Aristoteles - Politik
March 20, 2017 | Author: Kevin Fuchs | Category: N/A
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Aristoteles
Elektrobuch 2005/1
Aristoteles Politik - I. Buch
Erstes Buch 1. Da wir sehen, daß jeder Staat eine Gemeinschaft ist und jede Gemeinschaft um eines Gutes willen besteht (denn alle Wesen tun alles um dessentwillen, was sie für gut halten), so ist es klar, daß zwar alle Gemeinschaften auf irgendein Gut zielen, am meisten aber und auf das unter allen bedeutendste Gut jene, die von allen Gemeinschaften die bedeutendste ist und alle übrigen in sich umschließt. Diese ist der sogenannte Staat und die staatliche Gemeinschaft. Alle diejenigen nun, die meinen, daß ein Staatsmann, ein Fürst, ein Hausverwalter und ein Herr dasselbe seien, irren sich; sie meinen nämlich, der Unterschied bestünde nur in der größeren und geringeren Zahl und nicht in der Art jedes einzelnen, so daß etwa, wer über wenige regiert, ein Herr sei, wer über mehrere, ein Hausverwalter, und wer über noch mehrere, ein Staatsmann oder Fürst; denn zwischen einem großen Hause und einem kleinen Staate sei kein Unterschied vorhanden; was den Staatsmann und den Fürsten beträfe, so sei einer ein Fürst, wenn er souverän regiere, wenn er es aber nach den Regeln der entsprechenden Wissenschaft tue und abwechselnd regiere und gehorche, dann sei er ein Staatsmann. Daß dies falsch ist, wird klar werden, wenn wir die Untersuchung nach der hier gegebenen Methode führen. Wie man nämlich auch anderswo das Zusammengesetzte bis zu den nicht mehr zusammengesetzten Teilen zerlegen muß (denn diese sind die kleinsten Teile des Ganzen), so müssen wir auch beim Staate erkennen, woraus er zusammengesetzt ist, und werden besser begreifen, worin sich jene Verhältnisse voneinander unterscheiden und ob sich über jedes einzelne etwas wissenschaftlich Brauchbares feststellen läßt. 2. Die beste Methode dürfte hier wie bei den anderen Problemen sein, daß man die Gegenstände verfolgt, wie sie sich von Anfang an entwickeln. Als Erstes ist es notwendig, daß sich jene Wesen II
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verbinden, die ohne einander nicht bestehen können, einerseits das Weibliche und das Männliche der Fortpflanzung wegen (und dies nicht aus freier Entscheidung, sondern weil es wie anderswo, bei den Tieren und Pflanzen, ein naturgemäßes Streben ist, ein anderes Wesen zu hinterlassen, das einem selbst gleich ist), anderseits das naturgemäß Regierende und Regierte um der Lebenserhaltung willen. Denn was mit dem Verstand vorauszuschauen vermag, ist von Natur das Regierende und Herrschende, was aber mit seinem Körper das Vorgesehene auszuführen vermag, ist das von Natur Regierte und Dienende. Darum ist auch der Nutzen für Herrn und Diener derselbe. Von Natur sind das Weibliche und das Regierte verschieden; denn die Natur macht nichts derart ärmlich wie die Schmiede das delphische Messer, sondern immer Eines für Eines. Denn so wird jedes einzelne Werkzeug am schönsten herauskommen, wenn es nicht vielen Aufgaben, sondern nur einer einzigen dient. Bei den Barbaren freilich haben das Weibliche und das Regierte denselben Rang. Dies kommt daher, daß sie das von Natur Herrschende nicht besitzen, sondern die Gemeinschaft bei ihnen nur zwischen Sklavin und Sklave besteht. Darum sagen die Dichter: »Daß Griechen über Barbaren herrschen, ist gerecht«, da nämlich von Natur der Barbar und der Sklave dasselbe sei. Aus diesen beiden Gemeinschaften entsteht zuerst das Haus, und Hesiod hat mit Recht gedichtet: »Allererst nun ein Haus und das Weib und den pflügenden Ochsen.« Denn der Ochse tritt für die Armen an die Stelle des Sklaven. So ist denn die für das tägliche Zusammenleben bestehende natürliche Gemeinschaft das Haus. Charondas nennt ihre Glieder Tischgenossen, der Kreter Epimenides Troggenossen. Die erste Gemeinschaft, die aus mehreren Häusern und nicht nur um des augenblicklichen Bedürfnisses willen besteht, ist das Dorf. Das Dorf scheint seiner Natur nach am ehesten eine Verzweigung des Hauses zu sein, und seine Glieder werden von einigen »Milchgenossen« und »Kinder und Kindeskinder« genannt. Darum standen auch die Staaten ursprünglich unter Königen, und bei den Barbarenvölkern ist es noch jetzt so. Denn es waren Untertanen von III
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Königen, die da zusammentraten. Jedes Haus wird nämlich vom Ältesten wie von einem König regiert und entsprechend auch die Verzweigungen auf Grund der Verwandtschaft. Dies meint Homer: » Jeder gibt das Gesetz für Kinder und Gattinnen.« Jene lebten nämlich zerstreut, und so wohnten die Menschen in der Urzeit überhaupt. Aus demselben Grunde behaupten auch alle, daß die Götter durch einen König. regiert werden, weil sie selbst teils jetzt noch, teils früher unter Königen standen. Wie nämlich die Menschen die Gestalten der Götter nach sich selbst abbilden, so auch deren Lebensformen. Endlich ist die aus mehreren Dörfern bestehende vollkommene Gemeinschaft der Staat. Er hat gewissermaßen die Grenze der vollendeten Autarkie erreicht, zunächst um des bloßen Lebens willen entstanden, dann aber um des vollkommenen Lebens willen bestehend. Darum existiert auch jeder Staat von Natur, da es ja schon die ersten Gemeinschaften tun. Er ist das Ziel von jenen, und das Ziel ist eben der Naturzustand. Denn den Zustand, welchen jedes Einzelne erreicht, wenn seine Entwicklung zum Abschluß gelangt ist, nennen wir die Natur jedes Einzelnen, wie etwa des Menschen, des Pferdes, des Hauses. Außerdem ist der Zweck und das Ziel das Beste. Die Autarkie ist aber das Ziel und das Beste. Daraus ergibt sich, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und daß der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist; derjenige, der auf Grund seiner Natur und nicht bloß aus Zufall außerhalb des Staates lebt, ist entweder schlecht oder höher als der Mensch; so etwa der von Homer beschimpfte: »ohne Geschlecht, ohne Gesetz und ohne Herd«. Denn dieser ist von Natur ein solcher und gleichzeitig gierig nach Krieg, da er unverbunden dasteht, wie man im Brettspiel sagt. Daß ferner der Mensch in höherem Grade ein staatenbildendes Lebewesen ist als jede Biene oder irgendein Herdentier, ist klar. Denn die Natur macht, wie wir behaupten, nichts vergebens. Der Mensch ist aber das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt. Die Stimme zeigt Schmerz und Lust an und ist darum auch den andern Lebewesen eigen (denn bis zu diesem Punkte ist ihre Natur gelangt, daß sie Schmerz IV
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und Lust wahrnehmen und dies einander anzeigen können); die Sprache dagegen dient dazu, das Nützliche und Schädliche mitzuteilen und so auch das Gerechte und Ungerechte. Dies ist nämlich im Gegensatz zu den andern Lebewesen dem Menschen eigentümlich, daß er allein die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten und so weiter besitzt. Die Gemeinschaft in diesen Dingen schafft das Haus und den Staat. Der Staat ist denn auch von Natur ursprünglicher als das Haus oder jeder Einzelne von uns. Denn das Ganze muß ursprünglicher sein als der Teil. Wenn man nämlich das Ganze wegnimmt, so gibt es auch keinen Fuß oder keine Hand, außer dem Namen nach, wie etwa eine Hand aus Stein; nur in diesem Sinn wird eine tote Hand noch eine Hand sein. In Wahrheit ist alles bestimmt durch seine besondere Leistung und Fähigkeit, und wenn es diese nicht mehr besitzt, kann es auch nicht mehr als dasselbe Ding bezeichnet werden außer dem bloßen Namen nach. Daß also der Staat von Natur ist und ursprünglicher als der Einzelne, ist klar. Sofern nämlich der Einzelne nicht autark für sich zu leben vermag, so wird er sich verhalten wie auch sonst ein Teil zu einem Ganzen. Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann oder in seiner Autarkie ihrer nicht bedarf, der ist kein Teil des Staates, sondern ein wildes Tier oder Gott. Alle Menschen haben also von Natur den Drang zu einer solchen Gemeinschaft, und wer sie als erster aufgebaut hat, ist ein Schöpfer größter Güter. Wie nämlich der Mensch, wenn er vollendet ist, das beste der Lebewesen ist, so ist er abgetrennt von Gesetz und Recht das schlechteste von allen. Das schlimmste ist die bewaffnete Ungerechtigkeit. Der Mensch besitzt von Natur als Waffen die Klugheit und Tüchtigkeit, und gerade sie kann man am allermeisten in verkehrtem Sinne gebrauchen. Darum ist der Mensch ohne Tugend das gottloseste und wildeste aller Wesen und in Liebeslust und Eßgier das schlimmste. Die Gerechtigkeit dagegen ist der staatlichen Gemeinschaft eigen. Denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft, und die Gerechtigkeit urteilt darüber, was gerecht sei.
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3. Es ist also klar, aus welchen Teilen der Staat besteht. Sprechen wir nun zuerst über die Hausverwaltung. Denn jeder Staat ist aus Häusern zusammengesetzt. Die Teile der Hausverwaltung sind wiederum jene, aus denen sich das Haus zusammensetzt. Das vollständige Haus setzt sich aus Sklaven und Freien zusammen. Da nun alles zuerst in seinen kleinsten Teilen untersucht werden muß und die ursprünglichen und kleinsten Teile des Hauses Herr und Sklave, Gatte und Gattin, Vater und Kinder sind, so muß man diese drei Verhältnisse untersuchen und fragen, was jedes sei und wie es sein soll. Es handelt sich also um die Wissenschaft vom Herrenverhältnis, vom ehelichen Verhältnis (denn die Verbindung von Mann und Frau hat sonst keinen eigenen Namen) und vom väterlichen Verhältnis(auch dieses hat keinen eigenen Namen). Diese drei seien an-genommen. Dazu kommt noch ein Teil, der für die einen die gesamte Hausverwaltung ausmacht, für die andern ihr bedeutendster Teil ist (wie es sich damit verhält, werden wir noch prüfen); ich meine die sogenannte Erwerbskunst. Als erstes wollen wir über den Herrn und den Sklaven reden, um die praktischen Notwendigkeiten zu erkennen und zu sehen, ob wir hierüber nicht auch theoretisch Besseres erreichen können als die gegenwärtig geltenden Meinungen. Die einen meinen nämlich, das Herrenverhältnis sei eine Wissenschaft, und zwar sei sie dieselbe wie die Kunst des Hausverwalters, des Staatsmannes und des Fürsten, wie wir im Eingang bemerkt haben. Andere behaupten, das Herrenverhältnis sei gegen die Natur; nur durch Konvention sei der eine ein Sklave, der andere ein Freier, der Natur nach bestünde dagegen kein Unterschied. Darum sei es auch nicht gerecht, sondern gewaltsam. 4. Da nun der Besitz ein Teil des Hauses ist und die Lehre vom Besitz ein Teil der Lehre von der Hausverwaltung (denn ohne die notwendigen Güter kann man weder leben noch voll-kommen leben), und da wie für die einzelnen bestimmten Künste die zugehörigen Werkzeuge vorhanden sein müssen, wenn die Aufgabe erfüllt werden soll (und von den Werkzeugen sind die einen beseelt und die andern VI
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unbeseelt, wie etwa für den Steuermann das Steuer ein unbeseeltes und der Steuergehilfe ein beseeltes Werkzeug ist – denn beim Handwerk steht der Gehilfe im Rang eines Werkzeugs), so ist auch für den Hausverwalter der Besitz im einzelnen ein Werkzeug zum Leben und im ganzen eine Sammlung solcher Werkzeuge und der Sklave ein beseelter Besitz; jeder Diener ist gewissermaßen ein Werkzeug, das viele andere Werkzeuge vertritt. Wenn nämlich jedes einzelne Werkzeug auf einen Befehl hin, oder einen solchen schon voraus ahnend, seine Aufgabe erfüllen könnte, wie man das von den Standbildern des Daidalos oder den Dreifüßen des Hephaistos erzählt, von denen der Dichter sagt, sie seien von selbst zur Versammlung der Götter erschienen, wenn also auch das Weberschiffchen so webte und das Plektron die Kithara schlüge, dann bedürften weder die Baumeister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven. Die Werkzeuge im geläufigen Sinne sind produzierende Werkzeuge, der Besitz dagegen dient dem Handeln. Denn durch das Weberschiffchen wird etwas hergestellt, was von seinem Gebrauch verschieden ist; das Kleid und das Bett sind aber ausschließlich zum Gebrauche da. Ferner: da sich das Produzieren seiner Art nach vom Handeln unterscheidet und beide der Werkzeuge bedürfen, so müssen auch diese denselben Unterschied aufweisen. Das Leben wiederum ist ein Handeln und kein Produzieren. Dar-um ist auch der Sklave ein Gehilfe beim Handeln. Von einem Besitzstück redet man gleich wie von einem Teil. Der Teil ist nun nicht nur der Teil eines Anderen, sondern gehört überhaupt einem Anderen. Ebenso das Besitzstück. Darum ist der Herr bloß Herr des Sklaven, gehört ihm aber nicht; der Sklave dagegen ist nicht nur Sklave des Herrn, sondern gehört ihm ganz. Welches die Natur und die Fähigkeit des Sklaven ist, wird hieraus klar. Der Mensch, der seiner Natur nach nicht sich selbst, sondern einem anderen gehört, ist von Natur ein Sklave; einem andern Menschen gehört, wer als Mensch ein Besitzstück ist, das heißt ein für sich bestehendes, dem Handeln dienendes Werkzeug.
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5. Ob es nun einen Menschen gibt, der von Natur derart ist oder nicht, und ob es besser und gerecht ist für einen Menschen, Sklave zu sein oder nicht, oder ob überhaupt jede Sklaverei gegen die Natur ist, dies ist nun zu untersuchen. Es ist nicht schwer, dies theoretisch zu erkennen und aus der Erfahrung zu entnehmen. Das Herrschen und Dienen gehört nicht nur zu den notwendigen, sondern auch zu den zuträglichen Dingen. Einiges trennt sich gleich von Geburt an, das eine zum Dienen, das andere zum Herrschen. Es gibt viele Arten von Herrschenden und Dienenden; und immer ist jene Herrschaft besser, wo Bessere regiert werden, also besser diejenige über einen Menschen als diejenige über ein Tier. Denn was von Besseren zustande gebracht wird, ist auch eine bessere Leistung; und wo eines regiert und das andere regiert wird, gibt es eine gemeinsame Leistung beider. Allgemein: wo immer Eines aus Mehrerem zusammengesetzt ist und ein Gemeinsames entsteht, entweder aus kontinuierlichen oder aus getrennten Teilen, da zeigt sich ein Herrschendes und ein Beherrschtes, und zwar findet sich dies bei den beseelten Lebewesen auf Grund ihrer gesamten Natur. Sogar beim Unbelebten gibt es eine Art von Herrschaft, wie in der musikalischen Harmonie. Doch eine Untersuchung darüber gehört wohl nicht hieher. Das Lebewesen besteht primär aus Seele und Leib, wovon das eine seiner Natur nach ein Herrschendes, das andere ein Beherrschtes ist. Was dabei naturgemäß sei, muß man eher an dem ablesen, was sich normal verhält, als an dem, was verdorben ist. So muß man auch jenen Menschen untersuchen, der sich nach Leib und Seele in der besten Verfassung befindet. Da wird dies klar. Denn bei Menschen, die schlecht oder in schlechter Verfassung sind, könnte es oft scheinen, als regiere der Körper die Seele, weil sie sich schlecht und naturwidrig verhalten. Zuerst also kann man, wie wir sagen, beim Lebewesen das Herrenverhältnis und das staatsmännische Verhältnis beobachten. Denn die Seele regiert über den Körper in der Weise eines Herrn und der Geist über das Streben in der Weise eines Staatsmannes oder VIII
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Fürsten. Daraus wird klar, daß es für den Körper naturgemäß und zuträglich ist, von der Seele beherrscht zu werden; ebenso für den leidenschaftsbegabten Teil der Seele, vom Geiste und vom vernunftbegabten Teil beherrscht zu werden; Gleichheit oder ein umgekehrtes Verhältnis wäre für alle Teile schädlich. Ebenso steht es mit dem Verhältnis zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen. Die zahmen sind ihrer Natur nach besser als die wilden, und für alle zahmen Tiere ist es am besten, wenn sie vom Menschen regiert werden. Denn so bleiben sie am Leben erhalten. Desgleichen ist das Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen von Natur so, daß das eine besser, das andere geringer ist, und das eine regiert und das andere regiert wird. Auf dieselbe Weise muß es sich nun auch bei den Menschen im allgemeinen verhalten. Diejenigen, die so weit voneinander verschieden sind wie die Seele vom Körper und der Mensch vom Tier (dies gilt bei allen denjenigen, deren Aufgabe die Verwendung ihres Körpers ist und bei denen dies das Beste ist, was sie leisten können), diese sind Sklaven von Natur, und für sie ist es, wie bei den vorhin genannten Beispielen, besser, auf die entsprechende Art regiert zu werden. Von Natur ist also jener ein Sklave, der einem andern zu gehören vermag und ihm darum auch gehört, und der so weit an der Vernunft teilhat, daß er sie annimmt, aber nicht selbständig besitzt. Die andern Lebewesen dienen so, daß sie nicht die Vernunft annehmen, sondern nur Empfindungen gehorchen. Doch ihre Verwendung ist nur wenig verschieden : denn beide helfen dazu, mit ihrer körperlichen Arbeit das Notwendige zu beschaffen, die Sklaven wie die zahmen Tiere. Die Natur hat die Tendenz, auch die Körper der Freien und der Sklaven verschieden zu gestalten, die einen kräftig für die Beschaffung des Notwendigen, die anderen aufgerichtet und ungeeignet für derartige Verrichtungen, doch brauchbar für das politische Leben (das seinerseits aufgeteilt wird in die Bedürfnisse des Krieges und diejenigen des Friedens). Immer-hin kommt oft das Gegenteil vor, daß die einen den Körper von Freien haben und die andern die Seele. Doch dies ist allerdings klar: wenn sich die einen IX
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bloß körperlich so weit abhöben wie die Standbilder der Götter, so würden schon alle zugeben, daß diejenigen, die dies nicht erreichten, mit Recht die Sklaven von jenen wären. Wenn dies beim Körper zutrifft, so kann man dasselbe mit noch viel mehr Recht von der Seele behaupten. Nur ist es nicht gleich leicht, die Schönheit der Seele zu erkennen, wie diejenige des Körpers. Es ist also klar, daß es von Natur Freie und Sklaven gibt und daß das Dienen für diese zuträglich und gerecht ist. 6. Daß aber auch jene, die das Gegenteil behaupten, in einer gewissen Weise recht haben, ist nicht schwer einzusehen. Denn Sklaverei und Sklave werden in einem doppelten Sinne verstanden. Es gibt nämlich auch Sklaven und Sklaverei gemäß dem Gesetz. Das Gesetz ist ja eine Vereinbarung darüber, daß, wie man sagt, das im Kriege Besiegte Eigentum des Siegers wird. Gegen dieses Recht erheben viele von denen, die sich theoretisch mit den Gesetzen beschäftigen, Klage auf Gesetzwidrigkeit, als gingen sie gegen einen Politiker vor: es wäre schrecklich, wenn das Überwältigte der Sklave und Diener dessen sein sollte, der es überwältigen könne und es an Macht überträfe. So haben sogar unter den Weisen die einen diese, die andern jene Meinung. Die Ursache dieser Differenz, die bewirkt, daß die Argumente hin und her gehen, ist die, daß die Tüchtigkeit, wenn sie die Mittel besitzt, in gewisser Weise auch am leichtesten anderes zu überwältigen vermag und daß das Siegende stets auch eine Überlegenheit an irgendeinem Gute aufweist. Also scheint die Gewalt nicht ohne Tüchtigkeit zu bestehen. Der Streit betrifft nur die rechtmäßige Ausübung der Gewalt; so scheint nämlich den einen die Gerechtigkeit im Wohlwollen zu bestehen, den andern aber gerade die Herrschaft des Stärkeren gerecht zu sein. Wenn man indessen diese Begriffe voneinander trennt, so hat die erste Behauptung, daß nämlich das: an Tüchtigkeit Bessere herrschen und regieren solle, weder Gewicht noch Glaubwürdigkeit. Allgemein gesagt, halten sich einige an ein gewisses Recht, wie sie meinen (denn das Gesetz ist ein gewisses Recht), und erklären, die Sklaverei auf Grund von Kriegen sei gerecht und auch wieder nicht. X
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Denn der Ausgangspunkt von Kriegen kann ungerecht sein, und wer, ohne es zu verdienen, in Sklaverei gerät, den kann man in keiner Weise einen Sklaven nennen. Andernfalls könnten die anerkannt Adligsten zu Sklaven werden und zu Kindern von Sklaven, wenn sie eben gefangengenommen und verkauft werden. Darum wollen jene auch nicht solche Menschen als Sklaven bezeichnen, sondern nur die Barbaren. Aber wenn sie so reden, suchen sie nichts anderes als das naturgemäße Sklaventum, von dem wir am Anfang gesprochen haben. Denn man muß sagen, daß es Menschen gibt, die unter allen Umständen Sklaven sind, und solche, die es niemals sind. Dasselbe gilt auch von der Adligkeit. Sich selbst halten sich nicht nur bei sich zu Hause, sondern überall für adlig, die Barbaren aber nur in deren Land; denn es gebe eine Adligkeit und Freiheit, die dies schlechthin sei, und eine andere, die es nicht sei, wie etwa die Helena des Theodektes sagt: »Von bei den Seiten bin ich Sproß aus Götterstamm, wer darf es wagen mich zu nennen eine Dienerin ?« Wenn sie dies sagen, so unterscheiden sie Sklaven und Freie, Adlige und Unadlige ausschließlich nach der Tugend oder Schlechtigkeit. Sie meinen nämlich, wie aus dem Menschen ein Mensch und aus einem Tier ein Tier entstehe, so werde auch aus Edlem ein Edles Dies erstrebt die Natur zwar vielfach, erreicht es aber nicht immer. Daß also der Streit einen Grund hat und nicht alle Menschen einfach von Natur Freie oder Sklaven sind, ist klar, aber auch. daß dieser Unterschied in einigen Fällen tatsächlich besteht, wo es denn für den einen zuträglich und gerecht ist zu dienen und für den anderen zu herrschen; und zwar muß jedes in der Art regiert werden oder regieren, wie es seiner Natur entspricht, was denn auch zum Herrenverhältnis führen kann. Schlechtes Regieren ist für beide Teile unzuträglich; denn das Zuträgliche ist dasselbe für den Teil wie für das Ganze, für den Körper wie für die Seele; und der Sklave ist ein Teil des Herrn, gewissermaßen ein beseelter, aber getrennter Teil des Leibes. Darum gibt es auch etwas Zuträgliches und eine gegenseitige Freundschaft zwischen einem Herrn und einem Sklaven, die dieses ihr XI
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Verhältnis von Natur aus verdienen. Besteht es aber nicht von Natur, sondern nach Gesetz und Gewalt, so gilt das Gegenteil. 7. Es ergibt sich auch hieraus, daß das Herrenverhältnis und das staatsmännische Verhältnis nicht identisch sind, und daß überhaupt nicht alle Formen der Regierung einander gleich sind, wie einige meinen. Die eine besteht über von Natur aus Freie, die andere über Sklaven; die Hausverwaltung ist eine Monarchie – denn jedes Haus wird von einem Einzigen regiert –, die Staatsverwaltung ist dagegen eine Herrschaft über Freie und Gleichgestellte. Herr heißt einer nicht auf Grund einer Wissenschaft, sondern auf Grund seiner Qualität, und ebenso der Freie und der Sklave. Immerhin kann es eine Wissenschaft vom Herren- und vom Sklavenverhältnis geben, die zweite etwa von einer Art, wie sie jener in Syrakus lehrte; dort unterrichtete nämlich jemand für Lohn die jungen Sklaven in den üblichen Dienstleistungen. Eine solche Unterweisung ließe sich auch weiter ausdehnen, etwa auf die Kochkunst und andere derartige Dienste. Denn die Aufgaben sind verschieden, die einen ehren-voller, die anderen notwendiger, und, wie das Sprichwort sagt: »Jeder Sklave ist nicht wie der andere und jeder Herr auch nicht wie der andere.« Dies sind nun alles Wissenschaften für Sklaven. Die Wissenschaft des Herrn ist aber diejenige, die die Sklaven zu verwenden weiß. Denn der Herr zeigt sich nicht im Erwerben, sondern im Verwenden von Sklaven. Doch hat diese Wissenschaft nichts Großes oder Edles an sich; sie besteht ja nur darin, das anordnen zu können, was der Sklave ausführen können muß. Wer es sich also leisten kann, sich nicht selbst abzumühen, bei dem übernimmt ein Verwalter dieses Amt, und die Herren selbst treiben Politik oder Philosophie. Die Wissenschaft, Sklaven zu erwerben, ist aber verschieden von beiden; sofern sie von gerechtem Erwerb spricht, ist sie eine Art von Kriegskunst oder Jagdkunst. Über Sklave und Herr sei also dies festgestellt.
