen, davon sprechen, daß das »mobile Kapital« ein globaler Akteur ist, der über Machtressource n und -Strategien, konkurrierend mit denen des »Staates« und der »globalen Zivilgesellschaft«, verfügt? Oder stellt das eine Vereinfachung von Ak teursfikti one n dar, die darüber hinwegtäuscht, daß es so etwas wie »das Kapital« nicht gibt und nicht geben kann: Wer ist damit gemeint - einzelne Unternehmen?, die »Klasse«?, die Manager?, die Aktionäre? Sind damit individuelle Akteure, kollektive Akteure, kooperative Akteure angesprochen? Gehören die sogenannten Handlungsstrategien von Kapital, Staat und globaler Zivilgesellschaft nicht jeweils völlig andersartigen soziologischen Aggregaten und Aggregatszuständen an? Die An twort, die hier gegeben wird, lautet: Die globalen Akteure der Polit ik der Politik sind nicht, sie werden durch die Meta-Pol itik als globale Akteure konstituiert. Sie müssen sich in der Politik der Politik als deren Akteure herauskristallisieren. Es ist, noch einmal anders gesagt, die Infragestellung nationalstaatlicher Politik, die einerseits Akteuren Machtchancen eröffnet, andererseits die neuen Politik globalen der Politik vorant reibt. Die Machtchancen der globalen Akteure, ihre Ressourcen, ihr Handlungsraum, ihr StaiS3
tus sind nicht nur prinzipiell aufeinander bezogen, die Akteure kommen überhaupt erst durch ihre »Spielzüge«, aufgrund ihrer Selbstinterpretation, Artikulation, Mobilisierung, Organisierung zustande, gewinnen (oder verlieren) im Gegeneinander ihre Identität und ihre Handlungsmacht. Aus der Logik der Meta-Politik folgt eine spezifische »Machtasymmetrie der Strategiefähigkeit von Kapital, Staat, globaler Zivilgesellschaft. Die Herstellung der politischen Gegenmacht ist außerordentlich voraussetzungsvoll. Das gilt für die Globalisierung der Zivilgesellschaft wie für die Transnationalisierung der Staaten. Es macht genau umgekehrt die besondere Stärke der Kapitalseite aus, daß sie sich nicht als Gesamtkapitalist organisieren muß, um dennoch ihre Macht gegenüber Staaten auszuspielen. >Das Kapital< ist ein Summenausdruck für unkoordinierte Handlungen von Einzelunternehmen, Finanzströmen, supranationalen Organisationen (WTO, IWF usw.), deren Ergebnisse - im Sinne einer Politik als Nebenfolge - mehr oder weniger ungesehen oder ungewollt Staaten unter Druck setzen und somit die Auflösung des alten DameSpiels >Nationalstaat< vorantreiben. Es ist äußerst heterogen; seine immanenten Mit- und Gegenspieler sind von >feindlichen Übernahmen< und Globalisierungsrisiken selbst bedroht oder betroffen. Aber aufgrund der Politik als Nebenfolge überspielen sie gleichwohl Staaten. >Das< Kapital braucht also gar nicht als Handlungseinheit zu existieren, muß nicht am Spieltisch Platz nehmen, um seine Macht zur Geltung zu bringen. Dieser Platz am weltpolitischen Metaspieltisch kann mit >niemand< besetzt sein; und gerade das steigert die Macht weltwirtschaftlicher Akteure.« (Beck 2002 a: 39)
Kosmopolitisierung
und Anti-Kosmopolitisierung
Wir haben oben (siehe Kapitel I) die Unterscheidung zwischen Kosmopolitismus und Kosmopolitisierung mit dem Argument eingeführt, daß Kosmopolitismus auf der Ebene der Philosophie, Kosmopolitisierung dagegen auf der Ebene der Praxis angesiedelt ist bzw. sich vollzieht. Kosmopolitisierung meint einen »erzwungenen« Kosmopolitismus, der oft unfreiwillig, vorbei an Bewußt54
sein, parlamentarischen Wahlen und öffentlichen Kontroversen, gleichsam als Nebenfolge von Migrationsströmen, Konsumentenentscheidungen, Essen, Musikhören oder den globalen Risiken, die das Alltagsleben tyrannisieren, die nationalstaatlichen Erfahrungsräume von innen verändert. Genau daran entzünden sich politische Konflikte, und zwar dann, wenn die Kosmopolitisierung Basisselbstverständlichkeiten, Basisinstitutionen der in Fleisch und Blut übergegangenen nationalstaatlichen Gesellschaft und Politik (potentiell) zum Einsturz bringt. Es ist also die Konfliktdialektik von Kosmopolitisierung und Anti- Kosmopolitisierung, an der sich die Bewußtwerdung der Kosmopolitisierung entzünden kann. Sicher, die Latenz der Kosmopolitisierung gilt bis zu einem gewissen Grade auch für den Gegenbegriff der Anti-Kosmopolitisierung. Auch hier ist die Unterscheidung zwischen Anti-Kosmopolitismus, im Sinne einer bewußt gewählten politischen Option und Ideologie, und Anti-Kosmopolitisierung als Nebenfolge des Weiterso nationaler Praktiken aufschlußreich. Wer beispielsweise als Gewerkschaftler auf die Straße geht, um seine nationalen Arbeitsrechte gegen das »national-illoyale« Management (das, um Lohnkosten zu sparen, die Produktion auslagert) zu verteidigen, sieht sich selbst kaum als Anti-Kosmopolit; aber die Nebenfolge seines Tuns bestärkt Prozesse der Anti-Kosmopolitisierung. Ebenso wie derjenige, der gerne indisch-exotisch speist, sich nicht als Akteur der Kosmopolitisierung sieht, aber diese doch vorantreibt, sieht sich der Soziologe, der im nationalstaatlichen Paradigma ganz selbstverständlich globale Ungleichheiten ausklammert, nicht als Agent des Anti-Kosmopolitismus, aber seine Forschungsergebnisse verheimlichen doch beides: daß die Wirklichkeit kosmopolitisch und daß die nationalstaatliche Axiomatik unwirklich wird. Was aber verleiht dem Widerstand gegen die Kosmopolitisierung seine Macht, seine Überlegenheit? Die Antwort auf diese Frage lautet: Kosmopolitisierung vollzieht sich (a) latent und provoziert (b) analytisch und politisch die nationalstaatliche Ordnung, vollzieht sich insbesondere im Zwielicht von illoyaler und illegitimer
Legalität. Da sich die Kosmopolitisierung im Sichtschatten alter Kategorien vollzieht, erscheint sie unwirklich. Was ist noch national? 55
Das Denken. Was ist es nicht mehr? Die Wirklichkeit! Kosmopolitisierung ist ein Zwangserziehungsprogramm zu Weltoffenheit, das allerdings - wie jedes Lerndiktat - mit störrischem Nun-erst- rechtNationalismus beantwortet werden kann und oft wird. In die Schule der Kosmopolitisierung will die nationale Welt auf Teufel komm raus nicht gehen. Man will den Lehrmeister Kosmopol itisie rung nicht, kann und muß ihn nicht wahrnehmen, weil er ein so übermächtiger Lehrmeister ist, gegen den der kollektive Aufstand allgemein gerechtfertigt erscheint. Alle Konflikte, die sich an der Kosmopolitisierung entzünden egal auf welcher Ebene sie stattfinden und ob ihre Akteure mächtig oder ohnmächtig sind -, vollziehen sich, weil sie mit der nationalstaatlichen Ordnung brechen, im Zwielicht illegitimer Legalität oder illegaler Legitimität - und daraus entsteht beides: ihr im wahrsten Sinne ungeheuerliches Politisierungspotential, das bis in die Kapillaren des Alltags in den letzten Winkeln der Weltgesellschaft eindringt, die Menschen aufrührt und anstachelt zu existentiellöffentlichen Entscheidungen und Protestmärschen. Zum anderen begründet es die Übermacht derjenigen, die »ihr Recht« - die nationalstaatliche Ordnung - gegen die »Illoyalen« und »Gesetzesbrecher« verteidigen. Dies soll nun (skizzenhaft) gezeigt werden an 1.) dem Durchschnittlichen Migranten: Translegaler, autorisierter, nichtanerkannter Kosmopolitismus von unten; 2.) advokatorischen Bewegungen der globalen Zivilgesellschaft: Hochlegitimer, fragiler, mandatsloser Kosmopolitismus von unten; 3.) Klasse und Macht: Illoyale (Trans)Legalität.
1. De r Durchschnitt liche Migrant: Translegaler, autorisierter, nichtanerkannter Kosmopolitismus von unten Wenn von »Kosmopolitismus« die Rede ist, wird meistens damit der Vielfl ieger- Globali smus der Manager assoziiert. D och dieser ist nicht der einzige und sicher nicht der wichtigste Typus, der die Lebensform des »Stromes«, des »Netzwerkes«, der »Mobilität« jenseits der fixierten Nationalstaatsex istenz verkörp ert. Zum einen breitet sich die Existenzform der Mobilität auch bei den Immobilen aus. Der Ort als Urbild der verwurzelten Existenz 156
wird in seinem inneren Kern sozusagen mobil, transnationalisiert, globalisiert, in gewisser Weise sogar kosmopolitisiert. Diese Paradoxie kommt in dem Satz zum Ausdruck: »Unsere Wurzeln sind unsere Antennen.« Je selbstverständlicher das Fernsehen, aber auch die Mobiltelefone und das Internet zur Innenausstattung des eigenen Lebens gehören, desto mehr wird das Schneckenhaus der Privatheit zum Schein, weil es in die Prozesse der inneren Globalisierung einbezogen wird. Denn die häusliche informationstechnologische Innenausstattung hebt partiell die Grenzen von Zeit, Raum, Ort, Nähe und Ferne auf. Dies läßt die Abwesenden potentiell immer und überall anwesend sein. Zwischenmenschliche Kontakte sind nicht mehr allein an geographische Nähe gebunden. So wird es möglich, daß - wie neuere Studien bereits zeigen - Menschen, die isoliert von ihren Nachbarn an einem Ort leben, gleichzeitig in dichte, kontinenteübergreifende soziale Netze eingebunden sind. Es gibt also so etwas wie eine innere Kosmopolitisierung der Immobilen. Was das heißt, ist weitgehend unerforscht. Neben den globalen Managern gibt es die transnationale Klasse der Kleinhändler (Malcomson 1998). Sie tragen keine Schlipse und haben keine Business-Lounge-Tickets, keine credit cards usw., aber Koffer und Fahrräder, mit deren Hilfe sie ihre Waren transportieren. Sie dürften im allgemeinen nicht die Financial Times lesen, aber sie haben die Wechselkurse, die Preise und Gewinnspannen alle im Kopf, und sie müssen mehrsprachig, grenzenübergreifend legalillegal handeln, um ihrem Geschäft nachgehen zu können. Danebendes oder darunter (das ist Migranten schwer zu sagen) ist derder Mobilitätstypus Durchschnittlichen angesiedelt, oder die nur seine oder ihre Arbeitskraft zu verkaufen hat, und zwar in der Grauzone, die zwischen Legalität und Illegalität vielfältige Überschneidungen, Zwischenformen und widersprüchliche Verbindungen aufweist (Gzesh/Espinoza 2002; Espinoza 1999; Hamilton/Stoltz 2001; Islin 2000). Wenn es richtig ist, daß sich in der Zweiten Moderne die Grenzen verwischen und vermischen, dann ist der Durchschnittliche Migrant die Verkörperung der sich vermischenden Grenzen zwischen Nationen, Staaten, gesetzlichen Ordnungen Widersprüchen. DerGrenze Durchschnittliche muß, umund zu deren überleben, ein Artist der werden (desMigrant Unterlaufens der Grenze, des Nutzens der Grenze, des Setzens der 15 7
Grenze, des Überbrückens der Grenze usw.), und er oder sie kann abstürzen vom Hochseil des Grenznutzens, auf dem er oder sie balanciert. Im nationalen Blick ist es ausgeschlossen, die potentiell kriminellen Migranten als Avantgarde einer transnationalen Mobilität zu sehen. Ebenso kommt es gar nicht in den Sinn, daß diese Bevölkerung eine kosmopolitische Existenzform erprobt; sie erscheint vielmehr widerspenstig, da sie die Assimilation verweigert. Man muß in den globalen Metropolen wie New York, London, Rio de Janeiro, Berlin usw. nicht lange suchen, um Transportarbeiter, Pförtner, Putzfrauen und Putzmänner zu finden, die sich erfolgreich in mehr Sprachen verständigen können als die Absolventen deutscher oder französischer Gymnasien oder amerikanischer Colleges. Der Transnationalisierung des Kapitals, die in aller Munde ist, steht also eine sehr restriktive Transnationalisierung billiger Arbeit gegenüber, die meist gar nicht erkannt und anerkannt wird als das, was sie ist: das Modell eines experimentellen Kosmopolitismus der Ohnmacht, in dem ein Minimum an Perspektivwechsel, dialogischer Imagination und erfinderischem Umgang mit Widersprüchen zur Voraussetzung des Überlebens wird. Leben im Widerspruch heißt auch: die bestenfalls geduldeten, oft kriminalisierten Migranten sind hochfunktional, selbst wenn sie im nationalen Blick als illegitim oder illegal erscheinen. Wie Saskia Sassen (2000) zeigt, gibt es widersprüchliche Strategien, welche die Abwanderung aus der Peripherie fördern und den Einsatz von Migranten, ethnischen Minderheiten und Frauen in den eigentlich hochsegmentierten Arbeitsmärkten des Zentrums stillschweigend dulden oder sogar fördern. Denn die extrafunktionalen Qualifikationen, die Migranten anbieten, kombinieren soziale Kompetenzen mit der Bereitschaft, zu niedrigen Löhnen und in ungeschützten Verträgen (soweit es diese überhaupt gibt) zu arbeiten, die für bestimmte Segmente geringqualifizierter Teilarbeitsmärkte hochfunktional sind. Das könnte zu der paradoxen Entdeckung führen, daß ausgerechnet das Leben in transnationaler Anomie eine Quelle des sozialen Kapitals und transnationaler Öf fentlichkeit werden könnte. Doch in welchem Sinne ist hier von »Kosmopolitismus« die Rede? Welche Grundprämissen der nationalstaatlichen Existenz werden in dem Weder-Noch und Sowohl-als-Auch der Migranten158
existenz aufgebrochen und neu verbunden? Der Kosmopoli tismus des Durchschnittlichen Migranten liegt in der Provokation begründet, daß diese Existenzform die lebende Widerlegung der nationalstaatlich propagierten und institutionalisierten Notwendigkeit ist, immer und überall klar zwischen »Wir« und den »Anderen«, zwischen »Bürgern« und »Ausländern« unterscheiden zu müssen. Migranten verkörpern die verschiedenen Schattierungen des Sowohl-als-Auch: Sie sind inländische Ausländer oder ausländische Mitbürger, deren Sozialkompetenzen nicht nur unverzichtbar sind, die vielmehr auch das kulturelle und das öffentliche Leben bunter, widersprüchlicher, konfliktvoller und reicher machen. Migranten sind das, was im nationalen Entweder-oder-Denken analytisch ausgeschlossen ist: Ihr Status ist zugleich funktional, legitim und illegal, »autorisiert, aber nicht anerkannt« (Saskia Sassen). Sie opponieren mit ihrer Existen z, ihren Unternehmungen, ihren Partizipationsbemühungen im öffentlichen Raum gegen das nationalstaatliche Verständnis der Bürgerrechte und definieren diese zugleich um. Die Unterscheidung von Bürgerrechten, die nur d en offizi ellen Mitg liedern eines Staates zukommen, und Menschenrechten, die Personen als solchen zukommen, wi rd in ihren Handlungen und Anspr üchen aufgehoben und neu verbunden. Die Komponenten, die dabei hervortreten -Aufenthaltsrechte, Arbeitsrechte, politische Rechte, Beteiligungsrechte -, werden herauspräpariert und neu kombiniert. Allgemein gewendet: Die Besonderheiten einer national-kosmopolitischen Gesellschaft beruhen darauf, die Grenzen der moralischen Solidarität zu erweitern, um Außenseitern im Inneren und Äußeren Partizipationschancen zu eröffnen. Die Teilhabe an einer post-souveränen Gesellschaftsordnung setzt eine gewisse Bereitschaft, Orientierung und Fähigkeit, nicht zuletzt auch Selbstorganisation voraus: denn nur so können »Einheimische« und »Fremde« in kosmopolitisch erweiterten Grenzen nationaler Räume zusammenwirken als gleiche Mitglieder einer transnationalen Zivilgesellschaft. Den Möglichkeitsraum hierfür bietet - wie Saskia Sassen zeigt - insbesondere die Global City, weil hier transnationale und lokale Netzwerke und Öffentlichkeiten ein zugleich widerspruchsvolles und nicht kontrollierbares Gegenund Miteinander der sich scheinbar ausschließenden Welten und Gewißheiten bilden. 59
Nun kann man einwenden: Gerade an den Immigrationsfragen entzünden sich die nationalistischen Gegenbewegungen. Aber das wäre eine unzulässige Verkürzung, die verkennt, wie das Kosmopolitische sich aus den Konflikten um die Immigration herausschält; insofern nämlich, als diese öffentlich ausgetragenen Debatten gerade die Problematik der Nation, ihrer Grenzen, der Unterscheidung von Inländern und Ausländern, von Bürgerrechten und Menschenrechten vor aller Augen ausbreiten. Mit anderen Worten: Es ist nicht nur die Veränderung selbst (die Immigration, das globale Risiko), sondern die permanente diskursive Auseinandersetzung mit dieser, die gleichsam ungesehen und ungewollt die Kosmopolitisierung vor antreibt. So wird einmal mehr deutlich, wie auch dem antikosmopolitisch en Konflikt ein Moment der »kosmo politischen Integration« innewohnt.
2. Advo kato risc he Bewegu ngen der globalen Zivilgesellschaft: Hochlegitimer, fragiler, mandatsloser Kosmopolitismus von unten Auch für die Akteure der globalen Zivilgesellschaft gilt, was für alle anderen Modelle des Mehr-oder-weniger-Kosmopolitismus in statu nascendi zut rifft: Die As ymmetri e zwischen nationaler Illegitimität und transnationaler Legitimation angesichts transnationaler Handlungsoptionen. Auch advokatorische Bewegungen bilden dementsprechend (il)legale, (il)legitime Zwitterwesen, die zugleich hochlegitim und fragil im transnationalen Machtraum agieren. Das außerordentliche Legitimationskapital, über das sie verfügen, ist mit dem unvergleichbar, auf das ihre Konkurrenten - Staaten und globales Kapital - sich berufen können, sind die advokatorischen Bewegungen der globalen Zivilgesellschaft doch die Entrepreneures des globalen Gemeinwohls. Sie sind es, die die globalen Fragen der drohenden Klimakatastrophe, der Armut, der Menschenrechte, der Frauenrechte, der Gerechtigkeit usw. nicht nur kategorial vorgedacht, sondern auch praktisch auf die Tagesordnung der Politik gesetzt haben - im nationalen und im globalen Rahmen. Staaten, die in der Nationalepoche das »Gemeinwohl« verkörperten, wurden so zu »Egoisten« des globalen Kosmopoli16 0
tismus. Auch der »Gewinnegoismus« des mobilen Kapitals, das entgrenzt und nebenfolgenblind die Umwelt zerstört und, wie die Asien-Krise zeigt, ganze Ländergruppen in den Strudel globaler Finanzrisiken reißen kann, wird im kosmopolitischen Erwartungshorizont, an und in dem die advokatorischen Bewegungen arbeiten, als Gewinnegoismus erkennbar und rechtfertigungspflichtig. Auf diese Weise verschmilzt, was früher getrennten Welten zugehörte: globale Legitimation und globale Absatzchancen. Die advokatorischen Bewegungen schärfen also mit den Erfolgen ihrer Aktionen einen Gegensatz ein, der im nationalstaatlichen Horizont gänzlich undenkbar ist, nämlich den zwischen nationalem Universalismus oder ökonomischem Universalismus einerseits, Kosmopolitismus andererseits. Was gut ist für eine Nation, für ein Wirtschaftsunternehmen, kann verhängnisvoll sein für alle und damit auch für diese Nation und diesen Konzern. Doch was legitimiert diese Legitimationsmonopolisten? Sie verfügen über kein Mandat, sind von niemandem gewählt, handeln a-demokratisch (was ihre eigene Organisation betrifft oft antidemokratisch). Gleichzeitig erkennen sie in ihrem Handeln oft das nicht an, was auch hegemoniale Staaten, die sich die Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben haben, nicht anerkennen: das Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität. Sie mischen sich ein über Grenzen hinweg und wollen kosmopolitische Werte, z. B. das Recht des Einzelnen gegenüber seinem Staat, stärken oder die Menschenrechte gegenüber den Bürgerrechten. Wenn man das Recht der Staaten ihren Bürgern tun undStaaten lassen anzu können, wasund sie Regierungen, wollen, als einmit Grundrecht souveräner sieht, das im Völkerrecht verbindlich niedergelegt ist, dann sind advokatorische globale Bewegungen notorische Völkerrechtsbrecher. Also: hochlegitim, ohne Mandat, selbsternannte Öffentlichkeitshersteller und Interventionisten in fremde Rechtsräume und Lebenszusammenhänge, bereit und fähig, das anti-nationalstaatliche Prinzip der Nicht-Souveränität gegen den Widerstand der Staaten auf der Grundlage eines Völkerrechtsbruchs durchzusetzen, um auf diese Weise einen sich selbst erfüllenden kosmopolitischen Erwartungshorizont zu kreieren. mopolitismus« handelt es sich dabei? Um welche Art von »KosDieses Kosmopolitismusmodell ist wertorientiert, wertschaf161
fend, informationsgeschärft, beruht also weder auf der Macht, die Staaten verkörpern, noch auf der ökonomischen Macht, über die das globalisierte Kapital zur Veränderung der Machtregeln in der Politik der Politik verfügt. Aber wie das Kapital - und im Gegensatz zu den Staaten - sind die nicht-staatlichen Subpolitik-Akteure in den transnationalen Machtraum aufgebrochen. Der advokatorische Kosmopolitismus, der hier tätig umgesetzt wird, kann sich zum einen auf die Macht der wahrhaftigen Information berufen, zum anderen auf die Aufdeckung und Abwendung zivilisatorischer Gefahren, die das physische und moralische Leben aller bedrohen. Doch daraus ergeben sich auch Fragilität und Grenzen der advokatorischen Legitimationsmacht: diese zerfällt bei Mißinformation und bleibt, was die tätige Abwendung von Übeln betrifft, auf die mehr oder weniger freiwillige Kooperation von Staaten und Wirtschaftsunternehmen angewiesen. Auch gibt es keine klare Sprache des Konflikts, sondern nur eine babylonische Verwirrung der gleichsam vielen Konfliktsprachen: ökologisch, menschenrechtlich, feministisch, religiös, ethnisch, nationalistisch, gewerkschaftlich usw. Mit anderen Worten: Es existiert keine kosmopolitische Sprache des Konflikts; besser: Die Grenzen zwischen Kosmopolitismus, Multikulturalismus und Pluralismusverwischen sich, weil da s verabsolutierte Sowohl -als-Auch letztlich die Entscheidungsfähigkeit blockiert. Der Kosmopolitismus, der hier erprobt wird, ist (anders als der Migranten- und Minoritätenkosmopolitismus) im globalen Raum angesiedelt. Er gewinnt seine Konturen Konkurrenz den parteiischen Universalismusstrategien derinStaaten und deszuKapitals. Dieses advokatorische Kosmopolitismusmodell mag - wie das der Migranten - aus der Ohnmacht entstehen und ein Schneckentempo-Kosmopolitismus sein. Aber dieser Weltöffentlichkeitskosmopolitismus erzeugt, eröffnet die globale Kontroverse, in der die Verletzung der Menschenrechte, die Gewalt gegen Andere, die Zerstörung der Natur aufgedeckt und zu einem weltöffentlichen Skandal gemacht werden. Es ist zugleich ein historisch kontextueller, biographisch-verwurzelter Kosmopolitismus des Mitleidens und des Gedächtnisses. Ob es dieGeschichte Schmerzensbiographien derund Gefolterten sind oder die erinnerte von Genoziden Vertreibungen, immer wird über alle Grenzen hinweg das Weltgewissen wachgerüttelt 162
und das Gedächtnis an vergangene, aber fortwirkende Greueltaten und damit Maßstäbe wachgehalten, an denen die kosmopolitisch so wichtige Differenz zwischen illegitimer Gewalt (Genozid) und legitimer Gewalt (die Beendigung von Genoziden) eingeübt werden kann. Die Kernfrage dieses NGO-Kosmopolitismus resultiert jedoch nicht nur aus der Konkurrenz- und Konfliktdynamik mit seinen externen Gegenmitspielern »Staat« und »Kapital«. Die eigentliche Herausforderung liegt in der internen Konkurrenz zwischen den verschiedenen Weltfraktionen der nichtwestlichen kulturellen Relativisten und den westlichen Universalisten (siehe dazu oben Kapitel II, 1.1 und 1.2).
3. Klasse und Macht: Illo yale (Trans)Legalität Was die Betriebe und Unternehmen im Rahmen des neuen transnationalen Produktionsparadigmas tun, ist zunächst - ökonomisch betrachtet - rational oder funktional und, soweit durch die Gesetze nicht verboten, legal. Es ist aber - gemessen am nationalen Konsens - oft illoyal und illegitim. Großkonzerne wie Siemens und BMW erwirtschaften inzwischen zwei Drittel oder drei Viertel ihres Umsatzes im Ausland - gut für die Arbeitsplätze im Ausland, schlecht für die Arbeitsplätze im Inland; gut für die Profite, schlecht für die Steuern im Inland. Hiernur wird daß Wechselbeziehung der methodologische Nationalismus nicht einedeutlich, spezifische zwischen Produktion, sozialen Klassen, politischer Macht und Territorialität unterstellt, sondern auch bestimmte Maßstäbe von Solidarität und Legitimität, die durch »rationales« und »funktionales«, ökonomisches Handeln gebrochen werden können. Die »Dritte-Welle-Technologie« - die Kommunikation, die Computerisierung usw. - höhlt die historische Territorialität der Produktion aus, damit zugleich die kulturellen Formen einer »national-loyalen« Produktions- und Wirtschaftsweise. Auchzuhier haben wir es mit Entscheidungen einer Art Kosmopolitisierung wider Willen tun: Ökonomische - speziell solcher lokaler oder nationaler Unternehmen - geraten unter den Einfluß 163
globaler Möglichkeiten und globalen Wettbewerbs. Unternehmen der verschiedensten Größenordnungen müssen sich grenzenübergreifenden E inflü ssen stellen und selbst grenzenübergreifend denken und handeln, um ihre Eigeninteressen zu wahren. Selbst wenn sie Gesinnungsnationalisten bleiben, müssen sie Handlungskosmopoliten der Nebenfolge werden, indem sie die Kosmopolitisierung von Produktion, Konkurrenz, Absatz usw. vorantreiben. Da der Markt (nicht nur die Firmen) transnational geworden ist, zerbricht die nationale Loyalität skongrue nz, die, bei aller Konflikthaftigkeit, den Gegensatz von Arbeit und Kapital national geprägt und zusammengehalten hat. Es entsteht eine neuartige Inkongruenz der Loyalitätserwartungen und -perspektiven zwischen Arbeit und Kapital. Dieser Bruch zwischen Erster und Zwe iter Moderne ändert au ch den Bedeutungshorizont von geläufigen sozialwissenschaftlichen Schlüsselkonzepten wie noch Klasseimund Macht. »Klasse« oder verortet »Sozialschichten« sind immer Nationalstaatsparadigma und werden innerhalb dieses erforscht und organisiert. Das wird aus einer Vielzahl von Gründen zunehmend irreal, nicht zuletzt weil sich innerhalb sämtlicher Abteilungen und Bereiche nationalstaatlicher Institutionen sowie politischer und körperschaftlicher Organisationen neue Arten von Konflikten auftun zwischen aktiven Globalisierern, die transnational und national handeln, und denjenigen, die eine nationale Gegenposition einnehmen und sich auf den nationalen Rahmen beschränken. Der denationale und transnationale »Klassenkampf« ist also Machtspielspielen mit - zumindest - doppeltem Bezugsrahmen. Die ein Globalisierer - ähnlich wie die Migranten und die NGOs - mit nationalstaatlichen Grenzen und Horizonten, während ihre Gegenspieler in den in Rechtsformen kristallisierten Selbstverständlichkeiten nationalstaatlicher Gewißheiten handeln und ihre Rechte verteidigen. Man muß sich nur einen Augenblick vor Augen halten, was geschehen wäre, wenn Marx mit seinem Argument recht behalten hätte, daß die Arbeiter keine Nation kennen, während das Kapital national verwurzelt geblieben ist. Dann hätte eine transnationale Arbeiterbewegung eine Politik aktuellenKapital oder potentiellen transnationalendurch Streikmobilität dasder territoriale vor sich hergetrieben, das schließlich, um die Bedingungen ökonomischer 164
Rationalität zu retten, » seinen« Staat zu Hilfe hätte rufen müssen, um es gegen die Unbill einer globalisierten Arbeiterbewegung zu schützen! Doch realiter entsteht eine Asymmetrie zwischen nationalen und nichtnationalen, territorialisierten und entterritorialisierten »Klassen«, die im Klassenkonzept des methodologischen Nationalismus nicht vorkommt. Handelt es sich bei dem globalisierten Kapital vielleicht um ein Modell des »Wirtschaftskosmopolitismus«? Hier wird die Unterscheidung zwischen Globalismus und Kosmopolitismus wichtig. Der Ausstieg aus dem nationalen Paradigma unter den Fahnen der Ökonomie ist keineswegs gleichbedeutend mit einem globalen Gemeingut-Kosmopolitismus, wie ihn die advokatorischen zivilgesellschaftlichen Bewegungen artikulieren. Doch ist es auch nicht ausgeschlossen, daß der »national unsolidarische« Neoliberalismus (Globalismus) eine kosmopolitische Wende nimmt. Dies könnte dann geschehen, wenn an die Stelle der Solidarität mit Gleichen eine Solidarität mit Fremden träte, die sich auf eine globale Verteilung von Arbeit und Reichtum bezöge. Drei Szenarien lassen sich unterscheiden: (1) Globale Migration: Die Migrationsprozesse der Zukunft werden von zwei antagonistischen Alterspyramiden geprägt sein. Den alternden Gesellschaften in den westlichen Staaten stehen extrem junge Gesellschaften in vielen Ländern der Semiperipherie oder Peripherie gegenüber. Daraus entsteht einerseits ein Einwanderungsdruck von außen, andererseits eine Einwanderungsnotwendigkeit im Inneren; so und oder zur so wird Migrationspolitik zum politischen Schlüsselthema Überlebensfrage eines weltoffenen Europas werden. Da die staatliche Handlungsfähigkeit zerfällt, können transnationale Unternehmen die Rolle eines kosmopolitischen Vermittlers und Ausbalancierers übernehmen. (2) Migration der Arbeit: Nicht die Menschen, die Arbeitsplätze wandern. Jobs werden dahin exportiert, wo die Armen und Arbeitslosen hungern und verhungern, in die überbevölkerten Regionen der Welt (kombiniert mit entsprechenden Ausbildungsangeboten). Auch dies ist ein Szenario, in dem deutlich wird, wie die Unterscheidung zwischen Globalismus und wirtschaftlichem mopolitismus - auch gegen nationalstaatliche Widerstände! Kos- Gestalt annehmen könnte. 165
(3) Transnationales Job-Sharing zwischen armen und reichen Ländern: Es entstehen neue Arten, Arbeit und Reichtum über die Grenzen und Kontinente hinweg zu teilen - ohne Migration. So könnte langfristig durch die Vernichtung der Entfernung, die die informationstechnologische Produktionsweise ermöglicht, eine kosmopolitische Verteilung von Arbeit und Reichtum erreicht werden, in der gering qualifizierte Jobs aus den reichen in die armen Länder exportiert werden; gleichzeitig werden die höhere Qualifikationen erfordernden Arbeitsplätze in bevölkerungsarmen, aber hochqualifizierten Ländern angesiedelt. Das erste Szenario gilt im nationalen Blick als Horrorszenario. Allerdings sind die »Notwendigkeiten«, die nationale Politik vorgaukelt, selbstdestruktiv, denn nur ein weltoffenes Europa, ein weltoffenes Deutschland kann beides: den rapiden Alterungsprozeß und den Verlust an weltwirtschaftlicher Kreativität sowie die daraus entstehende staatliche und öffentliche Armut in das Gegenteil wenden. Angenommen, es entstehen tatsächlich kosmopolitische Öffentlic hkeiten und Gemeinschaften auf der Grundlage einer entsprechenden Arbeitsteilung, die eine Verteilung von Lebenschancen einschließt - läßt dann der Druck zur Immigration nach ? Enthält also der wirtschaftliche Kosmopo litismus ein Modell zur Entkrampfung der Weltlage, weil die Notwendigkeit, auf anderen Kontinenten sein Glück zu suchen, abgebaut wird? Oder heißt das genau umgekehrt, daß mit der Migrationsnotwendigkeit die Zwänge zur kosmopolitischen Öffnung der Gesellschaft entfallen?