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8. Wir wollen nun nach der gegebenen Methode im allgemeinen die gesamte Lehre von Besitz und Erwerb betrachten, da ja auch der Sklave sich als ein Teil des Besitzes erwies. Als erstes kann man fragen, ob die Erwerbskunst mit der Hausverwaltung identisch oder ein Teil von ihr sei, oder eine Hilfskunst, und wenn sie dies ist, ob sie sich verhält wie die Kunst, Weberschiffchen zu produzieren, zur Webekunst, oder wie die Erzgießerei zur Plastik (denn diese dienen nicht in derselben Weise, sondern die eine stellt die Werkzeuge zur Verfügung, die andere die Materie; unter Materie verstehe ich das Zugrundeliegende, aus welchem ein Werk verfertigt wird, wie die Wolle für den Weber und das Erz für den Bildhauer). Daß nun die Hausverwaltung mit der Erwerbskunst nicht identisch ist, ist klar; die eine schafft herbei, die andere verwendet. Denn welche Wissenschaft soll die Dinge im Hause verwenden, wenn nicht die Hausverwaltungskunst? Ob nun aber die Erwerbskunst ein Teil von ihr ist oder der Art nach von ihr verschieden, das ist strittig. Denn es scheint die Sache des Erwerbskundigen zu sein, zu prüfen, woher das Geld und der Erwerb kommen. Der Erwerb hat allerdings viele Teile und ebenso der Reichtum, so daß man sich als erstes fragen kann, ob die Landwirtschaft ein Teil der Hausverwaltung ist oder gattungsmäßig von ihr verschieden, und ebenso im allgemeinen Besorgung und Erwerb der Nahrung. Es gibt indessen viele Arten der Ernährung, weshalb es denn auch viele Lebensformen von Tieren und Menschen gibt. Denn ohne Nahrung kann man nicht leben, und so verändern die Unterschiede in der Ernährung auch die gesamten Lebensformen der Lebewesen. Von den Tieren leben die einen in Herden, die andern verstreut, so wie es für ihre Ernährung zweckmäßig ist, da die einen Fleischfresser, die andern Pflanzenfresser und wieder andere Allesfresser sind; und um ihnen das Aufsuchen ihrer Nahrung zu erleichtern, hat die Natur ihre Lebensformen verschieden eingerichtet. Da nämlich nicht jedem von Natur dasselbe schmeckt, sondern dem einen dies, dem andern jenes, so sind auch die Lebensformen der Fleischfresser und der XIII
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Pflanzenfresser als solcher unter sich verschieden. Dasselbe gilt auch von den Menschen. Auch deren Lebensformen sind außerordentlich verschieden. Die arbeitsscheusten unter ihnen sind Nomaden; ihre Ernährung erhalten sie durch die zahmen Tiere in aller Muße ohne Mühe, und nur weil das Vieh gezwungen ist, wegen der Weide den Ort zu wechseln, so müssen auch sie mitgehen, »als ob sie einen lebendigen Acker bebauten«. Andere leben von der Jagd, von der es wiederum verschiedene Arten gibt: die einen vom Raub, die andern, soweit sie an Seen, Sümpfen, Flüssen und geeigneten Meeresküsten wohnen, von der Fischerei, andere wiederum von Vögeln und wilden Tieren. Die Mehrzahl der Menschen indessen lebt von der Erde und ihren eßbaren Früchten. Dies sind ungefähr die Lebensformen, bei denen natürliche Arbeit geleistet und die Nahrung nicht durch Tausch und Handel beschafft wird: das Leben der Nomaden, der Bauern, der Räuber, der Fischer und der Jäger. Manche vermischen auch diese Lebensweisen und leben insofern angenehm, als sie das allzu dürftige Leben ergänzen, soweit es zur Autarkie nicht ausreicht. Die einen sind gleichzeitig Nomaden und Räuber, die anderen Bauern und Jäger und so weiter. Wie es das Bedürfnis erfordert, so leben sie. Diese Art von Besitz scheint allen von der Natur selbst dargeboten zu werden, wie gleich bei ihrer Geburt, so auch später, wenn sie erwachsen sind. Manche Lebewesen bringen nämlich gleich beim Gebären so viel Nahrung mit hervor, als es braucht, bis sich das Neugeborene die Nahrung selbst beschaffen kann, so die Würmer oder Eier gebärenden Tiere. Die Lebendgebärenden haben dagegen bis zu einer bestimmten Zeit die Nahrung für die Jungen in sich, die sogenannte Milch. In gleicher Weise ist augenscheinlich anzunehmen (was auch gilt, wenn sie erwachsen sind), daß die Pflanzen der Tiere wegen da sind und die Tiere der Menschen wegen, die zahmen zur Verwendung und zur Nahrung, von den wilden, wenn nicht alle, so doch die meisten zur Nahrung und sonstigem Nutzen, sofern Kleider und andere Ausrüstungsgegenstände aus ihnen verfertigt werden. Wenn nun die Natur nichts unvollkommen und nichts zwecklos macht, XIV
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so muß die Natur all dies um der Menschen willen gemacht haben. Darum ist auch die Kriegskunst von Natur eine Art von Erwerbskunst (die Jagdkunst ist ein Teil von ihr), die man anwenden muß gegen die Tiere und gegen jene Menschen, die von Natur zum Dienen bestimmt sind und dies doch nicht wollen. Denn ein solcher Krieg ist von Natur gerecht. So ist denn eine Art der Erwerbskunst der Natur nach ein Teil der Hausverwaltungskunst. Sie muß vorhanden sein oder beschafft werden, damit von den Gütern, die in der Gemeinschaft des Staates oder des Hauses für das Leben notwendig und nützlich sind, diejenigen zur Verfügung stehen, die auf-gespeichert werden können. Aus diesen Dingen scheint auch der wahre Reichtum zu bestehen. Denn der Bedarf an solchem Besitz zur Autarkie eines vollkommenen Lebens ist nicht unbegrenzt wie jener, von dem Solon dichtet: »Reichtum hat keine Grenze, die nennbar den Menschen gesetzt ist.« Denn es ist eine gesetzt wie auch bei den andern Künsten. Kein Werkzeug irgendeiner Kunst ist nach Zahl und Größe unbegrenzt. Der Reichtum ist aber nichts als eine Vielheit von Werkzeugen für die Haus-und Staatsverwaltung. Daß es also eine naturgemäße Erwerbskunst für die Hausverwalter und die Staatsmänner gibt und weshalb, ist damit festgestellt. 9. Es gibt indessen noch eine andere Art von Erwerbskunst, die man vorzugsweise und mit Recht als die Kunst des Gelderwerbs bezeichnet; im Hinblick auf sie scheint keine Grenze des Reichtums und des Erwerbs zu bestehen. Viele halten sie wegen ihrer Nachbarschaft für identisch mit der eben genannten. Sie ist aber weder identisch noch allzusehr von ihr entfernt. Die eine ist von Natur, die andere nicht, sondern ergibt sich eher aus einer Art von Erfahrung und Kunst. Beginnen wir die Untersuchung über sie mit folgendem : für jedes Besitzstück gibt es eine doppelte Verwendung. Jede ist Verwendung des Dings als solchen, aber nicht in derselben Weise, sondern die eine ist dem Ding eigentümlich, die andere nicht, so etwa beim Schuh das Anziehen und die Verwendung zum Tausch. Beides ist Verwendung XV
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des Schuhs. Auch wer den Schuh um Geld oder Nahrungsmittel jemandem gibt, der ihn nötig hat, verwendet den Schuh als Schuh, aber nicht zu dem ihm eigentümlichen Gebrauche. Denn er ist nicht um des Tausches willen verfertigt worden. Ebenso verhält es sich mit den andern Besitzstücken. Der Tausch ist bei allem möglich, anknüpfend an die naturgemäße Tatsache, daß die Menschen von den notwendigen Gütern hier zuviel und dort zuwenig haben. Daraus ergibt sich sofort, daß das Kaufmannsgewerbe nicht von Natur zur Erwerbskunst gehört. Denn zunächst mußte der Tausch nur so weit gehen, als man seiner unmittelbar bedurfte. In der ursprünglichen Gemeinschaft nun (diese ist das Haus) hat diese Erwerbskunst offenbar keine Aufgabe, sondern erst, wenn die Gemeinschaft größer geworden ist. Denn jene hatten alle Anteil an einem und demselben Besitze, in der ausgebreiteten Gemeinschaft dagegen besaß der eine für sich dieses, der andere anderes. Dies mußte also je nach dem Bedürfnis aus-getauscht werden, so wie es auch jetzt noch viele von den Barbarenstämmen tun. Sie tauschen einander gegenseitig nur die Gebrauchsgüter selbst und nicht mehr, also Wein gegen Korn und so weiter. Ein derartiger Tauschhandel ist weder gegen die Natur, noch ist er eine besondere Form der Erwerbskunst (denn er dient nur der Erfüllung der naturgemäßen Autarkie); aber allerdings entsteht folgerichtig aus ihm jene andere Kunst. Denn durch die Einfuhr dessen, was man entbehrte, und die Ausfuhr des Überschusses dehnte sich die Hilfeleistung über die Landesgrenzen hinaus aus, und so ergab sich mit Notwendigkeit die Verwendung von Geld. Denn nicht alle natur-gemäß notwendigen Güter sind leicht zu transportieren. Also kam man überein, beim Tausch gegenseitig eine Sache zu nehmen und zu geben, die selbst nützlich und im täglichen Verkehr handlich war, wie Eisen, Silber usw. Zuerst bestimmte man sie einfach nach Größe und Gewicht, schließlich drückte man ihr ein Zeichen auf, um sich das Abmessen zu ersparen. Denn die Prägung wurde als Zeichen der Quantität gesetzt. Als nun schon das Geld aus den Bedürfnissen des Tauschverkehrs geschaffen war, entstand die zweite Art der Erwerbskunst, die XVI
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Kaufmannskunst, anfangs wohl nur ganz einfach, später kunstmäßiger auf Grund der Erfahrung, woher und wie man Güter vertauschen müsse, um den größten Gewinn zu erzielen. Darum scheint die Erwerbskunst sich vor allem auf das Geld zu beziehen, und ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, zu erkennen, woher man das meiste Geld gewinnen kann; sie gilt dann als Erzeugerin des Reichtums und des Geldes. Denn als Reichtum versteht man oft eine Menge von Geld, da sich doch die Erwerbskunst und die Kaufmannskunst gerade damit befassen. Für andere wiederum gilt das Geld als ein Unsinn und eine reine gesetzliche Fiktion, in keiner Weise von Natur gegeben; denn wenn jene, die es verwenden, es verändern, so ist es nichts mehr wert und für die notwendigen Bedürfnisse in keiner Weise zu gebrauchen; und oft hat einer viel Geld und ermangelt der notwendigen Nahrung. Aber dies muß doch ein unsinniger Reichtum sein, bei dessen Besitz man Hungers sterben könnte, wie man es von jenem Midas erzählt, demwegen der Unersättlichkeit seiner Wünsche alles, was ihm vorgesetzt wurde, zu Gold wurde. So sucht man eine andere Bestimmung des Reichtums und der Erwerbskunst, und mit Recht. Denn die rechte Erwerbskunst ist etwas anderes und ebenso der naturgemäße Reichtum; es ist die Hausverwaltungskunst. Die Kaufmannskunst dagegen produziert zwar Vermögen, aber nicht schlechthin, sondern nur durch den Umsatz von Gegenständen; und nur sie scheint sich um das Geld zu drehen. Denn das Geld ist das Element und die Grenze des Umsatzes. Darum ist der Reichtum, der von dieser Erwerbskunst kommt, allerdings unbegrenzt. Wie nämlich die Heilkunst unbegrenzt auf Gesundheit ausgeht und ebenso jede andere Kunst unbegrenzt auf ihr Ziel (denn sie wollen es so weit als möglich verwirklichen), während die Mittel zur Erreichung des Zieles nicht ins Unbegrenzte gehen (denn für sie alle ist das Ziel die Grenze), so findet auch für diese Erwerbskunst das Ziel keine Grenze; Ziel ist aber eben dieser Reichtum und der Erwerb von Geld. Die Hausverwaltung dagegen, die nicht diese Erwerbskunst ist, hat eine Grenze. Denn dieser Reichtum ist ja nicht ihre Aufgabe.
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Insofern scheint es denn, daß jeder Reichtum eine Grenze haben müsse. In Wirklichkeit sehen wir aber das Gegenteil: alle, die sich mit Erwerb befassen, vermehren ihr Geld ins Unbegrenzte. Der Grund liegt in der Verwandtschaft beider Künste. Da beide denselben Gegenstand haben, so geht die Verwendung ineinander über. Hier wie dort wird derselbe Besitz verwendet, aber nicht in derselben Weise: im einen Fall ist das Ziel ein anderes, im anderen ist es eben seine Vermehrung. So meinen denn einige, dies sei die Aufgabe der Hausverwaltung, und verharren bei der Meinung, der Geldbesitz müsse entweder bewahrt oder ins Unbegrenzte vermehrt werden. Ursache dieser Verfassung ist, daß man sich um das Leben, aber nicht um das vollkommene Leben bemüht. Da jenes Verlangen unbegrenzt ist, so verlangen sie auch nach unbegrenzten Mitteln dazu. Aber auch alte diejenigen, die auf das vollkommene Leben achten, suchen die Mittel für den körperlichen Genuß, und da auch diese mit dem Besitz gegeben zu sein scheinen, so richtet sich ihr ganzes Interesse auf den Gelderwerb, und so entsteht jene andere Art der Erwerbskunst. Denn da der Genuß in der Überfülle besteht, so suchen sie die Kunst, die die Überfülle des Genusses verschafft. Und wenn sie dies nicht durch die Erwerbskunst zustande bringen, so versuchen sie es auf andern Wegen und benützen dazu alle Fähigkeiten, aber gegen die Natur; denn die Tapferkeit soll nicht Geld verdienen, sondern Mut erzeugen, und auch die Feldherrnkunst und die Medizin sollen das nicht, sondern Sieg und Gesundheit verschaffen. Doch jene machen aus alledem einen Gelderwerb, als ob dies das Ziel wäre, auf das hin alles gerichtet werden müßte. So haben wir von der überflüssigen Erwerbskunst gesagt, was sie sei und aus welchem Grunde wir uns ihrer bedienen, und ebenso von der notwendigen, daß sie von jener verschieden und ihrer Natur nach eine Hausverwaltungskunst sei (sie betrifft nämlich die Ernährung), und daß sie nicht wie jene unbegrenzt sei, sondern eine Grenze besitze. 10. So beantwortet sich auch die Frage des Anfangs, ob nämlich die Erwerbskunst zur Aufgabe des Hausverwalters und des Staatsmanns gehört oder nicht, oder ob dies schon vorausgesetzt wird (wie nämlich XVIII
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die Politik auch die Menschen nicht erzeugt, sondern sie von der Natur übernimmt und sie verwendet, so muß die Natur auch die Nahrung darbieten, nämlich die Erde, das Meer usw.); dem Hausverwalter käme dann nur zu, dies richtig zu disponieren. Denn auch die Weberei produziert nicht die Wolle, sondern verwendet sie und beurteilt, welche gut und brauchbar ist und welche nicht. Sonst könnte man ja fragen, weshalb nur die Erwerbskunst ein Teil der Hausverwaltungskunst sei und nicht etwa auch die Medizin. Denn schließlich müssen die Hausbewohner auch gesund sein, so gut wie sie zu leben haben müssen und so weiter. Da es indessen teils die Aufgabe des Hausverwalters und des Regenten ist, für die Gesundheit zu sorgen, teils aber diejenige des Arztes, so sorgt auch für das Geld teils der Hausverwalter, teils die ihm untergeordnete Kunst. Vor allem aber, wie schon bemerkt, muß dies von Natur vorhanden sein. Denn es ist die Aufgabe der Natur, dem erzeugten Lebewesen die Nahrung zu bieten, wie ja allen Wesen von ihrer Geburt an das, was neben ihnen übrigbleibt, zur Nahrung dient. Darum liegt die naturgemäße Erwerbskunst für alle Menschen im Bereich der Pflanzen und Tiere. Da es aber eine doppelte Erwerbskunst gibt, wie wir gesagt haben, die des Kaufmanns und die des Hausverwalters, und da diese notwendig und lobenswert ist, die Tauschkunst da-gegen mit Recht getadelt wird (denn sie hat es nicht mit der Natur zu tun, sondern mit den Menschen untereinander), so ist erst recht der Wucher hassenswert, der aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat es auch seinen Namen : das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und durch den Zins (Tokos) entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur. 11. Da wir nun das Theoretische hinlänglich untersucht haben, müssen wir auch das Praktische durchgehen. Denn in allen diesen Dingen ist die Theorie frei, während die Erfahrung von den Notwendigkeiten ausgeht. XIX
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Die Teile der Erwerbskunst sind für die Praxis bestimmt: man muß in den Besitzstücken aus Erfahrung wissen, welche am gewinnbringendsten sind und wo und wie, etwa wie man Pferde kauft und Rinder oder Schafe, und ebenso bei den übrigen Tieren (man muß nämlich darin erfahren sein, welche Tiere vergleichsweise am gewinnbringendsten sind und welche in welchen Gegenden, da ja das Vieh in den verschiedenen Ländern verschieden gedeiht); ferner in der Landwirtschaft, und hier sowohl beim Getreideland wie auch beim Pflanzland, weiterhin in der Zucht der Bienen und der anderen Tiere, Fische oder Vögel, soweit sie von Nutzen sind. Dies sind die Teile der eigentlichen und ursprünglichen Erwerbskunst; bei der Tauschkunst ist der Hauptteil der Handel (dieser hat wieder drei Teile : Seehandel, Binnenhandel und Kleinhandel. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daß der eine sicherer ist, der andere mehr Gewinn einträgt), der zweite Teil ist das Zinsgeschäft, der dritte die Lohnarbeit (sie scheidet sich wiederum in die banausischen Künste und in die ungelernte, bloß körperliche Arbeit). Eine dritte Hauptform der Erwerbskunst zwischen dieser und der ersten (sie berührt nämlich teils die naturgemäße Erwerbskunst, teils die Tauschkunst) betrifft die Güter, die in der Erde sind oder von der Erde hervorgebracht werden, und zwar keine Früchte bringen, aber doch nützlich sind, wie der Holzschlag und jede Art von Bergbau. Dieser umfaßt wiederum viele Unterabteilungen. Denn es gibt viele Arten der aus der Erde geförderten Metalle. Dies sei nun hier nur im allgemeinen besprochen; es im einzelnen genau zu beschreiben ist zwar nützlich für die Praxis uns dabei aufzuhalten wäre aber doch zu ordinär. Die kunst vollsten dieser Verrichtungen sind diejenigen, bei denen e; am wenigsten auf den Zufall ankommt, die banausischster jene, die den Körper am meisten schädigen, die sklavischster jene, bei denen der Körper die meiste Arbeit zu verrichten hat die niedrigsten jene, bei denen es am wenigsten der Tüchtig keit bedarf. Und da nun einige hierüber geschrieben haben wie Charetides von Paros und Apollodoros von Lemnos übel die Landwirtschaft, und zwar Ackerbau wie Gartenbau,
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und andere über anderes, so mag, wer sich dafür interessiert, diese Werke nachlesen. Man muß auch die verstreuten Nachrichten darüber sammeln, wie es diese oder jene gemacht haben, um zu Geld zu kommen. Denn dies alles ist nützlich für jene, die die Erwerbskunst schätzen, so etwa die Geschichte von Thales von Milet: es ist ein finanzieller Einfall, den man jenem wegen seiner Weisheit zuschreibt, der aber von allgemeinem Interesse ist. Als man ihn nämlich wegen seiner Armut verhöhnte und behauptete, die Philosophie sei unnütz, da habe er, da er mit Hilfe der Astronomie eine ergiebige Olivenernte voraussah, noch im Winter mit dem wenigen Geld, das er besaß, sämtliche Ölpressen in Milet und Chios für einen geringen Betrag gepachtet, da ihn niemand überbot; als dann die rechte Zeit gekommen war und plötzlich und gleichzeitig viele Ölpressen verlangt wurden, da verpachtete er sie so teuer, wie ihm beliebte, und gewann viel Geld und zeigte so, daß es für den Philosophen leicht ist, reich zu werden, wenn er nur wolle, daß er aber darauf keinen Wert lege. Auf diese Weise soll also Thales einen Beweis seiner Weisheit geliefert haben. Es gehört aber, wie wir gesagt haben, überhaupt zur Erwerbskunst, wenn man sich auf diese Weise ein Monopol zu verschaffen vermag. Deshalb gebrauchen auch viele Staaten dieses Mittel, wenn sie in Geldverlegenheit sind. Sie machen den Verkauf von Waren zum Staatsmonopol. So kaufte in Sizilien einer aus dem Geld, das bei ihm hinterlegt war, das ganze Eisen aus den Eisenwerken auf, und als dann die Käufer von den Handelsplätzen zu ihm kamen, verkaufte er allein, doch ohne den Preis besonders aufzuschlagen; dennoch gewann er auf fünfzig Talente hundert. Als dies Dionysios erfuhr, ließ er ihn zwar sein Geld mitnehmen, verbot ihm aber in Syrakus zu bleiben, da er Erwerbsquellen entdeckt habe, die ihm selbst abträglich seien. Der Einfall des Thales und dieser hier sind derselbe. Beide verschafften sich durch einen Kunstgriff ein Monopol. Dies zu wissen ist auch für die Staatsmänner nützlich. Denn viele Staaten bedürfen des Gelderwerbs und derartiger Einnahmen. genauso wie ein Haus,
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nur in größerem Umfang. Darum sehen auch einige Politiker dies als ihre einzige Aufgabe an 12. Da wir nun drei Teile der Hausverwaltungslehre unter-schieden haben, das Herrenverhältnis, von dem vorhin gesprochen wurde, das Vaterverhältnis und drittens das eheliche Verhältnis [so steht es dem Manne zu], über die Frau und dit Kinder zu regieren, über beide als über Freie, aber nicht in derselben Weise, sondern über die Frau als Staatsmann und über die Kinder als Fürst. Denn das Männliche ist von Natur zur Leitung mehr geeignet als das Weibliche (wenn nicht etwa ein Verhältnis gegen die Natur vorhanden ist), und ebenso das Ältere und Erwachsene mehr als das Jüngere und Unerwachsene. In den meisten Verfassungsstaaten wechseln das Regierende und das Regierte miteinander ab; dieser Staatstyp strebt seiner Natur nach zur Gleichheit und Unterschiedslosigkeit. Dennoch wird, solange das eine regiert und das andere regiert wird, ein Unterschied in Auftreten, Anrede und Ehren gefordert, entsprechend der Erzählung von Amasis und der Fußwanne. Das Männliche verhält sich nun zum Weiblichen immer in dieser Weise. Die Herrschaft über die Kinder ist eine königliche. Denn das Erzeugende geht in der Liebe und im Alter voran, und dies charakterisiert die königliche Herrschaft. Daher hat Homer den Zeus richtig als »Vater der Götter und Menschen« bezeichnet, nämlich als König über diese alle. Denn der König muß seiner persönlichen Natur nach unterschieden, der Gattung nach aber derselbe sein; und in diesem Verhältnis steht das Altere zum Jüngeren und der Erzeuger zum Kind. 13. Es ist also klar, daß die Aufmerksamkeit der Hausverwaltung sich mehr auf die Menschen richten wird als auf den unbeseelten Besitz, und mehr auf die Tüchtigkeit von jenen als auf den Vorzug des Besitzes, den man Reichtum nennt, und mehr auf die Tugend der Freien als auf die der Sklaven. Man könnte aber erstens beim Sklaven fragen, ob es bei ihm neben seinen Vorzügen als Werkzeug und Diener auch noch eine andere, XXII
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höhere Tugend gibt, wie Mäßigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und die andern derartigen Haltungen, oder ob es für ihn nichts gibt außer der körperlichen Dienstleistung. Die Schwierigkeit besteht nach beiden Richtungen. Wenn nämlich jenes gilt, worin unterscheidet sich dann der Sklave vom Freien? Daß aber jenes nicht gelten soll, ist auch unsinnig, da sie doch Menschen sind und an der Vernunft teilhaben. Indessen stellt sich beinahe dieselbe Frage auch bei Frau und Kind, ob nämlich auch diese ihre Tugenden besitzen, und ob auch eine Frau besonnen, tapfer und gerecht sein muß, und ob es auch bald zügellose, bald besonnene Kinder gibt oder nicht. Ganz im allgemeinen ist bei dem von Natur Regierenden und Regierten zu untersuchen, ob sie dieselbe Tugend besitzen oder nicht. Wenn nämlich beide an der Vollkommenheit teilhaben sollen, warum soll dann der eine ein für allemal befehlen und der andere gehorchen? (Einen Unterschied des Mehr oder Weniger kann es da nicht geben. Denn Regieren und Regiertwerden unterscheiden sich der Art nach, was ein Mehr oder Weniger keineswegs tut.) Wenn es sich aber umgekehrt verhielte, so wäre dies sonderbar. Denn wenn der Re-gierende nicht besonnen und gerecht ist, wie wird er dann gut regieren? Und wenn es der Regierte nicht ist, wie kann er dann gut regiert werden? Denn ist er zügellos und träge, wird er seine Pflicht nicht tun. Es ist also klar, daß beide an der Tugend teilhaben müssen, daß es aber einen Unterschied geben wird, wie ja auch die von Natur Regierenden sich unterscheiden. Ein Vorbild dafür haben wir gleich an der Seele. Denn in ihr gibt es ein von Natur Herrschendes und ein Dienendes, und jedes von beiden, das Vernunftbegabte und das Vernunftlose, hat seine eigene Tugend. Offensichtlich verhält es sich so auch beim anderen. Also gibt es von Natur mehrere Arten von Herrschendem und Dienendem. Denn anders herrscht der Freie über den Sklaven, das Männliche über das Weibliche und der Erwachsene über das Kind. Bei allen finden sich die Teile der Seele, aber in verschiedener Weise. Der Sklave besitzt das planende Vermögen überhaupt nicht, das Weibliche besitzt es zwar, aber ohne Entscheidungskraft, das Kind besitzt es, aber noch unvollkommen. Ebenso muß es sich auch mit den ethischen Tugenden XXIII
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verhalten. Alle müssen an ihnen teilhaben, aber nicht auf dieselbe Weise, sondern soviel ein jedes für seine besondere Aufgabe braucht. So muß der Regentdie ethische Tugend vollkommen besitzen (denn seine Aufgabe ist schlechthin die des Werkleiters, und Werkleiter ist die Vernunft) und von den anderen jedes so viel, als ihm zu kommt. Also gehört die ethische Tugend allen Genannten doch ist die Besonnenheit des Mannes und der Frau nicht die-selbe und auch nicht die Tapferkeit und die Gerechtigkeit wie Sokrates meinte, sondern das eine ist eine regierende Tapferkeit, das andere eine dienende und so weiter. Dies zeigt sich auch, wenn man im einzelnen prüft. Ganz in allgemeinen täuschen sich jene, die sagen, die Tugend se. »eine gute Verfassung der Seele« oder »ein Rechthandeln« oder ähnliches. Viel richtiger reden da jene, die (wie Gorgias: die Tugenden einfach aufzählen, anstatt sie so zu bestimmen. Es gilt also überall, was der Dichter vom Weibe sagt: »Den Weibe bringt das Schweigen Zier«, aber für den Mann trifft dies nicht mehr zu. Das Kind ist noch unentwickelt, und se hat natürlich seine Tugend noch keinen selbständigen Charakter, sondern bezieht sich auf den Erwachsenen, der es leitet. Ebenso ist die Tugend des Sklaven auf seinen Herrn bezogen. Wir haben gesagt, daß der Sklave nur für die Arbeiten des Lebensbedarfs gebraucht wird, so daß er auch nur geringer Tugend bedarf, gerade genügend, damit er nicht aus Zuchtlosigkeit oder Trägheit den Dienst versäumt. Man könnte ferner fragen, ob auch die Handwerker der Tugend bedürfen, wenn das Gesagte wahr ist. Denn sie versäumen oft aus Zuchtlosigkeit ihre Arbeit. Oder liegt hier viel-mehr ein wesentlicher Unterschied vor? Der Sklave lebt mit seinem Herrn zusammen, der Handwerker steht ihm ferner und hat nur so viel Anteil an der Tugend, als er Anteil an der Sklavenarbeit hat. Der banausische Handwerker lebt nämlich in einer teilweisen und begrenzten Sklaverei. Außerdem ist der Sklave von Natur, was er ist: Schuster und ein sonstiger Handwerker ist aber keiner von Natur. Klar ist demnach, daß der Herr den Sklaven zu der diesem entsprechenden Tugend bringen muß, und nicht etwa derjenige, der XXIV
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ihm den Unterricht in den Dienstverrichtungen erteilt. Darum irren auch jene, die den Sklaven die Vernunft absprechen und erklären, man müsse ihnen bloß befehlen. Die Sklaven müssen im Gegenteil noch viel mehr ermahnt werden als die Kinder. Dies sei also auf diese Weise festgelegt. Über Mann und Frau aber, Kinder und Vater, über ihre jeweilige Tugend und ihren gegenseitigen Verkehr, und was darin richtig und falsch ist, und wie man das Richtige aufsuchen und das Falsche meiden soll, darüber muß in den Untersuchungen über die Staatsverfassungen gesprochen werden. Denn jedes Haus ist ein Teil des Staates, und jene Verhältnisse sind ein Teil des Hauses, und die Tugend des Teils muß man im Hinblick auf diejenige des Ganzen bestimmen. So ist es notwendig, die Kinder und die Frauen im Hinblick auf die Staatsverfassung zu erziehen, sofern es für die Tüchtigkeit des Staates etwas ausmacht, daß auch die Kinder und die Frauen tüchtig seien. Es muß in der Tat etwas ausmachen. Denn die Frauen sind die Hälfte der Freien, und die Kinder sind die künftigen Teilhaber an der Staatsverwaltung. Da wir nun dies festgelegt haben und das übrige anderswo behandeln werden, so werden wir diese Untersuchung als abgeschlossen betrachten und einen neuen Ausgangspunkt wählen und als erstes diejenigen prüfen, die über die beste Staatsverfassung sich geäußert haben.
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Aristoteles Politik - II. Buch
Zweites Buch 1. Da wir uns vorgenommen haben, zu untersuchen, welches von allen die beste staatliche Gemeinschaft ist für diejenigen Menschen, die in der Lage sind, soweit als irgend möglich ihren Wünschen gemäß zu leben, so müssen wir auch die sonstigen Staatsverfassungen beachten, teils jene, die in einigen Staaten, die als gut eingerichtet gelten, im Gebrauche sind, teils solche, die von Theoretikern beschrieben wurden und gerühmt werden; wir müssen erkennen, was an ihnen richtig und brauchbar ist, und den Schein meiden, als sei unsere Absicht, etwas anderes neben ihnen zu suchen, bloß dem Ehrgeiz entsprungen, Scharfsinn zu zeigen, und als hätten wir diese Untersuchung nicht vielmehr deshalb begonnen, weil die vorhandenen Verfassungen nicht befriedigen können. Wir müssen mit dem beginnen, was der naturgemäße Anfang einer solchen Prüfung ist. Notwendigerweise haben alle Bürger entweder alles gemeinsam, oder nichts, oder einiges. Daß sie nichts gemeinsam haben, ist offenbar unmöglich. Denn der Staat ist eine Gemeinschaft, und es ist als erstes notwendig, den Raum gemeinsam zu haben; der Raum Eines Staates ist Einer, und die Bürger sind Teilhaber eben an Einem Staate. Aber ist es für einen Staat, der gut eingerichtet sein soll, am besten, daß die Bürger möglichst viel gemeinsam haben, oder nur einiges? Denn die Bürger können ja auch Frauen, Kinder und Besitz untereinander gemeinsam haben, wie es im Staate Platons der Fall ist. Dort sagt nämlich Sokrates, daß Kinder, Frauen und Besitz gemeinsam sein sollen. Ist es nun besser, es so zu halten, wie es tatsächlich ist, oder wie es in Platons Staat geregelt wird? 2. Neben vielen anderen Schwierigkeiten bringt nun die all-gemeine Gemeinschaft der Frauen besonders jene mit sich, daß der Zweck, um dessentwillen nach der Behauptung des Sokrates dieses Gesetz gelten soll, mit seinen Erwägungen gar nicht erreicht wird. Außerdem ergibt sich als das Ziel, das nach ihm der Staat erreichen soll, Unmögliches, so wie er nämlich die Sache formuliert. Wie man da aber unterscheiden müsse, davon wird nichts gesagt. I
Aristoteles Politik - II. Buch
Ich meine dies, daß es das beste sein soll, wenn der gesamte Staat so sehr als möglich eins wird; diese Voraussetzung macht nämlich Sokrates. Es ist aber doch klar, daß ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr ist. Seiner Natur nach ist er eine Vielheit. Wird er immer mehr eins, so wird er aus dem Staat ein Haus und aus dem Hause ein einzelner Mensch. Denn wir dürfen wohl sagen, daß ein Haus mehr eins ist als ein Staat, und ein einzelner Mensch noch mehr als ein Haus. Auch wenn man also diese Einheit herstellen könnte, dürfte man es nicht. Denn man würde den Staat überhaupt aufheben. Der Staat besteht außerdem nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Art nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat. Denn ein Staat und eine Bundesgenossenschaft sind verschieden. Diese ist begründet in ihrer Quantität, auch wenn keine Unterschiede in der Art vorhanden sind (denn die Bundesgenossenschaft ist ihrem Wesen nach um der gegenseitigen Hilfe willen da), so wie etwa ein Gewicht rein durch seine Größe hinunterzieht. Auf dieselbe Weise unterscheidet sich ja auch ein Staat von einem Stamme, soweit die Leute nicht nach Dörfern getrennt sind, sondern wie bei den Arkadern. Wo aber eine Einheit entstehen soll, da muß es Verschiedenheiten der Art geben; daher bewahrt die ausgleichende Gerechtigkeit den Staat, wie wir früher in der Ethik gesagt haben. Dies muß auch bei Freien und Gleichberechtigten gelten. Denn es können nicht alle gleichzeitig regieren, sondern jahrweise oder nach irgendeiner andern Ordnung oder Zeit. Auf diese Weise werden doch alle regieren, wie wenn etwa Schuster und Schreiner in der Arbeit abwechselten und nicht immer die-selben Schuster und Schreiner wären. Da aber im Hinblick auf die Kunst das zweite besser ist, so wird es auch im Hinblick auf die staatliche Gemeinschaft so sein; also ist es offenbar besser, wenn immer dieselben regieren, falls es möglich ist. Wo dies aber nicht möglich ist, weil alle von Natur gleich sind und dies auch gerecht ist, da müssen alle an der Regierung teilhaben, mag dies nun zweckmäßig oder unzweckmäßig sein; dies wird dargestellt dadurch, daß abwechslungsweise die Gleichberechtigten einander II
Aristoteles Politik - II. Buch
Platz machen und außerhalb des Amtes einander ebenbürtig sind. Da regieren sie denn abwechslungsweise und werden regiert, als wären sie andere geworden. Auf dieselbe Weise verwalten a auch die Beamten bald dieses, bald jenes Amt. Hieraus wird klar, daß der Staat von Natur nicht in dem Sinne Einer ist, den einige meinen, und daß das, was als das größte Gut für den Staat bezeichnet wird, den Staat vielmehr aufhebt. Dabei wird doch jedes Wesen durch das, was sein Gut ist, bewahrt. Es zeigt sich noch in anderer Weise, daß es nicht gut ist, den Staat allzusehr vereinheitlichen zu wollen. Das Haus ist mehr autark als der Einzelne, der Staat mehr als das Haus; und er wird erst dann wirklich zu einem Staat, wenn die Gemeinschaft der Menge autark geworden ist. Wenn also die größere Autarkie das Wünschbarere ist, so ist auch die geringere Einheitlichkeit das Wünschbarere. 3. Aber selbst wenn es das beste wäre, daß die Gemeinschaft möglichst einheitlich ist, so ist dies der Sache nach nicht damit erreicht, daß alle gleichzeitig »mein« und »nicht mein« sagen. Sokrates meint ja, daß dies ein Zeichen davon sei, daß der Staat vollkommen eins sei. Der Begriff »alle« hat indessen eine doppelte Bedeutung. Wenn er heißt »jeder einzelne für sich«, dann existiert eigentlich schon, was Sokrates erstrebt; denn jeder wird seinen Sohn als seinen Sohn und seine Frau als seine Frau bezeichnen, und ebenso wird er vom Vermögen und allem, was ihn betrifft, sprechen. Aber jene, die die Frauen und Kinder gemeinsam haben, werden gerade nicht so reden : alle zusammen können es, aber nicht jeder einzelne und ebenso alle zusammen vom Vermögen, aber nicht jeder einzelne. Es ist also offensichtlich ein Trugschluß, hier von »allen« zu sprechen (die Begriffe Alle, Beide, Ungrade, Gerade erzeugen auch in der Logik wegen ihres Doppelsinnes eristische Schlüsse. Darum ist der Zustand, daß alle dieselben Begriffe gebrauchen, teils ideal, aber nicht zu verwirklichen, teils gar kein Beweis von Eintracht). Außerdem hat jene Lehre einen weiteren Fehler. Was den meisten gemeinsam ist, erfährt am wenigsten Fürsorge. Denn um das Eigene kümmert man sich am meisten, um das Gemeinsame weniger oder nur III
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soweit es den einzelnen angeht. Denn, abgesehen vom übrigen, vernachlässigt man es eher, weil sich doch ein anderer darum kümmern wird, so wie auch in den häuslichen Dienstleistungen viele Diener zuweilen weniger leisten als wenige. Nun bekommt aber jeder Bürger tausend Söhne, und diese nicht als Söhne eines einzelnen, sondern jeder beliebige ist gleichmäßig Sohn von jedem beliebigen. Also werden sie sie alle gleichmäßig vernachlässigen. Ferner wird jeder von einem Bürger, dem es gut oder schlecht geht, sagen »mein Sohn« mit dem Maß an Interesse, als der Teil groß ist, den er von der Zahl der Väter bildet; er sagt »der meinige« oder »der des X« mit Hinblick auf jeden der tausend Söhne, oder wie viele der Staat haben mag, und dies erst noch mit Ungewißheit; denn es bleibt unbekannt, wem ein Kind geboren wurde und wem es am Leben blieb. Ist es nun besser, daß jeder einzelne so von »dem meinigen« spricht und dieselbe Anrede mit zweitausend oder zehntausend andern teilt, oder so wie jetzt in den Staaten das »meinige« verstanden wird? Heute nennt einer seinen Sohn, der andere seinen Bruder mit eben diesen Namen, ein dritter den Vetter oder einen sonstwie Verwandten, auf Grund von wirklicher Blutsverwandtschaft oder Angehörigkeit und Schwägerschaft, sei es durch ihn persönlich oder durch seine Verwandten; ein anderer wiederum spricht von seinen Geschlechtsund Stammesgenossen. Denn es ist besser, ein wirklicher Vetter zu sein, als auf jene unwirkliche Weise ein Sohn. Es wird auch nicht zu umgehen sein, daß einige ihre Brüder, Kinder, Väter und Mütter erraten; denn gemäß der Ähnlichkeit, die die Kinder mit den Erzeugern haben, müssen sie dies voneinander annehmen. Daß dies tatsächlich vorkommt, lesen wir in manchen Erdbeschreibungen : bei einigen Stämmen des oberen Libyen seien die Frauen gemeinsam, doch die Kinder würden nach der Ähnlichkeit verteilt. Es gibt ja auch Weibchen bei andern Lebewesen, wie Pferden und Rindern, die erstaunlich dazu veranlagt sind, den Erzeugern ähnliche Junge zu gebären; so die Stute in Pharsalos, die die Gerechte hieß.