4. De r Anti -Kos mopol iti smus und seine Widersprüche Wenn man die Argumente dieses Buches zusammenfassen will, kann man sagen: Kosmopolitisierung bedeutet das endgültige Verschwinden der geschlossenen Gesellschaft. Aber das wird von der Mehrzahl der Menschen nicht als Befreiung erlebt, sondern im Gegenteil: sie sehen ihre Welt untergehen. Diejenigen, die sich in den Labyrinthen einer geschlossenen Gesellschaft, die auf klaren Gegenüberstellungen zwischen Wir und den Anderen, Innen und Außen, National und International beruht, mühsam zurechtgefun166
den haben, stehen nun plötzlich den Widersprüchen einer weltoffenen Gesellschaft und Freiheit gegenüber, die ihnen nicht nur unverständlich, ja unlebbar erscheinen, sondern sie sogar zu Fremden im eigenen Land machen. Die Wirklichkeit hat sich gegen die eigenen Begriffe verschworen. Was soll das für eine Welt sein, die auf die erlösenden und bindenden Wörter »Nation«, »Volk«, »Klasse«, »Entweder Wir oder Die« nicht mehr hört? Dabei geht es nicht allein darum, daß man die Welt nicht mehr versteht und sich in ihr nicht mehr zu verorten weiß, vielmehr und vor allem darum, unbestrittene Vorrechte und Privilegien, die nun plötzlich in Frage stehen, gegen Konkurrenten zu verteidigen. Heißt Kosmopolitisierung nicht: Man betreibt den Ausverkauf seines Landes, spielt es Fremden in die Hände, ja, Fremde üben bereits die Macht aus? Anders gesagt: Die Nation verläßt den Container. Aber was bedeutet das für die symbolische und integrative Geschlossenheit des Mischgebildes, das an ihre Stelle tritt? Es geht nicht um Grenzenlosigkeit, keineswegs, sondern darum, daß Grenzen nicht mehr entlang nationaler Kriterien allein gezogen werden. Damit aber entfällt ja nicht das Bedürfnis der Menschen nach Geschlossenheit, nach Identität und Integration. Wir können uns nicht damit zufriedengeben, Milliarden von ratlosen Menschen die Wahl zwischen einem übertriebenen Beharren auf ihrer Identität und dem Verlieren jeglicher Identität, zwischen Fundamentalismus und Traditionsverlust, zu lassen. Im besonderen Maße gilt das für die post-koloniale Welt: Der Nationalismus diese in anzupassen die Unabhängigkeit Er ermöglichte es,hat sich demLänder Westen und sichgeführt. gleichzeitig gegen seinen Expansionsdrang, seine Unersättlichkeit und oft auch seine Verachtung zur Wehr zu setzen: Wird das im Zuge der Kosmopolitisierung nun alles hinfällig? Wird das Rad der Geschichte zurückgedreht? Ist Kosmopolitisierung nur ein schönes Wort für Kolonialisierung ? Der Begriff des Fremden gewinnt eine übermächtige Kraft, nicht zuletzt, weil man sich mit Herausforderungen und Ambivalenzen konfrontiert sieht, die einen selbst zum Fremden machen. Es ist die Existenzangst desalles überflüssigen Nationalismus und Nationalisten, die den Haß auf Fremde schürt: Der Fremdenhasser ist sich selbst ein Fremder geworden. Er ist überflüssig und absurd gewor167
den. In der weltoffenen Gesellschaft fühlt man sich verloren. Man fühlt sich durch eine Freiheit befremdet und entfremdet, die viel zu geräumig ist. Heißt Kosmopolitismus nicht, einen Blankoscheck für Verpflichtungen zu unterschreiben, den man sowieso niemals einlösen kann? Schon im eigenen Haus ist die Weltordnung außer Rand und Band geraten. Soll man auch noch nicht nur Carepakete, sondern Soldaten, Mediziner und Sozialarbeiter in die verschiedensten Winkel der Welt entsenden, um gleichzeitig Terroristennester auszuräuchern, AI DS zu bekämpfen und die Anklage der s terbensmüden Kinderaugen-Bilder aus der Tagesschau zu verbannen. Die Grenzen zwischen Kosmopolitisierung und Anti-Kosmopolitisierung verlaufen vielleicht nicht so sehr zwischen Nationen, ethnischen Gruppen und Religionen als vielmehr zwischen Weltoffenheit und Weltgeschlossenheit, der Fähigkeit, Widersprüche zu ertragen und zu bejahen oder deren Existenz zu verdrängen und zu verteufeln, zwischen Toleranz und Hysterie, Neugierde und Fanatismus. Dies soll in acht Thesen näher ausgeführt werden.
4.1 Die Kosmopolitisierung ist selbst die Quelle des Widerstandes gegen sie Wie reagiere ich auf die unwiderrufliche Offenheit der Gesellschaft, die dadurch in ihren Grundlagen und in ihrem Selbstverständnis herausgefordert ist? Diese Frage bricht mit der Kosmopolitisierung überall Das gestellt Erdbeben, dasistBegriffsbeben, damit ausgelöst undhervor. auf Dauer wird, beängstigend.das Meistens reden wir von politischen Revolutionen - und zwar in der Vergangenheitsform. Daß eine schleichende Revolution der eingefleischten Begriffe des Politischen sich lautlos und unbemerkt, aber am Ende sogar folgenreicher ereignet, liegt gänzlich außerhalb des Horizontes. Der Anti-Kosmopolitismus gewinnt seine Macht aus beidem: daß Kosmopolitisierung einerseits schwer identifizierbar, andererseits schwer reversibel ist und daß diese Weltveränderung sich als Ordnungsbruch, Gesetzesbruch im Zwielicht zwischen (Illegalität und (Il-)Legitimität zu Worte meldet Soll man beispielsweise in einer Zeit, in der Staatund unddurchsetzt. Nation entkoppelt werden, jenen renommierten Nationaljuristen und Völkerrechtlern 16 8
glauben, die den »Mord« und »Totschlag« ihrer nationalstaatlichen Rechtslogik beklagen und infolgedessen die Wirklichkeit verhaften? Oder soll man umgekehrt einen Haftbefehl wegen vorsätzlicher Verkennung der Wirklichkeit gegen die Starjuristen erlassen, den man schon deswegen nicht exekutieren könnte, weil diese sich sowieso auf das beste im Gefängnis ihrer eigenen Annahmen eingerichtet haben? Die Kosmopolitisierung selbst macht den Widerstand dagegen nicht schwer: Wohin man schaut, falsche Begriffe, falsche Koordinaten, Latenzen, alles ungewollt und ungesehen - ja, wer weiß denn dann überhaupt davon? Die alte Weltordnung funktioniert oder existiert nicht mehr (heißt es). Leben am Rande des Chaos: Das ist wahrscheinlich noch eine westliche Perspektive. Die gute ist die schlechte Nachricht: Die Entfernung gilt nicht mehr. Das Chaos auf der anderen Seite der Welt schlägt auch in die Wohlstandszentren durch. Und über allem schwebt die »befreiende« Botschaft: Eine neue Weltordnung ist nirgendwo in Sicht. Bedarf es da noch einer Erklärung des Anti-Kosmopolitismus? Nicht nur die Wirklichkeit, auch das Wort Kosmopolitismus ist Quelle des Widerspruchs, Widerstands. Es ist das totalisierte Opferwort der Nazis und nicht nur der Nazis - die Wort und Tat gewordene Entwürdigung -, das dürfen wir nie vergessen! »Kann der Holocaust Werte schaffen?« fragt Imre Kertesz. »Meiner Meinung nach ist der seit Jahrzehnten vor sich gehende Prozeß, in dessen Verlauf der Holocaust zunächst verdrängt und dann dokumentiert worden ist, zur Zeit eben bei dieser Frage angelangt, er ringt mit ihr... Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermeßliches Leid zu unermeßlichem Wissen geführt hat und damit eine unermeßliche moralische Reserve birgt.« (2003: 88) Auch das Wort Kosmopolitismus birgt aufgrund seiner Zwangsverwandtschaft - aber auch aufgrund seiner eigenen Geschichte unermeßliches Leid, unermeßliches Wissen und damit eine unermeßliche moralische Reserve. Für Haß und Hatz auf Menschen, für Vernichtung, für staatlich organisierte Genozide gibt es in Europa bis auf weiteres keine legitimierende Sprache mehr, nur eine Praxis, die, sobald sie zur ist Sprache gebracht wird, gegen hat. Das jedenfalls d ie Hoffnung, die indie demEmpörung Wort Kosmo politsich ismus aufbewahrt ist. 169
Diese Wortwahl ist ein Realexperiment - und eine offene Frage. Wem das widersinnig, nominalistisch, sprachgläubig und ohne jeden Sinn fü r wissenschaftliche Begr iffsb ildung erscheint, hat nicht begriffen, daß es die Sprache ist, aus der das Tun erwächst - so oder so; und daß die totale Negativität des Holocaust durchaus geschichtsbildend zu wirken vermag.
4.2 Vielleicht können alle die Augen vor der Kosmopolitisierung der Wirklichkeit verschließen, der Sozialwissenschaftler kann das nicht Kosmopolitisierung ist zwar irreversibel - aber Anti-Kosmopolitismus setzt sich durch. Wie ist das zu verstehen? Alles, was der Soziologe zu verantworten hat, ist die Erfassung und Interpretation der Wirklichkeit; und das heißt heute: die Kosmopolitisierung der Wirklichkeit. Wer das verfehlt, hat seinen Job verfehlt. Die Zombie-Wissenschaft des nationalen Blicks wird zur Unwirklichkeitswissenschaft einer »Nationalsozialwissenschaft«. Der Widerstand gegen Globalisierung und Kosmopolitisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts ist etwas Neues: Der Anti-Kosmopolitismus tritt als Negation der modernen, globalisierten Welt auf und ist doch ein srcinäres Produkt der dunklen Seite der Kosmopolitisierung der Wirklichkeit. Wie das globalisierte Kapital oder die Netzwerke der zivilgesellschaftlichen Advokaten »schwimmt« der smopoDiese litismus in denund »Strömen« und »Scapes« »liquidAnti-Ko modernity«. Medien Ausdrucksformen einesdermakabren post-nationalen Anti-Kosmopolitismus gilt es begrifflich, empirisch und politisch zu erschließen. Eine Sozialwissenschaft, die diese Aufgabe verfehlt, macht sich selbst überflüssig. Es stimmt einfach nicht, daß Gruppenegoismus und Fremdenhaß anthropologische Konstanten sind, die jeder Begründung vorausgehen. Ihre angeblich universelle Geltung ist ein Konstrukt des nationalen Blicks. Es gilt gerade umgekehrt: Die Regel sind Bevölkerungsbewegungen, Sklavenhandel und Verschleppung, Vertreibung und Exil, mehr weniger freiwillige Wanderungen, Umsiedlungen - selbst dieoder jüngste Gewaltgeschichte Europas trägt diese Signatur. Und gegenwärtig setzt die große Wanderung, die 170
neue Völkerwanderung, Völkervermischung durch Kommunikationsmedien ein. Wer aus seinem Hiersein Rechte als »Einheimischer« ableitet, zu denen gehört, die Fremden auszuschließen, müßte, beim Wort genommen, behaupten, er sei immer schon dagewesen - eine These, die nun allerdings sehr leicht zu widerlegen ist. Insofern setzt eine ordentliche Nationalgeschichtswissenschaft und Nationalsoziologie die hochentwickelte Fähigkeit voraus zu vergessen, daß ihre Annahmen über die angebliche Unverzichtbarkeit von Grenzen und Zugehörigkeiten die Ausnahme in der Weltgeschichte sind.
4.3 Die Verkünder des Anti-Kosmopolitismus sind gezwungen, auf dem Boden der Kosmopolitisierung selbst zu agieren - und gewinnen nicht zuletzt daraus ihre Gefährlichkeit Der Begriff »Anti-Kosmopolitismus« ist - wie das Wort schon sagt - als Gegenbegriff zu dem des Kosmopolitismus konzipiert. An dieser Negation wäre wenig Überraschendes, wenn der Widerspruch als die Wiederkehr des Alten, der Vormoderne gedacht würde und nicht als Produkt der Zweiten Moderne, als ihr integraler Bastard. Im Begriff »Anti-Kosmopolitismus« ist das Wort »Kosmopolitismus« also auch adjektivisch gemeint: kosmopolitischer Anti-Kosmopolitismus. Das besagt: Es handelt sich beispielsweise bei dem islamischen derinneren Al Qaida um etwas, das überhaupt erst auf der Terrorismus Grundlage der Kosmopolitisierung der Gesellschaften möglich wurde und diese höchst geschickt - organisatorisch, militärisch und ideologisch - gegen sich selbst zu wenden weiß (Beck 1993: Kapitel 4). Anders als der Typus des nationalstaatlichen Terrorismus (für den beispielsweise die ETA in Spanien oder die IRA in Irland stehen), ist Al Qaida transnational orientiert und organisiert in ihren Aktivitäten. Dieses Terrornetzwerk kann, weil es die Unzugänglichkeit, Entfaltungs- und Machtchancen transnationaler Netzwerke jedemstrategische Teil der Welt zuschlagen. Damitsind. ist nicht gesagt, nutzt, daß AlinQaidas Ziele im Kern global AntiKosmopolitismus, Anti-Amerikanismus und Anti-Moderne wer171
den in eins gesetzt und auf die arabische Welt, insbesondere Saudi Arabien, konzentriert und im Kampf gegen die US-amerikanische Mega-Macht zugespitzt. Es ist ausdrücklich die innere Kosmopolitisierung, innere Amerikanisierung der arabischen Welt, die hier sowohl lokal als auch transnational bekämpft werden soll. In diesem Sinne sind beides: Ziele und Mittel, lokal und transnational. Dies zeigt sich exemplarisch in dem Angriff auf die Zwillingstürme von New York, der gleichzeitig als örtlich begrenzte Katastrophe und als globales Medienereignis inszeniert wurde. Die Botschaft, die einzige Weltmacht USA im Zenit ihrer absoluten militärischen Überlegenheit ist im Mark ihrer inneren Sicherheit verwundbar, war sowohl an die Amerikaner als auch an den arabischen Widerstand adressiert. Die Zweitmodernität Al Qaidas läßt sich an Vielem nachweisen: Dafür spricht nicht nur die Tatsache, daß die Mitglieder über Satellitentelefone, Laptops undOrganisationsform Websites miteinander sind. Es handelt sich auch der nach verbunden um ein transnationales Kommunikations- und Aktionsgewebe, das wir im Bereich der Wirtschaft einen »Multinationalen«, im Bereich der Zivilgesellschaft eine »NGO« nennen. Überdies weiß Al Qaida um die unaufhebbare Verwundbarkeit der Zivilgesellschaft, die sie wie die Verwandlung von Passagierflugzeugen in Raketen demonstriert - mit erbarmungsloser Amoralität militärisch gegen diese selbst wendet. Al Qaida ist »die erste multinationale Terrororganisation, die in der Lage ist, ihre Arme von Lateinamerika nach Japan und in alle anderen der Kontinente auszustrecken. Anders als die Terroristen siebzigerdazwischen und achtziger Jahre des vsrcen Jahrhunderts entzieht sich Al Qaida dem territorialen Zugriff- ihre Dramaturgie der Unterstützung ebens o wie ihre Operationen sind global. Weit gefehlt, daß sie gegen die Globalisierung Widerstand leisten, entsteht ihre Macht gerade dadurch, daß islamische Gruppen die Chancen nutzen, die Globalisierung bietet, indem sie dauernd neue Stützpunkte und neue Ziele weltweit suchen.« (Guranatna 2002: 11) Der zweitmoderne Charakter des Al Qaida-Terrorismus zeigt sich aber auch darin, daß dieist, Grundlage ihres Handelns eine vor Art allem »militanter Bastelideologie« in der islamische und europäische Momente - Anleihen bei Nietzsche und den Bolsche172
wisten - synthetisiert werden mit radikal-islamischen Traditionen. »Al Qaidas Ideologie ist eine hochgradig synchretische Konstruktion.« Einer ihrer geistigen Väter, »Azzam, nahm von Qutb die Idee einer revolutionären Avantgarde - ein Begriff, der eher aus der bolschewistischen Ideologie adaptiert wurde denn aus irgendeiner islamischen Quelle. Sein Angriff auf den Rationalismus enthält Echos, die von Nietzsche stammen. Moderne westliche Einflüsse werden in islamische Themen eingewoben.« (John Gray 2003: 79)
Europa ist die Quelle der Aufklärung und der Gegenaufklärung, der moderne Anti-Kosmopolitismus gehört zur europäischen Tradition Die europäische Situation ist trotz allem eine spezielle. Nirgendwo auf der Welt ist die Transnationalisierung, die Kosmopolitisierung so weit verwirklicht worden. Man muß von einem »institutionalisierten Kosmopolitismus« sprechen, der sich in der EU beispielsweise im Europäischen Rat, im europäischen Recht (Europäischer Gerichtshof), in der einheitlichen Währung des »Euro« (der die geheiligten nationalen Währungen ersetzt hat), an europäischen Grenzen (die die Souveränität symbolisierenden, nationalstaatlichen Grenzen aufgehoben haben) usw. usf. zeigt. Auf der anderen Seite sind nicht zuletzt aufgrund des im Weltvergleich hohen Wohlstandsniveaus die Hürden für einen europäischen, kosmopolitischen Common jedenfalls insoZeiten der wirtschaftlichen Flaute und hohensense Arbeitslosigkeit hoch wie sonst nirgendwo. Der kosmopolitische Realismus lehrt: Das Schwanken zwischen weltoffener und weltverschlossener Gesellschaft, zwischen kosmopolitischem und nationalem Blick hängt wesentlich von den ökonomischen Bedingungen ab: Die Fremden werden um so weniger als fremd erfahren, je besser Vollbeschäftigung und Prosperität gesichert erscheinen; und die Fremden werden um so fremder, je größer die Angst vor der Arbeitslosigkeit und vor der Erosion des Wohlstands ist. Die Konflikte im Gefolge massenhafter Migration haben sich erstchronisch dann verschärft, die Arbeitslosigkeit in den Aufnahmeländern wurde. als In Zeiten der Vollbeschäftigung, die wahrscheinlich nie wiederkehren, wur73
den Millionen von Arbeitsmigranten von den USA, Frankreich, Deutschland usw. angeworben. Im Unterschied zu Amerika, wo kein Neuankömmling erwarten kann, daß ihn ein soziales Netz auffängt, können die Ankömmlinge in vielen europäischen Staaten wenigstens minimale Sicherungen wie Arbeitslosengeld, Krankenversorgung und Sozialhilfe beanspruchen. Was als Schutz gedacht war, schlägt, wenn es gefährdet ist, in Exklusion um. Auch hier gilt: »Inländer« verwandeln sich zurück in »Ausländer«, wenn es um die knappen Mittel der Sozialhilfe geht. Wie wenig (ökonomisch) rational diese »Verausländerung von Inländern« ist, machen zwei Überlegungen deutlich: Erstens sind Neuankömmlinge ja nicht nur Nutznießer von Sozialsystemen, sondern auch Beitragszahler, infolgedessen eine wichtige Voraussetzung dafür, daß mit dem Alterungsprozeß der Gesellschaft nicht das gesamte soziale Sicherungssystem zusammenbricht. Zweitens: Je mehr man sich gegen »Fremde« abgrenzt und einmauert, desto weniger hat man am Ende zu verteidigen und zu verteilen. Man beraubt sich selbst der Chance, die der kosmopolitische Blick eröffnet, nämlich die scheinbar nationalen Probleme (der alternden Gesellschaft, des sinkenden Wirtschaftswachstums) durch transnationale Öffnung und Kooperation (Migrationspolitik) einer Lösung näher zu bringen. Die Besonderheit der europäischen Situation ergibt sich allerdings auch daraus: Europa ist von Anfang an die Quelle der Aufklärung und der Gegenaufklärung. Der moderne Anti-Kosmopolitismus gehört zur europäischenKosmopolitisierung Tradition, die sichneu unter den Bedingungen der fortschreitenden erfindet und neu organisiert. Für das Verständnis dieses modernen AntiKosmopolitismus hat Isaiah Berlin (1976) in Auseinandersetzung mit Gottfried Herder drei kardinale Ideen vorgeschlagen: Populismus, Expressionismus und Pluralismus (vgl. Holmes 2000). 3
3 Diese Ideen werden im folgenden für die Zweck e der Analys e der Zweiten Moderne reinterpretiert. 74
Essentialistischer
Populismus
Hier wird im Sinne des Universalismus der Verschiedenartigkeit (siehe S. 78 ff.) davon ausgegangen, (a) daß es essentialistische Unterschiede zwischen »den« Deutschen, »den« Italienern, aber auch »den« Wallisern oder »den« Kosovaren, Serben usw. gibt (wobei die scheinbar ursprünglichen und unauflösbaren Gruppenbande schwer zu definieren sind); und (b) daß die Mitglieder nicht zuletzt durch den Glauben an den hohen Wert ihrer Zugehörigkeit zu dieser Kultur zusammengehalten werden. Einschluß setzt Ausschluß voraus, und zwar (der Legende nach) »logisch«. Insofern ist der essentialistische Populismus die eine Seite, dessen andere Seite in der Ausgrenzung und Abwer tung von Fremden, Exilanten besteht, aber auch Mehrheiten und anderen Minderheiten, von denen man sich »unterdrückt« oder »gefährdet« sieht. Immer mehr Bevölkerungsgruppen pochen auf ihre »kulturelle Identität« (was immer man sich darunter vorzustellen hat). Dabei wird einerseits auf das Erbe der »reinen« Ethnizität zurückgegriffen, andererseits auf die Postmoderne. Insbesondere in Europa ist dementsprechend so etwas wie eine postmoderne Romantik im Umgang mit ethnischen Ideen und Ideologien zu bemerken. Der Ursprung dafür liegt in der von vielen Minderheiten in den USA Schwarze, Frauen, Homosexuelle, Hispanics usw. - verfolgten »Identitätspolitik«. Nach dem Ende des Marxi smus, der das Individuum zu einem subjektiven Faktor der Produktions- und Klassenbedingungen verwandelte, entsteht ein neuer Kollektivismus, der die Absich t verf olgt, das Indivi duum auf seine Existen z als Mitglied einer Minderheitenkultur zu reduzieren. Was macht das »Postmoderne« dieser Identitätskonstruktion aus? Es entsteht eine Symbiose zwischen Relativismus und Fundamentalismus. So geht man beispielsweise von der Annahme aus, daß nur die Mitglieder der Minorität die »Wahrheit« über diese Gruppe kennen, also über die erlittene Unterdrückung Bescheid wissen. Allein die Gruppenangehörigen haben, dank ihrer Herkunft, Zugang zu dem, was die kulturelle und politische Identität der »wirklich« ausmacht -- heißt es. die Auf besondere diese WeiseUnterwird ein Gruppe postmoderner Relativismus wonach drückungsgeschichte nur denjenigen zugänglich ist, die sie erlitten 17 5
haben - verschmolzen mit einem Fundamentalismus, aus dem militante Wortführer ihre separatistischen Forderungen ableiten. Interessanterweise können diese Relativismus-Fundamentalismus-Symbiosen sich einerseits gegen den Nationalstaat richten, andererseits demokratische Rechte beanspruchen und zugleich Bündnisse mit der Europäischen Union schließen. So haben in Großbritannien pakistanische Fundamentalisten ein »muslimisches« Parlament gegründet mit der Begründung, die islamische Bevölkerung des Landes bilde eine eigene politische Einheit. In Norditalien ficht die Movimento Friuli für eine »friulanische Nation«, die sich als Bestandteil der Europäischen Union versteht, aber zugleich unabhängig von jedem Staat sein will (Holmes 2000: 21 f.). Es handelt sich dabei um eine perverse Verknüpfung von Ideen: Apartheid und Menschenrecht, Apartheid als Menschenrecht. Die Rede von »Identität« und »Autonomie« mündet in das Prinzip Ghettobildung: Man will zugleich antistaatlich und europäisch werden.
Expressionismus Diese zweitmoderne Neuerfindung des Tribalismus muß nicht in einem naiven Essentialismus befangen bleiben, sondern kann auch die »Expressivität« in allen Sphären des menschlichen Lebens (von der Ernährung bis zur Kunst) dazu nutzen, um das »Wir« in seinen Ausdrucksformen zu erneuern, zu feiern,daß zu bestimmen grenzen: »Expressionismus beansprucht, alle Werke,und die abzuMenschen hervorbringen, mehr ausdrücken als ihre Stimmen; sie sind keine Objekte, die man von ihren Machern ablösen kann; sie sind vielmehr Teil des lebendigen Prozesses der Kommunikation zwischen Personen und insofern nicht unabhängig existierende Entitäten ... Dies wird verbunden mit einem weiteren Begriff, daß nämlich jede Form menschlicher Selbstexpression in irgendeinem Sinne artistisch ist und daß Selbstexpression Teil der Essenz des menschlichen Wesens ist; daraus wiederum gehen umgekehrt Unterscheidungen hervor, wie die zwischen integralen und getrennten oder sich verpflichtet fühlenden und sich nicht verpflichtet fühlenden Lebensformen.« (Berlin 1976: 153, zit. nach Holmes 2000) 176
Mit dieser expressionistischen Wende des Wir-Seins, des Essentialismus, werden vielfältige Verknüpfungen möglich, insbesondere zu den diversen Formen der »Fabrikation von Kultur«, auf einer Spannbreite von regionaler Cuisine bis zu Religion. So werden zwei einander sich scheinbar ausschließende Ideologien miteinander verbunden: die Ideologie des Individualismus - dein Leben ist ein Kunstwerk, erfinde dich neu! - mit der Ideologie der kollektiven Identität, die sich angesichts verfließender Grenzen in den sich selbst bestätigenden Kreativitätszirkeln neu erfindet und gegen Andere abgrenzt.
Pluralismus Dabei handelt es sich um ein zugleich modern anti-kosmopolitisches Verständnis Grenzen neu setzt und befestigt.von AngVielfalt, eknü pftdas wirdverschwimmende an den »kulturelle n Relativismus«, der sich einerseits auf den Respekt vor der Andersheit der Anderen beruft, andererseits die postmoderne Inkommensurabilität der Perspektiven zwischen essentialistisch verstandenen Gruppenzugehörigkeiten behauptet (siehe oben Kapitel II, 1.2). Man spricht hier die Sprache der Anerkennung der Differenz, vollzieht damit jedoch anti-kosmopolitisch die Ausgrenzung der Anderen auf der Grundlage eines wechselseitigen Nichteinmischungspaktes in die inneren Angelegenheiten Anderer. Dies geht einher - im Radikalfall - mit der Solidaritäten, Ablehnung j edes Unive rsalismus. Übergreifen de Verpflichtungen, Rechtskonstruktionen usw. müssen diesem essentialistischen (Anti-)Pluralismus als »unwahr« erscheinen und als »irreal«, als »falscher Idealismus«, »menschheitliche Verblendung« abgewertet und bekämpft werden. Das Perverse dieses anti-kosmopolitischen Verständnisses von der »Anerkennung« der Andersheit der Anderen liegt darin, daß das Prinzip der Toleranz in sein Gegenteil, nämlich in eine aggressive Intoleranz gegenüber Anderen, gewendet wird. Das Prinzip der Inkommensurabilität erlaubt es, in einer Welt unscharfer Grenzen neueRealität Grenzenund scharf zu ziehen, gerade jede Art transnationaler Verständigung leugnetweil undeszerstört.
17 7
4.5 Der Anti-Kosmopolitismus leidet an einem klinischen Wirklichkeitsverlust: Kosmopolitisierung verschwindet nicht, weil man sie nicht wahrhaben will Die Al Qaida-Terroristen, Skinheads, Rechtspopulisten und Neonationalisten bildenTatsächlich die selbsternannte, militante Vorhut des AntiKosmopolitismus. sickert dieser Anti-Kosmopolitismus jedoch in alle möglichen politischen Lager, Organisationen und Parteiungen ein und führt zu Amalgambildungen einer antimodernen und anti-kosmopolitischen Moderne. Modernisierungsprozesse werden gleichzeitig forciert - der technologische und ökonomische Wettlauf auf Weltmärkte - und zurückgeschraubt. So kommt es zur Koexistenz von Wiedereinführung der Todesstrafe, obligatorischem Schulgebet, Abtreibungsverbot mit der Mystifizierung von »High-Tech«, Gentechnologie und waffentechnologischem Alle Gigantismus. möglichen Organisationen - Gewerkschaften und die alte Linke, natürlich konservative Parteien, aber auch die Kirchen igeln sich ein gegen die neue Schwerkraft der Kosmopolitisierung und nutzen dafür das, was in der Luft liegt: den neuen Anti-Kosmopolitismus, der sich auf »Populismus«, »Expressivität« und »Pluralität« beruft. In manchen Regionen, auch Europas, ist die »Amalgambildung« ein Euphemismus. So hat in vielen osteuropäischen Bevölkerun gskreisen nach dem Erlangen der Freiheit nicht der Geist der Erneuerung um sich gegriffen, sondern es wurde der Geist der schlechten Vergangenheit, des Ressentiments, des Wiederaufreißens uralter ethnischer Wunden, mancherorts in Form von aktuellen oder potentiellen Genoziden freigesetzt. Man pflegt eine Selbstbemitleidung angesichts geschichtlicher Traumata und Frustrationen als »Nationalbewußtsein«, spricht hinter den Fassaden des aufrechten Demokraten ganz offen die Sprache des ethnischen Hasses und des Antisemitismus. (Imre Kertesz berichtet, er habe sich nach dem nazistischen, dem stalinistischen auch noch an einen demokratischen Antisemitismus gewöhnen müssen.) Es istoder nicht zu verkennen, daß dieser oder auftrumpfende, rechte linke, gewerkschaftliche oderleise kirchliche Anti-Kosmopolitismus im strengen Sinne anti-national handelt, weil er einem 17 8
klinischen Wirklichkeitsverlust gleichkommt und insofern die nationalen Interessen im globalen Zeitalter verrät. Die Herausforderung, die Widersprüche der Globalisierung (wirtschaftlich, kulturell, politisch) lassen sich nicht aus der Welt schaffen, weil man die Wirklichkeit nicht mag und nicht wahrhaben will - nach dem Motto: Globalisierung? Ich bin dagegen! Auch das Fallen der Blätter im Herbst läßt sich durch Wegschauen nicht aufhalten, ebensowenig dadurch, daß man den Winter haßt. Das heißt allerdings: Selbst der radikalste Anti-Kosmopolitismus kann die alten Grenzen nur im Kopf, nicht aber in der Realität wiederherstellen. Die globalen Risiken der Finanzmärkte, der Umwelt, des Terrorismus machen nicht halt an den neuen Möchtegern-Grenzen des ethnischen Populismus und Pluralismus. Das Spannungsverhältnis von Minderheiten zu Mehrheiten wird durch ethnische Exklusion nicht aufgelöst, sondern entflammt. »Inkommensurabilität«, Politik der »ethnischen Entmischung« praktiziert, muß sich als angesichts drohender humanitärer Intervention und drohenden ökonomischen Ausmarsches der Investoren weltöffentlich rechtfertigen. Die Grenze zwischen Menschenrecht und Bürgerrecht ist unter den Bedingungen der Kosmopolitisierung überall fließend geworden, und die damit aufbrechenden Fragen, wer gehört dazu, wer nicht, können nicht länger mit dem Hinweis auf eine »natürliche, essentialistische Vorgegebenheit« beantwortet werden.
4.6
Die Anti-Kosmopolitisierungsbewegungen treiben die Kosmopolitisierung voran
Diejenigen, die gegen Globalisierung sind, müssen ihren Protest globalisieren, um überhaupt eine Erfolgschance zu haben. Weil die Globalisierungsgegner ihre Gipfelproteste transnational organisieren, müssen die Gegenaktionen der Polizei ihrerseits transnationalisiert werden. Nationale Polizeien müssen also über ihren nationalen Schatten springen und sich selbst denationalisieren, um ihre nationale Aufgabe angesichts transnationaler rungsbewegungen zu erfüllen. Daraus folgt, daßAnti-Globalisiedie Spirale der Nebenfolgen die Kosmopolitisierung immer weiter vorantreibt: 17 9
Der transnationale Protest erfordert transnationale Polizei, ein entsprechendes transnationales Informationssystem, transnationale Rechtsordnungen usw. Doch es sind nicht nur die Nebenfolgen, sondern auch die Ziele, die die Anti-Globalisierungsbewegungen zum Motor der Kosmopolitisierung machen. existiertnur ein eigentümlicher Zwang, den Widerstand gegenOffenbar Globalisierung unter der Zielsetzung einer anderen, nämlich der guten, wahren Globalisierung praktizieren und rechtfertigen zu können. Man kämpft gegen die rein ökonomische Globalisierung (»Globalismus«), plädiert aber im gleichen Zuge für die Universalisierung der Menschenrechte, Arbeitsrechte, Frauenrechte usw. Diejenigen, die als »Globalisierungsgegner« gelten, sind, wenn man ihre Motive ins Zentrum rückt, zugleich »Globalisierungsbefürworter«. Dasselbe gilt übrigens für andere globale Akteure - beispielsweise die Staaten und das globale Kapital. Sie agierenhinweg in Koalitionen und Anti-Koalitionen, die über alle Gegensätze die politische Globalisierung vorantreiben. Es kommt also zu dem merkwürdigen Phänomen, daß Kosmopolitisierung im allgemeinen beklagt und oft sogar ausdrücklich bekämpft wird, jedoch - teils als Nebenfolge, teils von komplementären Zielsetzungen her gedacht - in dem ganzen Gegen-, Mit- und Durcheinander vorangetrieben wird. Ähnliches läßt sich sogar am Beispiel der USA demonstrieren, als diese gegen die überwältigende Mehrheit der Weltmeinung - als »militärische Wüstlinge« verurteilt - im Frühjahr 2003 in den Irak einmarschier-
daßdaß ten. Gerade sie entschiedene die Weltmeinung gegen sich aufbrachten, belegt einmal mehr, militärische Alleingänge auch das Gegenteil dessen in Gang setzen, was sie beabsichtigen: die Schaffung und Alarmierung einer bohrend nachfragenden Weltöffentlichkeit. Kosmopolitismus ist kein Weltintegrations- oder Weltkonsensmodell. Wer erwartet, daß die USA, die Europäer, die Araber, die Israelis, die Südamerikaner, die Afrikaner usw. irgendwann eins im Konsens werden sollten un d daß sich daran Erfolg oder Miße rfolg des Kosmopolitismus bemißt, irrt. Auch die eingespielten, ideologischen verwirrensetzt, sich dauernd. Mission derFronten Bush-Regierung obschon Die mit demokratische paradoxen militärischen Mitteln, ein srcinäres Projekt der liberalen Linken fort. Was 180
den Kosmopolitismus zusammenhält, liegt weniger in dem, wofür die vielen sich mischenden Länder und Kulturen im einzelnen stehen, als vielmehr in dem, wogegen sie in jedem Fall votieren, kämpfen: gegen Verhältnisse, in denen die Würde des Menschen systematisch verletzt wird; gegen die neue Pest genozider und terroristischer Gewalt.
5. Die Kosmo poli tisi erung Internatio naler Beziehungen Wir haben zunächst die Kosmopolitisierung der Gesellschaft (Kapitel III), dann, in diesem Kapitel, die der Politik untersucht, und nun soll dasselbe Argument im Kontext der Internationalen Beziehungen (skizzenhaft) erprobt werden. Hier existiert ein exzellentes Beispiel, um darzustellen, Ubergang vom nationalen zum kosmopolitischen Blick vondaß derder Empirie gefordert ist, und das zugleich deutlich macht, inwieweit dem nationalen Blick die Bedeutung der gegenwärtigen Änderungen verborgen bleibt: das Verhältnis von Völkerrecht und Menschenrecht, das - spätestens beginnend mit dem Kosovo-Krieg, sich fortsetzend in den Feldzügen gegen Afghanistan und den Irak und bisher endend mit der Intervention der EU im Kongo - eine völlig neue Bewertung erfährt. Im Feld der internationalen Beziehungen, insbesondere in der realistischen Denkschule der politischen Theorie, bleibt, der Logik des nationalen Blicks folgend, die »interconnectedness« einer immer komplexer werdenden Weltgesellschaft der mit dem Westfälischen Frieden von 1648 entstandenen Souveränitätsordnung unabhängiger Staaten untergeordnet. Das heißt, die Größenordnung von Problemen, welche die Staaten nur noch kooperativ lösen können; die Autorität supranationaler Organisationen; die Entstehung transnationaler Regime und Verfahrensregeln zur Legitimation von Entscheidungen; die Ökonomisierung, ja Ökologisierung der Außenpolitik und damit einhergehend die Verwischung der klassischen Grenze Innen- und Außenpolitik - alles dies ändert nichts an demzwischen völkerrechtlichen Prinzip der Nichtintervention in die »inneren Angelegenheiten« fremder Staaten. Und nun zwingt 181
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uns zunächst der Kosovo-Krieg, dann der Irak-Krieg (wie schon die Aktionen advokatorischer Bewegungen oder des globalen Kapitals - siehe oben Kapitel IV, 2. und 3.) die Unterscheidung auf, die die Weltordnung des Völkerrechts ins Wanken bringt - nämlich die zwischen Legalität und Legitimität.
5.1
Die Legitimitätsfrage
Der Kosovo -Krieg lehrt: Die Verteidigung der Menschenrechte auf fremdem Territorium durch den Einsatz militärischer Gewalt, den man »humanitäre Intervention« nennt, kann das Völkerrecht brechen und ohne das Mandat des UN-Sicherheitsrates erfolgen und dennoch von westlichen Regierungen, mit hohem moralischen Anspruch - »nie wieder Auschwitz« -, in die Tat umgesetzt werden. Hier bricht ein Gegensatz Legalität und Legitimität auf, von dem Max Weber in seinemvon nationalstaatlichen Denken noch nicht einmal gealbträumt hätte. Wir haben es hier soziologisch mit dem Zwitterwesen eines illegal legitimen Krieges zu tun. Wie ist es überhaupt möglich, daß der Einsatz militärischer Gewalt über Grenzen hinweg als »legitim« erscheint, obwohl er das Völkerrecht bricht? Man kann sich dies an der Umkehrung verdeutlichen: Ein nur legales Handeln, das sich an die Buchstaben des geltenden Rechts hält, kann als unmoralisch und verantwort ungslos verurteilt werden - gera de vor dem Hinter grund der staatlich organisierten dieAuseinanderdriften das faschistische Deutschland über Europa gebracht Barbarei, hat. Dieses von Legalität und Legitimität flößt seinerseits Furcht ein. Was ist das für ein Weltzustand, in dem hochmilitarisierte Mächte über Underdog-Staaten mit der Parole »nie wieder Auschwitz!« oder »nie wieder 11. September!« herfallen, um die Welt vor dem Verderben zu retten? Was kann überhaupt - nicht moralisch, sondern soziologisch verstanden - den Ausschlag geben, daß das hohe Gewicht, das die Legalität auf die Waagschale bringt, durch »Legitimität« übertr umpft wi rd? Eine An twort könnte lauten: eine nachträgliche Rechtfertigung zum Zeitpun kt der illegalen Krie ges durch dazu des berufene Instanzen - imEntscheidung Falle des Kosovo-Krieges: des UN-Sicherhei tsrates und des Bundesverfassungsgerichts. 182
Aber dieses Kriterium einer Post-hoc-Legalisierung des Illegalen verschärft die Dilemmata. Insbesondere hilft in der Entscheidungssituation selbst dieses Kriterium nicht weiter. Ja, übermächtige, gutgesinnte Täterstaaten könnten sich in der Vorwegnahme einer späteren Zustimmung einen Freibrief ausstellen. Liefe das nicht letzten Endes darauf hinaus: Gewalt schafft Legalität? Diese Art von Fragen stellt sich natürlich auch in dem Fall, in dem Legalität und Legitimität extrem auseinanderklaffen, dem Irak-Krieg. Die Bush-Regierung hat bekanntlich mit Zielen nicht gegeizt, die sie mit dem Irak-Krieg verfolgt; dazu gehören die Abrüstung von Massenv ernichtungsw affen, die Entmachtung Saddam Husseins, der Regimewechsel, die Demokratisierung des Irak und schließlich der arabischen Welt. Greifen wir das letzte Ziel heraus. Wer entscheidet wann darüber, ob die Domino-Theorie der Demokratisierung Arabiens gescheitert ist? Führt der Weg zum Frieden im Nahen Osten, der fast undenkbar erscheinenden Entschärfung des einschließlich israelisch-palästinensischen Urkonfliktes, über den Regimewechsel in Bagdad? Wer trifft dieses geschichtliche Urteil? Die dann demokratisch gewählte Regierung des Irak? Oder die arabischen »Bruderstaaten«, deren Herrschaftsordnung bereits durch eine irakische Minimaldemokratisierung bedroht wäre? Oder die siegreichen USA? Oder die abseitsstehenden Europäer? Oder der UN-Sicherheitsrat, der, bei Lichte betrachtet, eine Versammlung von überwiegend nichtdemokratischen Staaten darstellt, die zu Hause mit Füßen treten, was sie im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit sich rühmen: die Menschenrechte? Hier zeigt sich: In zu derschützen Übergangszeit zur Zweiten Moderne ereignen sich so ti efgreifende Ve rwerfu ngen, daß alle vertrauten Instrumente der Theorie, alle überlieferten Zukunftserwartungen, erst recht alle klassischen Mittel der Politik davor versagen. Im Fall des Kosovo-Krieges 4 haben sich - im Wertkonflikt zwischen der Souveränität eines Staates und dem Schutz der Menschenrechte - westliche Regierungen unter der Führung der Vereinigten Staaten dazu entschlossen, den Völkermord an den Kosovaren höher zu bewerten als die völkerrechtlichen Verfahrensregeln der UN Charta. Die Grundlage dafür bietet eine doppelte Kritik an dem
4 Zu den neuen Formen von Krie g im kosmopolitischen Zeitalter si ehe auch Kapitel V. 18 3
Rechtssystem, das die Staaten untereinander vereinbart und in der UNO institutionalisiert haben: Das Völkerrecht enthält zwar Regeln für internationale Gewaltanwendung und unterscheidet zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Dieses tut es jedoch in völlig unzureichender Weise, weil nicht geprüft wird, ob die Staatsgewalten selber überhaupt zu Recht bestehen; genauer: ob sie der Charta der Menschenrechte und den sich daraus ergebenden Anforderungen genügen. Dem immer schon spannungsreichen Verhältnis von Volkssouveränität und Menschenrechten wird damit eine äußerst folgenreiche Wende gegeben. Es kommt im Übergang von einer nationalstaatlichen zu einer kosmopolitischen Weltordnung zu einem höchst folgenreichen Prioritätenwechsel zwischen Völkerrecht und Menschenrecht. An die Stelle des in der nationalstaatlichen Ersten Moderne geltenden Grundsatzes Völkerrecht bricht Menschenrecht tritt der in seinen Folgen noch undurchdachte, weltgesellschaftliche Grundsatz dernicht Zweiten Menschenrecht bricht Völkerrecht. Man weiß genau,Moderne: was gefährlicher ist: die untergehende Welt souveräner Völkerrechtssubjekte, die ihre Unschuld längst verloren haben, oder die unklare Gemengelage supranationaler Einrichtungen und Organisationen, welche global handeln, aber nach wie vor auf den guten Willen mächtiger Staaten und Allianzen angewiesen sind, oder die Selbstermächtigung einer hegemonialen Macht, die unter den Fahnen eines »militärischen Humanismus« die Menschenrechte auf fremdem Territorium »verteidigt«. Wie immer man diesen hochambivalenten Sachverhalt beurteilt und bewertet, in diesem Durcheinander zwischen der alten Völkerrechtsordnung - der der nationale Blick zugrunde liegt - und der neuen Menschenrechtsordnung - die sich überhaupt erst dem kosmopolitischen Blick zeigt - läßt sich wie in einem Brennglas die Epochenunterscheidung zwischen Erster und Zweiter Moderne präzisieren. Der Grundsatz: Völkerrecht bricht Menschenrecht beruht auf den Prinzipien von Kollektivität, Territorialität und Grenze. Das Völkerrecht dient seiner Entstehung und Idee nach der Friedenssicherung. Es regelt das Verhältnis zwischen Staaten, also Kollektivsubjekten, Soder sahUN-Charta es Hugo Grotius, so sehen esnicht nochzwischen heute dieIndividuen. Paragraphen und der OSZE-Schlußakte. Den hohen Worten, daß »die Schaffung einer 184
Welt«, wie die Präambel der Menschenrechtskonvention von 1948 proklamiert, »frei von Furcht und Not... als das höchste Bestreben der Menschheit« gilt, konnten daher aus völkerrechtlichen Gründen keine Taten gegen den Willen der betroffenen Staaten folgen. Nicht zuletzt hier stellt sich die Frage, ob die UN die Kraft aufbringt, sich aufgrund dieser Entwicklungen und Erfahrungen neu zu erfinden. Der Grundsatz: Menschenrecht bricht Völkerrecht verweist demgegenüber auf die zwischenstaatlichen Beziehungen im kosmopolitischen Paradigma der Zweiten Moderne. An die Stelle der kategorienbildenden Prinzipien der Ersten Moderne - Kollektivität, Territorialität, Grenze - tritt ein Koordinatensystem, in dem Individualisierung und Globalisierung direkt aufeinander bezogen werden und den Begriffsrahmen für die neu zu definierenden Begriffe von Staat, Recht, Politik und Individuen bilden. Die Träger der Menschenrechte sind Individuen (und nicht Kollektiv-Subjekte wie »Volk« und »Staat«), Menschenrechte sind also wesentliche subjektive Rechte. Zugleich müssen sie globalisiert gedacht werden, sind sie doch ohne einen universalistischen Geltungsanspruch, welcher diese Rechte allen Individuen jenseits von Stand, Klasse, Geschlecht, Nationalität, Religion zuspricht, undenkbar. Wenn im Verhältnis der Staaten zueinander sich Normen und Rechtsauffassungen herausbilden, nach denen die Menschenrechte nicht mehr zu den »Angelegenheiten« zählen, »die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören«, dann ist dies revolutionärer, als es eine Neuinterpretation des einschlägigen Artikels 2 der UN-Charta wäre. Dann darf man nicht nur, dann muß man sich einmischen. Das läuft auf einen Paradigmawechsel von Nationalstaatsgesellschaften zur kosmopolitischen Gesellschaft hinaus. Denn damit wendet sich das Völkerrecht über die Staaten hinweg direkt an die einzelnen und postuliert eine rechtsverbindliche Weltgesellschaft der Individuen. Werden die nationalen Souveränitäten aufgeweicht, kommen dem herkömmlichen Völkerrecht seine klassischen Subjekte abhanden - und der nationale Blick seinearbeitet empirische Basis, und die damit daraufverliert beruhende Sozialwissenschaft mit den falschen Kategorien. Der kosmopolitische Blick der Zweiten 185
Moderne eröffnet unter anderen die Perspektive: 5 Das nach denationalem Blick konzipierte Völkerrecht wird sich - wenn auch erst in ferner Zukunft - in die Verfassung einer Weltinnenpolitik fortentwickeln. Subjektive Menschenrechte sind von innenpolitischen Rechtsansprüchen nicht zu unterscheiden. Sie postieren keine Grenzschutzbeamten zwischen Individuen, wieJürgen das alte Völkerrecht, sie entlassen sie. Dementsprechend fordert Habermas ein Weltbürgerrecht - damit der Einsatz für verfolgte Menschen und Völker nicht nur eine Sache der Moral bleibt. »Denn die angestrebte Etablierung eines weltbürgerlichen Zustandes würde bedeuten, daß Verstöße gegen die Menschenrechte nicht unmittelbar unter moralischen Gesichtspunkten beurteilt und bekämpft, sondern wie kriminelle Handlungen innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung verfolgt werden. Eine durchgreifende Verrechtlichung internationaler Beziehungen ist nicht ohne etablierte Verfahren der Konfliktlösung möglich. Gerade fürgezähmte die Institutionalisierung dieser Verfahren wird der juristisch Umgang mit Menschenrechtsverletzungen vor einer moralischen Entdifferenzierung des Rechts schützen und eine unvermittelt durchschlagende Diskriminierung von >Feinden< verhindern. Ein solcher Zustand ist auch ohne das Gewaltmonopol eines Weltstaates und ohne Weltregierung zu erreichen. Aber nötig ist wenigstens ein funktionierender Sicherheitsrat, die bindende Rechtsprechung eines internationalen Strafgerichtshofes und die Ergänzung der Generalversammlung von Regierungsvertretern durch die zweite Ebene einer Repräsentation der in Weltbürger. diese Vereinten Nationen noch nicht greifbarer Da Nähe ist,Reform bleibt der der Hinweis auf die Differenz zwischen Verrechtlichung und Moralisierung zwar eine richtige, aber zweischneidige Entgegnung. Denn solange die Menschenrechte auf globaler Ebene vergleichsweise schwach institutionalisiert sind, kann die Grenze zwischen Recht und Moral wie im vorliegenden Fall verwischen. Weil der Sicherheitsrat blockiert ist, kann sich die Nato nur auf die moralische Geltung des Völkerrechts berufen - auf Normen, für die keine effek tiven, von der Völkergemeinschaft an erkannten Instanzen der Rechtsanwendung und -durchsetzung bestehen.« (1999: 6f.) 5 Andere, auch schwa rze Zukunftssz enarien werden im Kapitel V diskutiert. 186
Doch wie stellen die Staaten des Westens sich auf eine Kritik ein nach der es im wesentlichen deren Interpretation von Menschenrechten ist, welche sich die Nato auf ihre Fahnen geschrieben hat und der sie im Bruch mit dem geltenden Völkerrecht mit militärischen Mitteln Geltung verschaffen will? Vor allem von afrikanischen, asiatischen, chinesischen Wissenschaftlern, Intellektuellen und Politikern wird der individualistische Charakter der Menschenrechte mit drei Argumenten kritisiert: Es gelte, (1) gegenüber dem prinzipiellen Vorrang von Berechtigungen die Pflichten zu betonen; dies zwinge dazu (2), eine kommunitaristische Rangordnung der Menschenrechte vorzusehen, um auf diese Weise (3) der Priorität des Gemeinwohls und der gemeinschaftlichen Werte gegenüber einer primär negativen, individualistischen Menschenrechtsordnung Geltung zu verschaffen. Was geschieht, wenn eines Tages das Militärbündnis einer anderen Region - sagen wir in Asien - eine bewaffnete Menschenrechtspolitik dieMensich auf eine Interpretation von kommunitaristisch betreibt, geprägten schenrechten beruft? Damit entsteht allerdings eine gefährlich-heilige Verwirrung: Die zwei Bilder der Weltgesellschaft, die eine, die dem nationalen Blick gehorcht, und die andere, die dem kosmopolitischen Blick gehorcht - nämlich zum einen Weltgesellschaft als nationalstaatlicher Fleckerlteppich (also die Summe der souveränen Nationalstaatsgesellschaften), zum anderen die eine, zugleich individualisierte und globalisierte Weltgesellschaft als kosmopolitische Menschenrechts-
ordnung zentral -, tref fen- wir aufeinander. er- undFällen dieserzugleich Gedankemit ist nicht weniger haben es Ab in beiden einer bestimmten Weltmachtordnung zu tun. Das heißt, der Grundsatz, Menschenrecht bricht Völkerrecht, muß nicht nur als Werteordnung, sondern auch als Machtordnung begriffen werden. Wer diesem Grundsatz Geltung verschaffen will, setzt nämlich zweierlei voraus: erstens das Ende des Kalten Krieges, also der bipolaren Weltordnung, und zweitens die militärisch-politische Hegemonie der USA.