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Aristoteles Politik - II. Buch
4. Auch die folgenden Schwierigkeiten sind nicht leicht zu vermeiden für jene, die eine solche Gemeinschaft einrichten, nämlich Verletzungen und Morde (teils unfreiwillige, teils freiwillige), Streit und Beschimpfungen. Dies sind Dinge, die vielleicht gegen Fernstehende, aber keinesfalls gegen Väter und Mütter und nahe Verwandte vorkommen dürfen. Sie müssen jedoch öfter vorkommen, wenn man einander nicht kennt, als wenn man einander kennt. Und sind sie geschehen, so können unter Menschen, die einander kennen, die gebräuchlichen Sühnen geleistet werden, im andern Falle aber nicht. Unsinnig ist auch, zwar die Söhne gemeinsam sein zu lassen, den Liebhabern aber nur das Schlafen bei ihren Geliebten zu verbieten, die Liebe selbst aber nicht zu verhindern und auch nicht den sonstigen Umgang, der doch zwischen Vater und Sohn und unter Brüdern äußerst unpassend ist, wie ja auch schon Liebesgefühle selbst. Ebenso unsinnig ist es, das Beieinanderschlafen aus keinem andern Grunde zu verbieten, als weil die Lust allzu heftig würde. Daß es sich aber dabei um Vater und Sohn oder um Brüder handeln kann, scheint nichts auszumachen. Ferner scheint die Gemeinschaft der Frauen und Kinder eher bei den Bauern nützlich zu sein als bei den Wächtern. Wo nämlich Frauen und Kinder gemeinsam sind, da wird weniger Freundschaft bestehen, und dies ist insofern zweck-mäßig, als dann die Regierten leichter gehorchen und nicht Neuerungen planen. Allgemein wird notwendigerweise durch ein derartiges Gesetz das Gegenteil von dem erreicht, was ein richtiges Gesetz erreichen soll, und weshalb Sokrates glaubt, die Verhältnisse der Frauen und Kinder auf diese Weise ordnen zu müssen. Wir meinen nämlich, daß die Freundschaft das größte Gut für einen Staat ist (denn so werden wohl am wenigsten Bürgerkriege stattfinden), und Sokrates lobt aufs höchste die Einheit des Staates, die (wie er sagt und wie es auch zutrifft) das Werk der Freundschaft ist; denn so hören wir auch im Dialog über die Liebe den Aristophanes sagen, daß die Liebenden wegen der Heftigkeit ihrer Liebe zusammenzuwachsen begehren und aus zweien eins werden möchten. Da müssen nun notwendigerweise V
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entweder alle beide oder der eine der beiden zugrunde gehen. Im Staate wiederum muß bei einer solchen Gemeinschaft die Freundschaft fad werden, und Väter und Söhne werden am allerwenigsten zueinander »mein« sagen. Denn wie ein wenig Süßes, in viel Wasser hineingetan, die Mischung unbemerkbar macht, so geschieht es auch mit der gegenseitigen Vertrautheit, die in solchen Namen liegt. In einem derartigen Staat wird man sich als Vater um die Söhne, als Sohn um den Vater oder als Brüder umeinander am allerwenigsten zu kümmern verpflichtet fühlen. Denn zwei Dinge erwecken vor allem die Fürsorge und Liebe der Menschen: das Eigene und das Geschätzte. Bei den Bürgern eines solchen Staates kann weder das eine noch das andere vorhanden sein. Aber auch die Versetzung der neugeborenen Kinder der Bauern und Handwerker unter die Wächter und umgekehrt schafft große Verwirrung. Denn wie soll sie vor sich gehen? Jene, die die Kinder übergeben und vertauschen, müssen notwendigerweise wissen, wem sie welche Kinder geben. Überdies muß das früher Bemerkte bei den so Vertauschten noch mehr vorkommen, Verletzungen, Liebeshändel und Mord. Denn die zu den andern Bürgern Gegebenen nennen die Wächter nicht mehr Brüder, Kinder, Väter und Mütter, und ebenso umgekehrt die zu den Wächtern Versetzten die andern Bürger, so daß sie sich etwa wegen der Verwandtschaft hüten könnten, derartiges zu tun. Über die Frauen- und Kindergemeinschaft sei also dies gesagt. 5. Hieran schließt sich die Untersuchung über den Besitz. Wie soll er in einem Staate, der die beste Verfassung besitzen wird, eingerichtet werden: soll er gemeinsam sein oder nicht? Man kann diese Frage getrennt von derjenigen nach der Gesetzgebung über Frauen und Kinder behandeln, nämlich, ob der Besitz oder sein Gebrauch gemeinsam sein sollen, auch wenn jenes, wie es in Wirklichkeit für alle Staaten zutrifft, nicht gemeinsam ist. Soll der Grundbesitz Privateigentum bleiben, der Ertrag aber zusammengetan und zusammen verbraucht werden (wie dies einige Völkerstämme tun), oder soll umgekehrt das Land gemeinsamer Besitz sein und VI
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gemeinsam bebaut und nur der Ertrag zu individuellem Verbrauch verteilt werden (es heißt, daß einige Barbarenvölker auch diese Art von Gemeinschaft haben), oder sollen endlich die Grundstücke und die Erträgnisse gemeinsam sein? Wenn nun das Land von andern als den Bürgern bebaut würde, so wäre die Lage anders und leichter; da sie nun aber selbst und für sich selbst arbeiten, so werden die Fragen hinsichtlich des Besitzes größere Schwierigkeiten bereiten. Denn wenn in Genuß und Arbeit keine Gleichheit, sondern Ungleichheit besteht, so werden jene, die viel arbeiten und wenig erhalten, denjenigen Vorwürfe machen, die viel genießen oder erhalten, aber weniger arbeiten. Im allgemeinen ist das Zusammenleben und die Gemeinschaft in allen menschlichen Angelegenheiten schwer und besonders in diesen. Das zeigen etwa die Reisegesellschaften. Denn da streiten sich die meisten wegen Alltäglichkeiten und Kleinigkeiten und geraten aneinander. Auch ärgern wir uns über jene Diener am meisten, die wir am häufigsten zu den alltäglichen Verrichtungen verwenden. Die Gemeinschaft des Besitzes hat also diese und ähnliche Schwierigkeiten. Dagegen dürfte die gegenwärtige Einrichtung, durch Sitten und Anordnung richtiger Gesetze verbessert, nicht wenige Vorzüge bieten. Sie würde das Gute von beidem haben, ich meine vom Prinzip des gemeinsamen Besitzes und dem Prinzip des Privatbesitzes. Denn in bestimmtem Sinne müssen die Güter gemeinsam sein, im allgemeinen dagegen privat. Wenn jeder für das Seinige sorgt, werden keine Anklagen gegeneinander erhoben werden, und man wird mehr vorankommen, da jeder am Eigenen arbeitet. Die Tugend wiederum wird den Gebrauch nach dem Sprichwort: »Den Freunden ist alles gemeinsam« regeln. Schon jetzt ist es in einigen Staaten in dieser Weise skizziert, so daß also die Sache nicht unmöglich ist. Vor allem in wohleingerichteten Staaten ist manches schon verwirklicht, manches könnte wohl noch verwirklicht werden. Jeder hat da seinen Privatbesitz, aber manches stellt er seinen Freunden zur Benutzung zur Verfügung, anderes benutzt er als ein gemeinsames Gut, wie etwa in Sparta sich jeder der Sklaven des andern gewissermaßen wie seiner eigenen bedient, ebenso der Pferde VII
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und Hunde, und wenn sie auf dem Lande der Wegzehrung bedürfen. Es ist also offenbar besser, daß der Besitz privat bleibt, aber durch die Benutzung gemeinsam wird. Daß aber die Bürger sich dementsprechend verhalten, ist die besondere Aufgabe des Gesetzgebers. Es ist auch unbeschreiblich, welche Lust es gewährt, etwas als sein Eigentum bezeichnen zu können. Gewiß besitzt jeder nicht umsonst die Liebe zu sich selbst, sondern dies ist von Natur so. Die Eigenliebe wird zwar mit Recht getadelt. Aber da handelt es sich nicht um die Selbstliebe, sondern um die übertriebene Liebe zu sich selbst, so wie beim Geldgierigen, während doch sozusagen alle jedes ihrer Besitzstücke lieben. Aber auch den Freunden, Gästen oder Gefährten Freundlichkeiten oder Hilfe zu gewähren, macht die größte Freude. Dies kann man aber nur, wenn es Privateigentum gibt. Dies alles erreichen nun jene nicht, die den Staat allzusehr vereinheitlichen; außerdem heben sie offensichtlich die Übung zweier Tugenden auf, der Selbstzucht gegenüber den Frauen (denn es ist edel, aus Selbstzucht die Ehefrau eines anderen zu respektieren) und der Freigebigkeit in Vermögenssachen. Denn eine freigebige Gesinnung kann nicht sichtbar werden, und eine Tat der Freigebigkeit kann nicht geschehen; ihr Werk ist ja gerade die Verwendung des Privateigentums. So sieht jene Gesetzgebung zwar großartig und menschenfreundlich aus, und wer von ihr hört, nimmt sie gerne an (denn er meint, es werde eine wunderbare Freundschaft aller zu allen entstehen), vor allem, wenn man die jetzt in den Staaten bestehenden Übel der Tatsache zuschreibt, daß der Besitz nicht gemeinsam ist; ich meine die gegenseitigen Prozesse über Verträge, die Gerichtsurteile wegen falscher Zeugnisse, das Schmeicheln bei den Reichen. Aber diese Dinge kommen nicht vom Fehlen der Gütergemeinschaft, sondern von der Schlechtigkeit der Menschen; wir sehen auch, daß solche, die einen gemeinsamen Besitz haben und ihn gemeinsam benutzen, viel mehr Streit miteinander haben als die Besitzer von Privateigentum. Aber wir beachten nur wenige, die über Gemeinschaftsgut streiten, und vergleichen sie mit den vielen, die Privatbesitz haben. VIII
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Es wäre ferner auch gerecht, nicht nur die vielen Übel zu nennen, die bei Gütergemeinschaft wegfallen, sondern auch die vielen Vorteile. Dann erweist es sich als ganz unmöglich, auf diese Weise zu leben. Die Schuld an dem Fehler des Sokrates muß man seiner unrichtigen Voraussetzung zuschreiben. In gewisser Weise müssen das Haus und der Staat allerdings eins sein, aber nicht schlechthin. Es gibt einen Grad der Einheit, bei dem der Staat überhaupt nicht mehr existiert, und es gibt einen, bei dem der Staat beinahe kein Staat mehr ist und jedenfalls ein schlechterer Staat wird, so wie wenn man die Symphonie zur Homophonie und den Rhythmus zu einem einzigen Takte machen würde. Man muß vielmehr den Staat, der eine Vielheit ist, wie früher bemerkt, durch die Erziehung zu einer Gemeinschaft und Einheit machen. Und es ist sonderbar, daß jemand, der erziehen will und den Staat durch Erziehung tüchtig zu machen hofft, meint, ihn mit solchen Mitteln zurechtzurichten und nicht viel-mehr durch Gewöhnung, Philosophie und Gesetze, wie etwa in Sparta und Kreta der Gesetzgeber durch die gemeinsamen Mahlzeiten eine Gemeinschaft des Besitzes zustande brachte. Man muß auch die lange Zeit und die vielen Jahre bedenken, in welchen es nicht verborgen geblieben wäre, wenn jene Einrichtung richtig wäre. Denn so ziemlich alles ist schon erfunden worden, nur hat man manches nicht gesammelt, und anderes ist zwar bekannt, wird aber nicht angewendet. Am klarsten würde es, wenn man eine solche Verfassung einmal tatsächlich eingeführt sähe. Man würde den Staat gar nicht aufbauen können, ohne die Dinge zu teilen und zu sondern, in Tischgemeinschaften, Geschlechter- und Stammesverbände. Es verbliebe also an gesetzlichen Neuerungen nur die, daß die Wächter nicht das Land bebauen sollen; dies ist nichts andere als was die Spartaner gegenwärtig einzuführen versuchen. Auch welches die Lebensart des gesamten Staates in jener Gemeinschaft sein soll, hat Sokrates nicht gesagt. Es läßt sich auch nicht leicht sagen. Denn die Masse im Staate besteht au: der Menge der gewöhnlichen Bürger, und da wird nicht bestimmt, ob auch die Bauern einen gemeinsamen Besitz haben sollen oder nicht, und ob sie die Frauen und Kinder gemeinsam. haben sollen oder nicht. Denn IX
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wenn in derselben Weise allen alles gemeinsam ist, worin werden sich dann diese von den Wächtern unterscheiden? Oder was hätten sie davon, wenn sie jenen dienten? Oder auf Grund welcher Tatbestände werden sie ihnen dienen? Falls man sich nicht etwas Ähnliches ausdenkt wie die Kreter: sie haben sich in allem mit den Sklaven auf gleichen Fuß gestellt und ihnen nur die Gymnastik und den Besitz von Waffen verboten. Wenn dagegen diese Dinge bei den Bauern wie in den andern Staaten eingerichtet sein sollen, was für eine Gemeinschaft wird dann dies sein? In dem einen Staate gäbe es dann zwangsläufig zwei Staaten, und diese in einem Gegensatz zueinander. Denn Sokrates macht die Wächter zu einer Art von Besatzung und die Bauern, Handwerker usw. zu Bürgern. Und Klagen und Prozesse und die andern Übel, die er den übrigen Staaten zuschreibt, werden alle auch da vorhanden sein. Und doch sagt Sokrates, daß sie wegen ihrer Erziehung nicht vieler Gesetze bedürfen, etwa über Stadtpolizei, Marktpolizei usw. Aber eine Erziehung gewährt er dabei nur den Wächtern. Ferner macht er die Bauern gegen Abgabe einer Steuer zu Herren ihres Besitzes. Aber es ist anzunehmen, daß sie auf diese Weise viel schwieriger und hochmütiger werden als anderswo die Heloten, Penesten und sonstigen Sklaven. Ob also diese Einrichtungen gleichmäßig notwendig sind oder nicht, darüber wird nichts gesagt und auch nicht über das damit Zusammenhängende, welches nun die Verfassung, Erziehung und Gesetze dieser Bauern sind. Dies ist nicht leicht auszudenken; es macht auch für die Bewahrung der Gemeinschaft der Wächter keinen kleinen Unterschied aus, was für einen Charakter jene haben werden. Wenn etwa der Gesetzgeber die Frauen gemeinsam sein läßt, die Felder aber im Privatbesitz, wer wird dann die Häuser verwalten, so wie die Männer die Felder bestellen? Wenn aber die Frauen der Bauern und der Besitz gemeinsam sind [dann wird die Schwierigkeit noch größer]. Es ist auch unsinnig, mit den Tieren zu vergleichen (daß nämlich die Frauen dieselbe Arbeit leisten sollen wie die Männer), da jene ja keinen Haushalt führen. Auch die Sache mit den Regenten ist heikel, so wie sie Sokrates einrichtet. Denn er macht immer dieselben zu Regenten. Dies führt zu X
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Aufruhr selbst bei solchen, die keine Selbstachtung besitzen, und erst recht bei leidenschaftlichen und kriegerischen Männern. Daß er aber gezwungen ist, immer dieselben regieren zu lassen, ist klar. Denn »das von den Göttern kommende Gold« ist nicht bald diesen, bald jenen Seelen beigemischt, sondern stets denselben. Er sagt ja, gleich bei der Geburt habe die Gottheit den einen Gold, den andern Silber beigemischt und Erz und Eisen denjenigen, die Handwerker und Bauern zu werden bestimmt waren. Wenn er endlich den Wächtern die Glückseligkeit wegnimmt, so behauptet er, der Gesetzgeber müsse den ganzen Staat glückselig machen. Er kann aber unmöglich in seiner Gesamtheit glückselig werden, wenn nicht alle, oder die meisten, oder doch einige Teile die Glückseligkeit besitzen. Denn es steht mit dieser nicht so wie mit der geraden Zahl. Hier kann das Ganze gerade sein, ohne daß es irgendeiner der Teile ist. Bei der Glückseligkeit ist es aber unmöglich. Wenn aber die Wächter nicht glückselig sind, wer soll es dann sonst sein? Doch nicht die Handwerker und die Menge der Banausen. Die Verfassung also, über die Sokrates gesprochen hat, hat diese wie auch andere nicht geringere Schwierigkeiten. 6. Ziemlich ähnlich verhält es sich mit den später geschriebenen >GesetzenStaate< hat Sokrates nur wenige Punkte festgelegt, wie es mit der Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft gelten soll und mit der Ordnung der Bürgerschaft (er teilt die Gesamtheit der Einwohner in zwei Teile, in die Bauern und in die Krieger; aus diesen entnimmt er den dritten, den beratenden, der den Staat regiert); über die Bauern und Handwerker aber, ob sie an der Regierung Anteil haben oder nicht, und ob auch sie Waffen besitzen und mit in den Krieg ziehen sollen oder nicht, darüber hat Sokrates nichts bestimmt. Er meint bloß, die Frauen müßten mitkämpfen und dieselbe Erziehung genießen wie die Wächter; im übrigen hat er das Buch mit Exkursenaußerhalb des Gegenstandes angefüllt und mit Gesprächen darüber, wie die Erziehung der Wächter sein soll. XI
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Von den >Gesetzen< enthält der größte Teil bloß Gesetze und über die Verfassung wird nur wenig gesagt. Und obwohl er diese den bestehenden Staaten näher anpassen will, komm er doch schrittweise wieder auf die erste Verfassung zurück Denn, abgesehen von der Frauen- und Gütergemeinschaft läßt er für beide Verfassungen dasselbe gelten. Er gibt der Regierenden dieselbe Erziehung, läßt sie frei von aller Arbeit für den Lebensunterhalt leben und redet auch über die gemeinsamen Mahlzeiten gleich. Nur fordert er hier gemeinsame Mahlzeiten auch für die Frauen und nimmt dort tausend Waffentragende an, hier dagegen fünftausend. Kühnheit, Geist, Originalität und Energie des Forschen zeigen nun zwar alle Gespräche des Sokrates, aber daß sie immer recht haben, kann man kaum sagen; so darf man auch bei der hier angegebenen Zahl nicht übersehen, daß so viele Menschen ein Land von der Größe Babyloniens oder von ähnlichem riesigem Umfang haben müßten, damit fünftausend Müßiggänger ernährt werden können und zu diesen hinzu eine andere, noch vielfach größere Masse von Frauen und Dienern. Man darf gewiß Voraussetzungen nach Wunsch machen, aber keine unmöglichen. Es heißt ferner, daß der Gesetzgeber beim Erlassen der Gesetze auf zweierlei achten müsse, auf das Land und auf die Menschen. Es wäre gut, auch beizufügen: auf die Nachbargebiete, vor allem, wenn der Staat nicht für sich isoliert, sondern in politischer Tätigkeit leben soll (er muß also nicht nur so weit für den Krieg bewaffnet sein, als es im eigenen Lande zweckmäßig ist, sondern auch mit Hinblick auf die Gebiete außerhalb). Selbst wenn man ein Leben in solcher Tätigkeit weder für den Einzelnen noch für die Gesamtheit des Staates billigt, so muß man trotzdem den Feinden Schrecken einflößen können, nicht nur wenn sie ins Land eindringen, sondern auch wenn sie abziehen. Auch in bezug auf den Umfang des Besitzes muß man prüfen, ob man ihn nicht besser und klarer anders bestimmen kann. Er sagt, er müsse so groß sein, daß man maßvoll leben könne, womit er wohl sagen will, daß man gut leben könne; denn dies ist allgemeiner. Außerdem kann man zwar maßvoll, aber arm-selig leben. Besser ist die Bestimmung: maßvoll und freigebig (jedes für sich genommen, wird das eine mit XII