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Der Neonationalismus des Internationalen
Die Legitimationsfrage hat es in sich. Sie schwelt auch, wie der IrakKrieg lehrt, nach einem militärischen Sieg weiter. Wie kaum ein zweites Ereignis hat das Zwitterwesen des illegal-legitimen Krieges die Weltöffentlichkeit zugleich und individualisiert: einzelne sah sich gleichsam voralarmiert die existentielle EntscheidungJeder zwischen Krieg und Frieden gestellt und geriet so in die Strudel der moralischen und politischen Dilemmata oder konnte auf die verfügbaren Pauschalangebote zurückgreifen, um so oder so die neue Eindeutigkeit des Dafür oder des Dagegen zu behaupten. Aber die umstrittene Legalität hält die Legitimitätsfrage auch nach dem erklärten militärischen Sieg offen, heizt sie immer wieder aufs neue an. Der amerikanisch-britische Alleingang war unter anderem mit der Abwe ndung der aktuellen Ge fahr begründet wor den, der irakische Diktator Hussein zu aktivierendedaß Massenvernichtungswaffen verfüge.über Der schnell Zusammenbruch dieser Legitimation hat deutlich werden lassen, daß die Illegalitätsvermutung, auch nach dem offiziellen Ende des Krieges, die Legitimitätsfrage explosiv auflädt; und dies gilt national ebenso wie international, »innenpolitisch« wie »außenpolitisch« (wobei diese Teilweltöffentlichkeiten schwer gegeneinander abzudichten sind). Anders gesagt: Der fehlende globale oder wenigstens westliche Rechts- und Verfahrenskonsens im Irak-Krieg verwandelt die illegale Legitimität in ein Open-end-Thema, in dem »Niederlagen« (Tag US-Soldaten) für Tag US-Pressemeldungen über in Scharmützeln tete und »Erfolge« (Schneckenfortschritte in getöder Demokratisierung) die Explosivität der Frage nach der Legitimität des Krieges auch an den empfindlichen, sprich: wählerwirksamen Nahtstellen der Innenpolitik erhöhen. Auch hier wird wiederum erkennbar, wie US-militärische Alleingänge eine unerwünschte, ungewollte Nebenfolgen-Kosmopolitisierung in Gang setzen und halten. Die Welt ringt um neue Regeln der Weltinnenpolitik. Das Gründungsprinzip der Vereinten Nationen war die unverletzliche Souveränität der Nationalstaaten. Doch in der Einen Welt, deren Bestand durch transnationalen Terrorismus, die Klimakatastrophe, globale Armut und entgrenzte kriegerische Gewalt gefährdet ist, 18 8
garantiert dieses Prinzip nicht mehr den Frieden, also die innere und äußere Sicherheit der Staaten und Gesellschaften. Es schützt weder die Bürger vor der tyrannischen Verletzung ihrer Rechte noch die Welt vor der terroristischen Gewalt. Die Ambivalenzen im Übergang zur Zweiten Moderne, die mit der Völkerrechtsordnung bricht, machen widersprüchliche Stellungnahmen zum Irak-Krieg in soziologischer Perspektive »erwartbar«: Wo eine ganze Weltordnung ins Zwielicht gerät, werden die unbeantwortbaren Fragen, die unentscheidbaren Entscheidungen auf die Individuen zurückverlagert; und das Ergebnis ist eine innerindividuelle Zerrissenheit, wie sie die modernen, hochindividualisierten und expressiven Gesellschaften am Beispiel des Irak-Krieges erfahren haben. Gerade deswegen ist entscheidend, wie das Verhältnis zwischen Recht und Gewalt in den internationalen Beziehungen kurzfristig und langfristig geregelt werden wird. UmRecht den globalen Gefahren entgegenzutreten, muß soll das und internationale gestärkt und für die Herausforderungen einer kosmopolitisch werdenden Welt geöffnet, nicht jedoch auf den Müllhaufen des Kalten Krieges geworfen werden. Mit und nach dem Irak-Krieg ist ein historischer »moment of decision« entstanden, der sich bereits mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges angekündigt hatte und der seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 am Horizont schimmert. Die Entscheidungen über Reformen, die in den kommenden Jahren getroffen werden, formen die weltpolitische Geographie für Jahrzehnte. Wir die erleben entscheidenden Augenblicke, in denen die Nationen Wahl die haben zwischen einem kosmopolitischen Regime, das die Werte der Modernität so auslegt, daß den neuen Bedrohungen wirksam begegnet werden kann -, und der Rückkehr zu einem Hobbesschen Kampf aller gegen alle, wobei die militärische Gewalt globales Recht ersetzen würde. Die USA haben im Herbst 2002 eine neue »nationale« Sicherheitsstrategie verkündet, die nichts anderes ist als das Handbuch der amerikanischen Weltinnenpolitik, der Pax Americana, an das sich von nun andasFeinde wie Freunde Amerikas haben. Kommunistische Manifest Dokumentierte des zu 19. halten Jahrhunderts eine Revolution von unten, so kommt das national-kosmopoliti189
sche Manifest des Global America am Beginn des 21. Jahrhunderts einer regierungsamtlichen Revolution von oben nahe. Dieses in die Zukunft weisende Dokument, das mit unglaublicher Selbstverständlichkeit innere und globale Sicherheit gleichsetzt, kann gelesen werden als die Magna Charta eines amerikanischen antikosmopolitischen Kosmopolitismus. Die Alternative zwischen Isolationismus und Multilateralismus, die bislang die Pendelschläge der US-amerikanischen Außenpolitik bestimmte, wird verworfen. Auslöser dafür war die Schockerfahrung des 11. September. Diese besagt: Aus Gründen der inneren Sicherheit müssen die USA sich als globale Ordnungsmacht etablieren. Es ist eine Vorwärtsverteidigung gegen die terroristische Gefahr erforderlich. Der amerikanische Nationalkosmopolitismus besagt, daß sich die amerikanische Demokratie nur als universale Demokratie bewahren läßt, wenn diese sich also langfristig auf dem ganzen Globus ausbreitet. Das kosmopolitische Amerika (das dokumentiert auch der Text der global-nationalen Sicherheitsstrategie) besitzt eine Wahlverwandtschaft zu Amnesty International: Die amerikanische MegaMacht wirft ihr Gewi cht in die Schale für die globale Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie. Allerdings ist dieser Kosmopolitismus amerikanisch halbiert. Die Anerkennung des Anderen meint nicht die Anerkennung der Andersheit des Anderen, sondern der Gleichheit des Anderen. Diese absolutistische Variante des amerikanischen Universalismus läuft letztlich auf die Vermutung hinaus: Der wirkliche Moslem ist der amerikanische Moslem. Wenn sich Moslems, Afrikaner, Araber, Chinesen und Frauen un-amerikanisch oder gar anti-amerikanisch verhalten, dann sind sie unautorisiert, befangen in ihren »anti-amerikanischen Vorurteilen«, latent »rassistisch« und in jedem Fall Gefangene eines »antiquierten« Selbstbildes. Dasselbe Muster eines halbierten (Anti-)Kosmopolitismus zeigt sich auch daran, wie die US-Regierung das zweitmoderne Problem überlappender und miteinander verwobener Souveränität »löst«: Es wird das Bild einer Welt entworfen und danach gehandelt, in der eine eine Super-Souveränität hat (man rate, welche), während Nation allen anderen Nationen nur bedingte Souveränität zugewiesen wird. Daß die Grenze zwischen national und international zerfällt, 190
wird im Sinne eines »amerikanischen Neonationalismus des Internationalen« aufgelöst. Das anti-kosmopolitische Moment liegt also darin, daß die US-Regierung sich in absolutistischer Manier über die Gesetze stellt, deren Befolgung sie von allen anderen Ländern und Regierungen notfalls mit Gewalt einfordert. Damit gefährdet sie jedoch nicht nur die Legitimität, sondern auch die Effektivität ihrer Interventionen. Beispielsweise weil die USA es strikt ablehnen, sich selbst den Abrüstungsnormen zu unterwerfen, an deren globaler Einhaltung sie ihr (militärisches) Engagement orientieren, zerstören sie die vertragliche Sicherheitsarchitektur, die auch für amerikanische Bürger letztlich den einzigen Schutzschild darstellt. Auch wird der Widerspruch, sich für die Sache der Demokratie notfalls militärisch weltweit zu engagieren, dabei jedoch die demokratische Mitbestimmung und Absprache mit den Verbündeten in den Wind zu schlagen, sich innenpolitisch auf die Dauer nicht verheimlichen lassen. Kollidiert dieser hegemoniale Unilateralismus doch mit Amerikas Selbstbild einer anti-kolonialen Nation.
Zwei Optionen: Krieg oder Vertrag Die Bekämpfung des staatlich genährten Terrorismus mitsamt den Gefahren, die von chemischen, biologischen und atomaren Waffen ausgehen, kann immer mittels zweier aufeinander angewiesener Wege erfolgen: der Kriegsoption und der Vertragsoption, das heißt der Eindämmung und rechtlichen Einhegung explosiven Konflikte, die die internationale Stabilität und damitder auch die Sicherheit der westlichen Wohlfahrtsländ er bedrohen. Die Positionen Amerikas und Europas, die scheinbar völlig unvereinbar sind, ergänzen einander näher betrachtet dadurch, daß sie sich wechselseitig kritisch beleuchten. Die europäische Option »make law not war« kann nämlich umgekehrt zu einer sozialromantischen Lebenslüge werden, wenn die militärisch-sicherheitspolitische Komponente ausgeklammert wird. Genau diesen Mangel deckten die Balkankriege auf: Schon Gewaltkonflikten auf ihrem eigenen Kontinent stehen Europäer hilflos gegenüber.Europas Die Überwindung der die kriegerischen Blutgeschichte kann zu dem Fehlschluß verleiten, allein eine pazifistisch gewen19 1
dete Polit-Ökonomie führe zu Versöhnung und Frieden. Deshalb demontieren militärische Konflikte die Europäische Union, die als Wirtschafts-, nicht aber als Militärmacht gegründet wurde. Diese Nicht-Existenz Europas hat einen schlichten Grund: Es gibt keine europäische Eingreiftruppe - jedenfalls noch nicht; vielleicht kommt sie inwird Kürze. auch mit einersich solchen militärischen Komponente die Und Europäische Union niemals selbst, geschweige denn andere vor den Gefahren des massenmörderischen Terrorismus schützen können. Darüber täuscht Europa sich gerne hinweg: Ohne die militärische Hegemonie der USA wäre die Sozialromantik der europäischen Versöhnungspolitik schnell ausgeträumt. Die Übermacht der USA hat auch ihre innereuropäische Ursache, und zwar im kollektiven Verzicht auf Gewaltmittel. Erst dann, wenn dieser Mangel eingesehen und behoben wird, wird eine Außenpolitik der Europäischen auf Union die diesen verdient. Sie wird eine Antwort die möglich, Gretchenfrage nach Namen der Autorität gemeinsamer Institutionen verlangen. Eine europäische Außenpolitik wird es nur dann geben können, wenn die Hauptstädte erkennen, daß Kompetenzen nach Brüssel abzugeben sie nicht schwächt, sondern stärkt, weil diese politische Wendung den Einfluß aller EU-Staaten in der Welt vergrößert. Daß globale Gefahren transnationale Gemeinsamkeiten stiften können, ist auf diesem Weg ein notwendiger Antrieb. Umwelt- und Friedensaktivisten zehren davon in besonderer Weise - und erleben es als irritierend, daßvom der US-Militär Anspruch, die Weltprobleme lösen zu jetzt können, ausgerechnet erobert wird: Das Pentagon hat die Legitimationskraft der Weltprobleme entdeckt und versucht nun, daraus Nutzen zu ziehen. Mit und in der Weltrisikogesellschaft ist eine autonome Quelle der weltpolitischen Legitimation von Herrschaft entstanden. Globale Akteure - Staaten genauso wie advokatorische Bewegungen, nicht zuletzt auch Konzerne können sich darauf berufen, Selbstgefährdungen der Menschheit abzuwehren oder doch diesen entgegenzuwirken. Mit den Wahnsinnsbildern von New York am 11. September 2001 sah sich die militärisch undMenschen wirtschaftlich mächtigste Nation der von der Mehrheit der schockartig, gleichsam per Welt Akklamation ermächtigt, solche Gefahr abzuwenden. Die Militärweltmacht 192
USA erschließt sich im terroristischen Risiko eine Quelle für einen globalen Populismus der Gefahrenabwehr.
5.3 Militärischer Humanismus oder das Paradox der Drohung mit Krieg Der weltweite Konflikt, wie eine Weltordnung, die dem Irak-Krieg folgt, aussehen sollte, wird zwei Prinzipien neu aufeinanderabzustimmen haben: Die Idee der nationalen wird zur Idee der kosmopolitischen Demokratie erweitert und umformuliert werden müssen. Das ist letztlich der einzige Weg, um die Dilemmata der illegal-legitimen Kriege zu mildern. Auch eine kosmopolitische Weltordnung wird auf Gewaltmittel nicht verzichten können. Wenn kosmopolitisches Recht nicht durchgesetzt werden kann, gibt es kein Recht. Es existiert allerdings auch dort kein Recht, wo die Anwendung postsouveräner Gewalt nur national, unter Mißachtung weltöffent licher Legitimitätserwartungen erfolgt. Wir haben es mit einer Quadratur des Kreises zu tun: Wie können Recht, Gewalt und Frieden in einer Zeit globaler Gefahren aufeinanderabgestimmt werden? Der Despot Saddam Hussein, der jahrelang die UNO-Waffeninspektoren an der Nase herumgeführt hatte, hat sich vor dem Einmarsch der Amerikaner vom Saulus zum Paulus verwandelt und den Inspektoren die zuvor verschlossenen Türen geöffnet. Warum? ist die überwältigende legitimiert durch dieEsRepräsentanz des globalen US-Militärmacht, Rechts, die Saddam Hussein keine andere Chance ließ. Hier leuchtet eine Alternative auf zu entweder Krieg oder Status quo, und über diese Alternative wurde bislang nicht systematisch nachgedacht: eine Politik der militärischen Bedrohung, die friedl ich die Welt verändert. Diese Alternative beruht auf der gefährlich abschüssigen Unterscheidung zwischen Krieg und Kriegsdrohung und auf der nicht weniger abenteuerlichen Dialektik, daß mit der Perfektionierung der Krieg sdrohung verbunden werden kann, was
und denAufkläsich ausschließt:Das ein kann despotisches Regime zu Krie g zu vermeiden. man vielleicht alsstürzen »militärische rung« begreifen: Nur das bedingungslose Ausspielen einer multi93
nationalen Militärmacht, die keinen Rivalen kennt, kann - das ist die zentrale Paradoxie - den Einsatz militärischer Gewalt überflüssig machen. Wer beides will - die Welt zu einem besseren Ort umgestalten und den Krieg verhindern -, muß in Wort und Tat die Sprache der kriegerischen Weltverbesserung sprechen, die den Menschen absolut verlogen erscheint. Einerseits also den militärischen Druck beibehalten, andererseits den UNO-Auftrag erweitern auf schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Dann ginge es nicht nur um Waffeninspektoren, auch Amnesty International müßte Zugang zu den Gefängnissen verschafft werden, um die Legitimitätsfrage, die das despotische Regime fürchten muß wie der Teufel das Weihwasser, nach innen und außen aufzuwerfen. Nach innen würde das Regime als despotisch bloßgestellt und nach außen, in der Weltöffentlichkeit würde die militärische Bedrohung legitimiert. Widersprüche dieser »militärischen Aufklärung« liegen auf derDie Hand. Die Kantsche Vernunftidee einer »friedlichen, wenngleich noch nicht freundschaf tlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können«, wird durch die Renaissance der mittelalterlichen Doktrin vom »gerechten Krieg« unglaubwürdig gemacht. Nur eine Kriegsrhetorik und Kriegsstrategie, die sich durch nichts, auch nicht durch ihre Zwischenerfolge, von ihrer Drohgewalt abbringen läßt, kann den friedlichen Regimewechsel herbeiführen. Denn jedes Einlenken, jegliche Komp romißbere itschaft, jedes Wenn und Aber verhindert bei Diktaturen die Einsicht in die Ausweglosigkeit. Je erbarmungsloser die Militärmacht auftrumpft, desto aussichtsloser ist jeder Versuch eines Diktators, eines Tyrannen oder Despoten, sich mit militärischen Mitteln gegen seine Entwaffnung zur Wehr zu setzen, desto wahrscheinlicher also ist, daß dies allein mit der Androhung militärischer Gewalt, also mit friedlichen Mitteln, gelingt. Allerdings fallen die sogenannten »friedlichen Mittel« von Anfang an zusammen mit der unaufhaltsamen Vorbereitung eines Krieges. Ja, ihre mögliche »Friedlichkeit« beruht auf der Erst im nachhinkönnten sieKrieges. ein, Überzeugungskraft wenn es also zu spätdes ist, drohenden sich als »friedliche Mittel« erweisen. Denn es gilt die Paradoxie: Die militärische Eroberung 194
eines von einem Despoten tyrannisierten Landes kann in dem Maße verhindert werden, in dem die militärische Eroberung so sicher wie das Amen in der Kirche ist. Die Hoffnung, daß der Moment, in dem der Krieg beginnt, der Moment ist, in dem der Krieg endet, kann sich allerdings als gefährliche Illusion erweisen. Dieser natürlich höchst fragwürdige »militärische Humanismus« setzt insofern nicht nur die absolute Übermacht, die absolute Politik der Bedrohung und die Einsicht der Despoten in die absolute Aussichtslosigkeit jeglicher Gegenwehr voraus. Er benötigt auch transnationale Koop eration, Mitbestimmung, die prinzipielle Möglichkeit, zu einem verfahrenstechnischen Rechtskonsens zu kommen. (Taktisch mag es nützlich sein, den Übelhaupttätern und den Übelmittätern den Schlupfweg des Exils oder der Amnestie zu eröffnen.) Der Erfolg dieser Drohpolitik hängt erstens davon ab, daß die jeweiligen Diktatoren, gegen die sie sich richtet, schwache Diktatoren sind. Sie verbietet sich beispielsweise gegen Nordkorea, das über Atomwaffen verfügt, ebenso wie gegen China. Zweitens steht und fällt diese Strategie mit der weltpolitischen Isolation des jeweiligen Despoten. Das heißt, eine ausgeklügelte Begleitdiplomatie ist notwendig, um das despotische Regime von jeglicher Koalitionsmöglichkeit zur Gegenwehr abzuschneiden. Drittens ist die Wirkung der Daumenschrauben der Kriegsdrohung um so erfolgversprechender, je mehr das despotische Regime bereits in sich morsch ist, sich also in einer - mindestens latenten - revolutionären Situation befindet. Dann, wenn die Macht der Despotie nur noch am seidenen Faden der verzweifelten Gleichgültigkeit der mehr oder weniger leidenden Bevölkerung hängt, können die Waffen in der Entscheidungssituation leicht die Hände und die Fronten wechseln. Deshalb müssen die Nachbarstaaten, die auf das despotische Regime nach wie vor Einfluß ausüben können, für diese Drohpolitik gewonnen werden. So könnten die internen Eliten dazu ermutigt werden, sich im entscheidenden Moment offen gegen den Herrscher zu stellen. Im Alleingang - das ist glasklar - ist eine solche Drohpolitik schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie durch die weltöffen tlich ausgetragenen, internen Zwei fel und Spaltungen des Westens sich selbst sabotiert und damit in den Augen des Despoten ihren Biß, ihre Effektivität verliert. Nur ein Multi19 5
lateralismus, der auf die kooperative Kraft der Staaten und des Rechts setzt, also auch eine kosmopolitisch eingestimmte Diplomatie, ist in der Lage, den Druck so zu steigern und zu steuern, daß die Erfolgschancen mehr wa chsen als die Risiken. Auch die Zeitpoli tik, die Dosierung von (gespielter) Ungeduld und (verknappter) Geduld, bedarf sorgfältiger Abwägung und Abstimmung. Die Gegenposition der nur Friedfertigen (Europäer) hat einen doppelten Pferdefuß: Sie schützt die Tyrannen und torpediert die friedliche Demokratisierung der Welt mit der Politik militärischer Drohung. Der europäische Protektionismus, der die nationalstaatliche Souveränität heiligt, ist moralisch und politisch problematisch. Man wäscht fast obsessiv seine Hände öffentlich in Unschuld - und übersieht dabei beflissentlich die Schuld, die man dadurch auf sich lädt. Zwei Lehren erteilt der Irak-Kri eg: Erstens, wi r erleben die Paradoxien der Politikder einer militärischen zur Entwicklung und Befriedung Welt; daran wirdBedrohung deutlich, wie schwer es ist, nach dem Krieg auch den Frieden zu gewinnen, wenn der Krieg das Kainsmal illegaler (Il-)Legitimität trägt. Zweitens, die Arbeitsteilung der Weltpolitik, wonach in einem Kriegspoker die Amerikaner den kriegslüsternen Sheriff spielen, die Europäer dagegen die friedensverliebten Richter, funktioniert nicht. Wenn dagegen das kriegerische Amerika einsähe, daß auch die überlegenste Militärmacht nichts nützt, wenn sie sich gegen das Weltrecht stellt, und umgekehrt das unkriegerische Europa auch zur Militärmacht würde, könnte das die atlantische Allianz neu begründen.
Kapitel V Krieg ist Frieden: Über den postnationalen Krieg
In George Orwells Roman 1984 bedient sich das Regime des Großen Bruders der drei Slogans »Krieg bedeutet Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke« (Orwell 1950: 7). Diese Wahlsprüche der alles dominierenden Partei sind »in schönen Lettern in die weiße Front« (ebd.) des Wahrheitsministeriums gemeißelt; sie symbolisieren das »Doppeldenk« als Grundlage allen Handelns, das heißt eine schizophrene Denkweise, in der Worte wie »Frieden« oder »Demokratie« zwei einander ausschließende Bedeutungen haben können. Orwell war zutiefst abgestoßen von den manipulativen Herrschaftsräumen, die das Doppeldenk aufschließt; zugleich scheint ihn fasziniert zu haben, daß sich durch das Doppeldenk die etablierten Gegensätze transzendieren ließen - also, auf die Zweite Moderne übertragen: Kategorien und Institutionen einer postnationalen, kosmopolitischen Ordnung zu kreieren. Jenes gewinnt erst durch dieses seine wirklich beängstigende Bedrohlichkeit: die Gefahr der grenzenlosen Manipulation des menschlichen Daseins durch die Einsicht in die Notwen digkei t neuer Kategorien für eine entgrenzte Welt. Diese Ambivalenz einer Art »Meta-Doppeldenk« liegt diesem Kapitel zugrunde. Das Doppeldenk hat dadurch eine gänzlich neue Dimension gewonnen, daß es sich nun im globalen Rahmen und Raum entfaltet. Auf der einen Seite ist es erschreckend, wie weit es inzwischen in »Ozeanien« fest institutionalisiert und ins Selbstverständnis der Politik und des Alltags abgesunken ist. Wer stört sich noch daran, daß die »Verteidigungsministerien« des Westens Kriege führen oder die »Justizministerien« ihre vordringliche Aufgabe darin sehen, die Menschenrechte systematisch abzubauen? Oder daß die amerikanische Regierung die Werte der Demokratie mit Feuer und Schwert verbreitet, sich dabei jedoch jede Art von Mitsprache anderer Länder und Regierungen verbietet? Auf der anderen Seite erwächst die Gefährlichkeit des globalen Doppeldenk aus 19 7
der Einsicht, daß die kosmopolitische Gesellschaft neuer Institutionen bedarf, um das Zusammenleben in der interdependenten und sich selbst gefährdenden Zivilisation zu gewährleisten und zu regeln. So ist es die Notwendigkeit, das Völkerrecht in seinen Grundlagen zu revidieren, die dem Doppeldenk »Krieg ist Frieden«, »Diktatur ist Demokratie« alle Grenzen öffnet. Orwell begriff schon 1948, daß Faschismus, trotz seiner militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg, durchaus nicht verschwunden ist. Dies kommt in der hellsichtigen literarischen Konstruktion zum Ausdruck, nach der das Regime des Großen Bruders ein »post-rassistisches« ist. Auch Rassendiskriminierung gibt es jenseits von Krieg und Frieden im Empire des Großen Bruders nicht mehr. In den höchsten Rängen der Partei finden sich Juden, Schwarze, Südamerikaner rein indianischer Abstammung. Faschismus ist Demokratie - dieses Doppeldenk möge der Menschheit erspart bleiben. Vielleicht vermag dazu beizutragen, wenn diese dystopische Hölle der Zweiten Moderne nicht aus dem Zukunftsszenario ausgeschlossen, sondern von einem neuen Orwell ausgemalt wird. Damit stellt sich die Frage dieses Kapitels: Inwieweit ist es die kosmopolitische Verantwortung, die Verantwortung, die an nationalen Grenzen nicht endet, die neuartige kriegerische Verwicklungen heraufbeschwört? Dieses Buch führt eine Unterscheidung ein zwischen politischem und analytischem Kosmopolit ismus oder zwischen philosophischem undwarum kosmopolitischem Blick,kosmo um klar zu trennenKosmopolitismus zwischen de r Frage, die Wirklichkeit politisch geworden ist, und der Frage, ob der Ideenschatz des normativen Kosmopolitismus politische Antworten auf die sich selbst gefährdende Zivilisation enthält (siehe Einführung und Erster Teil). Der Begriff des empirisch-analytischen Kosmopolitismus ist - so hoffe ich gezeigt zu haben - fruchtbar, diskutabel, ausbaufähig, offen für klärende Kontroversen. Der normativ-politische Kosmopolitismus dagegen muß sich gleich zu Beginn einer unbequemen Wahrheit stellen, nämlich der Paradoxie, daß die erfolgreiche Institutionalisierung deszukosmopolitischen dem Ziel dient, den Weltfrieden sichern, genau dasRegimes, Gegenteildas heraufbeschwört: die Legitimierung und Legalisierung des Krieges. Ein 198
selbstkritischer Kosmopolitismus muß sich also mit der perversen Vermutung auseinandersetzen, die da lautet: Die Rechtsordnung, die dazu führen soll, die Rechte der Anderen anzuerkennen und zu schützen, trägt dazu bei, daß mit dem Segen des Rechts Kriege »gerecht« und wahrscheinlicher werden. Diese negative »Begründung« des normativ und politisch gewendeten Kosmopolitismus, die den scheinbaren Umweg der Selbstund Ideologiekritik wählt (vgl. Beck 2002 a, Schlußkapitel), soll hier in fünf Schritten dargelegt werden: Erstens werden zwei Weltordnungsmodelle - »Pax Americana« und »globale Kosmopolis« einander gegenübergestellt. Zweitens wird die Unterscheidung von nationalem Staatenkrieg und postnationalem Krieg präzisiert. Dann werden zwei Schlüsselmerkmale des postnationalen Kriegs drittens die Ambiguität von »Menschenrechtskriegen«, viertens die Ambigui tät von »Kriegen gegen den Terrorismus «- entfaltet. In einem fünften Argumentationsschritt werden die nationale, internationale und kosmopolitische Perspektive auf die Modelle der neuen Weltordnung in ihren Konsequenzen durchdacht und miteinander verglichen.
1. Pax Americana oder globale Kos mop olis, Welthegemonie oder Weltrecht Die Hoffnung, daß mit dem Ende von Kriegen zwischen Staaten auch derhat Krieg geheerwiesen. und ein Zeitalter Friedens anbräche, sichzualsEnde Illusion Nicht dasdes Monster Krieg ist besiegt worden, es hat seine Fratze verändert. »Neue Kriege« (Kaldor 2000; Münkler 2002) wurden und werden geführt, und sie fügen den Grausamkeiten, die nicht weniger geworden sind, neue hinzu. Wurden die alten zwischenstaatlichen Kriege irgendwann durch den Sieg einer Seite beendet, so sind die Kriege neuen Typs räumlich und zeitlich entgrenzt. Auch hier gilt das Gesetz reflexiver Modernisierung (Beck/Bonß/Lau 2001; Beck/Lau 2004): Die Grenzen zwischen den scheinbar anthropologisch gesicherten Dualen - Krieg und Frieden, Zivilgesellschaft und Militär, Feind und Freund, Krieg und Verbrechen, Militär und Polizei - verwischen sich. Aus dem Verschwimmen der Unterscheidungen folgt: 199
Der »postnationale Krieg« (Beck 2000) ist unberechenbar geworden. Beruhte der klassische Krieg der Ersten Moderne auf dem Gewaltmonopol des Staates, so resultiert die Entgrenzung des Krieges zum einen aus der Entmonopolisierung und Privatisierung organisierter Gewalt - durch Terroristen, Warlords -, zum anderen aus der Globalität der Gefahren und des Menschenrechtsbewußtseins, also nicht zuletzt daraus, daß Staaten sich zusammenschließen, um Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten zu verhindern oder zu beenden. Wir haben es mit einer schwarzen Variante der Zauberlehrlings-Paradoxie zu tun: Die Mittel, die Frieden stiften sollen, begründen und legitimieren neue Formen des Krieges. Zwei konkurrierende Modelle der globalen Sicherheitspolitik im Zeitalter zivilisatorischer Gefahren zeichnen sich ab. Das eine Weltordnungsmodell firmiert unter dem Namen Pax Americana; das alternative Modell kann man als globale Kosmopolis bezeichnen; letzteres meint ein planetarisches, föderales System von Staaten, in welchen nicht die »Sonne« eines Weltstaates regiert, sondern regional-kontinentale, kooperative Staatenbündnisse (Europa, Südamerika, Asien, Afrika, Nordamerika) »Kristallisationspunkte« bilden, die eine Zentralisierung der Macht ermöglichen und ausbalancieren. Vorweg sei bemerkt: Bei allen Gegensätzen sollte man die Gemeinsamkeiten, die häufig verdeckt bleiben, nicht übersehen und nicht unterschätzen: Beide Weltordnungsmodelle variieren das Prinzip globaler Verantwortung; entsprechend plädieren sie dafür, durch Wort und Tat die alte völkerrechtliche, nationalstaatliche Souveränitätsordnung aufzuheben mit dem Ziel, »humanitäre Interventionen« zu ermöglichen. Die Unterschiede zwischen Pax Americana und globaler Kos mopolis beruhen auf zwei sich ausschließenden Ordnungsmodellen: Herrscht, was die zwischenstaatlichen Beziehungen betrifft, dort das Prinzip der Hierarchie, so herrscht hier das Prinzip der Gleichheit - der Kooperation - vor. Im System der Pax Americana wird davon ausgegangen, daß es gravierende Ungleichheiten zwischen Staaten - »Wir«,repräsentiert, die westlicheauf Staatengemeinschaft, Freiheit undgibt Demokratie der einen Seite, auf die der anderen Seite verfallende Staaten, Diktaturen, der Kooperation mit 200
Terroristen verdächtige »Schurkenstaaten«. Angesichts dieser Weltlage ist das Postulat der Gleichheit aller Staaten aus amerikanischer Sicht schlechterdings unrealistisches Wunschdenken. Amerika ist qualitativ anders, militärisch und moralisch dem Rest der Welt überlegen, »einzigartige« Weltmacht. Die hier aufleuchtende Unterscheidung zwischen dem »Realismus« der Amerikaner und dem »Idealismus« der Europäer spielt im amerikanischen Selbstverständnis sowohl in der Politik als auch in der Politikwissenschaft eine Schlüsselrolle (Robert Kagan 2003). Das Prinzip der Kooperation, das der globalen Kosmopolis zugrunde liegt, besagt: Amerika mag zwar die mächtigste Nation der Welt sein, aber das ist nur ein quantitativer Unterschied. Die Vereinigten Staaten sind prinzipiell »gleich«, höchstens primus inter pares. Hier wird das Modell der bürgerlichen Gesellschaft, in dem die Idee der Gleichheit herrscht, zur »bürgerlichen Weltgesellschaft« nach außen und ins Globale gewendet. Die von Tocqueville allen Amerikanern bescheinigte Gleichheit wird auf das Verhältnis der Länder und Staaten projiziert. Entsprechend läuft die Pax Americana (wenigstens mittelfristig), zugespitzt gesagt, darauf hinaus, daß die Vereinigten Staaten die Vereinten Nationen ersetzen. In diesem Sinne erklärt US-Präsident George W. Bush die US A zur Hoffnung der Welt. In einer Welt, die nicht länger durch den ideologischen Gegensatz von Kommunismus und Kapitalismus gespalten ist, aber immer interdependenter und gefährlicher wird, sind die Bedrohungen des Friedens diffus und unübersichtlich Um diese zu bekämpfen, es notwendig, insbesonderegeworden. die militärischen Kräfte der Welt zuist bündeln und sie auf die neuen Gefahren auszurichten. Eine Prämisse lautet: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat eine neue Ära begonnen, weil die globale atomare Bedrohung nicht länger existiert. Damit eröffnet sich für die USA die historisch einmalige Chance, ein internationales System des Friedens und der Fairneß zu schaffen, das auf den amerikanischen Werten der Freiheit und Demokratie beruht. Denn die einzige Macht, die diese neue Weltordnung durchsetzen und garantieren kann, ist der Welthegemon USA (Speck/Sznaider 2003). Damit die USA dieseund Rolleausfüllen innerhalb einer radikal ungleichen Staatenwelt übernehmen können, müssen sie sich von alten und neuen Fesseln befreien. Zu diesen 201
gehört das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten sowie alle internationalen Verträge und Institutionen, die den Welthegemon rechtlich fesseln und die Mitsprache anderer Staaten verlangen. Mit der einzigartigen Aufgabe wird gerechtfertigt, daß die USA zentralen internationalen Verträgen die Unterschrift und die Unterstützung verweigern; dazu gehören das Abkommen über die Nichtweiterverbreitung von chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen; das Herunterspielen des Sicherheitsrates, der auf seine ursprüngliche Funktion einer globalen Mutter Teresa zurückgestutzt werden soll; auch im Internationalen Gerichtshof - einer konsequenten Fortsetzung des amerikanischen Kosmopolitismus nach dem Zweiten Weltkrieg - beansprucht die »einzigartige« Weltmacht ein VetoRecht. Diese Selbstbefreiung Gullivers von den Fesseln internationaler Verträge und Institutionen wird als Ausdruck der Entschlossenheit gefeiert, die notwendig ist, to make the world a better place, oder, in der Sprache Wilsons: the world must be safe for democracy. In der Konsequenz dieser hegemonialen Rolle liegt es, daß zwei weltweit äußerst umstrittene Prinzipien verfochten werden: erstens das Prinzip der präventiven Verhinderung von Rivalen; zweitens das Prinzip der präventiven Kriegführung. Wenn die einzige Hoffnung der Welt eine auf Dauer gestellte Pax Americana ist, dann schließt dies ein, daß die USA niemals erlauben dürfen, daß ihrer Übermacht die Stirn geboten wird. Dementsprechend heißt es indie dermilitärische »NationalenMacht Sicherheitsstrategie Vereinigten daß der USA stark der genug sein muß,Staaten«, um potentielle Rivalen davon abzuhalten, ihr Paroli zu bieten. Zugleich wird argumentiert - ist es notwendig, angesichts der diffusen Gefahren des Terrorismus, präventiv militärisch zu intervenier en. Die neue Entschlossenheit der US-Administration zeigt sich also nicht zuletzt darin, daß sie für sich das Recht beansprucht, das Verbot von Präventivkriegen zu brechen, eine Basisregel, die das internationale Rechtssystem mit de m Ziel erarbeitet hat, bewaffnete Konflikte einzudämmen. Seine Geltung reicht zurück zum Völker1
bund, dem Kellogg-Briand-Pakt , liegt der Charta der Vereinten 1 Dieser Pa kt wur de 1928 zwischen den USA und anderen Mächten gesch lossen 202
Nationen zugrunde, wurde wiederholt von der UN-Vollversammlung bestätigt. Diese Verbotsnorm macht die von den USA für sich beanspruchte »präventive Selbstverteidigung« illegal. Eine solche militärische Definition der Weltlage schließt ein, daß die Rollen der Akteure, der Staaten und internationalen Organisationen, beispielsweise der Nato und der Europäischen Union, neu ausgehandelt und ausgerichtet werden müssen. Das territoriale Selbstverständnis der Nato, ihre Bindung an einen Angriff auf die europäischen Staaten, muß aufgehoben werden, um den wachsenden Gefahren, die aus der internationalen Anarchie, dem Chaos zerfallender Staaten und aus der Privatisierung der Gewalt entstehen, entgegentreten zu können. Die Nato-Staaten sollen umrüsten und »fit« gemacht werden, um für die Weltturbulenzen, die sich aus den ökonomischen Disparitäten zwischen Zentrum und Peripherie, Norden und Süden speisen, ebenso gerüstet zu sein wie für Gewaltausbrüche und Terrorismus, die das Zusammentreffen von Armut, religiöser Intoleranz, Rassenhaß und Amerikafeindlichkeit sowie ethnischen Staaten und Bürgerkriegen auslöst. Das alternative Weltordnungsmodell der globalen Kosmopolis beruht demgegenüber, wie gesagt, auf dem Gleichheitsprinzip der Staaten und betont entsprechend die Bedeutung des Welt(bürger)rechts - auch gegenüber dem Welthegemon USA. Die globale Kosmopolis soll schrittweise verwirklicht werden durch eine entsprechende Reform des Völkerrechts und der internationalen Organisationen, insbesondere der Vereinten Nationen, nach den Prinzipien eines kosmopolitischen Regimes, das auf der Anerkennung der Andersheit Anderer, insbesondere multipler Modernen beruht; darauf wäre ein Weltrecht abzustimmen, das verfahrenstechnisch Mitbestimmungsmöglichkeiten der kontinentalen Machtbündnisse ebenso vorsieht wie ihre Verpflichtung auf ein gemeinsames Handeln. Das schließt beispielsweise so etwas wie eine vetofreie U N O ein, die als globales Parlament fungieren könnte, ausgestattet mit einer ständigen militärischen Friedenstruppe und fähig, eine weltweite Abrüstung durchzusetzen. Die widersprüchlichen Prinzipien von Vertikalität und Horizontalität spiegeln sich in der Tat in den Gegensätzen zwischen Pax und ächtet den Angriffskrieg; er wurde auch in den Nürnberger Prozessen zur Anklage gegen die Elite von Nazi-Deutschland verwendet. 203
Americana und globaler Kosmopolis: globaler amerikanischer Unilateralismus auf der einen Seite, Multilateralismus auf der anderen Seite; Abbau versus Ausbau des Weltrechts; Schwächung widerspricht Stärkung der Vereinten Nationen usw. Damit sind die wechselseitigen Diskriminierungen vorgezeichnet: Diejenigen - sagen wir ruhig Eur op äer-, die eine erstarkte U N O wolle n, lassen die notwendige Entschlossenheit vermissen, ihnen fehlt die Bereitschaft, sich den erbarmungslosen Fakten einer am Rande des Abgrunds balancierenden Welt zu stellen. In den Augen der anderen droht die Hegemonialmacht USA zum »Kriegsverbrecher« zu werden, der im Inneren wie im Äußeren die Werte, die er verkündet Demokratie und Freiheit -, verrät. Was das Verhältnis der zwei Weltordnungsmodelle zueinander so kompliziert und damit auch zu einer unerschöpflichen (und unerquicklichen) Quelle transnationaler Mißverständnisse macht, sind zum einen die Schwächen beider Modelle: In der Pax Americana verschwindet die »civil society«, in der globalen Kosmopolis dagegen die Politik. Die einen wollen »Politik« zum Grundsatz der neuen Weltordnung machen, die anderen die »Gesellschaft der Gleichen«. Europa als Verfechter des globalen Kosmopolitismus steht (ungewollt?) als Hüter eines Status quo da, der alles andere als erhaltenswert ist. Die US-Regierung dagegen trifft autonom die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, entpuppt sich als »Weltrevolutionär«, der mit militärischen Mitteln die Globalisierung der Demokratie verspricht und verficht. Zum anderen erhebt sich die Frage, ob beide Modelle sich tatsächlich ausschließen. Daß zwischen diesen Visionen einer neuen Weltordnung ein unerbittliches Entweder-Oder herrscht, kann sicherlich ausgeschlossen werden. Wie weit die Gegensätze reichen und wo die Gemeinsamkeiten beginnen, hängt gewiß auch davon ab, wie prinzipi ell oder wie pragmatis ch die Positionen verfocht en werden. Was im Sommer 2003 beispielsweise die Situation des Iran betrifft, könnte Europa die Vereinigten Staaten »für eine gemeinsame, realistische Iran-Politik gewinnen, für die sich auch manche Politiker der Regierung Bush einsetzen: eine Politik, welche die Realitäten des Iran zur Kenntnis nimmt, um sie zu ändern« (Kermani 2003: 3). Allgemein gesagt, hängen die Gemeinsamkeiten der zwei Weltordnungsmodelle davon ab, wie »realistisch« die Euro204
päer und wie »idealistisch« die Amerikaner bereit sind zu werden. Im übrigen: Gegensätze sind kein Verbrechen, im Gegenteil notwendige Bedingungen einer globalen Liberalität, einer offenen kosmopolitischen Gesellschaft. Dies gilt um so mehr, als eine neue heterogene »globale Klasse« (Skiair 2001) (bestehend aus europäischen und außereuropäischen Regierungen, den Militärs und der US-Administration, aber auch Akteuren der globalen NGOs, transnationalen Experten internationaler Organisationen usw.) damit beschäftigt ist, den sich selbst gefährdenden Globus neu zu ordnen. In der alltäglichen (Welt-)Politik konkurrieren verschiedene Fraktionen der »globalen Klasse« darum, wie für die Weltgesellschaft das erreicht werden kann, was früher die Eliten für den Nationalstaat leisteten: eine wohlgeordnete Gesellschaft zu schaffen. Daß dies ohne Alternative, ohne Opposition abläuft, wäre eine Horrorvorstellung.
2. Über den postnationalen Krieg Die postnationalen Kriegsformen der Zweiten Moderne bedeuten nicht, daß der klassische Krieg zwischen Staaten abgeschafft ist. Vielmehr entstehen neue, nämlich postnationale Kriege zusätzlich, neben den fortbestehenden »alten« Kriegen zwischen Staaten. Es kann sogar nicht ausgeschlossen werden, daß postnationale zu nationalen Kriegen und damit sogar zu neuen Formen von Weltkriegen kulminieren. Für die Zwecke der historischen Klassifikation ist es allerdings erforderlich, analytisch zwischen alten und neuen Kriegen, Staatenkriegen und postnationalen »kriegerischen Interventionen« für humanitäre Zwecke oder als Prävention gegen terroristische Attacken klar zu unterscheiden. Das klassische Kriegsrecht legt die Unterscheidungen zwischen Krieg und Frieden, Feind und Verbrecher, Soldat und Zivilist fest und definiert auf diese Weise den Typus des Staatenkrieges der nationalstaatlichen Ersten Moderne. Wie Carl Schmitt (1963) betont, drückt sich darin auch der Respekt vor dem Feind aus, der als solcher Krieg anerkannt wird: Der ist Feind und nicht Staaten, Verbrecher. Der ist demnach eineFeind Angelegenheit zwischen der von staatlich organisierten Armeen geführt und beendet wird. Im205
mer wieder wurde kritisiert, der formalisierte, geregelte Krieg sei eine besondere Scheußlichkeit, weil das geregelte Abmetzeln feindlicher Soldaten nicht dadurch besser oder geläutert würde, daß es bestimmten Regeln gehorcht. Bei aller Brutalität und organisierten Unmenschlichkeit beruht der durch das Kriegsrecht »gehegte« Staatenkrieg eben auf der wechselseitigen Anerkennung der leitenden Unterscheidungen: Infolgedessen werden die Optionen der enthemmten Brutalität, die die Moderne bereitgestellt hat, wenigstens versuchsweise eingeschränkt. Es gibt einen Anfang und ein Ende, es gibt Grenzen dessen, was erlaubt ist; es gibt politische Ziele, und es gibt Friedensverhandlungen, die den Krieg besiegeln: Die Büchse der Pandora klemmt, kann nicht ohne weiteres sperrangelweit aufgerissen werden.2 Was kennzeichnet demgegenüber postnationale Kriege? Das Verflüssigen und Verflüchtigen der Basisunterscheidung, die den nationalen Staatenkrieg konstituieren. An die Stelle des EntwederOder tritt ein Sowohl-als-Auch - sowohl Krieg als auch Frieden, sowohl Polizei als auch Militär, sowohl Verbrechen als auch Krieg, sowohl Zivilist als auch Soldat. Insbesondere an zwei Phänomenen tritt gegenwärtig diese grenzenübergreifende und grenzenmischende Postnationalität des »Krieges« hervor: der Verteidigung der Menschenrechte auf fremdem Boden sowie dem Versuch, das globale Terrorrisiko mit militärischen Mitteln zu minimieren und staatlich zu kontrollieren. Wie läßt sich der Kosovo-»Konflikt« einordnen, bei dem die Nato (ohne UN-Mandat, aber mit Zustimmung der europäischen und amerikanischen Bevölkerung der undMehrheit Regierungen) Bombenangriffe flog, um ein Genozid in Jugoslawien zu verhindern? Handelte es sich um einen »Krieg« im Sinne eines Staatenkrieges? Um einen »Friedenskrieg«, der ein Verbrechen gegen die 2 Der Kri eg Nazi-De utschla nds im Osten trug bereits die Merkmale des Vernichtungskrieges, der Enthemmung. Der Krieg gegen die Juden und andere Minderheiten im Osten markiert schon die Auflösung des alten Staatenkrieges. Entsprechend gewinnt die kosmopolitische Erinne rung an den Holocaust (Levy/Sznai der 2001) eine paradigmatische Bedeutung. Der Zweite Weltkrieg war gleichzeitig beides, es hing von der Front und dem Feind ab, ob die für Staatenkriege geltenden Unterscheidungen und elementaren Rechte geachtet oder mißachtet wurden. Auch die Bombardierung der Zivilbevölkerung und die Debatte darüber in der Gegenwart gehörten hierher. 206
Menschheit stoppen, also Frieden stiften sollte, wo Bürgerkrieg wütete? Handelte es sich um einen »Polizeikrieg«, weil die Nato als Weltpolizist Ordnung stiftete ? Handelte es sich um einen »AntiKrieg«, der den Vernichtungskrieg beendete, den ein Staat, der seine Bürger schützen soll, gegen einen Teil derselben hinter den Mauern der Souveränität und mit dem Anspruch auf Nichteinmischung anderer Staaten führte? Tatsächlich kommt der postnationale Krieg mit dieser Implosion klassischer Unterscheidungen auf die Welt. Alles, was die Nato-Angriffe auf Jugoslawien so verwirrend (il-)legitim macht, kann leicht zur Normalisierung einer neuen Art des Krieges werden. Postnational ist dieser Krieg - und damit nicht mehr in der Clausewitzschen Begrifflichkeit zu fassen -, weil er weder im nationalen Interesse - »die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« - ausgetragen wird noch aus alten Rivalitäten mehr oder weniger verfeindeter Nationalstaaten heraus verstanden werden kann. Es ist vielmehr die kosmopolitische Verantwortung, die die totale Verpflichtung von Staaten innerhalb nationaler Räume und die totale Entpflichtung jenseits nationaler Grenzen aufhebt, die postnationale Kriege ermöglicht. Menschenrechte müssen über nationale Souveränitätsgrenzen hinweg garantiert und durchgesetzt werden, auch innerhalb einzelner Staaten und möglicherweise gegen deren Widerstand. Was klassische Staatenkriege ermöglichte, nämlich die unbegrenzte Souveränität souveräner Staaten, verunmöglicht die Durchsetzung des Menschenrechts. Nur wenn das Prinzip der staatlichen Souveränität eingeschränkt wird, kann dem Menschenrecht gegen das von der Regierung gebrochene Staatsbürgerrecht Geltung verschafft werden. Das Rechtssubjekt des kosmopolitischen Rechts sind nicht länger nur Staaten, sondern Individuen, deren Rechte von überstaatlichen Instanzen gegen »souveräne« Staaten geschützt werden müssen. Die daraus entstehenden »Post-Kriege«, postnationalen Sowohl-Kriege-als-auchnicht-Kriege brechen mit der nationalstaatlichen Staat-gegen-StaatKriegsordnung der Ersten Moderne. Die nationalstaatliche Logik wird natürlich nicht automatisch außer Kraft gesetzt. So hat am 26. Juni 2003 der Bundesgerichtshof in Karlsruhe Klage von vierin Geschwistern abgewiesen, deren Eltern im Junieine 1944 in Distomo Griechenland von SS-Soldaten erschossen wurden. Insgesamt erschoß die SS dort im Juni 1944 218 20 7
Männer, Frauen und Kinder als Rache für einen Angriff von Partisanen. Die Abweisung der Klage der Geschwister wurde damit begründet, daß nach dem seinerzeit geltenden Völkerrecht nur Staaten, und nicht Privatpersonen, Anspruch auf Reparationen wegen Kriegsverbrechen haben. Das BGH beurteilte den Fall nach der 1944 geltenden Völkerrechtsprechung.3 Anhand dieses Urteils stellt sich auch die Frage, wo Kriegshandlungen enden und Folter von Zivilisten beginnt - eine wesentliche Unterscheidung, die angesichts der Gefahr, die von transnationalen Terrornetzwerken ausgeht, leicht verwischt werden kann. Der nationale Blick oder, wissenschaftlich gewendet, der politikwissenschaftliche Neorealismus versagt, weil er das neue, weltgesellschaftliche Machtspiel nicht begreifen kann. Wer glaubt, der Weltpolizist Nato oder USA täusche seine Rolle nur vor, um im Pulverfaß des Balkans oder der arabischen Welt uramerikanische wirtschafts- und geopolitische Machtinteressen zu verfolgen, verkennt nicht nur die Lage, er übersieht auch, wie sehr die Menschenrechtspolitik (ähnlich wie die Durchsetzung der »freien Marktwirtschaft«) zur Zivilreligion, zum Glauben der Vereinigten Staaten an sich selbst geworden ist. Im übrigen gilt: Das eine schließt das andere nicht aus. Die Verteidigung der Menschenrechte auf fremdem Boden kann sehr wohl mit geostrategischen, wirtschaftspolitischen und hegemonialen Interessen verquickt werden. Es entsteht eine neuartige, postnationale Politik des militärischen Humanismus. Der Typus des postnationalen Krieges auch werden von anderen Kriegsgründen, mitmuß denen wirunterschieden uns parallel konfrontiert sehen. Mary Kaldor (2000), in ihrem Gefolge Erhard Eppler (2002), Herfried Münkler (2002) und viele andere analysieren in diesem Zusammenhang die Privatisierung der Gewalt. Diese kann man als eine radikalisierte Neoliberalisierung des Staates, genauer: des staatlichen Gewaltmittelmonopols, ansehen. Wo Staaten im europäischen Sinne nie entstanden sind oder zerfallen, ist Gewalt nie staatlich monopolisiert oder privatisiert worden. Derartige prä- oder poststaatliche Kriege speisen sich nicht etwa, wie meist unterstellt wird, aus uralten ethnischen Rivalitäten, sondern aus ei3 Aktenzeichen: III ZR 24 5/98 vom 26. Jun i 2003. 20 8
nem »Bürgerkriegs-Markt«, auf dem die Preise und Gewinne für den Kauf und den Einsatz privatisierter Gewalt festgelegt bzw. ausgehandelt werden. (Paul Collier 2003) Es handelt sich also bei dem, was hier »postnationaler Krieg« genannt wird und was als »Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt« (so der Titel von Erhard Eppler 2002) analysiert wird, um durchaus verschiedenartige Krisen staatlicher Gewaltorganisation und -anwendung. Die These des Gewaltmarktes trifft wesentlich auf Weltzonen zu, in denen staatliche Strukturen noch nicht oder nicht mehr existieren, nicht jedoch auf hochentwickelte westliche Staaten. Dort, wo die staatliche Ordnungsmacht (aus welchem Grund auch immer) nicht (mehr) besteht, kann die Leitidee der Staatsbildung als Vorbild dafür dienen, was zu geschehen hat, damit der Zustand frei fluktuierender Gewalt und daraus entstehender Kriegsgefahren überwunden werden kann. Hier ist es also die Rezeptur der Ersten Moderne, die Abhilfe verspricht. Im Falle postnationaler Kriege sind es dagegen dieSiege hochentwickelter Staatlichkeit und die Siege der kosmopolitischen Empathie und des Menschenrechtsregimes, die »Weltpolizei-Kriege« vom Zaun brechen. Dies gilt auch für den »Krieg« gegen den Terrorismus. Die terroristische Gewalt ist zwar eine Extremform der Privatisierung der Gewalt. Sie folgt aber nicht dem Gewinnprinzip oder dem Marktprinzip; sie dient nicht der persönlichen Bereicherung der Terroristen oder der Befriedigung ihrer privaten Haßgelüste, so sehr letzteres Motiv der Attentäter und die Antriebskraft ihre Taten ist. das Es besteht ein kategorialer Unterschied zwischenfür dem nationalen Terrorismus der Ersten Moderne und dem transnationalen globalen Terrorismus der Zweit en Moderne - auch wenn diese Dif ferenz im konkreten Fall sich oft verwischt. Weder ist der Islam als solcher terroristisch, noch ist der transnationale Terrorismus notwendigerweise auf den radikalen Islam beschränkt. Vielleicht sind der radikale Islam, wie er von dem ägyptischen Denker Sayvid Outh vertreten wird, und das Al-Qaida-Netzwerk, das diese Ideenwelt umsetzt, nur der Ursprung, und diese Pest greift auf andere und Weltregionen über. ImWeltreligionen Zentrum radikal-islamischer Kritik des Westens, wie sie von Outh vorgetragen wird, steht die Vorstellung, die moderne west209
liche Gesellschaft sei durch eine spirituelle Leere gekennzeichnet. Ironischerweise wird dabei übersehen, daß die USA, die als Gipfel des teuflischen Westens gilt, eine der religiösesten Gesellschaften der Welt sind. Gleichzeitig werden in dieser Kritik des Westens Anleihen bei westlichen Ideen, insbesondere dem europäischen Anarchismus, gemacht. Es handelt sich also - ohne daß dies hier in die Einzelheiten hineinverfolgt werden kann (siehe dazu Gray 2003) keineswegs um eine Revolte der Tradition gegen die Moderne, sondern um eine moderne Anti-Moderne - sowohl was die Ideen als auch die Wahl der Terrormittel betrifft. Gerade aus der bewußten Verbindung von Moderne und Anti-Moderne - man denke nur daran, wie mit der Attacke auf das World Trade Center die Massenmedien zur Weltbühne des Terrors gemacht wurden - speisen sich das Erfolgsre zept und die Neuartigkeit der Verb indung der Terrorwaffe mit dem radikalen Islam und der Transnationalität (im Unterschied etwa zum Terrorismus der nordirischen IRA). Nationaler Terrorismus, national oder ethnisch motiviert, ist dagegen auf die Gründung eines eigenen nationalen oder ethnischen Staates gerichtet (so ist sein Erfolg definiert). Terror-Eliten von heute sind möglicherweise die Regierungschefs und Minister von morgen. Dieses Alles-oder -nichts-Spie l, diese Karriere aus der Illegalität in die Legalität, von der Verfügung über die terroristische Gewalt zur Verfügung über das staatliche Gewaltmittel monopol ist Teil der alten, nationalen terroristischen Motivation und Ideologie. dies trifft auf Tätergruppen den transnationalen Terrorismus à la AI Qaida nurAlles bedingt zu. Die und ihre »Hintermänner« sind weder territorial noch staatlich fixiert und motiviert, sie kämpfen nicht für einen eigenen Staat. Auch das macht sie unfaßbar. Das, was seit dem 11. September 2001 die Menschheit erschüttert, ist ein diffuser politischer Terrorismus, der sich gegen die Grundlagen der modernen Gesellschaft und Staatlichkeit, symbolisiert durch die USA und die Kathedrale der Weltwirtschaft, das World Trade Center, richtet. Dieser Terrorismus kann n icht me hr- wie der Gewaltmarkt in den Ruinen der Staatlichkeit - durch den Aufbau eines Staates aus der geschafft werden. Vielmehr wird in dieFrage Leitidee des Staates als Welt Garant der Sicherheit wirkungsvoll gestellt. 210
Einerseits gewinnen die Terrorattentate aus den Merkmalen, die sie kennzeichnen, ihre Bedeutung; andererseits aus den Merkmalen der hegemonialen Staatsmacht, gegen die sie sich richten. Angesichts der massenmedialen Schreckensbilder der beiden Zivilflugzeuge, die, von Selbstmördern in menschliche Raketen verwandelt, die Zwillingstürme des World Trade Centers in Flammen aufgehen ließen, war der amerikanische Präsident George W. Bush im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Handelte es sich um ein Verbrechen? Um ein zweites Pearl Harbor? Wer ist zuständig, die Polizei, das US-Militär, die Nato? Es wurde - wie in Pearl Harbor - keine Militärbasis bombardiert. Es handelte sich auch nicht um den Angriff eines Staates auf einen anderen. Die Akteure trugen keine Uniform, die Drahtzieher sind ung ewiß, haben keine Adresse. Ers t als aus dem Munde des Präsidenten das Wort »Krieg« fiel - »Amerika ist der Krieg erklärt worden« -, wurde aus der Terrorattacke erstens ein politischer Terrorismus und zweitens ein globaler Terrorismus - auch wenn Amerika bis heute diesen »Feind« nicht als Feind (im Sinne des Kriegsrechts), sondern als rechtlose Verbrecher gegen die Menschheit verfolgt. Mag sein, daß zu Beginn die Rede vom »Krieg« gegen den Terror noch metaphorisch gemeint war (wie der »Krieg gegen Armut« oder gegen »Drogen«), Je mehr jedoch der »Krieg« gegen den Terror zum militärischen Krieg, zum Staatenkrieg verengt wurde, wurde der schwer faßbare Terror zum globalen Terrorismus weltpolitisch aufgewertet. Gleichwohl versagen die Kontrollmittel des Welthegemons trotz der einzigartigen militärischen dieser terroristischen Bedrohung. BeruhtÜberlegenheit die Macht desangesichts Staates nach innen wie nach außen doch auf der Logik der Abschreckung, die letztlich mit der Todesdrohung und Todesfurcht spielt. Diese Art von Terroristen aber kann man nicht abschrecken: Soll man Selbstmördern mit dem Tode drohen? Der Einsatz staatlicher Machtmittel setzt die Verfügung über ein Territorium oder die Eroberung eines solchen voraus. Dieser Terrorist jedoch verfügt gerade über kein Territorium, ist auch nicht, wie der Staat, mit einem solchen verwurzelt, also staatsfrei, also überall und nirgends präsent - ein schlechter Ansatzpunkt für militärische Abschreckung und Interventionen. Eine Antwort auf postnationale Kriege läuft darauf hinaus, diese 211
wie klassische Staatenkriege zu behandeln und anzunehmen, daß die kriegerischen Fraktionen, wenn nicht Staaten, so doch QuasiStaaten repräsentieren, um auf diese Weise zum einen die Überlegenheit der militärischen Gewaltmittel zur Geltung zu bringen, zum anderen eine Verhandlungslösung »von oben« herbeizuführen. Beispiele dafür sind die Abkommen von Dayton (in dem Bosnien-Hercegovina »befriedet« wurde) und von Oslo (mit dem der Frieden zwischen Israelis und Palästinensern eingeleitet werden sollte). Die Alternative dazu ist, das ethnische Gemetzel innerhalb »souveräner Staaten« zu ignorieren, also wegzusehen, Mauern zu errichten und sich in den Fiktionen einer nationalen Weltordnung protektionistisch einzurichten. Nur zuzuschauen, ist allerdings schon deswegen schwer möglich, weil Flüchtlingsströme, transnationale Kriminalität, die Diaspora-Gruppen im eigenen Land und nicht zuletzt der transnationale Terrorismus diese Wunschgrenzen längst aufgehoben haben.