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Verschwendung verbunden sein und das andere mit Dürftigkeit); denn dies sind die einzigen erstrebenswerten Verhaltensweisen im Gebrauch des Vermögens. Denn das Vermögen sanft oder tapfer zu gebrauchen geht nicht, wohl aber maßvoll und freigebig, so daß auch das Verhalten zum Vermögen ein derartiges sein muß. Unsinnig ist es ferner, den Besitz gleich zu machen, dagegen hinsichtlich der Zahl des Bürgers nichts vorzukehren, sondern die Zeugung der Kinder unbestimmt zu lassen, als ob die Konstanz der Zahl durch die Zahl der Kinderlosen hinlänglich gewahrt bliebe, wenn auch noch so viele geboren würden, wie dies faktisch in den bestehenden Staaten der Fall zu sein scheint. Aber dies vermag sich in den Staaten, wie sie dann sein würden, durchaus nicht genau gleich auszuwirken wie jetzt. Denn jetzt kommt keiner in Not, weil das Vermögen unter eine beliebige Zahl von Kindern verteilt werden kann; da aber dort der Besitz unteilbar ist, gehen die Überzähligen, mögen es ihrer mehr oder weniger sein, notwendigerweise leer aus. Man sollte also meinen, daß eher die Kinderzeugung begrenzt werden müßte als das Vermögen, so daß man nicht mehr als eine bestimmte Anzahl von Kindern zeugen dürfte. Diese Zahl müßte festgelegt werden mit Hinblick auf die Fälle, daß einige der Kinder früh sterben und anderswo die Ehen kinderlos bleiben. Wird aber die Kinderzeugung freigegeben wie in den meisten Staaten, so muß das die Armut der Bürger zur Folge haben, und die Armut führt zu Aufruhr und Verbrechen. Pheidon aus Korinth, einer der ältesten Gesetzgeber, meinte, die Zahl der Häuser und der Bürger müsse konstant bleiben, auch wenn von vornherein alle ungleiche Besitzanteile hätten. In diesen Gesetzen aber ist es umgekehrt. Doch darüber, wie es nach unserer Meinung besser einzurichten wäre, wollen wir später reden. Es fehlt in den >Gesetzen< auch eine Erklärung darüber, wie die Regierenden sich von den Regierten unterscheiden sollen. Er sagt nur, wie der Zettel aus anderer Wolle sei als der Ein-schlag, so müßten sich auch die Regierenden zu den Regierten verhalten. . Wenn er ferner gestattet, daß der ganze Besitz bis zum Fünffachen anwachsen darf, warum soll dies bis zu einem gewissen Grade nicht XIII
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auch beim Boden erlaubt sein? Auch bei der Teilung der Feuerstellen müßte man prüfen, ob sie der Hausverwaltung nicht abträglich ist. Jedem hat er zwei getrennte Feuerstellen zugeteilt; aber es ist schwierig, zwei Häuser zu bewohnen. Die gesamte Staatsform soll weder eine Demokratie noch eine Oligarchie, sondern ein Mittelding zwischen beiden sein, was man Politeia nennt. Da besteht der Staat aus den waffenfähigen Bürgern. Wenn er nun diese Staatsform als die allgemeinste aller Verfassungen konstruiert, so mag dies vielleicht richtig sein. Daß sie aber die beste sein soll nächst der ersten Verfassung, ist falsch. Denn man dürfte leicht die lakonische höher loben oder eine andere Verfassung, die mehr aristokratisch ist. Einige meinen, die beste Verfassung müßte aus allen gemischt sein; darum loben sie auch die spartanische. Denn die einen sagen, sie bestünde aus Oligarchie, Monarchie und Demokratie, indem das Königtum monarchisch sei, die Regierung der Alten oligarchisch und die Regierung der Ephoren demokratisch, da die Ephoren aus dem Volke stammten. Andere nennen den Ephorat eine Tyrannis und finden die Demokratie in den gemeinsamen Mahlzeiten und den andern Sitten des täglichen Lebens. In Platons >Gesetzen< aber heißt es, die beste Verfassung müßte aus Demokratie und Tyrannis zusammengesetzt sein, die man doch gar nicht als Verfassungen ansehen wird, oder dann als die schlechtesten von allen. Besser machen es also jene, die mehrere Verfassungen mischen. Denn eine Verfassung, die aus mehreren zusammengesetzt ist, ist besser. Außerdem zeigt jene Verfassung gar nichts Monarchisches, sondern nur Oligarchisches und Demokratisches. Dabei neigt sie ihrer Tendenz nach mehr zur Oligarchie. Dies zeigt die Einsetzung der Regenten. Denn daß diese gewählt und dann erbst werden, ist beiden Verfassungen gemeinsam, daß aber die Besitzenden gezwungen werden, an den Volksversammlungen teilzunehmen, Behörden zu stellen und andere staatliche Geschäfte zu besorgen, während die andern davon frei sind, das ist oligarchisch; ebenso das Bestreben, die Mehrzahl der Ämter mit den Reichen zu besetzen und die höchsten Ämter mit den Höchstbesteuerten. Oligarchisch richtet er auch die Wahl des Rates ein. Alle sind zu wählen verpflichtet, aber von XIV
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Ratsmitgliedern der ersten Vermögensklasse, dann wieder von gleich vielen aus der zweiten und nochmals von solchen aus der dritten; aber hier brauchen nicht alle Bürger der dritten und vierten Klasse zu wählen, und an der Wahl von Ratsmitgliedern der vierten Klasse sich zu beteiligen sind nur die Bürger der zwei obersten Steuerklassen verpflichtet. Sodann soll, sagt er, aus diesen so Vorgewählten je eine gleiche Zahl aus jeder Klasse endgültig zu Ratsmitgliedern bestellt werden. So werden denn die Wähler aus den obersten Steuerklassen und aus den Adligen zahlreicher sein, da manche Leute aus dem Volke nicht wählen werden, weil sie nicht dazu gezwungen sind. Daß eine solche Verfassung nicht als eine aus Demokratie und Monarchie zusammengesetzte gelten darf, ist hieraus klar und auch aus dem, was später zu sagen sein wird, wenn die Untersuchung zu dieser Art von Verfassung gelangen wird. Auch ist es bei der Wahl der Beamten gefährlich, wenn sie aus Vorgewählten ausgewählt werden sollen. Wenn hier einige zusammenhalten, so wird die Wahl immer nach ihrem Willen ausfallen, selbst wenn sie nur gering an Zahl sind. Mit der Verfassung in Platons >Gesetzen< verhält es sich also auf diese Weise. 7. Es gibt nun auch andere Verfassungsentwürfe, teils von Laien, teils von Philosophen und Politikern, aber alle sind den bestehenden und gegenwärtig in Kraft befindlichen Verfassungen näher als die beiden genannten. Denn kein anderer hat jene Neuerung über die Frauen- und Kindergemeinschaft vorgebracht oder über die Syssitien der Frauen, sondern sie gehen mehr vom Notwendigen aus. Einige meinen, es sei das Wichtigste, wenn die Vermögensverhältnisse gut geordnet sind. Denn nach ihrer Meinung drehen sich alle Revolutionen darum. Als erster hat Phaleas von Chalkedon solche Erwägungen angestellt. Er fordert, daß der Besitz der Bürger gleich sein solle. Dies hielt er nicht für schwer, wenn es gleich bei der Gründung von Staaten angeordnet würde; bei schon bestehenden sei es mühsamer; da würde der Ausgleich am raschesten geschehen, wenn die Reichen Mitgiften XV
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gäben, aber nicht nähmen, die Armen sie dagegen nähmen, aber nicht gäben (Platon wollte, als er die >Gesetze< schrieb, hier bis zu einem gewissen Grade Freiheit lassen; immerhin dürfe kein Bürger mehr als das Fünffache des kleinsten Besitzes erwerben, wie wir vorhin schon gesagt haben). Jene, die solche Gesetze geben, dürfen indessen nicht übersehen (was sie doch tun), daß man, wenn man den Umfang des Vermögens festsetzt, auch die Zahl der Kinder festsetzenmuß. Übersteigt die Zahl der Kinder die Größe des Vermögens, so muß das Gesetz durchbrochen werden; und wem man davon absieht, ist es schlimm, wenn aus wenigen Reicher viele Arme werden. Es ist dann beinahe unvermeidlich, daß solche Leute zu Revolutionären werden. Daß die Vermögensgleichheit einen gewissen Einfluß au die politische Gemeinschaft hat, scheinen auch einige von der Alten erkannt zu haben, wie denn Solon entsprechende Gesetze gegeben hat und es auch bei anderen ein Gesetz gibt, da: es verbietet, Land zu erwerben, soviel man will. Ebenso ver bieten Gesetze, den Besitz zu verkaufen, wie etwa bei der Lokrern ein Gesetz existiert, daß man nicht verkaufen darf falls man nicht einen offensichtlichen Notstand nachweiser kann; oder es gibt Gesetze, die gebieten, die alten Landlose zu bewahren (die Aufhebung dieses Gesetzes machte die Verfassang in Leukas allzu demokratisch; denn es wurde nun nicht mehr möglich, auf Grund der bis dahin festgesetzten Steuerklassen zu den Ämtern zu gelangen). Man kann ferner zwar eine Gleichheit des Vermögens festhalten, dieses aber entweder zu groß ansetzen, so daß man Luxus treibt, oder zu gering, so daß man nur kümmerlich lebt Also muß der Gesetzgeber offenbar die Vermögen nicht nur gleich machen, sondern auch nach einer mittleren Größe zielen Doch auch wenn man für alle ein mittleres Vermögen festsetzte, würde es nichts nützen. Denn man muß weit eher die Begierden ausgleichen als die Vermögen, und dies ist nicht möglich, wenn die Bürger nicht hinlänglich durch die Gesetze erzogen sind. Aber vielleicht würde Phaleas erwidern, daß er selbst eben dies meint. Er meint nämlich, daß in den Staaten in diesen zwei Dingen Gleichheit bestehen solle, in Besitz und Erziehung. Man muß aber sagen, was XVI
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man da unter Erziehung versteht; daß sie überall eine und dieselbe sei, ist durchaus unbefriedigend. Denn sie kann einheitlich sein und dabei doch so beschaffen, daß sie die Menschen dazu führt, durch Geld oder Einfluß herrschen zu wollen, oder durch beides. Außerdem gibt es Revolutionen nicht nur wegen der Ungleichheit des Besitzes, sondern auch wegen solcher in der Ehre, allerdings in entgegengesetztem Sinne: die Leute werden gegen die Ungleichheit des Besitzes rebellieren, die Gebildeten aber gegen die Gleichheit der Ehren; wie es dann heißt: »In gleicher Ehre steht der Gemeine wie der Edle.« Die Menschen tun nicht bloß Unrecht wegen der lebensnot-wendigen Dinge (hiefür meint er in der Gleichheit des Besitzes ein Heilmittel zu haben, so daß man wegen Kälte und Hunger nicht mehr zu stehlen braucht), sondern auch um zu genießen und nicht mehr nur zu begehren. Denn wenn ihre Begierde über das Notwendige hinausgeht, so werden sie Unrecht tun, um diese zu stillen; und nicht nur darum tun sie dies, sondern auch um jenseits der Begierden sich an Genüssen zu erfreuen, die keinen Schmerz bringen. Was ist nun das Heilmittel für diese drei? Für die einen ist es mäßiger Besitz und Arbeit, für die andern Selbstzucht. Und wenn es drittens solche gibt, die sich für sich selbst freuen möchten, so werden sie das Heilmittel wohl nirgend anderswo suchen können als in der Philosophie. Denn bei den andern Genüssen ist man auf die Menschen angewiesen. Am meisten Unrecht tun jene, die das Übermaß, und nicht jene, die das Notwendige suchen (denn man wird ja nicht Tyrann, um nicht zu frieren, darum erhalten nicht jene hohe Ehren, die einen Dieb, sondern jene, die einen Tyrannen erschlagen). Also kann die Verfassungsart des Phaleas nur gegen die kleinen Ungerechtigkeiten helfen. Außerdem trifft er die meisten Anordnungen, damit der Staat nach innen gut organisiert sei; es bedarf aber auch des Hinblicks auf die Nachbarn und die gesamten auswärtigen Staaten. Also muß die Verfassung auch auf kriegerische Kraft hin ausgerichtet sein, und darüber hat er nichts gesagt.
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Dasselbe gilt vom Besitz. Er muß nicht nur für die innern Bedürfnisse des Staates ausreichen, sondern auch im Hinblick auf die Gefahren von außen. Also darf er nicht so groß sein, daß die Nachbarn und die Stärkeren nach ihm begehren und die Besitzenden die Angreifer nicht abzuwehren vermögen, aber auch nicht so klein, daß sie einen Krieg auch nur mit Gleichen und Ebenbürtigen nicht auszuhalten vermögen. Jener hat darüber nichts gesagt; doch darf nicht unentschieden bleiben, welches Maß von Vermögen zuträglich ist. Die beste Bestimmung ist wohl die, daß der Stärkere nicht daran denken soll, bloß um eines übermäßigen Reichtums willen Krieg zu führen, sondern nur unter Bedingungen, die von einem solchen Besitze absehen. So empfahl Eubulos dem Autophradates, der beabsichtigte, Atarneus zu belagern, zuerst zu prüfen, nach wie langer Zeit er den Platz einnehmen würde und welche Kosten er für diese Zeit hätte. Er sei bereit, schon für einegeringere Summe Atarneus zu räumen. Mit diesem Vorschlag brachte er Autophradates zur Besinnung, und dieser hob die Belagerung auf. Gewiß ist es also, um Bürgerkriege zu verhindern, zuträglich, wenn das Vermögen der Bürger gleich ist, aber viel nützt es in Wahrheit nicht. Denn die Gebildeten werden sich ärgern, als verdienten sie es nicht, bloß gleich viel wie die andern zu besitzen, und darum werden sie sich oft verschwören und Aufstände machen. Außerdem ist die Schlechtigkeit der Menschen unersättlich; zuerst mögen sie sich mit zwei Obolen begnügen, aber wenn ihnen das erste gewohnt geworden ist, verlangen sie immer mehr, bis sie ins Unbegrenzte kommen. Denn die Natur des Begehrens ist unbegrenzt, und die große Menge lebt nur, um es zu sättigen. Ausgangspunkt von Gesetzen hierüber ist weniger der Ausgleich der Vermögen als der, die von Natur Anständigen dahin zu bringen, daß sie kein Übermaß haben wollen, und die Schlechten dahin, daß sie es nicht können: wenn sie nämlich die Schwächeren sind und kein Unrecht erleiden. Auch hat er die Gleichheit der Vermögen unrichtig bestimmt. Denn er schafft bloß einen Ausgleich im Grundbesitz; es gibt aber auch einen Reichtum an Sklaven, Vieh und Geld und einen großen Bestand von XVIII
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sogenannten Mobilien. Man muß nun entweder in allen diesen Dingen die Gleichheit suchen oder eine angemessene Ordnung, oder eben alles fahren lassen. Es zeigt sich ferner an seiner Gesetzgebung, daß er nur einen kleinen Staat einrichtet, wenn nämlich alle Handwerker Staatssklaven sein sollen und nicht im Staate mit umfaßt werden. Doch wenn es schon Staatssklaven geben soll, so sollen es jene sein, die für die Öffentlichkeit arbeiten, so wie es in Epidamnos ist, und wie es einmal Diophantos in Athen einzurichten versuchte. Was also die Verfassung des Phaleas betrifft, so mag man aus dem Gesagten entnehmen, was an ihr richtig ist und was nicht. 8. Hippodamos, der Sohn des Euryphon aus Milet (der die Aufteilung der Städte erfand und den Peiraieus einteilte und aus Ehrgeiz auch sonst in seinem Leben sehr auffällig war, so daß einige fanden, er lebe zu extravagant mit der Masse der Haare und kostbarem Schmuck, außerdem mit einem einfachen, aber warmen Kleide, das er nicht nur im Winter, sondern auch in der heißen Jahreszeit trug – und der außerdem auch als kundig in der Naturphilosophie gelten wollte), war der erste, der, ohne Politiker zu sein, etwas über den besten Staat zu sagen versuchte. Er nahm einen Staat an, der zehntausend Männer umfaßte, und teilte ihn in drei Teile: einen der Handwerker, einen der Bauern und den dritten Teil, der kämpfte und die Waffen besaß. Auch das Land teilte er in drei Teile, heiliges, öffentliches und privates. Heilig sei das Land, aus welchem die Kosten für den Kultus bestritten würden, öffentlich dasjenige, von welchem die Krieger leben sollen, privat das Land der Bauern. Ebenso meinte er, es gebe auch nur drei Arten von Gesetzen: denn Prozesse gebe es nur über drei Gegenstände, Beleidigung, Schädigung, Totschlag. Er setzte auch ein oberstes Gericht ein, vor das alle Prozesse gebracht werden sollten, die nicht richtig entschieden zu sein schienen. Dieses setzte er aus einzelnen ausgewählten Greisen zusammen. Die Urteile vor Gericht wollte er nicht durch bloße Abstimmung geschehen lassen, sondern jeder solle ein Täfelchen haben, auf welchem er das Urteil aufzuzeichnen hätte, wenn er schlechthin verurteile; wenn er XIX
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schlechthin freispräche, so solle er es einfach leer lassen; täte er aber weder das eine noch das andere, so solle er dies genau angeben. Denn so, wie die Gesetzgebung jetzt sei, sei sie nicht richtig: jetzt seien die Richter gezwungen, einfach so oder so zu urteilen und damit gegen ihren Eid zu handeln. Er entwarf auch ein Gesetz über jene, die etwas für den Staat Förderliches ausgedacht hätten, damit sie zu ihrer Ehre kämen; ebenso sollten die Kinder der im Kriege Gefallenen auf Staatskosten aufgezogen werden, was damals noch nirgendwo sonst festgesetzt worden war. Inzwischen aber gibt es dieses Gesetz in Athen wie auch in anderen Staaten. Die Beamten sollten alle vom Volke gewählt werden. Als Volk bezeichnete er die drei genannten Abteilungen; die Gewählten sollten sich um die öffentlichen Dinge kümmern, um die Fremden und um die Waisen. Das ist das Wichtigste und am meisten Erwähnenswerte aus der Ordnung des Hippodamos. Man wird aber zuerst Schwierigkeiten in der Einteilung des Volkes finden. Die Handwerker, Bauern und Waffenträger sind bei ihm insgesamt Teile der Bürgerschaft, die Bauern ohne Waffen und die Handwerker ohne Land und ohne Waffen, so daß sie so ziemlich zu Sklaven der Waffenträger werden. Daß nun alle diese an allen Amtern teilhaben können, istunmöglich. Denn notwendigerweise müssen die Feldherren und die Wächter über die Bürger aus den Waffenträgern genommen werden, ebenso, allgemein gesagt, alle wichtigsten Ämter. Haben aber die andern Stände keinen Anteil am Staate, wie werden sie dann der Verfassung wohlwollend gegenüberstehen können? Es müssen also die Waffenträger stärker sein als die beiden anderen Teile zusammen. Dies ist nicht leicht möglich, wenn sie nicht zahlreich sind. Wenn aber dies doch der Fall ist, wozu müssen dann die andern am Staate teilnehmen und über die Bestellung der Beamten mitentscheiden? Ferner: inwiefern sind die Bauern für den Staat notwendig? Handwerker muß es notwendig geben (denn jeder Staat bedarf der Handwerker), und sie können wie in den andern Staaten von ihrem Gewerbe leben. Die Bauern dagegen wären XX
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vernünftigerweise ein Teil des Staates, wenn sie nur den Waffenträgern die Nahrung zu bringen hätten; aber bei ihm haben sie ein eigenes Land und bebauen es für sich allein. Was ferner den öffentlichen Boden betrifft, aus welchem die Krieger die Nahrung entnehmen, so wird es zwischen den Kriegern, wenn sie ihn selbst beackern, und den Bauern keinen Unterschied geben, was doch der Gesetzgeber meint. Sind es aber andere als jene, die das eigene Feld beackern, und als die Waffenträger, so hätten wir einen vierten Teil des Staates, der an gar nichts teilhat und vom politischen Leben ausgeschlossen ist. Wird man endlich dieselben Leute annehmen, die ihr privates wie das öffentliche Land beackern, so wird die Menge des Ertrags es nicht möglich machen, daß jeder zwei Güter bestellt; und warum beschaffen sie dann nicht gleich aus demselben Lande und aus denselben Losen die Nahrung für sich selbst und versorgen zudem die Waffenträger? Dies alles hat also viele Unklarheiten. Auch das Gesetz über die Rechtsprechung ist nicht richtig, daß nämlich der, der richten soll, die Klage, die doch einfach formuliert ist, teilen soll und so aus einem Richter zu einem Schiedsmann werde. In einem Schiedsgericht ist dies zwar in sehr vielen Fällen möglich (denn sie besprechen sich unter-einander über das Urteil), aber bei den Gerichten geht es nicht, sondern im Gegensatz zu unserm Gesetzgeber sorgen die meisten dafür, daß die Richter sich nicht untereinander besprechen dürfen. Ferner, wie führt das nicht zu verwirrten Urteilen, wenn der Richter zwar meint, der Beklagte müsse zahlen, aber nicht so viel, wie der Kläger angibt? Jener fordert zwanzig Minen, der Richter setzt auf zehn Minen fest (oder umgekehrt), ein anderer auf fünf, wieder ein anderer auf vier (auf diese Weise werden sie offenbar differenzieren), andere werden ihm alles zuerkennen, andere wieder gar nichts. Wie werden nun die Meinungen der Stimmenden abgewogen? Ferner bedeutet es keineswegs eine Verletzung des Eides, wenn man aus gerechten Gründen die Forderung schlechthin verwirft oder anerkennt, wenn nämlich die Klage einfach formuliert ist. Denn wer die Forderung zurückweist, erklärt damit nicht, daß der Beklagte XXI