3. Krie g ist Frieden: Menschenrechtskriege Menschenrechte bilden eine europäische Quelle von Konflikten. Und doch ist ein überzeugender Widerspruch oder Widerstand gegen die moralische und politische Leuchtkraft des Menschenrechtsregimes schwer vorstellbar. In der Berufung auf die Menschheit und ihre Rechte liegt ein Anspruch, dem sich niemand entziehen Wer wollte leugnen, einMenschenrechte Mensch zu sein?weltweit Und ist es nichtkann: dringender denndenn je, elementare gegen eklatante Verletzungen zu schützen? Mehr als drei Milliarden Menschen - ungefähr die Hälfte der Weltbevölkerung - kennen keinen Schutz ihrer Rechte, ja noch nicht einmal den Anspruch darauf; entsprechend sind alle Arten von Verletzungen an der Tagesordnung. Dazu gehören Folter, Genozide, ethnische Säuberungen, Massenexekutionen, spurloses Verschwinden, politischer Mord, Gewalt gegen Kinder, Vergewaltigung, Menschenhandel, Sklaverei, illegale Gefangenschaft, illegale Behandlung von Flüchtlingen, Asylsuchenden und-handel, Migranten, Mord an Behinderten, gewaltsamer Organraub und Ausbeutung von Prostitution, und nicht zuletzt das massenhafte Ster-
ben, das auf dem Teufelskreis aus Armut, Hung er und Krankheiten beruht. Alle Analysen bestätigen diesen Befund: Die Verletzung fundamentaler Rechte nimmt zu. Auch die Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, werden nicht weniger, sondern mehr. Es beginnt sogar eine neue Tauschlogik zu gelten: Augen zu angesichts von Menschenrechtsverletzungen. Die Terrorgefahr verdrängt die Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen der politischen Verbündeten. Im Banne der Terrorgefahr hat sich ein rechtsfreier Raum gebildet, der erlaubt, was noch vor kurzem ausgeschlossen schien, daß nämlich ein doppelter Freibrief im Wechselverhältnis der Staaten ausgestellt wird: Jeder kann seine heimischen Feinde als »Terroristen« mit dem Segen der Staatengemeinschaft bekämpfen, und die Menschenrechtsverletzungen von Verbündeten werden mit Diskretion übergangen und dadurch ermöglicht. Was macht das Menschenrechtsregime so machtvoll? Was sind seine ungewollten, aber gleichwohl revolutionären »Nebenwirkungen« ?
3.1 Das Menschenrechtsregime wird zu einem Gegenbegriff, der die gespaltene Welt in ihrer Vielfalt bejaht und dadurch neue Hoffnung und Handlungsmöglichkeiten eröffnet Im Glauben an die irdische Religion der Menschenrechte ist man weder noch Franzose, weder Citoyen nochnoch Bourgeois, weder Deutscher Christ noch Moslem, weder Beschnittener Unbeschnittener, weder Mann noch Frau, weder von farbiger noch von weißer Hautfarbe. Alle Positionen der Negation der Individuen der ethnischen, Kasten-, Klassen-, Religions- oder Geschlechtsunterschiede - werden aufgehoben in der Gleichheit der Grundrechte aller Menschen. Die Menschenrechte träumen den Traum einer neuen, humanen Weltordnung: Alle Bevölkerungen, Staaten, Religionen, ethnischen Gruppen können vereint leben unter dem Gesetz gewordenen Menschenrecht. Letztlich handelt es sich dabei um ein uraltes, auf die Philosophie der Stoiker zurückgehendes Prinzip, das bereits im Zeitalter des römischen Empires zur Politik oder wenigstens zur politischen Ideologie wurde. 213
In diesem Sinne moduliert der normativ gewendete kosmopolitische Blick alle Dualismen, die die Menschheit physisch, räumlich, zeitlich, geistig oder ideologisch gegliedert und gespalten haben. Die Differenz zwischen den ontologisch Verschiedenen und den im Menschenrecht anerkannten Anderen wird aufgehoben. Es entsteht der reflexive Mensch, derjenige, der die Vielfalt menschlicher Existenzformen genießen kann, weil er sich seines Menschenrechts gewiß ist. Gemäß dem stoischen Modell des Kosmopolitismus kommt es zur Zweipersonenlehre von Mensch und (Staats-)Bürger. Auf diese Weise durchdringt der Menschenrechtsdiskurs die ganze Welt. Es kommt zur Anverwandlung der Gegensätze und Unterschiede, ja zu ihrer symmetrischen Bejahung. Dabei sollte man berücksichtigen, daß auch die Menschenrechte einen moralisch-totalitären Zug tragen: Letztlich gibt es kein Pardon, keinen Kompromiß: Entweder man bricht sie, oder man bricht sie nicht. Die Konsequenz oder seien die Absicht - ist,das daß nicht mehr die -Macht eines wir odervorsichtiger: mehrerer Staaten, sondern Recht bestimmt, was den Frieden konstituiert. Am Ende wurde kriegerische Weltpolitik durch Weltrecht ersetzt; wie im Rahmen des Nationalstaates die Kombination von Gewaltmittelmonopol und Rechtsstaat Bürgerkriege, so könnte das Menschen- und Weltbürgerrecht die zwischennationalen Weltbürgerkriege einhegen, wenn auch nicht ausschließen. Zugleich kann dies jedoch zur Zunahme kriegerischer Auseinandersetzungen führen.
3.2 Die Logik des Rechts und der Verträge hat im Felde der Weltinnenpolitik ein fundamentales Doppelgesicht: sie zivilisiert Staaten und entbändigt sie zugleich von den nationalen Fesseln der Macht und Gewalt Das Menschenrechtsregime führt ein neues Dual ein, nämlich die Unterscheidung zwischen Gruppen und Regionen, in denen das Menschenrecht gilt, und solchen, in denen es nicht, noch nicht (oder nicht mehr) gilt. Diese Weltenunterscheidung erzeugt permanente Zentr um und Peripherie, No rden und Süden,Spannungen christlichenzwischen und muslimischen Ländern, Demokratien und Diktaturen. Der Gegensatz zwischen Menschenrechten und Men214
schengruppen bezieht sich auf Räume, kann also re-territorialisiert werden in Form von Anforderung an Staaten, sich von nationalen zu kosmopolitischen Staaten zu wandeln, nämlich ihre vornehmste Aufgabe darin zu sehen, nach innen die Menschenrechte und den Reichtum der kulturellen Vielfalt zu schützen und zu pflegen und nach außen zur Garantie der Menschenrechte in anderen Ländern beizutragen. Zum Gradmesser dieser inneren Kosmopolitisierung der Staatenwelt wird es, wie weit die dem entgegenstehenden Begriffe der Ersten Moderne entessentialisiert werden. So wird der Nationalist zum Neo-Nationalist, der sich gegen die entessentialistische Zumutung der Menschenrechte abschottet oder zur Wehr setzt. Auch der Nicht-Menschenrechtler ist in die Menschenrechtsordnung eingebunden. Die Verfolgung von Staaten und Gruppen, die Menschenrechte mit Füßen treten, ist gerecht, nicht dagegen die Verfolgung Menschengruppen Staaten, dieAsymmetrie die Menschenrechte gegenvon andere durchsetzen. Esund entsteht eine der Gegensätze: Nicht die Ablehnung der Menschenrechte, sondern nur ihre vorbehaltlose Anerkennung und Verwirklichung legitimiert Staaten, in andere Staaten zu intervenieren. Diese neue Asymmetrie erlaubt, je nach Lage, »MenschenrechtsKreuzzüge«: Das »Jüngste Gericht« wird menschenrechtlich säkularisiert, und zwar in der Form allgegenwärtiger, möglicher »humanitärer Interventionen«. Durch einen Vorgriff auf die globale Geltung der Menschenrechte wird das in Gang gesetzt, was heute noch als ausgeschlossen wird. Auf diese Weise Fremdverpflichtung zur angesehen globalen Selbstverpflichtung, die wird Men-die schenrechte sowie die Basisregeln der Demokratie zu achten. Die verinnerlichten Wertmaßstäbe destabilisieren potentiell und aktuell die despotischen Regime, und zwar von innen, aber eben auch von außen. Letztlich besitzen jedoch alle Staaten nicht länger das legitime Gewaltmittelmonopol, weil die Legitimität und Legalität der Gewaltanwendung unter den Vorbehalt gestellt werden, die Menschenrechte als höchstes Gut zu achten.
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3.3 Das Menschenrecht ermächtigt Ohnmächtige innerhalb von Staaten und setzt ohnmächtige Staaten dem militärischen Zugriff mächtiger Staaten aus Max Weber hatte die Legitimität politischen Handelns nur auf den Binnenbereich bezogen. hebt die Grenzedes vonStaates innen und außenDas auf Menschenrechtsregime und fragt nach der Legitimität staatlichen Handelns sowohl im Inneren als auch im Außenverhältnis der Staaten zueinander. Letztlich wird eine nur innerstaatliche, nur nationale Legitimation ausgeschlossen und ein neues Sowohl-als-Auch eingeführt: Staatliches Handeln gewinnt seine Legitimität erst in der inneren (nationalen) und äußeren (zwischenstaatlichen) Zustimmung, wobei im Außenverhältnis andere Kriterien gelten als im Innenverhältnis, aber ergänzend spielen im Verhältnis zwischen den Staaten Menschenrechte eine zunehmende Rolle. Das Menschenrechtsregime erzeugt eine Menschenrechtsgeographie, die eine neue Machtgeographie begründet, und zwar wiederum innerhalb von Staaten und zwischen Staaten: Innerhalb von Staaten ermächtigt es ohnmächtige Gruppen und drangsalierte Minderheiten und Personen; zwischen Staaten ermächtigt dieses Regime mächtige Staaten, jenseits der territorialen Souveränitätsordnung zu intervenieren. Aber selbst angesichts dieser neuen Hierarchie von moralisch und militärisch hochgerüsteten Kreuzritter-Staaten und den Underdog-Staaten fällt es schwer, sich der moralischen Schwerkraft des Menschenrechtsregimes zu die entziehen. Löst doch der Widerstand dagegen den Verdacht aus, alten Freiräume sollten für die Drangsalierung der eigenen Bevölkerung verteidigt werden - was oft genug auch stimmt. »Wir werden weiterhin gegen jede Untergrabung unserer Souveränität auf der Hut bleiben, nicht nur, weil die Souveränität unsere letzte Verteidigungslinie gegen die Regeln einer ungerechten Weltordnung darstellt, sondern auch, weil wir weder an den Entscheidungsprozessen des Sicherheitsrates, noch an der Kontrolle ihrer Umsetzung beteiligt sind«, erklärt der algerische Präsident Bouteflika und verweist aufHilfe die auf großen Fragen, unbeantwortet bleiben: »Wann hört die und fängt die die Einmischung an? Wo ist die Grenze zwischen humanitärer, politischer und wirtschaftlicher Interven216
tion? Unterliegen nur schwache und geschwächte Staaten der Einmischung oder gilt das Prinzip unterschiedslos für alle?« (zit. nach Deen 2000) In der Tat verweist der Begriff der »humanitären Intervention« auf eine Grauzone. Die Leitbegriffe einer transnationalen, kosmopolitischen Verantwortung - »Hilfe«, »Schutz der Menschenrechte«, »Sicherung des Friedens«, »Eindämmung von Konflikten«, »Verhinderung von Genoziden und staatlicher Gewalt gegen Minderheiten« usw. - eröffnen die Möglichkeit, unter dem Deckmantel einer kosmopolitischen Mission eigene nationale oder hegemoniale Ziele effektiv und legitim zu verfolgen. Dazu kommt, daß die von solchen Interventionen betroffenen Länder politisch entmündigt werden. Die Crux ist eine doppelte: Auf der einen Seite verliert das Souveränitätsprinzip die uneingeschränkte Geltung, die es in der ersten, nationalstaatlichen selbstverständlich besaß. Auf dervon anderen Seite läuft dieModerne Behauptung der neuen Grenzenlosigkeit Verantwortung darauf hinaus, Staaten selektiv ihrer Souveränität zu berauben; damit zugleich darauf, daß die schwachen und armen Staaten - wenn sie die allgemeine Geltung der Menschenrechte bejahen - den reichen und mächtigen Staaten einen Blankoscheck auf »legitime Intervention« ausstellen. Die kosmopolitische Verantwortung impliziert al so keine generelle Absc haffung von Sou veränität, sondern deren Umverteilung. Die kulturelle, rechtliche, moralische Grenzenlosigkeit begünstigt die Entstehung eines kosmopolitischen Recht- und Gewaltmonopols des Westens. In der Tat stellt Moral-, sich die Schlüsselfrage der Zweiten Moderne, die der algerische Präsident Bouteflika aufwirft: Wie können angesichts der neuen Grenzenlosigkeit von Verantwortung die Gre nzen zwischen Hilfe und Einmischung, zwischen Verantwortung und Entmachtung neu gezogen, begründet und international garantiert werden? Allerdings steht jede dieser Entscheidungen vor einem Dilemma: Intervention wie Nicht-Intervention erzeugen Widerstand und Delegitimierung. Diese fundamentale Ambiguität tritt um so deutlicher hervor, je stärker die Umsetzung des Menschenrechtsregimes voranschreitet. Nicht zu intervenieren, kann den der Ignoranz, der Doppelmoral und der Selektivität nachVorwurf sich ziehen. Umgekehrt löst die Durchsetzung des kosmopolitischen Rechts 217
gegen Widerstände (nicht nur innerhalb des betroffenen Landes, sondern auch der internationalen Gemeinschaft) eine Standardlawine von Imperialismusvorwürfen aus und schürt den Verdacht, den »clash of civilizations« zu forcieren. In dieser Situation bricht immer wieder der Schlüsselwiderspruch hervor: Das Völkerrecht verbietet, das Menschenrecht gebietet die Intervention in andere Länder. Der neue Kosmopolitismus balanciert auf einem schmalen Grat. Das Ziel, internationale Beziehungen zu verrechtlichen und so die kriegerischen Atavismen der Ersten Moderne zu überwinden, wird auf der einen Seite durch Gleichgültigkeit oder Ignoranz gefährdet, auf der anderen Seite durch die Selbstermächtigung der starken Militärmächte, den guten und daher ewigen Krieg zu führen.
3.4nochDienicht Ökonomie des kriegerischen Krieg-FriedensFeuerball oder Warum die Welt zu einem geworden ist Die politische Doppelmoral der interventionistischen Menschenrechtspolitik liegt auf der Hand: Interventionen sind für die Länder und Regierungen, die si e durchführen w ollen oder sollen, kostspielig und riskant. Insofern wird in einer Welt, in der die Garantie der Menschenrechte als Hoffnung verinnerlicht und institutiona lisiert wird, die aber zugleich durch ständige, nach Abhilfe schreiende Menschenrechtsverletzung charakterisiert ist, die Durchsetzung vonEsMenschenrechten nur theoretische selektiv erfolgen. gibt nun allerdingsimmer auch eine Doppelmoral. Diese wird offenkundig, wenn Autoren, die die Existenz postnationaler Kriege leugnen, die sich öffnende Schere zwischen InterventionsVerpflichtung und Nicht-Intervention als Beleg für die (relative) Irrelevanz des Phänomens ins Felde führen. Gewiß verhindert die »Ökonomie des Krieges« (Münkler) einen All-Interventionismus. Und ob es zu Interventionen kommt, hängt auch davon ab, inwieweit das Menschenrechtsregime die Außenpolitik der jeweiligen Staaten bestimmt. Unterstellen wir einmal das best-case-Szenario: Die Kosten des humanitären Krieg-Friedens oder verhindern de facto Interventionen. Neh men wir behindern ferner an, die klassische Rechtsposition, na ch der das Gewal tverb ot (Artikel 2, Ziff er 4 2 18
der UN-Charta) humanitäre Interventionen ausschließt, hat Priorität gegenüber der Praxis des Sicherheitsrates in den neunziger Jahren, die dieser Position widerspricht. Selbst dann ändert dies nichts daran, daß erstens das globalisierte Menschenrechtsregime insbesondere militärisch schwache Staaten, die die Menschenrechte eklatant verletzen, schon heute permanent mit der Interventionsmöglichkeit konfrontiert. Zweitens gilt, daß das Menschenrechtsregime die Außenpolitik mächtiger Staaten, insbesondere der USA, aber auch Europ as, die weltpolitischen Machtverhä ltnisse, tiefgrei fend verändert hat. So wird in dem von den Vereinten Nationen herausgegebenen Report of the Commission on Global Governance die Absicht festgehalten, daß die supranationalen Organisationen nicht nur die wirtschaftliche Globalisierung regulieren, sondern vor allem eine neue Ethik globaler Demokratie und Menschenrechte durchsetzen sollen. Viele mögen das für Wortgeklingel halten. Doch nicht erst die Bush-Regierung, auch bereits die ClintonRegierung hat erklärt, Außenpolitik und Menschenrechtspolitik eng verschmelzen zu wollen: »Die Unterstützung von Menschenrechten ist nicht nur eine Art von internationaler Sozialarbeit. Sie ist unerläßlich für unsere Sicherheit und für unser Wohlergehen, denn Regierungen, die die Rechte ihrer eigenen Bürger mißachten, werden wahrscheinlich nicht die Rechte eines anderen respektieren. In diesem Jahrhundert wurde praktisch jeder größere Akt internationaler Aggression von einem Regime ausgeführt, das politische Rechte unterdrückte. Solche Regime lösen wahrscheinlich auch eher Unruhe aus, indem sie Minderheiten verfolgen, Terroristen Unterschlupf gewähren, Drogen schmuggeln oder im Geheimen Massenvernichtungswaffen bauen« - so die US-Außenministerin Albright der Clinton-Regierung (M. Albright 1998). Das macht die Frage nach der Ökonomie des Krieg-Friedens allerdings nicht weniger wichtig: Wie lange ist die Supermacht bereit, die Risiken und Kosten eines Krieges zu tragen? Oder umgekehrt: Wodurch entsteht der Druck - trotz Kosten und Risiken - zu intervenieren? Warum also kam es zu »humanitären Gewaltanwendungen« in Somalia, im Kosovo und im Kongo, während die nicht minder brutalen etwa im Interventionen Sudan, in Ost-Timor, in Angola, in LiberiaGewaltexzesse oder in Ruanda keine zur Folge hatten? 219
Die Faktoren, die Interventionen auslösen, sind in der Forschung untersucht worden und haben zu einer Reihe von Hypothesen geführt: - Asymmetrie der Macht: Je unterlegener die »Schurkenstaaten«, desto wahrscheinlicher ein Angriff auf sie. Die Durchsetzung des Menschenrechtsregimes setzt voraus und verstärkt die Asymmetrie der militärischen Macht der Staaten. Man tritt, auch hier, nach unten. Insofern ist, umgekehrt argumentiert, die Aufrechterhaltung oder Maximierung der weltpolitischen Asymmetrie die Voraussetzung dafür, daß mächtige Staaten ihre Überlegenheit - und damit auch ihre Bereitschaft zu »postheroischen Siegen« - aufrechterhalten können. Diese Voraussetzung war erfüllt im Ko sovoKrieg, im Afghanistan-Krieg und im Irak-Krieg. - Idealismus-Realismus-Synthese: Eine Intervention, die allein auf moralischen Argumenten beruht, ist ebenso idealistisch wie unwahrscheinlich. Dort, wo der Idealismus der HandlungsMenschenrechte mit dem Realismus dersich Erweiterung staatlicher räume verbindet, wächst die Interventionswahrscheinlichkeit. So lammfromm und menschenrechtsmoralisch sind global handelnde Nationalstaaten wohl kaum, daß ihre kosmopolitische Mission für Menschenrechte und gegen Terrorgefahren sich nicht auch »lohnen«, sprich: national rentieren müßte (durch Ol, geostrategische Vorteile usw.). Das heißt: Die Menschenrechtspolitik ist ein Musterbeispiel dafür, daß und wie Idealismus und Realismus sich ergänzen, verstärken, verschmelzen.
Prinzip des egoistischen Altruismus: Wodurch wird in global- Das engagierten Staaten die Aufmerksamkeit und die Bereitschaft ausgelöst, die Risiken und Kosten einer Intervention auf sich zu nehmen? Die Alarmsirenen schrillen, wenn Menschenrechtsverletzungen die abendliche Tagesschau dominieren und Flüchtlingsströme drohen. (Zangl 2002) Ethnische Gewalt ist ein ansteckender Virus. Entsprechend wächst die Bereitschaft einzugreifen, wenn das Bürgerkriegs-Risiko für die Nachbarstaaten und die Nachbarn der Nachbarstaaten steigt. Mit anderen Worten: In der interdependenten Welt kann ein hemmungsloser Bürgerkrieg leicht zum unkontrollierbaren Bürgerkriegs-Risiko für alle Zerfallen die Staaten, verwischen sich die Grenzen zur werden. organisierten Kriminalität und zum Terrorismus. Früher oder später werden lokale 22 0
Krisen durch weltwirtschaftliche Folgen: Flüchtlingsströme, drohende Terrorattentate - nicht zu vergessen: entsprechende massenmediale Alarmierungen - zu Weltproblemen. -Perspektivenwechsel: Der kosmopolitische Blick wirft die Frage nach der Perspektive derjenigen auf, in deren Land interveniert wird. Das heißt, die Legitimitätsfrage setzt einen Perspektivenwechsel voraus: Die Sicht der Intervenierenden und die Sicht der von der Intervention Betroffenen muß unabhängig voneinander Geltung erlangen: Wie kann die Meinung der von der Intervention Betroffenen in die Weltöffentlichkeit gelangen? Wer repräsentiert diese - die Regierung, die Opposition, die Bürgergruppen, die Exilanten? Wem wird Vertrauen geschenkt? Wer entscheidet, wem Vertrauen geschenkt wird? Zu welchem Zeitpunkt werden sie befragt? Vorher? Bei der Festlegung der Interventionsziele? Nach her? Wie können Verfahren entwickelt werden, dies »kosmopolitisch« zu regeln? - Globalisierungszirkel: Wirtschaftliche Globalisierung schwächt schwache Staaten, leistet deren Zerfall und damit Bürgerkriegen, der Gewaltprivatisierung, der organisierten Kriminalität Vorschub, begünstigt Terrorismus. Dem steht eine begrenzte Bereitschaft zu militärischen Interventionen gegenüber. Die Schere zwischen wachsender Ordnungslosigkeit und den Möglichkeiten globaler Ordnungspolitik öffnet sich immer weiter. Beides: Die Anlässe und die Kosten der Intervention wachsen, womit weder die Wahrscheinlichkeit abnimmt, daß das 21. Jahrhundert ein kriegerisches noch die eine Wahrscheinlichkeit, daß durch die kriegerischen wird, Interventionen friedliche Weltordnung gestiftet wird.
4. Krie g ist Frieden: Anti -Ter rork rieg Auch der Anti-Terrorkrieg ist ein Krieg-Frieden: Es gibt keinen erklärten Anfang und kein erklärtes Ende des »Krieges« gegen den Terror. Damit wird die Trennung zwischen Krieg und Frieden räumlich und zeitlich aufgehoben. Das Anliegen der transnational operierenden Terroristen ist nicht verhandelbar. Umgekehrt Menschenrechtsverletzungen gegenüber Terroristen (Folter,gelten zeitlich unbegrenzte Gefangennahme ohne Gerichtsverhandlung usw.) 22 1
oft nicht als illegal. Verbindliche Grenzziehungen zwischen Verbrecher, Feind und Terrorist fehlen. Das Etikett »Terrorismus« rechtfertigt, ermächtigt Staaten, sich aus den sowieso dünnen und dehnbaren Fesseln des Kriegsrechts zu befreien. Transnational organisierte Selbstmord-Terrornetzwerke setzen einen Dezivilisierungs-Zirkel in Gang. Die moralische Enthemmung, die absolute Inhumanität, die in ihren Attentaten zum Ausbruch kommt, wird leicht mit einer rechtlichen Enthemmung und Dezivilisierung staatlicher Gewalt beantwortet.
4.1 Der Afghanistan-Krieg und der Irak-Krieg waren ein Novum, weil sie historisch die ersten Kriege gegen ein globales Zivilisationsrisiko waren Eine der Kernfragen der Zweiten Moderne lautet: Was begründet die Legitimität der Gewalt in den Zeiten neuer Gefahren? Mit dem transnationalen Terrorismus ist kriegerische Gefahr - solange sie sich nicht in Anschlägen manifestiert - ihrer Sichtbarkeit beraubt, anonym geworden und bezieht nicht zuletzt aus dieser Anonymität ihre Schlagkraft. War die Kriegsgefahr der Ersten Moderne »unmittelbar«, sozusagen dinglich präsent und sinnlich identifizierbar - Uniformen, Aufmarsch der Truppen, die Physis der Waffen und ihrer Zerstörungsgewalt -, so treffen alle diese Merkmale auf den Terror nicht mehr zu. Die globalisierte Terrorgefahr widerspricht insofern den und völkerrechtlichen Definitionsmerkmalen der »Unmittelbarkeit« »Gegenwärtigkeit« der Kriegsgefahr, die den Staatenkrieg der Ersten Moderne vor Augen haben. Deshalb reagieren fast alle Akteure - der Sicherheitsrat, Regierungen, Öffentlichkeiten, Bürgerbewegungen, Journalisten - auf der Grundlage des unbeholfenen, gegenüber den neuen Gefahren historisch blinden Völkerrechts. »Angesichts der Privatisierung der internationalen Gewalt wird die Anwendung des Völkerrechts problematisch, da dieses immer noch auf räumlich und zeitlich konturierbare Konflikte mit staatlichen Akteuren zugeschnitten 4
ist.« (Zanetti 2002) Die Kernfr age der Zweiten Moderne lautet also
4 Die Parallele zu der Unterscheidung zwischen den technologischen und den Umweltgefahren der Ersten und Zweiten Moderne liegt auf der Hand: Wie die 222
präziser: Was begründet die Legitimität der Gewalt in Zeiten neuer Gefahren, wenn die Legalität auf diese Gefahren nicht zugeschnitten ist? Es bietet sich an, diese Frage im Vergleich zwischen KosovoKrieg und Irak-Krieg zu diskutieren. Warum wurde im Kosovo-Krieg der Legalitätsbruch von der Mehrzahl der westlichen Staaten und Bevölkerungen als »legitim« erachtet, also im Konsens vollzogen, während der Bruch des Völkerrechts im Fall des Irak-Krieges die westlichen Regierungen und Bevölkerungen gespalten, die Nato und die Europäische Union in eine Existenzkrise gestürzt hat? Der westliche Konsens im Kosovo-Krieg (der gleichwohl bis heute angefeindet wird) beruhte sicher auch darauf, daß Europa zum Zeugen genozider Greueltaten in Europa wurde. Die Europäer sahen sich demnach mit dem Dilemma konfrontiert, entweder das Völkerrecht oder das Menschenrecht zu brechen, also so oder so schuldig zu werden vor der europäischen Tradition. Beides trifft im Fall des Irak-Krieges nicht zu. Was hier die USA und E uropa unterscheidet, sind eklatante Gegensätze in der Ge fahrenwahrnehmung. Mit den Schreckensbildern des n. September 2001 hat sich die globale Terrorgefahr in die amerikanische Weltsicht eingebrannt. De r Afghanis tan- und Irak-K rieg sind die ersten Kriege gegen ein globales Risiko. Es ist die neue Menschheitsgefahr des nuklearen Terrorismus, die - in den Augen der Amerikaner die Sicherheitslage vor und nach dem 11. September 2001 grundstürzend verändert hat, während die Europäer diese neue Menschheitsgefahr eher hätte für eine Nachausgedem Urteil Amerikas es amerikanische in der Welt vorHysterie dem 11. halten. September reicht, das zu tun, was Frankreich, Deutschland, Rußland, China usw. forderten: Saddam Hussein Schritt für Schritt zu entwaffnen. In der Welt nach dem 11. September dagegen ist dies leichtsinnig und verantwortungslos, weil bereits eine einprozentige WahrKriegsgefahr waren auch die Gefahren und Effekte, die von der Industrieproduktion der Ersten Moderne ausgingen und ausgehen (z.B. Giftstoffe in Gewässern und in der Luft) sinnlich wahrnehmbar, räumlich, zeitlich und sozial begrenzt und zurechenbar, während diese »Unmittelbarkeit«, die sichtbare Präsenz der Gefahr auf die Zweite Moderne gerade nicht mehr zutrifft (exemplarisch dafür war die atomare Verseuchung weiter Teile Ost- und Mitteleuropas nach der Katastrophe von Tschernobyl, die sich der sinnlichen Wahrnehmung entzog, Beck 1986, 1988). 223
scheinlichkeit, daß »böse« Diktatoren wie Saddam Hussein (oder zerfallende Staaten) chemische, biologische oder nukleare Waffen an Selbstmordattentäter weitergeben, unakzeptabel ist, zum militärischen Handeln zwingt. Es droht - in einer solchen Perspektive ein entstaatlichtes, geradezu also sozial atomisiertes Atomzeitalter, in dem die Existenz der Menschheit durch zu allem entschlossene Selbstmordattentäter auf dem Spiel steht. Für die Amerikaner zeichnet sich der Horror des Terrors ab, für die Europäer der Horror des Krieges. In der Tat ist es nicht nachvollziehbar, wie man den Horror des Terrors mit dem Horror des Krieges auszutreiben sucht, ohne die apokalyptische Vision des Ewigen Krieges heraufzubeschwören. Bei den transatlantischen Gegensätzen ist eine Parallele allerdings bemerkenswert: Ebenso wie die Atomkraftgegner bereits die einprozentige Gefahr eines atomaren Gaus für völlig unverantwortbar halten und daher halten die friedliche Nutzung der Atomenergie prinzipiell ablehnen, viele Amerikaner bereits die einprozentige Wahrscheinlichkeit einer terroristischen Nutzung von Massenvernichtungswaffen für absolut unverantwortlich und marschieren daher im Irak ein (mit bestem Gewissen). Ähnlich wie Atomkraftgegner sich auf den »höheren Notstand« berufen, um Gesetze zu brechen (beispielsweise um den Abtransport atomaren Mülls zu blockieren), beruft sich die US-Regierung auf den »höheren Notstand«, die Menschheit vor der Gefahr des ABC-Waffen-Terrorismus zu bewahren, um den Sicherheitsrat zu umgehen und daseklatant: Völkerrecht zu brechen. Selbstverständlich sind die Unterschiede Im Falle der Anti-Atomkraftbewegung führt der Präventionsgedanke dazu, mit friedlichen Mitteln aus der Atomkraft auszusteigen. Wohingegen derselbe Präventionsgedanke im Falle der Terrorgefahr zum militärischen Einmarsch in fremde Länder verleitet. Dennoch haben beide Anti-Gefahrenbewegungen eines gemeinsam: In den Augen von Greenpeace, aber eben auch der Bush-Regierun g rechtfertigt die Abwend ung der Menschheitsgefahr den Bruch internationalen und nationalen Rechts. Wer befreit uns von dem Glitzern in den Augen dieser amerikanischen Terrorismusverdacht doch der mächtigstenWelterlöser? Nation derStellt Weltder einen Freibrief aus, wechselnde Feindbilder zu konstruieren und potentiell überall ihre »innere 224
Sicherheit« mit Militärgewalt auf dem Boden fremder Länder zu verteidigen. Die Amerikaner und die Europäer leben zwar nicht, wie Robert Kagan (2003) behauptet, auf dem Mars und auf der Venus. Aber sie leben gleichwohl in anderen Welten. So absolut sicher sich viele Amerikaner der »Wirklichkeit« der ABC-Waffen-Terrorgefahr sind, so felsenfest überzeugt sind viele Europäer von den Menschheitsgefahren, der drohenden Klimakatastrophe, des gentechnisch manipulierten »Frankenstein-Food« usw. Gefahren, das lehrt ihre sozialwissenschaftliche Erfo rsch ung, sind und werden real, weil sie »in the eye of the beholder« existieren. Wirklichkeit und Wahrnehmung der Gefahr sind schwer zu trennen. Schärfer: Es gibt letztlich keine »Objektivität« der Gefahren unabhängig von ihrer kulturellen Wahrnehmung und Bewertung. Die »Objektivität« einer Gefahr besteht und entsteht wesentlich aus dem Glauben an sie. Diesewie »Objektivität« muß sich im Fall Atomkraftgefahr ebenso im Fall der Atomterrorgefahr im der weltöffentlichen Diskurs »erweisen«, und sie muß durch globale Informationen und Symbole in die Köpfe und Herz en der Menschen eingebrannt werden. Wer an eine bestimmte Gefahr glaubt, lebt in einer anderen Welt als der, der diesen Glauben nicht teilt. Der Spaltpilz im westlichen Bündnis, an dem die Nato zu scheitern droht und der die Europäische Union in ihren Grundlagen verändert, wurzelt zumindest auch in der Leugnung bzw. Anerkennung von Gefahren, die dem einen existentiell, dem anderen hirnrissig, pathologisch, wissenschaftsfeindlich usw. erscheinen.