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nichts schulde, sondern nur, daß er keine zwanzig Minen schulde. Wohl aber verletzt jener Richter den Eid, der die Forderung anerkennt, obwohl er glaubt, daß jener die zwanzig Minen nicht schulde. Das Gesetz ferner, daß jene eine Ehre erhalten sollen, die etwas für den Staat Zuträgliches herausgefunden haben, ist nicht ungefährlich und nur zum Hören ansehnlich. Denn es führt zu Denunziationen und je nachdem zu Verfassungsumstürzen. Dies führt zu einem andern Problem und einer andern Untersuchung. Einige fragen sich nämlich, ob es nützlich oder schädlich für den Staat ist, die überlieferten Gesetze zu ändern, wenn etwa ein anderes besser ist. Jedenfalls ist es nicht leicht, dem Vorschlag des Hippodamos ohne weiteres zuzustimmen, wenn eine Veränderung grundsätzlich nicht zuträglich sein sollte. Es ist ja möglich, daß einige die Aufhebung der Gesetze und der Verfassung beantragen, weil dies für die Gemeinschaft gut sei. Da wir nun diesen Punkt erwähnt haben, ist es besser, noch etwas ausführlicher darauf einzugehen. Es gibt nämlich, wie wir sagten, eine Schwierigkeit, und es könnte besser erscheinen, die Gesetze zu verändern. Denn in andern Wissenschaften ist dies von Nutzen gewesen, so der Bruch mit der Überlieferung in der Medizin, ebenso in der Gymnastik und überhaupt bei allen Künsten und Fähigkeiten; wenn also die Politik eine von ihnen ist, so verhält es sich augenscheinlich und notwendigerweise mit ihr gleich. Als einen Beweis dafür könnte man die Tatsachen selbst anführen. Denn die alten Gesetze sind äußerst einfach und barbarisch: die Griechen gingen dauernd in Waffen und kauften die Frauen voneinander, und wo irgendwelche altertümliche Gesetze noch erhalten sind, da sind sie vollkommen einfältig,wie etwa in Kyme das Gesetz über Totschlag: Wenn der Kläger irgendeine bestimmte Anzahl von Zeugen aus seiner Verwandtschaft beibringt, so soll der Beklagte des Mordes schuldig erklärt werden. Im allgemeinen fragt man überhaupt nicht nach dem Überlieferten, sondern nach dem Guten. Es ist auch anzunehmen, daß die ersten Menschen, mögen sie nun aus der Erde entsprungen sein oder sich aus irgendeiner Katastrophe gerettet haben, gleich gewesen sind wie die XXII
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jetzigen beliebigen und einfältigen Menschen, wie es ja auch von den Erdentstandenen ausdrücklich erzählt wird. So wäre es denn töricht, bei deren Ansichten zu bleiben. Außerdem ist es besser, auch geschriebene Gesetze nicht einfach unberührt zu lassen. Denn wie bei den andern Künsten, ist es auch bei der politischen Ordnung unmöglich, alles genau festzulegen. Denn niedergeschrieben wird das Allgemeine, die Handlungen betreffen aber das Einzelne. Daraus ergibt sich also, daß einzelne Gesetze gelegentlich geändert werden müssen. Betrachtet man es aber auf andere Weise, so scheint große Vorsicht notwendig zu sein. Ist die Korrektur unbedeutend, dagegen bedenklich, die Menschen daran zu gewöhnen, daß die Gesetze leicht aufgehoben werden können, so ist es klar, daß man einzelne Fehler der Gesetzgeber und der Regenten auf sich beruhen lassen soll. Denn der Nutzen bei der Veränderung ist geringer als der Schaden, wenn die Gewohnheit beginnt, den Regierenden nicht zu gehorchen. Ebenso ist das Beispiel der Künste falsch. Denn eine Kunst zu verändern und ein Gesetz ist nicht dasselbe. Das Gesetz kann sich durch keine andere Macht durchsetzen als durch die Gewohnheit, und diese entsteht erst in langer Zeit, so daß der leichte Übergang von bestehenden Gesetzen zu anderen neuen dazu führt, die Kraft des Gesetzes überhaupt zu schwächen. Ferner: wenn sie verändert werden sollen, sollen es dann alle und in jeder Verfassung oder nicht? Und durch jeden Beliebigen oder nur durch Bestimmte? Denn dies macht einen großen Unterschied. Doch verschieben wir nun diese Untersuchung auf einen anderen Augenblick. 9. Bei der spartanischen und der kretischen Verfassung und auch bei den meisten anderen Verfassungen sind zwei Dinge zu untersuchen, erstens, ob sie im Vergleich zur besten Verfassung gut oder schlecht eingerichtet sind, zweitens, ob sie im Widerspruch zu der Absicht und der Art der ihnen vorschwebenden Verfassung stehen. Daß in einem gut eingerichteten Staat das Staatsvolk von der Sorge für das Lebensnotwendige frei sein muß, ist allgemein anerkannt. Wie das aber geschehen soll, ist nicht leicht zu erkennen. Der Stand der XXIII
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Penesten in Thessalien hat sich oft gegen die Thessaler erhoben, ebenso wie die Heloten gegen die Spartaner (denn sie lauern gewissermaßen ständig auf deren Unglücksfälle). Bei den Kretern ist dagegen noch nichts Derartiges vorgekommen. Die Ursache ist vielleicht, daß dort die untereinander benachbarten Staaten, auch wenn sie gegeneinander Krieg führen, sich doch nie mit den Aufrührern verbünden, weil es ihnen nichts nützt, da sie selbst Periöken besitzen. Den Spartanern dagegen waren alle Nachbarn Feinde, die Argiver, Messenier und Arkader. Auch von den Thessalern fielen am Anfang die Penesten ab, als sie noch mit den Nachbarn kämpften, den Achaiern, Perrhaibern und Magneten. So scheint denn, von allem andern abgesehen, die Frage nach der Fürsorge für sie, und wie man mit ihnen umgehen soll, mühsam. Denn läßt man sie gewähren, so werden sie zügellos und maßen sich dasselbe an wie ihre Herren, geht es ihnen schlecht, so stellen sie ihren Herren nach und hassen sie. Jedenfalls haben diejenigen nicht den besten Weg gefunden, denen es so geht wie den Spartanern mit den Heloten. Ebenso ist die Zügellosigkeit der Frauen der Absicht der Verfassung und der Glückseligkeit des Staates schädlich. Wie nämlich Mann und Frau Teile des Hauses sind, so ist anzunehmen, daß auch der Staat nahezu halbiert wird in die Gruppe der Männer und die der Frauen, so daß es in allen Staaten, wo die Lage der Frauen schlecht geordnet ist, darauf hinausgeht, daß die Hälfte des Staates ohne rechte Gesetzgebung bleibt. Dies ist in Sparta wirklich der Fall. Denn während der Gesetzgeber will, daß der ganze Staat sich in Disziplin übe, hat er sich offensichtlich nur im Hinblick auf die Männer darum bekümmert, dagegen es bei den Frauen vernachlässigt. Denn sie leben in jeder Richtung hemmungslos und ausschweifend. So wird denn in einer solchen Verfassung mit Notwendigkeit der Reichtum hoch geschätzt, besonders wenn erst noch die Frauen regieren, wie es bei vielen kämpferischen und kriegslustigen Völkern der Fall ist, außer bei den Kelten, und soweit es andere Völker gibt, die offen die Homosexualität in Ehren halten. Es scheint denn auch derjenige, der zuerst die Mythen erfunden hat, nicht ohne Sinn Ares und Aphrodite XXIV
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verbunden zu haben. Denn alle solche Menschen haben eine starke Neigung zum Umgang entweder mit Männern oder mit Frauen. So gab es dies auch bei den Spartanern, und als sie herrschten, wurde vieles durch die Frauen bestimmt. Denn was macht es für einen Unterschied, ob die Frauen regieren oder die Regenten sich von den Frauen beherrschen lassen? Dies ergibt durchaus dasselbe. Da außerdem die Tollkühnheit im gewöhnlichen Leben nichts nützt, sondern, wenn überhaupt, dann nur im Kriege, so waren auch in dieser Hinsicht die Frauen der Spartaner verhängnisvoll. Das zeigte sich beim Einfall der Thebaner. Nützlich waren sie zu nichts, wie etwa in anderen Staaten, und stifteten mehr Verwirrung an als die Feinde. Am Anfang freilich scheint die Zuchtlosigkeit der Frauen bei den Spartanern einen guten Grund gehabt zu haben. In-folge der Feldzüge waren die Spartaner lange Zeit weit weg von ihrer Heimat, im Kriege mit den Argivern, dann mit den Arkadern und den Messeniern. Als sie schließlich Ruhe hatten, erwiesen sie sich als schon vorbereitet für den Gesetzgeber durch das Leben im Kriege (denn dieses enthält viele Teile der Tugend); als dagegen, wie man berichtet, Lykurgos versuchte, auch die Frauen den Gesetzen zu unterwerfen, da zeigten sie sich widerspenstig, so daß er darauf verzichtete. Das sind also die Ursachen des Geschehenen und so auch dieses Fehlers. Aber wir fragen nicht danach, wem man dies verzeihen soll oder nicht, sondern was richtig ist und was nicht. Die Mißstände im Hinblick auf die Frauen scheinen nun nicht nur, wie schon vorhin bemerkt, die Verfassung an sich zu verunstalten, sondern überdies die Habgier zu fördern. Denn außer dem soeben Bemerkten muß man in Sparta auch wohl die Ungleichheit des Besitzes tadeln. Die einen haben ein übermäßig großes Vermögen erworben, die andern nur ein geringes, und so ist das Land in wenige Hände gekommen. Dies ist auch in den Gesetzen schlecht eingerichtet. Den Kauf oder Verkauf von ererbtem Gute bezeichnete er als verwerflich, und dies war richtig. Dagegen ließ er die Freiheit, es Beliebigen zu schenken oder zu vererben, obschon auf diese Weise dasselbe herauskommen mußte wie auf jene.
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Auch gehören nahezu zwei Fünftel des ganzen Landes den Frauen, weil es viele Erbtöchter gibt, und weil sie große Aussteuern geben. Und doch wäre es besser, gar keine Aussteuer zuzulassen oder nur eine geringe und mäßige. Außerdem kann man seine Erbtochter geben, wem man will, und wenn man stirbt, ohne eine Verfügung getroffen zu haben, so gibt sie der hinterlassene Erbverwalter, wem er will. Obschon also das Land in der Lage war, tausendfünfhundert Reiter zu ernähren und dreißigtausend Hopliten, so waren es faktisch nicht einmal tausend. Es zeigten auch die Ereignisse, daß diese Ordnung falsch war. Der Staat war nicht fähig, einen einzigen Schlag zu ertragen, sondern ging zugrunde infolge seines Menschenmangels. Es heißt, daß sie unter den früheren Königen Fremden das Bürgerrecht verliehen hätten, so daß trotz den langen Kriegen kein Menschenmangel entstand. Einmal soll es zehntausend Spartiaten gegeben haben. Mag nun dies wahr sein oder nicht, besser ist es, durch gleichmäßige Verteilung des Besitzes den Staat mit Männern zu bevölkern. Aber diese Korrektur wird auch gehindert durch das Gesetz über die Kinderzeugung. Denn da der Gesetzgeber die Zahl der Spartiaten soviel als möglich vermehren wollte, veranlaßte er die Bürger, so viele Kinder als möglich zu zeugen. Es gibt nämlich ein Gesetz bei ihnen, daß der, der drei Söhne gezeugt hat, vom Wachdienst, und der, der vier hat, von allen Abgaben frei sei. Aber wenn die Zahl groß, das Land aber auf die genannte Weise verteilt ist, so muß es viele Arme geben. Auch der Ephorat ist schlecht eingerichtet. Das Amt als solches hat bei den Spartanern die Entscheidung in den wichtigsten Angelegenheiten, doch Mitglied kann jeder Beliebige aus dem Volke werden, so daß oft ganz arme Leute, die wegen ihrer Armut käuflich waren, in diese Behörde gelangten. Das zeigte sich schon früher oft und jetzt im Konflikt mit Antipater. Einige Ephoren waren mit Geld bestochen und hätten, was an ihnen lag, den ganzen Staat zugrunde gerichtet. Und da ihre Macht sehr groß und der eines Tyrannen gleich war, waren sogar die Könige gezwungen, ihnen zu schmeicheln, so daß auch dies ein
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Schaden für die Verfassung wurde. Denn so wurde sie aus einer Aristokratie zu einer Demokratie. Diese Behörde hält nun die Verfassung zusammen (denn das Volk bleibt ruhig, da es an diesem obersten Amte teilhat, und mag dies nun der Wille des Gesetzgebers oder der Zufall gewesen sein, so ist dies doch den Verhältnissen zuträglich; wenn nämlich eine Verfassung Bestand haben soll, so müssenalle Teile des Staates wollen, daß sie existiere und dauere. Die Könige sind zufrieden wegen ihres Ranges, die Aristokraten wegen der Gerusie – denn dieses Amt ist der Preis der Tugend - und das Volk wegen des Ephorates, da er sich ja aus allen rekrutiert); aber sie hätte wählbar sein müssen zwar aus allen. aber nicht auf die Weise, wie es jetzt geschieht, denn dies ist gar zu kindisch. Außerdem liegen die wichtigsten Entscheidungen bei ihnen, und da sie beliebige Leute sind, die kein eigenes Urteil haben, so wäre es besser, sie entschieden sich nach geschriebener Regel und Gesetz. Auch ist die Lebensweise der Ephoren der Absicht des Staates nicht entsprechend. Denn sie sind für sich äußerst zügellos, bei den anderen übertreiben sie dagegen eher an Härte, so daß diese es nicht ertragen können, sondern heimlich das Gesetz umgehen und die körperlichen Freuden genießen. Auch die Gerusie ist nicht richtig eingerichtet. Sind sie nämlich anständig und zur Tugend hinreichend erzogen, so kann man wohl sagen, daß es dem Staate nützt, obschon es eine heikle Sache ist, daß sie auf Lebenszeit Herr über bedeutende Entscheidungen sein sollen (denn es gibt ein Greisenalter der Vernunft ebenso wie des Körpers). Wenn sie aber so schlecht erzogen sind, daß sogar der Gesetzgeber ihnen nicht traut, weil sie nicht tugendhaft sind, so ist es gefährlich. Es zeigt sich denn auch, daß die Mitglieder dieser Behörde durch Geschenke beeinflußbar sind und viele öffentliche Angelegenheiten nach Gunst behandeln. So wäre es besser, wenn sie sich irgendwo verantworten müßten, was sie aber faktisch nicht tun. Es scheint zwar, daß die Ephoren alle andern Behörden zur Verantwortung ziehen. Aber dies ist wiederum ein zu großes Nachgeben dem Ephorat gegenüber, und wir verstehen es durchaus XXVII
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nicht so, wenn wir fordern, daß zur Verantwortung gezogen werden müsse. Auch ist die Art, wie die Auswahl der Geronten getroffen wird, kindisch. Es ist auch nicht richtig, daß der, welcher des Amtes für würdig erachtet wird, selbst darum ersuchen muß. Denn wer des Amtes würdig ist, soll es ausüben, mag er wollen oder nicht. Faktisch aber macht es der Gesetzgeber hier so wie in der sonstigen Verfassung: er macht die Bürger ehrgeizig und verwendet dies als Basis für die Wahl der Geronten. Denn keiner würde da um ein Amt ersuchen, der nicht ehrgeizig ist. Dabei geschehen wohl die meisten freiwilligen Vergehen unter den Menschen aus Ehrgeiz oder aus Geldgier. Was das Königtum betrifft, so soll anderswo gefragt werden, ob es für einen Staat gut sei oder nicht. Aber jedenfalls wäre es besser, wenn es nicht so wäre wie jetzt, sondern wenn jeder einzelne König auf Grund seiner eigenen Lebensart gewählt würde. Daß der Gesetzgeber selbst nicht erwartet, sie zu edlen Männern machen zu können, ist klar. Denn er mißtraut ihnen, wie wenn sie nicht hinreichend tugendhaft wären. Darum pflegte man ihnen auch ihre Feinde als Mitgesandte beizugeben, und sie hielten es für die Rettung des Staates, wenn die Könige untereinander uneins wären. Auch wer zuerst die Gesetze über die Syssitien, die sogenannten Phiditia, gegeben hat, hat es nicht richtig gemacht. Denn die Kosten hätten eher aus öffentlichen Mitteln bestritten werden sollen wie in Kreta. Bei den Spartanern dagegen muß jeder Einzelne das Seinige mitbringen, und dies, obwohl einige außerordentlich arm sind und diese Ausgabe gar nicht er-schwingen können, so daß also das Gegenteil von dem eintritt, was der Gesetzgeber gewollt hat. Denn nach seiner Absicht sollen die Syssitien eine demokratische Einrichtung sein, aber wenn sie gesetzlich so organisiert werden, sind sie alles andere als demokratisch. Denn die allzu Armen können gar nicht an ihnen teilnehmen, und dabei ist es eine überlieferte Bestimmung ihrer Verfassung, daß, wer diesen Beitrag nicht leisten kann, an der Staatsverwaltung nicht teilnehmen darf. XXVIII
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Das Gesetz über die Flottenkommandanten haben schon andere getadelt, und dies mit Recht. Denn es ist eine Ursache von Unruhen. Neben den Königen, die für alle Zeiten Heerführer sind, besteht das Flottenkommando beinahe als ein zweites Königtum. Man kann die Absicht des Gesetzgebers auch in derselben Richtung tadeln, wie es schon Platon in den >Gesetzen< getan hat. Der ganze Aufbau der spartanischen Gesetze zielt nur auf einen einzigen Teil der Tugend, nämlich die kriegerische. Denn sie ist es, die zum Herrschen nützt. Darum hatten sie Erfolg als Krieger und gingen zugrunde als Regenten, weil sie nicht Ruhe zu halten verstanden und überhaupt nichts anderes geübt hatten als nur eben die Kriegskunst. Ein nicht geringerer Fehler ist der folgende. Sie meinen, daß »die viel umkämpften Güter« eher durch Tugend als durch Schlechtigkeit zu erwerben seien, und darin haben sie recht; daß sie aber jene Güter noch über die Tugend stellen, ist nicht richtig. Schlecht steht es endlich mit den öffentlichen Geldern bei den Spartanern. In der Staatskasse findet sich nichts, auch wenn sie gezwungen sind, große Kriege zu führen, und die Abgaben laufen schlecht ein. Denn da das meiste Land den Spartiaten gehört, kontrollieren sie einander gegenseitig die Abgaben nicht. So ergibt sich für den Gesetzgeber das Gegenteil von dem, was zuträglich gewesen wäre: er macht den Staat mittellos und die Privatleute geldgierig. Dies mag über die Verfassung der Spartaner gesagt sein; denn dies ist es, was man ihr am meisten vorwerfen könnte. 10. Die kretische Verfassung ist dieser ähnlich. Einzelnes ist nicht schlechter, das meiste ist aber weniger ausgeführt. Es scheint denn auch und wird auch gesagt, daß die spartanische Verfassung in den meisten Dingen die kretische nachgeahmt habe. Denn das Alte ist in der Regel weniger gegliedert als das Neuere. So wird berichtet, daß Lykurgos, als er die Vormundschaft über den König Charillos niedergelegt hatte, sich auf Reisen begab und sich damals die meiste XXIX
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Zeit auf Kreta aufhielt, und zwar wegen der Verwandtschaft der Völker. Denn die Lyktier waren spartanische Kolonisten, und diese hatten bei der Koloniegründung diejenige gesetzliche Ordnung angenommen, die sie bei den damaligen Einwohnern vorgefunden hatten. Darum wird diese Ordnung noch heute von den Periöken in alter Weise festgehalten, da es Minos gewesen sein soll, der sie als erster eingerichtet habe. Es scheint auch die Insel zur Herrschaft über die Griechen von Natur bestimmt und günstig dazuliegen. Denn sie beherrscht das ganze Meer, und dabei wohnen so ziemlich alle Griechen um das Meer herum. Auf der einen Seite ist die Entfernung kurz zur Peloponnes, auf der andern zur asiatischen Küste beim Triopion und nach Rhodos. Darum gewann auch Minos die Herrschaft über das Meer, und von den Inseln unterwarf er die einen und besiedelte die anderen, schließlich griff er Sizilien an und endete sein Leben dort bei Kamikos. Die kretische Staatsordnung verhält sich analog zur spartanischen. Das Land wird für jene von den Heloten, für die Kreter von den Periöken beackert, bei beiden gibt es Syssitien, und in früher Zeit hießen diese bei den Spartanern nicht Phiditia, sondern Andria, wie bei den Kretern, so daß es klar ist, daß sie von dorther gekommen sind. Dazu kommt die Ordnung der Verfassung. Die Ephoren haben dieselbe Gewalt wie bei den Kretern die sogenannten Kosmoi, nur daß die Ephoren fünf, die Kosmoi dagegen zehn an der Zahl sind. Die Geronten hier sind den Geronten dort, die bei den Kretern Rat heißen, gleich. Ein Königtum gab es früher, dann beseitigten es die Kreter, und nun haben im Kriege die Kosmoi die Führung. An der Volksversammlung nehmen alle teil, aber sie hat keine andere Kompetenz als die, die Entschlüsse der Geronten und der Kosmoi durch Abstimmung zu bestätigen. Was die Syssitien angeht, so sind sie bei den Kretern besser eingerichtet als bei den Spartanern. In Sparta hat jeder nach der Kopfzahl den festgesetzten Betrag zu entrichten, und tut er es nicht, so wird er durch Gesetz von den politischen Rechten ausgeschlossen, wie schon früher gesagt; in Kreta vollzieht sich dies liberaler. Denn von der gesamten Feldfrucht und dem Vieh, das dem Staate gehört, und XXX