4.2
In der Wechselwirkung von Katastrophe und Gefahr entfaltet der Terrorismus seine politische Kraft
Der Terrorismus operiert mit einer Unterscheidung zwischen Gefahr und Katastrophe. Ohne die brutale Evidenz der Katastrophe bleibt die Gefahr immer nur mehr oder weniger wahrscheinlich. So hat beispielsweise eine Expertenkommission Präsident Bush wenige vor den Terroranschlägen in New York undDiese WashingtonWochen diese vorhergesagt und in ihren Folgen ausgemalt. Warnung wurde als »zu hypothetisch«, also völlig unglaubwürdig, 225
in den Wind geschlagen. Nach dem nationalen und globalen Schock sind allerdings die Wirkungen der Terrorgefahr, das heißt die wahrgenommene Bedrohung durch vermutete, noch nicht eingetretene Terrorakte, plötzlich allpräsen t. Die Katastrophe ist örtlich, zeitlich und sozial fixiert, sie hat einen klaren Anfang und ein klares Ende. Dies alles zeitlich gilt fürund die sozial Gefahrunbegrenzt. nicht. Diese räumlich, Dieentfaltet Gefahr ihre reichtWirkung so weit, wie die geglaubte Gefahr reicht. Dies wiederum hängt wesentlich davon ab, wie die Massenmedien die drohende Gefahr transportieren und inszenieren. Entscheidend ist diese mit der Unterscheidung von Katastrophe und Gefahr verbundene Einsicht: Es gibt nicht nur die Wirkung der Katastrophe, also das menschliche Drama, das Ausmaß der physischen Zerstörung, die sich in der Zahl der Toten, der Verletzten, der Höhe der Versicherungsschäden usw. niederschlägt, sondern auch eine weltweite Gefahr,Erst die in (wie Folgen des 11. September zeigen)Wirkung die Welt der verändert. derdie Wechselwirkung von Katastrophe und Gefahr entfaltet also der transnationale Terrorismus seine politische Kraft. Dabei ist doch evident: Die Terroristen sind gar nicht in der Lage, Amerika zu zerstören oder zu erobern. Die Risikowahrnehmung und ihre Folgen jedoch entscheiden darüber, wie der Kampf gegen den globalen Terrorismus geführt wird. In diesem Sinne entsichern, entfachen die Terroristen die zivilisatorische Gefahrenphantasie. Das ist ihr Weg zum Sieg. Das Spielmaterial, mit real und imaginärdas dielatent Atmosphäre vergiften, entnehmen siedem demsie Gefahrenpotential, oder gezielt in der entfalteten Zivilisation allpräsent ist oder sich abzeichnet. Die alten, konventionellen Massenverni chtungswaffen - atomare und chemische Sprengköpfe - sind in dem Wissen und in den Ressourcen, die ihre Herstellung und Anwendung voraussetzen, lokalisierbar und insofern staatlich kontrollierbar, monopolisierbar, so daß eine eigenständige Produktion durch nicht-staatliche Terrornetzwerke praktisch ausgeschlossen werden kann. Dies gilt jedoch nicht für die sich abzeichnenden Technologie-Sprünge: Nanotechnologien und deren Verschmelzung. Hier ist es möglich Gentechnologien - wie die Pionieresowie dieser technischen Neuerungen öffentlich warnend bekennen -, daß Praktiker und Nutzer funktional äquiva226
lente »Bomben« und pestähnliche Krankheitsviren erzeugen und in Umlauf setzen oder zumindest damit drohen können. Entsprechend wird das Kriegsmonopol der Staaten aufgehoben, der Krieg individualisiert. Jeder, jede kann, wenn er oder sie die Bereitschaft mitbringt, ihre Ziele mit der Waffe des eigenen Lebens zu verfolgen, Staaten den Krieg erklären. Hannah Arendt hat die Unterscheidung zwischen Gewalt und Macht vorgeschlagen und daran die These geknüpft, daß Macht nicht aus Gewalt entsteht, daß vielmehr Gewaltanwendung Macht, sprich: Zustimm ung, Konse ns, voraussetzt. Diese Einsicht gewinnt hier eine neue Bedeutung: Nicht auf Gewalt, sondern auf Macht beruht die überlegene Handlungsfähigkeit von Staaten. Stützt sich deren Macht doch letztlich darauf, daß die Todesdrohung ein probates Mittel ist, um mögliche Täter von ihren Taten abzuschrecken. Nur wenn die Überlegenheit militärischer Gewalt zusammentrifft mit der Todesfurcht, läßt sich staatliche Gewalt in staatliche verwandeln. Die Bereitschaft, sein eigenes Leben als Waffe Macht einzusetzen, entschärft die Gewaltmittel des Staates gegenüber Terroristen, trotz ihrer unendlichen Überlegenheit, und ermächtigt die Terroristen. Verstärkt wird diese Entmächtigungs-ErmächtigungsDialektik dadurch, daß Terroristen nicht auf die überlegene Militärmacht zielen, sondern auf die universelle Verwundbarkeit der letztlich unschützbaren Zivilgesellschaft. Mit der Zerstörung des Urvertrauens in die Sicherheit des Unsichtbaren werden Angst und Schrecken verbreitet. Die Zivilgesellschaft wird im Glanze ihrer Freiheit zur Geisel des Terrors.
4.3
Die neue Herr-Knecht-Dialektik von Staat und Terror: Zur politischen Konstruktion der Terrorgefahr
Wer in soziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive den Terrorismus verstehen und erforschen will, muß zwei Fragen zueinander in Beziehung setzen: Erstens: Aufgrund welcher Bedingungen und vor welchen kulturellen Hintergründen entsteht der Wasalsist»menschheitliche der Resonanzboden, aus Selbstmordterrorismus? dem heraus die tödliche Zweitens: Terrorwaffe Gefahr« wahrgenommen wird. Ich beschäftige mich hier vor allem 22 7
mit der zweiten Frage, die auf die soziale und politische Konstruktion der Terrorgefahr zielt. Um sie zu beantworten, ist es sinnvoll, weiter zu unterscheiden: zum einen zwischen Terrorattentaten und Terrorismus, zum anderen zwischen Terrorismus und Staat. Die Terrorattentate beziehen
Katastrophe, Gefahr. sich Terrorismus auf diegesagt: Terrorismus auf unddie Staat verweisen der aufeinander; genauer Die Macht des Terrorismus wird nicht zuletzt durch die Macht des Staates bestimmt, gegen den er sich richtet. Zweifellos sind es nur die Terrortaten und Terrornetzwerke, die den Terrorismus zu einem globalen gemacht haben - seine Inhumanität, nicht die neue Sozialkategorie des mit westlichen Mitteln operierenden Selbstmordterroristen, nicht sein Haß und nicht sein religiöser Fundamentalismus. Der Machtaufstieg - vom Terror zum Terrorismus zum globalen Terrorismus - ist allerdings wesentlich bedingt durch die globale MegaMacht des Staates, gegen er These sich richtet. An einem einfachen Gedankenexperiment magden diese verdeutlicht werden. Man stelle sich vor, nicht das World Trade Center und das Pentagon, sondern der Eiffelturm, das Brandenburger Tor, das Britische Parlament und der Kreml wären durch gekidnappte, in lebende Raketen verwandelte Passagierflugzeuge in Flammen aufgegangen: Wäre dann ein »Krieg gegen den Terrorismus« ausgerufen worden? Hätte dann die Na to den Bündn isfal l erklärt? Wären dann die USA und ihre Alliierten in Afghani stan einmarschiert, um bin Laden zu fangen? Wäre es zum zweiten Irak-Krieg gekommen, um den Terroristen Zugriffauf aufdiese Massenvernichtungswaffen abzuschneiden? Dieden Antwort Fragen ist zwangsläufig spekulativ. Aber vieles spricht für ein Nein. Wenn man dieses Nein akzeptiert, liegt die Schlußfolgerung nahe: Dann wäre der Terror nicht zum Terrorismus und zum globalen Terrorismus aufgestiegen, sondern ein europäisches Problem geblieben. Durchaus fraglich ist, so ließe sich weiter spekulieren, ob dann überhaupt die Terrorattentate systematisch Staaten zugerechnet worden wären. Handelt es sich bei dieser Kausalzurechnung doch um eine Aufwertung des Terrors zum globalen Terrorismus. Viele Gründe sprechen dafür, daß die
Individuen, des entpolitisierende Zurechnung aufKonstruktion die Terrors bis vorweltdem 11. September 2001 die politische politisch entschärft hatte, im europäischen Kontext beibehalten 228
worden wäre. Als europäisches Problem wäre der Terrorismus wohl auch in der europäischen Tradition des Terrors und seines Nihilismus interpretiert und politisch beantwortet worden. Sind es nicht der Angriff auf den Welthegemon sowie die Tatsache, daß die supermächtige Militärmacht USA sich in ihrem Urvertrauen in sich selbst getroffen sieht, die die transnational operierenden Terroristen zu einer Ar t irregulärem Gegenhegemon befördert haben? Attentaten, die die Geschichte zuvor gesehen und durchlitten hat, insbesondere den Terrorakten in Europa, in Rußland, in Israel, fehlt dieser kulturelle, militärische und politische Resonanzboden. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik und der Dialektik von Staat und Terrorismus. Die Herr-Knecht-Dialektik führt, zu Ende gedacht, zum Umsturz, zur Umpolung der Herrschaftsverhältnisse: Der Knecht herrschtsich über Wohingegen die Staat-TerrorisErmächtigung durch mus-Dialektik in den einerHerrn. wechselseitigen Entmächtigung entfaltet. Beide stellen einander existentiell in Frage und erweitern dadurch wechselseitig ihre Machträume. Das läßt sich zunächst vom Blickpunkt des Staates aus zeigen. Die Unterscheidung zwischen Feind und Feindbild ist hierbei wesentlich. Die Unfaßbarkeit des Terrorismus erzwingt und ermöglicht Feindbild-Konstruktionen, die nicht länger von der physischen Faßbarkeit staatlicher Feinde eingeschränkt wird. Die Verschmelzung der Begriffe »Feind« und »Terrorismus« hat neue strategische Optionen eröffnet. Terroristische Feinde sind zugleich zivile und militärische, staatliche und nicht-staatliche, territoriale und nicht-territoriale Immer-und-überall-Feinde - im Inneren wie im Äußeren, sie sind, in einem Wort, interpretationsoffen. Mit ihrer Hilfe lassen sich die klassischen Feindbilder des Staatenkrieges zugleich flexibilisieren und radikalisieren. Ebenso wie Betriebe translokal produzieren, können Staaten militärisch orts- und staatsunabhängig wechselnde Feindbilder produzieren. Nicht die Kriegserklärung des Feindstaates, sondern die eigenmächtige Erklärung des »bedrohten« Staates bestimmt, wer der (nächste) Feind ist und mitdes militärischen Interventionen rechnen muß. zum DieseterroFlexibilisierung Feindbegriffs und seine Radikalisierung ristischen Feind ermöglicht mächtigen Staaten also 229
- erstens den universellen Einsatz von Waffengewalt zur Selbstverteidigung; die wechselseitige Feinddefinition wird durch eine einseitige ersetzt; - zweitens versetzte »Selbstverteidigungskriege« gegenüber Staaten, ohne von diesen angegriffen worden zu sein; - drittens Institutionalisierung des Ausnahmezustandes im Inneren und die im Äußeren; - viertens die Entrechtlichung nicht nur der internationalen Beziehungen, sondern auch des eigenen sowie fremder Rechtsstaaten. Selbstmordterroristen setzen in diesem Sinne eine Dialektik von Ohnmacht und Allmacht in Bewegung: Ihre Taten repräsentieren die Macht der Ohnmächtigen, aber sie zeigen umgekehrt der Allmacht ihre Grenzen auf. Selbst die mächtigste Militärmacht der Welt, die mit ihrer absoluten Überlegenheit alle Staaten der Welt in Schach zu halten weiß, gegenüber Anschlägen von Selbstmordterroristen in ist gewisser Weisemöglichen ohnmächtig. Es ist nicht nur die katastrophale Tat, sondern die massenmedial transportierte Gefahr, die den Terror zum Terrorismus steigert und ermächtigt. Die geglaubte Terrorgefahr verwandelt sich in eine ökonomische Gefahr. Die Kosten, die dadurch entstehen, daß die Konsumenten das Vertrauen verlieren, können bei weitem die Kosten übert reffen, die durch Terrorattentate verursacht werden. Der Terrorismus kennt keine Grenzen, heißt: Die möglichen Terrortaten richten sich (potentiell) gegen alle,und alle werden aktuell oder potentiell zu Zuschauern des Grauens. Terror als wlokale nationale Tat wird zum Terrorismus entgrenzt, sowohl as dieoder O pfer als auch was die Zuschauer betrifft. Daß Fernsehzuschauer nicht Opfer sind, sich nicht mit den Opfern identifizieren müssen, daß also neue Begrenzungen der entgrenzten Terrorgefahr möglich sind (beispielsweise dadurch, daß die Opfer renationalisiert werden Amerikaner oder Israelis: sind sie nicht selbst Schuld?), ist zwar richtig. Aber die Einzäunung des unbegrenzten Terrorismusverdachts bleibt abhängig davon, daß keine Terrorattentate im eigenen, nationalen Erfahrungs- und Erwartungsraum einschlagen. kann sogar Die Entgrenzung dermit Betroffenheit liegt in Man den Händen dersagen: Terroristen. Diese haben der Wahl ihrer Opfer-Staaten, Opfer-Zivilgesellschaften ihr Machtpotential noch 230
nicht ausgeschöpft. Nicht die physische Zerstörung bestimmter Infrastrukturen oder militärischer Ressourcen allein ist ihr Erfolgsmittel, sondern die Verallgemeinerung des Schreckens, der seinerseits einen Selbstlauf der Selbstschädigung der Wirtschaft, der Selbstdrosselung der Freiheit, der Selbstgefangennahme der Zivilgesellschaft auslöst. Wie die USA Richter, Polizist und Henker in einem zu sein beanspruchen, so sollen sie auch zum Selbstbezwinger ihrer Werte und Freiheiten gemacht werden. Es ist die Perfektionierung der »Judo-Politik« im Weltmaßstab, die mit den Methoden des Terrors praktiziert wird.
4.4
Die Terrorgefahr und ihre Folgen: Die Zertrümmerung sozialer Strukturen
Fünfzehn bewaffnete Selbstmordterroristen genügten, mit um Teppichmessern den Welthegemon zu einem Selbstverständnis als Opfer zu drängen. Dabei muß, wie gesagt, klar zwischen Terror und Terrorismus, Katastrophe und Gefahr, lokalen Taten und globalen Wirkungen der geglaubten, entgrenzten Gefahrenwahrnehmung unterschieden werden: Wirtschaftszweige leiden oder brechen zusammen (Flugzeugbranche, Tourismus, Aktienkurse, Versicherungen), Länder und Regierungen geraten in den Verdacht, den Terrorismus zu unterstützen, und damit in das Fadenkreuz möglicher militärischer Interventionen (»Achse des Bösen«), Das Völkerrecht zerbrechen. Neuesich müssen geschmiedet werden. veraltet. Urzivile Allianzen Gesellschaften verwandeln in Angstkulturen, in denen die Grenze zwischen berechtigter Furcht und Paranoia nicht mehr klar zu ziehen ist. Summa summarum: Nicht die physische Zerstörung, sondern die politische Explosivität der zum globalen Terrorismus avancierten Attentate zertrümmert die sozialen Strukturen und schmilzt diese um. Der Terrorismus hat die Grundlagen der internationalen Politik verflüssigt: Die Allianzen der Zukunft, heißt es, wüchsen aus den drängenden Fragen von morgen, nicht aus den Blöcken und Institutionen von des gestern. Hat die Nato sich überlebt? Wird Bündnis in die Rolle Weltpolizisten schlüpfen müssen, umdas sich zu erneuern? Nationale und globale Sicherheitspolitik werden zugleich 231
entgrenzt und verschmolzen. Die deutsche Bundeswehr beispielsweise wird von der »Landesverteidigung«, die das Grundgesetz vor- und festschreibt, umgerüstet und umorientiert für globale Einsätze zur kooperativen Terrorbekämpfung oder zur Fortsetzung globaler Sozialarbeit mit militärischen Mitteln. Anders gesagt: Die Macht um.Terrorismusgefahr schreibt weltweit die Geographie der
5. Ratlos e Utop ien: Di e neue Weltordnu ng im Gegensatz der Perspektiven Die Unterscheidung, die ich in diesem Kapitel eingeführt habe, zwischen konventionellem Staatenkrieg, der wenigstens im Prinzip auf klaren Abgrenzunge n zwischen K rieg und Frieden, Po lizei und Militär, Militär und Zivilgesellschaft und dem neuen Typus des postnationalen Krieges, der dieseberuht, Abgrenzungen aufhebt und ein Orwellsches Sowohl-als-Auch - Krieg ist Frieden - schafft, enthält eine unbequeme Wahrheit: Die Begriffe eines emanzipatorischen und eines politischen Kosmopolitismus sind verwoben mit dem Begriff eines despotischen Kosmopolitismus. Der Nationalismus hat im Horror des 20. Jahrhunderts die Fratzen des Monsters gezeigt, in das die nationalstaatliche Moderne die Menschen zu verwandeln vermag. Sollte dies, in abgewandelter Form, nun auch für die Epoche der Zweiten Moderne gelten, die mit der Anerkennung der Andersheit derdes Anderen das moralische undkosmopolitisches politische Katastrophenpotential Nationalismus durch ein Regime zu zügeln und zu zivilisieren verspricht? Ist es vielleicht sogar gerade die kosmopolitische Verantwortung, also die Sorge, die über nationale Grenzen hinweggreift, die die Orwellsche Dystopia eines manipulativen »Krieg-Friedens« globalisiert? Was bedeutet die Formel von der »Übergangszeit« zwischen Erster und Zweiter Moderne für die Zukunft der Nationen? Die Hoffnung, nach dem Ende der bipolaren Ordnung entstünde ein kosmopolitisches Weltidyll und die Nationen würden sich unter dem Baldachin internationalen Rechts dieder Hand zum des friedlichen Miteinander reichen, ist zerfallen. Nicht Frieden Rechts, sondern die offene, entgrenzte, molekulare Gewalt bildet zum Be232
ginn des dritten Jahrtausends die Signatur der entstehenden Zweiten Moderne. An die Stelle des Kalten Krieges sind Terror und Krieg gegen den Terror, Menschenrechtskriege getreten. Es hat sich eine Falle der doppelten Erpressung aufgetan: Wenn du gegen humanitäre Interventionen bist, dann bist du für ethnische Säuberungen, für Verbrechen gegen die Menschheit; wenn du jedoch gegen ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschheit bist, dann mußt du den neuen »Krieg-Frieden« des »militärischen Humanismus« gutheißen. Gibt es einen alternativen Weg zwischen dem Horror nationaler Staatenkriege, den wir kennen, und dem sich abzeichnenden Horror postnationaler Kriege, den wir ahnen? Was ist die Alternative zu einer Pax Americana? Eine globale Kosmopolis? Wie sähe diese aus, und wie kann verhindert werden, daß die neue Weltordnung einer globalen Kosmopolis die Normalisierung des Krieges mit anderen Mitteln betreibt? Droht permanenterWie Krieg für eine permanenten Frieden? Dann lautet die ein Schlüsselfrage: müßte Weltordnung aussehen, die einerseits die Quellen der Gewalt austrocknet, andererseits realistisch die imperiale, despotische Instrumentalisierung kosmopolitischer Wert- und Rechtsprinzipien ausschließt? Die These dieses Abschnitts ist: Es ist entscheidend, von welchem Standpunkt aus diese Fragen beurteilt werden - (1) dem nationalen Blick und (2) dem global-nationalen Blick einerseits, (3) dem kosmopolitischen Blick andererseits. Die erste und die zweite Position meinen die Fraktion der selbstbewußten Realpolitiker einmal einmal mit globaler Perspektive. Die dritte- steht fürmit die nationaler, Gegenposition der selbstkritischen Kosmopolitiker. Was wird im Scheinwerfer dieser drei Einstellungen jeweils wie ausgeblendet und ausgeleuchtet? Welche kurzfristigen und langfristigen Kritikmöglichkeiten erö ffnen sich? Wie wird das Spannungsverhältnis von Menschenrecht und Sicherheit, globaler und nationaler Macht und Gewalt jeweils ausbalanciert? Welche Zukunftsperspektiven für eine neue Wert- und Weltordnung für die gespaltene eine Welt werden dadurch jeweils eröffnet?
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Der nationale Blick und die präventive Irrelevanz der neuen Weltordnung Der nationale Blick entstammt der und verteidigt die Denkwelt der Ersten Moderne, betrachtet und bewertet die mit dem Menschenrechts-Interventionismu s und Gef ahregelangten n des globalen Terrorismus auf die Tagesordnung der den Weltpolitik Dilemmata aus dem ungebrochenen Glauben an die »Denknotwendigkeit« der nationalstaatlichen Axiomatik von Gesellschaft und Politik. Es lassen sich zwei Varianten, eine globalisierte US-amerikanische (dazu später) und eine europäische unterscheiden. Die in Europa dominierende Position beruht auf der Unfähigkeit oder Unwilligkeit, zwischen Wandel und Meta-Wandel zu unterscheiden (Beck/Bonß/ Lau 2001). Alle Erschütterungen, alle Katastrophen, alle Umstürze und Zusammenbrüche, aber auch alle Aufbrüche, die sich in der zweiten des 20. Jahrhunderts ereignet mit haben, ebenso die Qualität Hälfte von Interdependenzen und Gefahren, denen sich die internationale Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert sieht, sind, so diese Einstellung, mühelos in die Axiomatik von national und international integrierbar. Alles ändert sich zwar dauernd und radikal, aber bleibt letztlich doch so, wie es ist und war. Diese Erwart ung des immer gleichen Wandels läßt sich zuspitzen zu dem Prinzip der Vorher-Nachher-Indifferenz von historischen Ereignissen: Die weltpolitische Lage wird auch nach dem historischen Ereignis X so bleiben, wie sie vorher war. Für das Ereignis X kann man den des 11. September 2001 einsetzen, ebenso den Zusammenbruch Warschauer Paktes. Doch aber für den methodologischen Nationalismus schmilzt die Vorher-Nachher-Differenz gegen Null. Die Logik der Unterscheidung von national und international und mit ihr alle Prämissen von Staat und Politik, Demokratie und Wir-Gemeinschaft sind gegen historischen MetaWandel (als einen Wandel der Prämissen des Wandels) immun. Und diese Immunität ist Konsens innerhalb eines breiten Spektrums von soziologischen und politikwissenschaftlichen Theorien, Kontroversen und empirischen Forschungen, die die Axiomatik des nationalstaatlichen Blicks voraussetzen und I). daher einen Metaanalytisch ausschließen Wandel (siehe Kapitel Die »Überlegenheit«, die diese Position intellektuell und poli2
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tisch anbietet, liegt auf der Hand. Man vermag, gegenüber den »Aufgeregtheiten des Zeitgeistes« kühl und abgesichert mit der intellektuellen Raffinesse eines für alle Eventualitäten geltenden Paradigmas, das Argument der Wiederkehr des Gleichen immer aufs neue auszuspielen. Vielleicht noch wichtiger ist jedoch, wie es auf der Grundlage der nationalstaatlichen Axiomatik gelingt, das potentiell Begriffsspr engende historischer Ein- und Umbrüche zu normalisieren und dadurch die moralischen und politischen Dilemmata zu entsorgen, die die Kontroverse um eine neue Weltordnung aufwerfen. Da letztlich nichts Neues unter der Sonne geschieht, mehr noch: geschehen kann, ist die Verquickung von Außen-, Menschenrechts- und Militärpolitik irreal. Da ein globaler Terrorismus, der die Grundlagen der national-internationalen Weltpolitik verflüssigt, nicht existiert, muß man sich nur mit dessen Ideologie auseinandersetzen, das heißt: Es gibt einen mehr oder weniger austauschbaren Wechselrahmen der Ideologien und ein immer gleiches Bild mehr oder weniger imperialer, nationaler Interessen. Die War-, Ist- und Wird-sein-Diagnose des methodologischen Nationalismus und Internationalismus »bewahrt« die politisch Handelnden und politikwissenschaftlich Forschenden, Theoretisierenden davor, sich mit den Dilemmata um Macht, Moral und Politik in der Zweiten Moderne auseinandersetzen zu müssen. Die Verteidigung des analytisch gewendeten, nationalen Blicks ist also eine präventive Abwehr der unbeantwortbaren Fragen, die sich ansonsten unerbittlich stellen - unbeantwortbar schon deshalb, weil das nationalstaatliche Paradigma die Existenz dieser Fragen logisch ausschließt. Entsprechend argumentiert der nationale Blick auf der Grundlage zweier Prämissen. Erstens: Das realexistierende Völkerrecht gibt die Maßstäbe vor, nach denen die Legalität und Legitimität internationaler Aktionen und Organisationen beurteilt werden können und müssen. Zweitens: Das Ringen um eine neue Weltordnung, also (a) globale Durchsetzung des Menschenrechtsregimes und (b) der Kampf gegen den globalen Terrorismus, ist eine Art ideologische Petersilie, mit der mächtige Staaten, insbesondere die einzige Weltmacht, USA, ihre geostrategischen Strategien »garnieren«. Fürnational-imperialen, die weltweiten Auseinandersetzungen um Menschenrechtsverletzungen, humanitäre Interventio2
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nen, Terrorkrieg gibt es eine einfache, neunmalkluge Zweibuchstaben-Antwort: Öl! Die »Kritik« des nationalen Blicks liegt also darin, die angebliche »ideologische Schaumschlägerei«, die sich in der Aufregung über Menschenrechte und Terrorgefahren austobt, mit dem Gestus überlegener Ideologiekritik beiseite zu wischen, um die Brutalität« dessen hervortreten was die Welt im »nackte Innersten immer schon bewegt hat und zu in lassen, Zukunft bewegen wird: die Expansion imperialer Macht, die so oder so das nationale Kalkül ausreizt. Die Vorstellung dagegen, daß die USA tatsächlich die Menschenrechte verteidigen oder auch die Menschheit vor der Atomterrorgefahr schützen wollen, wird als grenzenlose Naivität abgetan. Wer daran glaubt, geht der Kriegspropaganda der kriegslüsternen Bush-Regierung auf den Leim, macht sich selbst zu deren Vehikel. Die Konsequenzen sind klar: In der Logik des nationalen Blicks werden USAzum zum»Empire« »Kriegsverbrecher« (weil sieStaaten das Völkerrecht brechen)dieoder (weil sie anderen und Kulturen ihren Willen, ihre Wertvorstellungen aufzwingen) (Speck/ Sznaider 2003). Die Diagnose dagegen, daß die vorgegebenen Grenzen und Unterscheidungen von Krieg und Frieden, Innen und Außen, Wir und die Anderen verschwimmen, wird umgedeutet in eine US-imperiale Strategie des globalen Ausnahmezustandes. »Die Vereinigten Staaten bedienen sich derzeit des Ausnahmezustandes nicht nur als eines Instrumentes der Innenpolitik, sondern auch und vor allem, um ihre Außenpolitik zu legitimieren. Man kann in dem dieserganzen Hinsicht sagen, den daß die Regierung der Vereinigten Staaten Planeten Status eines permanenten Ausnahmezustandes aufzuzwingen versucht, der als die zwingende Antwort auf eine Art Weltbürgerkrieg zwischen Staat und Terrorismus dargestellt wird.« (Agamben 2003) Zur Begründung dieser These wird also genau die nach außen projizierte Prämisse des methodologischen Nationalismus angegeben. Die Kritik, die der methodologische Nationalismus anbietet, ist nostalgisch, wie die Zukunft, die er heraufbeschwört, die Vergangenheit ist. Es ist der gute alte »Kaiser Wilhelm« der nationalstaatlichen Souveränität, derSchlicht gegen gesagt: den Dammbruch derBlick Wirklichkeit Der nationale versteht verteidigt werden soll. die Welt nicht mehr. Da die Wirklichkeit dem Schulbuchwissen 236
längst davongelaufen ist, wird moralisch verketzert, was sich den Status-quo-Kategorien verweigert. Die Welt ist falsch, nicht aber die Begriffe von ihr.