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von den Steuern, die die Periöken leisten, wird ein Teil für die Götter und die öffentlichen Ausgaben ausgeschieden, der andere aber für die Syssitien, so daß alle, Frauen, Kinder und Männer, auf Staatskosten ernährt werden. Um die Mäßigkeit im Essen zu erreichen, die nützlich ist, hat der Gesetzgeber vieles ausgedacht; und damit die Männer nicht allzu viele Kinder zeugten, hat er sie von den Frauen ferngehalten dadurch, daß er die Knabenliebe einführte; ob diese etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist, wird bei anderer Gelegenheit zu prüfen sein. Daß also die Syssitien bei den Kretern besser eingerichtet sind als bei den Spartanern, ist deutlich; die Kosmoi dagegen sind noch schlimmer als die Ephoren. Was nämlich bei der Behörde der Ephoren schlecht ist, findet sich auch bei diesen (es können ganz Beliebige dazu gelangen); der Nutzen aber, der dort für den Staat besteht, ist hier nicht vorhanden. Dort nämlich hat das Volk, da ja die Ephoren aus allen gewählt werden, Anteil an der wichtigsten Behörde und hat demgemäß ein Interesse daran, daß die Verfassung bestehen bleibt. Hier aber wählen sie die Kosmoi nicht aus allen, sondern nur aus bestimmten Geschlechtern, und die Geronten aus jenen, die Kosmoi gewesen sind. Im übrigen wird man dasselbe sagen können wie über die Einrichtungen in Sparta: daß sie nicht zur Verantwortung gezogen werden können und ihre Stellung lebenslänglich behalten, sind Privilegien, die sie nicht verdienen, und daß sie sich nicht an Geschriebenes halten, sondern an ihre persönliche Meinung, ist gefährlich. Daß aber das Volk ruhig bleibt, obschon es an jenen Ämtern keinen Anteil hat, ist kein Beweis, daß sie gut eingerichtet sind, Die Kosmoi empfangen nämlich keine Entlöhnung wie die Ephoren; außerdem wohnen die Kreter weit weg von denen. die sie gefährden könnten, auf einer Insel. Das Mittel gegen jenen Fehler ist unsinnig und nicht politisch, sondern despotisch. Oftmals nämlich tun sich einige zusammen, seien es Amtsgenossen oder Privatleute, und vertreiben die Kosmoi. Die Kosmoi dürfen auch mitten in der Amtszeit ihre Würde niederlegen. Alle diese Dinge geschähen aber besser auf Grund von Gesetzen als
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Aristoteles Politik - II. Buch
nach dem Willen von Menschen; denn dieser ist keine zuverlässige Richtschnur. Das allerschlimmste ist die Einrichtung der Akosmia, die oftmals von solchen mächtigen Männern eingeführt wird, die sich den Gerichten entziehen wollen. Daraus ergibt sich gerade, daß jene Ordnung zwar etwas von einer Verfassung an sich hat, aber keine Verfassung ist, sondern eher eine Dynastenherrschaft. Sie pflegen auch zusammen mit Gruppen aus dem Volke und Freunden eine Anarchie herbeizuführen und Aufruhr und Streit untereinander zu beginnen. Aber was bedeutet dies anderes, als daß ein solcher Staat zeitweilig gar kein Staat mehr ist, sondern die politische Gemeinschaft sich aufgelöst hat? Ein Staat, der sich so verhält, ist in Gefahr, wenn es Leute gibt, die ihn angreifen wollen und auch können. Aber wie gesagt: er rettet sich dank seiner Lage. Seine Abgelegenheit macht, daß keine Fremden vorhanden sind. Darum bleiben auch die Periöken den Kretern gehorsam, die Heloten dagegen fallen oftmals ab. Die Kreter verfügen auch über keine auswärtigen Herrschaftsgebiete. Neuerdings freilich ging ein Krieg vom Ausland auf die Insel über und machte die Schwäche der dortigen Gesetze deutlich. Über diese Verfassung sei so viel gesagt. 11 . Es scheinen auch die Karthager eine gute und im Vergleich mit den anderen vielfach überlegene Verfassung zu besitzen; vor allem ist einiges den Spartanern ähnlich. Denn diese drei Verfassungen stehen einander irgendwie nahe und unterscheiden sich stark von allen übrigen, die kretische, die spartanische und nun drittens die karthagische. Viele Anordnungen bei ihnen sind ausgezeichnet. Beweis einer guten Ordnung ist, daß das Volk gerne in der Staatsverfassung bleibt und sich bisher keine irgendwie nennenswerte Empörung oder eine Tyrannis gezeigt hat. Ähnlich wie in Sparta die Phiditien existieren hier die Syssitien der Verbände; das Amt der Hundertundvier entspricht den Ephoren (nur ist es besser: denn jene werden aus Beliebigen ausgewählt, hier aber aus den Besten), die Könige und die Gerusie hier entsprechen den Königen und den Geronten dort. Besser ist es auch, daß die Könige XXXII
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nicht aus einem bestimmten Geschlechte entstammen noch aus einem beliebigen; doch soweit ein Unterschied in Betracht kommt, ist es eher der nach dem Geschlechte als der nach dem Alter. Denn sie verfügen über große Macht, und wenn sie unbedeutend sind, so schaden sie viel und haben auch schon dem spartanischen Staate sehr geschadet. Das meiste, was man tadeln wird, weil es Entartungen sind, ist allen genannten Staaten gemeinsam, und soweit etwas der Tendenz zur Aristokratie und zum Verfassungsstaat zuwiderläuft, so biegt Karthago teils eher zur Volksherrschaft ab, teils zur Oligarchie. Denn die Könige zusammen mit den Geronten entscheiden, ob sie etwas vors Volk bringen wollen oder nicht, sofern sie alle miteinander einig sind; sind sie es aber nicht, so entscheidet auch darüber das Volk. Wo sie etwas vors Volk bringen, da hat dieses nicht nur die Möglichkeit, anzuhören, was die Regierenden beschlossen haben, sondern es kann auch entscheiden, und jeder Beliebige darf den vorgebrachten Anträgen widersprechen, was in den andern Verfassungen nicht der Fall ist. Daß aber die Pentarchien, die viele bedeutende Dinge zu entscheiden haben, sich aus sich selbst ergänzen und ihrerseits den Rat der Hundert, die wichtigste Behörde, wählen, und daß diese längere Zeit im Amte sind als die anderen (denn sie sind noch Beamte, wenn sie die Behörde schon verlassen haben, und schon, wenn sie erst im Begriffe sind einzutreten), das ist oligarchisch. Daß sie aber ohne Entlöhnung und nicht durch Loswahl amten, muß man aristokratisch nennen, ebenso anderes mehr; ebenso, daß alle Prozesse von den obersten Behörden entschieden werden (und nicht die einen durch diese, die andern durch andere wie in Sparta). Die karthagische Ordnung gleitet ab von der Aristokratie vorzugsweise in die Oligarchie, und zwar gemäß einer Tendenz, die durchaus dem Volke gefällt. Sie meinen nämlich, sie müßten die Beamten nicht nur der Tüchtigkeit, sondern auch dem Reichtum nach wählen. Denn es sei unmöglich, daß der Bedürftige gut regiere und die nötige Muße finde. Wenn nun die Wahl auf Grund des Reichtums oligarchisch ist und diejenige auf Grund der Tüchtigkeit aristokratisch, so wäre also dies eine dritte Ordnung, der gemäß der Staat der Karthager ein-gerichtet XXXIII
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ist. Denn sie wählen im Hinblick auf diese beiden Dinge vor allem die wichtigsten Ämter, die der Könige und der Feldherren. Man muß aber dieses Abgleiten aus der Aristokratie als einen Fehler des Gesetzgebers ansehen. Denn es ist gewiß etwas vom Allernotwendigsten, von Anfang an dafür zu sorgen, daß die Besten Muße pflegen können und nicht in unwürdige Verhältnisse geraten, und zwar nicht nur als Beamte, sondern auch als Privatleute. Wenn man nun um der Muße willen auch auf das Vermögen schauen muß, so ist es doch schlecht, die höchsten Ämter käuflich sein zu lassen, das Königtum und das Feldherrenamt. Denn ein solches Gesetz macht das Geld wertvoller als die Tugend und macht den ganzen Staat geldgierig. Denn was immer das Regierende für wertvoll hält, dem wird mit Notwendigkeit auch die Meinung der anderen Bürger folgen. Wo aber nicht vor allen Dingen die Tugend geehrt wird, da ist der aristokratische Charakter der Verfassung nicht gesichert. Es ist auch begreiflich, daß jene, die das Amt mit großen Unkosten gekauft haben, sich daran gewöhnen, aus ihm Gewinn zu ziehen. Denn es wäre doch unsinnig, wenn ein Armer, aber Anständiger daraus Gewinn machen will, der Schlechtere aber es nicht wollen sollte, der doch Auslagen dafür gehabt hat. Darum müssen jene regieren, die am besten in der Lage sind, Muße zu haben. Und wenn auch der Gesetzgeber sich um das materielle Auskommen der Anständigen nicht kümmern sollte, so wäre es doch gut, für ihre Muße zu sorgen, wenigstens solange sie Beamte sind. Es scheint auch schlecht, daß dieselbe Person mehrere Ämter bekleidet, was bei den Karthagern gerade in Ansehen steht. Denn jeder einzelne leistet am besten ein einziges Werk. Der Gesetzgeber muß also darauf schauen, daß er so herauskomme, und nicht demselben auftragen, Flöte zu blasen und Schuhe zu verfertigen. Wo also der Staat nicht zu klein ist, ist es verfassungsmäßiger und demokratischer, wenn mehrere an den Regierungsämtern teilhaben. Denn dies entspricht mehr dem Sinn der Gemeinschaft, wie wir sagten, und jedes einzelne Werk wird besser zustande gebracht und schneller. Das zeigt
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Aristoteles Politik - II. Buch
sich im Krieg und im Seewesen. In beiden diesen Fällen geht das Regieren und Regiertwerden sozusagen durch alle hindurch. Da nun die Verfassung oligarchisch ist, so kommen sie doch aufs beste [aus allen Schwierigkeiten] dadurch, daß sie das Volk reich machen, indem sie immer einen Teil in die abhängigen Städte schicken. Mit diesem Mittel korrigieren sie den Mangel und machen die Verfassung dauerhaft. Doch dies ist die Sache des Glücks; daß aber keine Aufstände entstehen, dafür muß der Gesetzgeber sorgen. Wenn also ein Unglück geschieht und die Menge der Regierten abfällt, so geben die Gesetze in diesem Falle kein Heilmittel, um die Ruhe wieder herzustellen. Mit der Verfassung Spartas, der Kreter und der Karthager, die alle mit Recht berühmt sind, verhält es sich also auf diese Weise. 12. Von denen, die sich über Verfassungen geäußert haben, haben einige sich überhaupt niemals mit politischer Tätigkeit befaßt, sondern blieben ihr ganzes Leben hindurch Privatleute; soweit von ihnen etwas Bemerkenswertes zu sagen war, haben wir von ihnen allen gesprochen. Einige dagegen waren Gesetzgeber, teils in ihrem eigenen Staate, teils in fremdem, und waren selbst politisch tätig. Einige von diesen haben nur Gesetze aufgestellt, andere auch ganze Verfassungen wie Lykurgos und Solon. Denn diese haben sowohl Gesetze wie auch Verfassungen geschaffen. Über die spartanische Verfassung ist schon gesprochen worden. Von Solon wiederum meinen einige, er sei ein bedeutender Gesetzgeber gewesen: er habe die Oligarchie beseitigt, die allzu extrem gewesen war, habe das Volk von der Sklaverei befreit und die überlieferte Demokratie geschaffen, indem er die Verfassung geschickt mischte. Denn der Rat auf dem Areopag sei oligarchisch, die Wählbarkeit der Beamten aristokratisch, die Gerichte demokratisch. Solon scheint allerdings einiges schon vorgefunden und nicht beseitigt zu haben, den Rat und die Wahl der Beamten; dagegen hat er die Demokratie geschaffen, indem er die Gerichte aus dem ganzen Volke rekrutierte. Darum tadeln ihn auch einige: er habe die eine Hälfte der Verfassung aufgehoben, indem er die auf der Loswahl beruhenden Gerichte zu XXXV
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Herren über alles machte. Denn als diese zur Macht kamen, schmeichelte man dem Volke wie einem Tyrannen und verwandelte die Verfassung in die jetztbestehende Demokratie. Den Rat auf dem Areopag schränkten Ephialtes und Perikles ein, bei den Gerichten führte Perikles die Entlöhnung ein, und auf diese Weise trieb es jeder der Volksführer weiter bis zur jetzigen Demokratie. Dies scheint freilich nicht der Absicht des Solon entsprochen zu haben, sondern eher von den Umständen zu kommen: denn nachdem in den Perserkriegen das Volk die Seeherrschaft begründet hatte, wurde es selbstbewußt und nahm sich schlechte Führer, die gegen die Anständigen Politik trieben. Solon hingegen scheint dem Volk nur die notwendigste Macht gegeben zu haben, die Beamten zu wählen und sie zur Verantwortung zu ziehen (wenn nämlich das Volk nicht einmal darüber Gewalt hätte, wäre es ein Sklave und ein Feind des Staates), die Beamten holte er aber alle aus den Angesehenen und Reichen, den Pentakosiomedimnern, den Zeugiten und aus der dritten Steuerklasse der sogenannten Ritter. Die vierte waren die Theten, die von allen Amtern ausgeschlossen waren. Gesetzgeber waren auch Zaleukos für das epizephyrische Lokroi und Charondas aus Katane für seine Mitbürger und für die andern chalkidischen Städte in Italien und Sizilien. Einige versuchen nachzuweisen, daß Onomakritos als erster in der Gesetzgebung tüchtig gewesen sei; er habe sich, als ein Lokrer, nach Kreta begeben und sich dort in der Kunst der Mantik ausgebildet. Sein Freund sei Thales gewesen, und dessen Schüler Lykurgos und Zaleukos und der Schüler des Zaleukos Charondas. Aber das behaupten sie, ohne sich die chronologischen Verhältnisse zu überlegen. Es war auch Philolaos von Korinth Gesetzgeber in Theben. Er stammte aus dem Geschlecht der Bakchiaden, wurde Liebhaber des Olympiasiegers Diokles, und als dieser aus Abscheu vor den Liebesanträgen seiner Mutter Halkyone die Stadt Korinth verließ, ging auch er nach Theben. Und dort beendigten beide ihr Leben. Noch jetzt zeigt man ihrer beider Gräber, die gegenseitig voneinander aus gut sichtbar sind; vom Gebiet der Korinther aus ist dagegen nur das eine sichtbar und das andere nicht. Man erzählt denn auch, sie hätten beide XXXVI
Aristoteles Politik - II. Buch
ihre Gräber so angelegt, Diokles so, daß wegen seines Hasses auf jene Leidenschaft Korinth von seinem Grabhügel aus nicht gesehen werden könne, Philolaos dagegen, daß man es sähe. Aus dieser Ursache also wohnten sie in Theben, und Philolaos wurde ihr Gesetzgeber unter anderem im Gebiet der Kinderzeugung, was jene Thetische Gesetze nennen. Dies ist eine besondere Gesetzgebung von ihm, damit die Zahl der Landlose gewahrt bleiben könne. Bei Charondas findet sich nichts Eigentümliches außer der Prozeßordnung über falsches Zeugnis (er ist der erste, der dies verfolgen ließ), doch in der Genauigkeit der Gesetze ist er sogar vollkommener als die gegenwärtigen Gesetzgeber. Dem Phaleas ist eigentümlich die Ausgleichung der Vermögen, bei Platon die Gemeinschaft der Frauen, Kinder und des Besitzes sowie die Syssitien der Frauen, ebenso das Gesetz über die Trunkenheit, daß nämlich im Symposion die Nüchternen den Vorsitz führen sollten, ferner die Übung zum Kriege, damit sie durch Übung beidhändig würden, da kein Anlaß sei, weshalb die eine Hand nützlich sein sollte und die andere nicht. Von Drakon gibt es Gesetze, aber er hat sie einer schon bestehenden Verfassung gegeben. Eigentümlich und erwähnenswert ist an diesen Gesetzen nichts außer ihrer Grausamkeit, weil die Strafen so hoch sind. Auch Pittakos war Schöpfer von Gesetzen, aber nicht einer Verfassung. Ein ihm eigentümliches Gesetz ist, daß die Betrunkenen, wenn sie sich verfehlen, eine größere Strafe erleiden sollen als die Nüchternen. Denn da mehr Betrunkene sich verfehlen als Nüchterne, so berücksichtigte er nicht, daß die Betrunkenen eher Verzeihung verdienen, sondern schaute nur auf das Zuträgliche. Ferner war Androdamas von Rhegion Gesetzgeber der Chalkidier in Thrakien mit Gesetzen über Totschlag und über die Erbtöchter; doch etwas Charakteristisches dürfte niemand bei ihm finden können. So weit seien also die Verfassungen betrachtet, sowohl die eigentlichen als auch diejenigen, die von Einzelnen entwickelt wurden. XXXVII
Aristoteles Politik - III. Buch
Drittes Buch 1. Wer untersuchen will, welches das Wesen und die Eigen schafften der verschiedenen Verfassungen sind, muß zuerst nach dem Staate fragen, was er wohl sein mag. Faktisch ist man darüber uneinig: die einen sagen etwa, der Staat habe eine Handlung vollzogen, die anderen, nicht der Staat, sondern die Oligarchie oder der Tyrann. Wir sehen nun, daß die gesamte Arbeit des Staatsmannes und des Gesetzgebers sich auf den Staat bezieht. Die Verfassung wiederum ist eine Art von Ordnung unter denjenigen, die den Staat bevölkern. Da nun der Staat ein Zusammengesetztes ist, so wie irgend ein anderes Ganzes, das aus vielen Teilen zusammengesetzt ist so ist es klar, daß man zuerst nach dem Staatsbürger fraget muß. Denn der Staat besteht aus einer bestimmten Anzahl von Staatsbürgern. Also fragen wir, wen man Bürger nennen sol und wer ein Staatsbürger ist. Auch darüber gibt es vielfach Zweifel. Denn nicht alle bezeichnen denselben als Staatsbürger und wer in der Demokratie ein solcher ist, ist es oft in der Oligarchie keineswegs. Beiseite lassen wir jene, die auf eine besondere Weise dies Bezeichnung erlangen, wie etwa die Staatsbürger, die da; Bürgerrecht geschenkt bekommen. Staatsbürger ist man nur nicht bloß dadurch, daß man an einem bestimmten Orte woht (denn dies gilt auch für die Metöken und Sklaven), noch dadurch, daß man berechtigt ist, Recht zu vertreten und vor Gericht zu erscheinen (denn dies gibt es auch bei jenen, die auf Grund eines Vertrages in die Gemeinschaft aufgenommen sind und dann dieses Recht besitzen; umgekehrt steht es vielfach nicht einmal den Metöken zu, sondern diese müssen sich einen Vertreter besorgen, so daß sie also nur unvollkommen an dieser Art von Gemeinschaft beteiligt sind), sondern in diesem Falle verhält es sich wie mit den Kindern, die wegen ihres Alters noch nicht in die Bürgerliste aufgenommen sind und den Greisen, die von den Bürgerpflichten befreit sind sie sind in gewisser Weise Bürger, aber nicht schlechthin, sondern mit dem Zusatze, daß die einen es unvollständig sind und die anderen als ehemalige oder dergleichen (es kommt ja nicht darauf an; was wir meinen, ist klar). I
Aristoteles Politik - III. Buch