5.2
Neue Weltordnung im national-globalen Blick: Amerikanismus versus Internationalismus
Es ist notwendig, zwischen zwei oppositionellen Varianten des national-globalen Blicks zu unterscheiden: einmal globaler Amerikanismus; hier wird ein partikulares Modell - the American way of life - universalisiert, zum anderen Internationalismus; hier werden die Errungenschaften der Innenpolitik - z.B. staatliches Gewaltmonopol, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat - im Sinne einer Weltinnenpolitik universalisiert. Beide Varianten eines gleichsam großgeschriebenen nationalen Blicks lassen Blick sich ihrerseits wiederum unterscheiden vom kosmopolitischen (der im nächsten Abschnitt behandelt werden soll). Während beide: globaler Amerikanismus und Internationalismus, die Axiomatik des National-Internationalen voraussetzen und im Rahmen dieser Prämissen argumentieren (und forschen), hebt - wie gesagt - der kosmopolitische Blick diese national-internationale Axiomatik auf. In der realpolitischen Perspektive des globalen Amerikanismus oder der Pax Americana (siehe oben) gibt es zur global durchgesetzten amerikanischen Moderne in der Einheit von Kapitalismus und Demokratie Vision keine Alternative. Insofern verschmelzen der amerikanischen partikulare nationale mit globalen in Interessen. Danach muß jeder vernünftige Mensch auf Erden, egal welche Hautfarbe er hat, welcher Religionsgemeinschaft er angehört oder wo er geboren wurde, einsehen, daß es in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, Amerikaner zu werden (wenn er es nicht bereits ist). Weil Amerika den Weltgeist repräsentiert und mit militärischen Mitteln verficht, also eine »einzigartige« Weltmacht ist, die die Freiheit aller wirksam zu schützen vermag, muß seine Rolle als neuer Hegemon allseits akzeptiert werden. Die USA sind die wirksamen UN - und brauchen daher nicht. Das setztwie voraus: Die Präventivintervention muß diese ebenso akzeptiert werden die Entschlossenheit, gegebenenfalls auch ohne und gegen das internatio2
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nale Recht und den Weltsicherheitsrat die Sache von Demokratie und Kapitalismus weltweit voranzutreiben. Im Gegensatz zur europäischen schließt die amerikanische Perspektive selektiven Meta-Wandel und selektive Reformen ein. Wenn es etwa im Mittleren Osten gelänge, Freihandelszonen einzurichten, um nachzudem Nachkriegs-Europa Wohlstand und Demokratie fördModell ern, wärdes e das ein wichtiger Schritt in Rich tung auf eine dauerhafte Friedensordnung in dieser Region. Alles andere allerdings: der Traum von der rechtlichen Gleichstellung der Staaten, ein Weltrecht, vor allem die Hoffnung auf ein supranationales Gewaltmonopol, ist demnach obsolet. Das national-globale Bekenntnis lautet: Es gibt nur eine One-way-Moderne, und die ist amerikanisch. Die Vorstellung der Anerkennung anderer alternativer, multipler Modernen ist ketzerisch, die Auflehnung gegen die amerikanische Logik der Geschichte ist nicht nur aussichtslos, sondern verwerfl ich. Ganz anders dagegen die Perspektive der Internationalisten, die sich nur graduell von der kosmopolitischen Perspektive unterscheiden (die im nächsten Abschnitt ergänzend dargestellt wird). Die Logik, die hier zur Anwendung kommt, läßt sich als innenpolitische Analogie kennzeichnen: Die inter-nationale Politiksphäre wird nach dem Modell der inner-nationalen Politik gedacht. Man fragt also: Wie läßt sich auf globaler Ebene ein Pendant zum nationalstaatlichen Gewaltmonop ol erreic hen?Und führt der Weg dahin nicht zwangsläufig nur über die Entmachtung, Entwaffnung der Nationalstaaten, ebenso wie im 19. Jahrhundert der lokalen Mächte die Voraussetzung dafür war,die daßEntwaffnung das nationalstaatliche Gewaltmonopol möglich und wirklich wurde? Ähnliche Fragen lassen sich im Hinblick auf alle Schlüsselmerkmale der nationalstaatlichen Axiomatik stellen: Wird die Demokratie im globalen Maßstab nicht nur dann möglich, wenn man ein - nach welchen Prinzipien auch immer zusammengesetztes - »globales Parlament« schafft? Die Zukunft der Weltpolitik nach der innenpolitischen Analogie zu denken, kann durchaus ambivalenten Absichten folgen. Man kann aufzeigen, wiezum dieses und jenes, Globale projiziert - der Aufstieg vom Staat Weltstaat, vominsnationalen zum globalen Recht, von der nationalen zur internationalen Organisation und 238
Gemeinschaft, von der nationalen Verfassung zum kosmopolitischen Recht usw. dem politischen Denken und Handeln neue Weltmöglichkeiten eröffnet; zugleich können die Zukunftsbilder, die auf diese Weise an die Wand gemalt werden, als Folien dafür dienen, alle Ausbruchsversuche aus dem nationalen Denkkäfig ad absurdum führen. Die nachzuden Maximen des Internationalismus gedachte neue Weltordnung ersetzt nicht, sondern erweitert die nationalstaatliche Ordnung. Anders gesagt: Der methodologische Nationalismus enthält zwei Unterabteilungen, eine, die für die nationale, die andere, die für die internationale Ordnung zuständig ist. Das Verhältnis beider zueinander wird nach dem »Stockwerk-Modell« von »Unterbau« und »Überbau« konzipiert, wobei die Priorität eindeutig im nationalstaatlichen Unterbau angesiedelt ist. Dieses wechselseitige Verhältnis einer sich einschließenden Priorität zeigt sich zwei Merkmalen: (1)an Die politische (und politiktheoretische) Archit ektur des Überbaus, der global-nationalen Ordnungsvorstellungen, ist die großgeschriebene nationale Ordnung. Danach ist beispielsweise eine globale Demokratie nur möglich, wenn es eine Art »globales Volk« gibt. (2) Die Legitimation des Überbaus der globalen Ordnung ist eine geliehene Legitimation, die ausschließlich auf der Legitimation der nationalstaatlichen Unterbau-Ordnung beruht. Die Legitimation der globalen Ordnung und ihrer Akteure und Organisationen bleibt alsointernationale an das nationalstaatliche Legitimationsmonopol gebunden. Die Ordnung wird also »aufgestockt«. Es werden ein Stockwerk und ein weiteres Stockwerk und vielleicht noch eines aufgesetzt; alle folgen letztlich derselben politischen Architektur; sie enthalten dieselben Baukastenelemente der nationalen Axiomatik. Aber dieser internationale »Turmbau zu Babel« setzt die nationale Legitimität und die nationalen Interessen voraus. Der internationale Überbau verändert nicht, sondern erweitert den nationalen Unterbau. Woraus folgt: Der internationale Überbau kann, wenn es den nationalen Mächten opportun erscheint, wieder abgeschafft, abgestreift werden, ohne daß der nationale Unterbau sich selbst zerstört. Auf diese Weise kann man die Hobbessche Vertragstheorie auf 239
die Beziehung zwischen Staaten anwenden. Danach kann die Anarchie der Staatenwelt, die den Staatenkrieg möglich macht, überwunden werden, wenn man die Prinzipien der Staatenbildung auf die Weltstaatsbildung überträgt. Die Staaten müssen einen Vertrag schließen, der die Regeln enthält, nach denen ihre Konflikte (gemäß einem vereinbarten prozeduralen Universalismus) auf friedlichem Weg gelöst werden. Diese internationale Rechtsordnung setzt allerdings voraus, daß das Rechtsmono pol und das Gewalt monop ol des Nationalstaates relativiert oder aufgehoben wird und ein weltstaatliches Rechts- und Gewaltmonopol entsteht. Die Staaten, die diese Weltordnung tragen und bejahen, müssen, um den Begriff Immanuel Kants zu verwenden, »Republiken« sein oder werden; also möglichst demokratisch legitimierte Staaten, die sich durch ihre Verfassung dazu verpflichtet sehen, die Freiheiten und Rechte ihrer Bürger zu garantieren. Die Frage, ob dieser internationale Leviathan nichtdespotisch doch aufgrund gerweise werdenseiner müßte,Machtkonzentration wird dahingehend notwendibeantwortet, daß diese Zentralisation von Gewalt und Recht ergänzt und legitimiert werden müßte durch eine entsprechende internationale Demokratie. Diese wiederum sollte darauf ausgerichtet sein, die Menschenrechte jenseits der Grenzen individueller Staaten zu garantieren und deren Ansprüche auf absolute Souveränität kleinzuschreiben. Auf diese Weise könnte ein Zusammenspiel von Prinzipien und Institutionen, mit deren Hilfe es gelungen ist, das friedliche Nebeneinander der Gegensätze innerhalb von Nationalstaaten durchzusetzen, nämlichdaß Recht, und Ordnung Gewaltmittelmonopol, dazu führen, dieDemokratie internationale institutionell pazifiziert wird. Die Einwände gegen diesen Internationalismus sind oft vorgetragen worden und werden insbesondere dann nachvollziehbar, wenn man sie auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Vereinten Nationen bezieht. Die Vereinten Nationen müßten als Embryo einer Weltrepublik, Weltdemokratie auf der Grundlage eines Weltrechts fortentwickelt werden. Dem widerspricht allerdings die hegemoniale Rolle, die die USA für sich beanspruchen. Am Himmel leuchtet nur ein überhauptderinplanetarischen der Lage wäre,Ordnung eine globale Ordnung zuStern, stiftender und zu garantieren: die einzige Weltmacht USA. 240
Eine wichtige Frage lautet demnach: Ist oder wird der Sicherheitsrat ein Legalisierungsautomat für die US-Kriege gegen Terror und zur Demokratisierung der Welt - oder wird er es nicht? Können also der institutionalisierte Pazifismus und Internationalismus eine eigene Autorität entwickeln und entfalten, die sich nicht darin erschöpft, die Legitimierung der US-Amerikanisierung der Welt nachzuvollziehen? Wie kann die staatliche Fragmentierung der kosmopolitischen Machtpraxis überwunden werden, ohne einen allmächtigen Weltstaat zu propagieren? Der zweite Golf-Krieg gewinnt unter diesem Blickwinkel insofern Bedeutung, als den USA der legale Segen verweigert wurde - durch den organisierten Widerstand einer heterogenen Staatenfraktion, bestehend aus Frankreich, Deutschland, Rußland, China (in der sich allerdings auffällig kosmopolitische Absichten mit national-imperialer Gegenmachtpolitik mischen).
5.3 Selbstkritischer Kosmopolitismus oder die Angst vor der Utopie Der kosmopolitische Blick deckt die Wirklichkeitsuntauglichkeit des nationalen Blicks und des methodologischen Nationalismus auf und eröffnet auf diese Weise der Kritik neue Grundlagen und Ausblicke. Dies gelingt durch Selbstkritik: Die lineare Amerikanisierung der Welt verkennt das Faktum der Pluralisierung der Modernen; ja, sie täuscht sich darüber hinweg, daß eine globale Diktatur des American way nicht nur diesem selbst offen widerspricht, sondern ihrerseits eine wesentliche Ursache für den Terror in der Welt ist. Die Amerikaner exportieren nicht länger amerikanischen Optimismus, sondern amerikanischen Pessimismus, indem sie alle anderen mit ihrer Terrorphobie infizieren. Notwendig ist eine westliche Selbstdemystifizierung. Den Realitätssinn, den Weltsinn dafür schärft die Theorie der Zweiten Moderne. In der westlichen Alltagssprache (und entsprechend auch im Handeln) geistert eine ganze Reihe »perverser Begriffe« herum: »Entwaffnung von Staaten« ist ebenso wenig ein Friedensbegriff wie die Vorstellung, »Abrüstungskriege« zu f ühren . Auch der Begriff »gerechter Krieg« ist ein verkappter Krieg-Krieg, Friedens-Krieg, ein Aufruf zum 241
Krieg, um den Krieg abzuschaffen. Ebenso gleicht der Begriff »humanitäre Intervention« einer verbalen Beruhigungspille, die denjenigen, der diese schluckt, darüber hinwegtäuschen soll, daß hier der Krieg-Frieden eingeläutet werden soll. Wer zwischen Polizei und Weltpolizei unterscheidet, glaubt schon aus dem Schneider zu sein, weil der Begriff des »Polizisten« die Sicherung des inneren Friedens mit Hilfe des Rechts und der dosierten Gewaltanwendung garantiert. Aber die »Weltinnenpolitik« hat es mit anderen Akteuren zu tun als die Innenpolitik. Die Rolle des »Weltpolizisten« wird von einer Staaten-Allianz ausgeübt, die das, was Staaten schon immer getan haben, nämlich Krieg gegen Staaten führen, nun als »polizeiliche« Funktion wahrnimmt. Die Anti nomie von Recht und Kri eg trägt nicht. Denn das Recht, den Krieg zu bannen, muß mit den Mitteln des Krieges durchgesetzt werden. Viele stellen die Forderung auf, die Abrüstung müßte nicht erst bei den Staaten, sondern bereits bei der Waffenindustrie beginnen. Ein vorzüglicher Gedan ke! Aber wer setzt ihn wie durch und kontrolliert, daß die Rüstungsindustrie abgerüstet, also verboten, also die Waffenproduktion als krimineller Akt verurteilt werden kann? Man fordert, daß Staaten entwaffnet werden müssen. Aber müssen Staaten und internationale Organisationen nicht aufrüsten und sich bewaffnen, um Staaten zu entwaffnen? Sind »Polizei-Interventionen« zur Entwaffnung von Staaten nicht Kriege, die überdies noch mit dem Segen des kosmopolitischen Rechts zu »gerechten Kriegen« werden? Zwingt die Rede von der »Entwaffnung« nicht dazu, daß das plurale Gewaltmonopol der Staaten (mit Gewaltmitteln) aufgehoben und erse tzt wird durch ein global-zentrales Gewaltmonopol, das überdies unter Umständen auch über die Legalität und Legitimität einer zur »Weltpolizei« verharmlosten Globalarmee verfügt, gegen die Widerstand ausgeschlossen ist? Was als Aufruf zum Kosmopolitismus begann, wechselt die Farbe und Fronten und wird zu einer Einladung zum Anti-Kosmopolitismus, in dem Sinne nämlich, daß die wohlverstandenen Interessen der Anderen notfalls gegen diese selbst wahrgenommen werden können und müssen. Diesedie Artdie vonuniversalistisch Selbsteinwänden scheint den Einwänden recht zu geben, auftrumpfenden Nationaltheorien der Politik und des Staates gegen die Idee einer globalen Kosmo242
polis vorbringen. Bleiben also am Ende doch nur Protektionismus und Nostalgie, Postmoderne, Indifferenz, Zynismus oder bestenfalls Ironie, um die hereinflutenden neuen Wirklichkeiten ebenso abzuwehren wie die Fragen, die sie unerbittlich stellen? Nein, der Ausblick (nicht Ausweg), den der kosmopolitische Blick bietet, geht darüber hinaus. Politisch gewendet, erhärtet er die These, daß wir es bislang nur mit einem deformierten, halbherzigen Kosmopolitismus zu tun haben. Die Krisendiagnose lautet: zu wenig kosmopolitischer Blick; woraus sich die Medizin ergibt: mehr kosmopolitischer Wirklichkeitssinn. Die vorgeschlagenen Modelle einer kosmopolitischen Weltordnung sind deformiert und halbiert, weil sie einen flachen Kosmopolitismus behaupten und entfalten; demgegenüber eröffnet dieses Buch die Perspektive eines vertieften Kosmopolitismus. Daß der kosmopolitische Gedanke bislang nur flach und oberflächlich ausgearbeitet wurde, hat damit zu tun, daß - erstens die Theorie der Kosmopolitik im wesentlichen als Moralphilosophie und Rechtstheorie, nicht jedoch als politische Theorie formuliert wurde. Eng damit verbunden ist ein zweiter Mangel, nämlich der, daß die Staatenwelt weitgehend invariant gesetzt wurde. Die Unterscheidung zwischen Kosmopolitismus und kosmopolitischem Blick, die ich im Einleitungskapitel getroffen habe, führt hier weiter. Der Umweg über den Wirklichkeitskosmopolitismus ist keiner. Das Ideenreservoir des politischen und normativen Kosmopolitismus kann niemals nur additiv, als Überbau eines invariant gesetzten staatlichen Unterbaus erschlossen und verwirklicht werden. Genau das aber meint und tut der flache Kosmopolitismus, mit deren Verzweigungen wir es in den Gebieten der politischen (und normativen) Philosophie und Theorie zu tun haben. Die Vertiefung aber, die Radikalisierung des Kosmopolitismus, die in diesem Buch zunächst an Einzelthemen skizziert wurde, bedeutet - zweitens, daß das, was im flachen Kosmopolitismus invariant gesetzt wurde, nun seinerseits daraufhin befragt und erforscht wird, inwieweit in deraufbricht Wirklichkeit die Axiomatik von natioKosmopolitisierung nal und international und selbst eine innere der internationalen Politik, der sozialen Ungleichheiten, der Ge243
sellschaft und des Staates in all ihren Themen und Fragen empirisch und theoretisch aufgedeckt und nachgewiesen werden kann. Entscheidend sind nicht die Schwächen der UN-Charta oder die Geburtsfehler des Sicherheitsrates usw.; entscheidend ist die Unfähigkeit und Unwilligkeit der Staaten, ihrer Regierungen und Bevölkerungen, die Möglichkeiten, die eine kosmopolitische Ordnungsidee bieten, zu nutzen, um ihre Konflikte friedlich zu regeln. Entscheidend ist also die Frage, inwieweit und wie eine Selbsttransformation der Staatenwelt von Nationalstaaten zu kosmopolitischen Staaten möglich (gemacht wird) und wirklich, beobachtbar ist. Anders gesagt: Der kosmopolitische Zuckerguß, der über eine invariant gesetzte Staaten- und Gesellschaftswelt gegossen wird, führt in die Sackgasse falscher Alternativen. Erst wenn die Wirklichkeit selbst kosmopolitisch und dieses öffentlich bewußt und reflektiert wird - also eine Kosmopolitisierung der Erinnerungen, der Biographien, der Vorstellungen von sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeit sich vollzieht -, eröffnet die Kosmopolitik realistische Handlungschancen. Ist der »flache«, der halbierte zugleich ein vertikaler Kosmopolitismus, dessen Durchsetzung von oben nach unten, von dem Machtmonopol des Zentrums zu den zu entwaffnenden Staaten gedacht wird, so muß der »tiefe« alshorizontaler Kosmopolitismus gedacht werden. Hier vernetzen und durchdringen sich Nationalstaaten und Nationalgesellschaften jenseits der Unterscheidung von national und international. Der Gedanke von Staatlichkeit und Souveränität ist nicht überflüssig geworden. Es reicht nicht, die globale Zivilgesellschaft und ihre Akteure institutionell anzuerkennen. Auch der Gedanke des Staates und der Souveränität muß kosmopolitisch erweitert und umdefiniert werden.
Kapitel VI Kosmopolitisches Europa: Realität und Utopie
Vor etwas mehr als einhundert Jahren überquerte ein junger schwarzer Amerikaner, 24 Jahre alt, namens W.E.B. Dubois den Atlantik in Richtung Europa. Sein Schiff fuhr in entgegengesetzter Richtung als das Höllenschiff, das seine versklavten Vorfahren im Dienste des Menschenhandels nach Amerika gebracht hatte. Vier Jahrhunderte nachdem Columbus dem blühenden transatlantischen Sklavenhandel die Tore geöffnet hatte, hatte dieser Sprößling von Sklaven wie von Sklavenhaltern, ein Harvard-Student der Geschichte und der Philosophie, ein hochangesehenes Stipendium in der Hand, das es ihm erlaubte, seine Studien in Berlin fortzusetzen. An der dortigen Universität suchte er seinen Blick zu erweitern, indem er sich für Politik, aber insbesondere auch für soziologische Studien einschrieb; auf diese Weise erhoffte er, eine Lehre in Emanzipation vom Rassismus erteilt zu bekommen, wie er sie mit unerschütterlichem Vertrauen in der deutschen Tradition vermutete. Die Sätze, in denen Dubois seine Erfahrungen in Europa beschreibt, sprechen nicht nur für viele andere schwarze Amerikaner, sie wekken auch die Erinnerung an ein kosmopolitisches Europa: »Europa hat ganz wesentlich meine Haltung gegenüber dem Leben und meine Gedanken und Gefühle für es verändert. Meine Seele wurde berührt und verändert durch die mögliche Schönheit und Eleganz des Lebens; mein Respekt fü r einen Lebensstil wurde geweckt. Früher war ich, im allgemeinen, in blinder Eile. Ich wollte eine Welt, die hart, glatt und schnell ist, und ich hatte keine Zeit für abgerundete Ecken und Verzierungen, für uneiliges Nachdenken und langsame Kontemplation. Niemals saß ich still. Doch dann machte ich Bekanntschaft mit Beethovens Symphonien und Wagners Ring. Ich verlor mich in den Farben Rembrandts und Tizians. Ich sah die Erz der undMenschen Stein undund Kirchturm gewordene Geschichte und das Ringen auch ihren Geschmack und ihre Expression. Form, Farbe und Worte brachten neue Kombinatio24 5
nen und Bedeutungen hervor.« (Dubois 1986: 587; zit. nach Gilroy 1996: 17) Dieses intellektuelle Liebesverhältnis eines schwarzen Amerikaners zu einem Europa, das für ihn die Emanzipation vom Rassismus versinnbildlicht, stellt auch ganz aktuell eine Erwartung an das europäische Selbstverständnis dar, das sich im Inneren durch die Erweiterung nach Osten, im Äußeren durch die Turbulenzen einer sich selbst gefährdenden Zivilisation herausgefordert sieht. Wie ist es möglich, daß es im Westen Europas an diesem Wendepunkt seiner Geschichte kaum eine oder keine große intellektuelle Stimme gibt, die die Osterweiterung Europas gegen die kleinmütige nationalstaatliche Bedenkenträgerei vehement verteidigt? Wie ist es möglich, daß das Bild der EU, die ins Leben gerufen wurde, um Europa aus dem Banne seiner kriegerischen Geschichte zu befreien, bei der Mehrheit der Menschen in ganz verschiedenen Ländern zwischen Pflichtjubel und Feindbild oszilliert? Wie konnte die europäische Selbstkritik, die nach dem Entsetzen über den Zweiten Weltkrieg und die Menschheitsverbrechen des NaziRegimes konservative Politiker wie Winston Churchill, Charles de Gaulies, Konrad Adenauer beflügelt hat, in institutionalisierter Phantasielosigkeit enden? Wird das Spektrum von wohlwollender Gleichgültigkeit bis zu offener, manchmal haßvoller Ablehnung ausreichen, um die absehbaren Brüche und Zusammenbrüche aufzufangen, denen das Projekt der europäischen Transformation an der historischen Wende der Osterweiterung sich selbst aussetzt? Schärfer gefragt: Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit, die den Titel »Europa« verdient, oder ist er nur ein Wunschbegriff für eine Unwirklichkeit, die keiner kritischen Befragung standhält? Verbirgt sich hinter dem appellatorischen Europabegriff vielleicht sogar das Gegenteil all dessen, was mit ihm gemeint ist, nämlich der Abschied von Demokratie, Freiheit, Gewaltenteilung, Transparenz und Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen? Ist das Experiment des europäischen Staatenbundes nicht ebenso zum Scheitern verurteilt wie alle vorangegangenen Imperien mit ähnlichen Ambitionen - vom Reich das Karls V. überImperium, die napoleonische Herrsch aft, die Donaumonarchie, britische die Sowjetunion oder heute die USA? Warum sollte ausgerechnet im Fall der Europäi246
schen Union etwas gelingen, für das die Weltgeschichte ansonsten nur das Urteil »gescheitert« bereithält? Ist es nicht ein bemerkenswertes Zeichen für Nostalgie und Introvertiertheit, daß im Zeitalter der Globalisierung die Europäische Union sich vordringlich mit sich selbst beschäftigt und sich eine politische Verfassung zu geben versucht, während die von Terror und Krisen gepeinigte Welt um sie herum in Stücke zerfliegt? Nein, und abermals nein! Das Gegenteil ist richtig: Die Kritiker verkennen die Realität Europas. Der Anti-Europäismus geht von einem falschen Europa-Bild aus. Er verfängt sich in den Widersprüchen des nationalen Selbstmißverständnisses, das Europa bis heute gefangenhält. Dagegen entwickele ich hier in vier Thesen die Konzeption eines kosmopolitischen Europa, indem ich den Spieß umdrehe: Der nationale Realismus wird falsch, wird zum nationalen Irrealismus, der das Denken, Handeln und Forschen in und über Europa in die Sackgasse geführt hat (vgl. Beck/Grande 2004).
1. Die Europäische Uni on ist kein Chr ist en- Clu b, keine transzendentale Abstammungsgemeinschaft Nur ein nichtanthropologisches, antiontologisches, radikal offenes, prozedural bestimmtes, also politisch-pragmatisches Menschen- und Kulturbild verdient das Etikett »europäisch«. Das zeigt sich an der Frage: Wie hältst du es mit der Türkei?, die zur Gretchenfrage des politischen Europa geworden ist. An ihr scheiden sich die Geister und entzünden sich die Gegensätze des alten nationalen und eines neuen kosmopolitischen Europa. Plötzlich ist ein europäischer Abstammungsdiskurs allgegenwärtig. Wer die Türken draußen halten will, entdeckt die Verwurzelung Europas im christlichen Abendland. Nur wer an dieser »abendländischen Schicksalsgemeinschaft« immer schon teilhat, gehört zu »uns«. Die anderen sind die ausgeschlossenen Anderen Europas. Nach diesem Weltbild hat jeder Mensch eine, seine Heimat,Geographie und diese kann nicht wählen, sie in ist ihnen ihm angeboren und folgt der der er Nationen und der herrschenden Stereotypen. Trifft man etwa auf einen exotisch aussehenden Men247
schen, der Irisch oder Oxford-Englisch spricht, gerät diese territoriale Sozialontologie in Turbulenzen, und er oder sie wird so lange mit Fragen »gegrillt«, bis die Konsonanz mit der unterstellten Einheit von Paß, Hautfarbe, Sprache, Wohnort und Herkunftsort wiederhergestellt erscheint. In der einschlägigen Literatur - the Empire writes back- wird dies inzwischen selbstbewußt ironisch als »where-are-you-fromsrcinally-dialogue« persifliert: »>Wellyou look very exotic.Where are you from, if you don't mind me asking?< >Willesden,< said Irie and Mollat simultaneously. >Yes, yes, of course, but where srcinallyl< >OhYou are meaning where from am I srcinally.< Joyce looked confused. Yes , srcinally.< >WhitechapelVia the Royal London Hospital and the 207 bus.
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