Wir suchen aber jenen, der schlechthin Staatsbürger ist ohne eine solche Einschränkung, die der Korrektur bedarf; denn sonst müßte man auch nach denjenigen fragen, denen die bürgerlichen Rechte aberkannt wurden, und nach den Verbannten. Der Staatsbürger schlechthin läßt sich nun durch nichts anderes genauer bestimmen als dadurch, daß er am Gerichte und an der Regierung teilnimmt. Von den Regierungsämtern sind einige zeitlich unterschieden, so daß die einen überhaupt nicht zweimal von demselben bekleidet werden dürfen, andere nur nach bestimmten festgelegten Fristen. Anderswo wieder, wie beim Richter oder Mitglied der Volksversammlung, ist die Dauer unbestimmt. Man kann nun vielleicht sagen, daß solche auch gar keine Regierungsbeamten seien, und daß man in dieser Funktion noch keineswegs an der Regierung teilhabe. Doch wäre es lächerlich, jenen die Regierungsfunktion abzustreiten, die die bedeutendsten Angelegenheiten entscheiden. Aber es soll darauf nichts ankommen. Die Frage geht nur nach einem Namen; denn man weiß nicht, wie man das gemeinsame Wesen des Richters und Mitglieds der Volksversammlung bezeichnen soll, da es keinen eigenen Namen besitzt. Man mag es um der Distinktion willen eine unbestimmte Regierungsfunktion nennen. Wir nennen also Staatsbürger die, die daran teilnehmen. Das wäre die Bestimmung, die wohl so ziemlich am ehesten auf alle jene zutrifft, die man Staatsbürger nennt. Man darf aber nicht übersehen, daß in den Bereichen, deren Gegenstände der Art nach verschieden sind, und wo es eine erste und zweite und nachfolgende Arten gibt, ein Gemeinsames entweder überhaupt nicht existiert, sofern sie solche sind, oder dann nur ganz schwach. So ist evident, daß die Staatsverfassungen der Art nach voneinander verschieden und die einen sekundär, die andern primär sind: die fehlerhaften und abgleitenden müssen sekundär sein gegenüber den fehlerlosen (was wir unter den abgleitenden verstehen, wird später klar werden); dementsprechend wird also auch der Staatsbürger je nach der Verfassung ein anderer sein müssen. So existiert der Bürger, wie wir ihn bestimmt haben, vor allem in der Demokratie, in den anderen Verfassungen kann er existieren, muß es aber nicht. In einzelnen II
Aristoteles Politik - III. Buch
Verfassungen gibt es kein Volk, und man redet von keiner Volksversammlung, sondern nur von Ratsversammlungen, und die Rechtsprechung vollzieht sich durch verschiedene Behörden, wie etwa in Sparta der eine Ephor in diesen, ein anderer in anderen Vertragssachen Recht spricht,die Geronten wiederum in Mordsachen und möglicherweise eine andere Behörde abermals in anderen Angelegenheiten. Ebenso ist es in Karthago: alle Rechtsfragen werden von bestimmten Behörden entschieden. Die Bestimmung des Bürgers kann jedoch korrigiert werden. Denn in den anderen Verfassungen ist nicht der in unbestimmtem Sinne Regierende Mitglied der beratenden Versammlung und Richter, sondern ein dazu bestimmter Beamter. Von diesen haben alle oder einige das Recht, sich zu beraten und Recht zu sprechen in allen oder in einigen Dingen. Es ergibt sich daraus, wer der Staatsbürger sei: wer das Recht hat, an der beratenden oder richtenden Behörde teilzunehmen, den nennen wir also Bürger des betreffenden Staates, Staat aber eine soweit ausreichende Anzahl solcher Staatsbürger, als es zur Autarkie des Lebens notwendig ist, um es einfach zu sagen. 2. Zivilstandsmäßig freilich bezeichnet man als Bürger den, der beiderseits von Bürgern abstammt und nicht bloß von der einen Seite, also von Vater oder Mutter. Andere verlangen da noch mehr und wollen, daß zwei, drei oder mehr Vorväter auch Bürger gewesen sein müßten. Wenn man aber auf diese Weise politisch und summarisch bestimmt, so fragen einige, wie dann eben jener dritte oder vierte Vorfahr Bürger gewesen sein soll. Gorgias und Leontinoi sagte, halb fragend, halb wohl ironisch: wie das ein Mörser sei, was die Mörsenmacher fabriziert hätten, so seien auch jene Larisaier, die von den entsprechenden Handwerkern dazu gemacht worden seien; es gebe nämlich Fabrikanten von Larisaiern. Aber das Problem ist einfach: wenn jene Vorfahren nach der gegebenen Bestimmung an der Staatsverfassung teilnahmen, so waren sie Bürger. Es ist ja auch nicht möglich, die Bestimmung, Vater und Mutter müßten Bürger gewesen
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Aristoteles Politik - III. Buch
sein, auf solche anzuwenden, die einen Staat als erste besiedeln oder gründen. Aber vielleicht eine größere Schwierigkeit machen jene, die infolge eines Umsturzes zur Teilnahme am Staatsleben zugelassen wurden, wie es in Athen Kleisthenes nach der Vertreibung der Tyrannen hielt. Da nahm er viele Fremde und ansässige Sklaven in die Stämme auf. Bei denen ist die Frage nicht die, wer ein Bürger sei, sondern ob jene es mit Recht seien oder nicht. Überdies ließe sich weiterhin fragen, ob einer, der nicht rechtmäßig Bürger sei, nun überhaupt kein Bürger sei, so daß also Unrechtmäßigkeit dasselbe zu bedeuten hätte wie Nichtigkeit. Da wir aber sehen, wie einige ungerecht regieren, die wir durchaus Regenten nennen, aber eben nicht gerechte, und da der Staatsbürger durch eine bestimmte Regierungsgewalt ausgezeichnet ist (denn wer an solcher Gewalt teilhat, der ist Staatsbürger, wie wir sagten), so ist es klar, daß man auch diese Staatsbürger nennen muß. 3. Was die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit betrifft, so berührt sich dies mit der vorhin genannten Schwierigkeit. Denn einige fragen, wann ein Staat handelt und wann nicht, etwa wenn aus einer Oligarchie oder einer Tyrannis eine Demokratie wird. Einige wollen, daß dann die vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr eingelöst werden, da nicht der Staat, sondern der Tyrann sie eingegangen habe, und vieles andere dergleichen mehr, da einige Staatsformen sich nur auf die Macht stützen und nicht auf das der Gemeinschaft Zuträgliche. Indessen werden auch einige demokratische Staaten auf dieser Grundlage regiert, und so werden wir sagen, daß die Handlungen einer solchen Staatsform genauso sehr Handlungen des Staates selbst sind wie diejenigen der Oligarchie oder der Tyrannis. Das dieser Schwierigkeit eigentümliche Problem scheint dies zu sein, inwiefern man sagen kann, daß ein Staat derselbe bleibt oder ein anderer wird. Die oberflächlichste Antwort auf diese Frage bezieht sich auf den Ort und die Menschen. Denn die Siedlung kann aufgelöst werden, und von den Menschen können die einen hier, die anderen dort wohnen.
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Diese Schwierigkeit darf man als milde bezeichnen; denn da der Begriff des Staates viele Bedeutungen hat, so kann man dieses Problemes leicht Herr werden. Wenn nun aber die Menschen kontinuierlich denselben Ort bewohnen, woran soll man feststellen, ob es sich um einen einzigen Staat handelt? Jedenfalls nicht an den Mauern. Denn man könnte ja die Peloponnes mit einer einzigen Mauer umgeben. So scheint es in der Tat mit Babylon zu sein und mit jedem andern Orte, der mehr den Umfang eines Volkes als einer Stadt besitzt. Man berichtet ja, daß nach der Eroberung Babylons noch am dritten Tage ein Teil der Einwohner keine Kenntnis davon erhalten hatte. Doch diese Frage sei passend auf einen andern Augenblick verschoben (denn der Staatsmann muß darüber Bescheid wissen, wie groß ein Staat sein muß und ob er besser bloß ein Volk umfaßt oder mehrere). Aber soll der Staat als derselbegelten, solange dieselben Einwohner denselben Ort besiedeln und ihr Geschlecht vorhanden bleibt, obschon immer die einen untergehen und die andern neu entstehen, wie wir ja auch Flüsse und Quellen dieselben nennen, obschon immer neues Wasser dazukommt und hinwegfließt? Oder soll man sagen, daß aus dieser Ursache die Menschen dieselben bleiben, der Staat aber ein anderer wird? Da nämlich der Staat eine Gemeinschaft ist, und zwar eine solche von Staatsbürgern in einer bestimmten Verfassung, so scheint auch der Staat nicht mehr derselbe sein zu können, wenn die Verfassung ihrer Art nach eine andere wird und sich wandelt. Wie wir einen tragischen und einen komischen Chor voneinander unterscheiden, obschon es vielfach dieselben Menschen sind, so wird jede Gemeinschaft und Zusammensetzung eine andere sein, wenn die Art der Zusammensetzung eine andere ist; wir nennen auch den Zusammenklang derselben Töne einen anderen, wenn er ein dorischer oder ein phrygischer ist. Wenn es sich so verhält, so wird man offenbar dann am ehesten von der Kontinuität eines Staates reden können, wenn man von der Verfassung ausgeht. Seinen Namen kann man ändern oder bestehen lassen, mögen nun dieselben Menschen an dem Orte wohnen oder ganz andere.
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Ob aber der Staat seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen soll oder nicht, wenn die Verfassung eine andere wird, das ist eine andere Frage. 4. Im Zusammenhang mit dem Gesagten steht die Frage, ob die Tugend des tüchtigen Mannes und die des tüchtigen Bürgers dieselbe sei oder nicht. Will man aber dies untersuchen, so muß man zuvor im Umriß die Tugend des Bürgers feststellen. Wie nun der Seemann zur Schiffsgemeinschaft gehört, so steht es auch mit dem Bürger. Die Funktion der einzelnen Seeleute ist eine verschiedene (der eine ist Ruderer, der andere Steuermann, der dritte Vordersteuermann usw.), und so wird offenbar die genaueste Bestimmung jedes Einzelnen von der ihm eigentümlichen Leistung ausgehen. Gleichzeitig wird es eine allgemeine Bestimmung geben, die auf sie alle paßt. Denn die Erhaltung des Schiffes auf der Fahrt ist ihr gemeinsames Werk und das Ziel jedes der Seeleute. So ist denn auch bei den Bürgern, obschon sie untereinander verschieden sind, die Erhaltung der Gemeinschaft ihr gemeinsames Werk, und diese Gemeinschaft ist eben die Staatsverfassung. Also muß die Tugend des Bürgers an der Staatsverfassung orientiert sein. Da es aber mehrere Formen der Staatsverfassung gibt, so kann offenbar die Tugend des tüchtigen Bürgers nicht eine einzige und nicht die vollkommene Tugend sein. Der tüchtige Mann dagegen besitzt eine einzige, und zwar die vollkommene Tugend. Es ist also klar, daß man ein tüchtiger Bürger sein kann, ohne die Tugend des tüchtigen Mannes zu besitzen. Man kann die Frage auch anders stellen und dieselbe Untersuchung im Blick auf die vollkommene Staatsverfassung führen. Wenn nämlich der Staat unmöglich aus lauter vollkommenen Menschen bestehen kann, und dennoch jeder das ihm eigentümliche Werk gut erfüllen muß, und dies von der Tugend herkommt, und wenn es unmöglich ist, daß alle Bürger von gleicher Art sind, so wird vermutlich die Tugend des Bürgers und des vollkommenen Mannes nicht dieselbe sein können. Denn die Tugend des tüchtigen Bürgers müssen alle besitzen (nur so wird der Staat zum besten Staate); daß sie diejenige des schlechthin tugendhaften Mannes haben, ist hingegen unmöglich, es VI
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wäre denn notwendig, daß alle Bürger des besten Staates auch vollkommen gut seien. Ferner: da der Staat aus ungleichen Teilen besteht, wie schon das Lebewesen aus Seele und Leib, und die Seele aus Vernunft und Streben, und das Haus aus Mann und Frau und Herrn und Sklaven: auf dieselbe Weise besteht auch ein Staat aus allen diesen Gliedern und dazu noch aus andern, wieder andersartigen Teilen. So kann denn auch die Tugend aller Staatsbürger nicht eine und dieselbe sein, wie auch im Chor die Leistung des Chorführers und des Statisten nicht dieselbe ist. Daß sie also im ganzen gesehen nicht dieselbe ist, ergibt sich aus dem Gesagten. Aber vielleicht ist in einem bestimmten Punkte die Tugend des vollkommenen Bürgers und des vollkommenen Menschen doch dieselbe? Wir meinen allerdings, daß der vollkommene Regent gut und einsichtig sein soll; der Bürger dagegen braucht nicht notwendig einsichtig zu sein. Außerdem sagen einige, daß von vornherein die Erziehung des Regenten eine andere sein müsse, wie denn auch die Söhne der Könige bekanntlich in Reiten und Kriegführung erzogen werden, und wie Euripides sagt: »Nicht mir das Spitzfindige, sondern was die Stadt braucht«, als ob es also eine besondere Erziehung für den Regenten gäbe. Wenn aber die Tugend des vollkommenen Regenten und des vollkommenen Mannes dieselbe ist, zu den Bürgern aber auch [der Regent wie] der Regierte gehört, so wird die Tugend des Bürgers und des Mannes nicht schlechthin dieselbe sein, wohl aber die eines bestimmten Bürgers. Denn die Tugend des Regenten und des Bürgers überhaupt ist nicht dieselbe, und darum hat wohl Iason gesagt, er müßte hungern, wenn er nicht Tyrann wäre, da er es nicht verstünde, Privatmann zu sein. Aber es ist löblich, wenn man ebenso zu regieren wie regiert zu werden versteht, und es scheint in gewisser Weise die Tugend des Bürgers zu sein, gut zu regieren und gut regiert werden zu können. Wenn wir jedoch die Tugend des vollkommenen Mannes als eine nur regierende auffassen, und die des Bürgers als eine des Regierens und
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Regiertwerdens, so werden nicht beide auf dieselbe Weise lobenswert sein. Da es also zuweilen scheint, als handle es sich um verschiedene Dinge und als müßten der Regent und der Regierte nicht dasselbe lernen, der Bürger aber beides verstehen und an beidem teilhaben, so wird man das Richtige aus folgendem entnehmen. Es gibt eine despotische Herrschaft. Diese betrifft die für das Leben notwendigen Verrichtungen, die der Regent nicht selbst ausführen zu können, sondern eher nur zu benutzen braucht. Denn das andere wäre sklavisch, ich meine, wenn er selbst die Pflichten eines Sklaven zu erfüllen vermöchte. Es gibt nun verschiedene Arten von Sklaven; denn die Arbeiten sind verschieden. Einen Teil bilden die Arbeiter der Hand; das sind jene, wie auch ihr Name anzeigt, die von ihren Händen leben, und zu ihnen gehört auch der gewöhnliche Handwerker. Darum hatten früher auch bei einigen die Handwerker überhaupt nicht teil an der Regierung, bevor nämlich die extreme Demokratie eintrat. Die Arbeiten der in diesem Sinne Regierten braucht weder der gute Staatsmann noch der gute Bürger kennen zu lernen, außer für den Fall der Not zum eigenen Gebrauche. Denn sonst wäre nicht mehr der eine Herr, der andere Sklave. Aber es gibt auch eine Herrschaft, in der man über Gleichartige und Freie regiert. Diese nennen wir die politische Herrschaft. Sie muß der Regent lernen dadurch, daß er regiert wird: Reiterführer wird er, indem er als Reiter dient, Feldherr, indem er als Soldat dient, und ebenso Taxiarch und Lochage. Darum wird auch mit Recht gesagt, daß keiner gut regieren kann, der nicht sich gut hat regieren lassen. Hier handelt es sich um verschiedene Tugenden; der gute Bürger aber muß sich sowohl regieren lassen, wie auch regieren können, und dies ist die Tugend des Bürgers: die Regierung von Freien in beiden Richtungen zu verstehen. Beides gehört nun in der Tat auch zum vollkommenen Manne, auch wenn die Besonnenheit und die Gerechtigkeit des Regenten eine besondere ist. Denn offensichtlich ist die Tugend dessen, der regiert wird, aber frei ist, nicht einfach diejenige des Tugendhaften, etwa als VIII
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Gerechtigkeit, sondern sie ist ausdifferenziert, sofern der eine regiert und der andere regiert wird, wie ja auch die Besonnenheit des Mannes und diejenige der Frau eine andere ist (ein Mann würde feige wirken, wenn er in dem Sinne tapfer wäre, wie es die Frau ist, und umgekehrt eine Frau geschwätzig, wenn sie in dem Sinne zurückhaltend ist, wie es ein tüchtiger Mann sein soll. So ist auch die Aufgabe im Haushalt für Mann und Frau verschieden: der eine erwirbt, der andere verwaltet). Die Einsicht scheint dem Regierenden allein eigentümlich zu sein. Denn die andern Tugenden sind doch wohl notwendigerweise den Regierenden und den Regierten gemeinsam; doch der Regierte hat als Tugend nicht die Einsicht, sondern das richtige Meinen. Denn der Regierte ist wie ein Flötenfabrikant, der Regierende ist aber der Flötenspieler, der das Instrument anwendet. Ob nun also die Tugend des vollkommenen Mannes und die des tüchtigen Bürgers dieselbe oder eine andere ist, und inwiefern dieselbe und inwiefern eine andere, ist damit festgestellt. 5 . Doch in bezug auf den Bürger bleiben noch einige Fragen offen. Soll man nämlich als Bürger im wahren Sinne nur bezeichnen, wer regimentsfähig ist, oder zählen auch die Banausen zu den Bürgern? Wenn man nämlich auch diese dazu nimmt, die nicht regimentsfähig sind, so ist es nicht möglich, daß jeder Bürger die Tugend besitzt, von der wir sprachen; denn dann sind auch andere Bürger. Wenn aber keiner von denen als Bürger gelten soll, wohin soll man sie dann rechnen? Denn sie sind doch weder ansässige Ausländer, noch überhaupt Fremde. Oder kommen wir auf diese Weise dennoch zu einem durchaus annehmbaren Zustand? Denn auch die Sklaven gehören ja zu keiner der genannten Kategorien und ebenso die Freigelassenen. Wahr ist auf alle Fälle, daß man nicht jeden als Bürger bezeichnen soll, ohne den der Staat keinen Bestand hat; denn auch die Kinder gehören zu diesen, aber anders als die Männer: die einen sind Bürger schlechthin, die andern nur voraussetzungsweise. Sie sind Bürger, aber noch unvollkommen.
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In alten Zeiten waren in einigen Staaten die Banausen einfach Sklaven oder Ausländer; das ist ja auch heute noch meistens der Fall. Der vollkommene Staat wird jedenfalls keinen Banausen zum Bürger machen. Sollte er indessen doch Bürger sein, dann gehört offenbar jene Tugend des Bürgers, von der wir redeten, nicht allen, und nicht den Freien schlechthin, sondern nur jenen, die von der Arbeit für die Notdurft des Lebens befreit sind. Wer sich aber mit der Notdurft plagt, der ist entweder Sklave eines Einzelnen oder arbeitet für die Gemeinschaft und heißt dann Banause und Tagelöhner. Wenn wir ein bißchen näher zusehen, erkennen wir, wie es mit ihnen steht. Denn die Sache selbst macht das Gesagte klar. Da es nämlich mehrere Staatsformen gibt, so muß es auch mehrere Arten von Bürgern geben und vor allem von Regierten; so kann in dem einen Staat der Banause mit Notwendigkeit Bürger sein und ebenso der Tagelöhner, in einem andern ist es ausgeschlossen, etwa in der sogenannten Aristokratie, in welcher die Ämter nach Tugend und Verdienst verteilt werden. Denn wer das Leben eines Banausen oder Tagelöhners führt, hat keine Möglichkeit, sich um die Tugend zu bekümmern. In den Oligarchien wiederum kann der Tagelöhner kein Bürger sein, da die Regimentsfähigkeit an eine hohe Steuerklasse gebunden ist, aber der Banause kann es; denn die meisten Handwerker sind reich. In Theben gab es ein Gesetz, daß erst an der Regierung teilhaben durfte, wer sich während zehn Jahren von den Marktgeschäften ferngehalten hatte. In vielen Verfassungen berücksichtigt das Gesetz teilweise auch die Ausländer; so gilt man in einigen Demokratien als Bürger, wenn nur die Mutter Bürgerin ist, und ähnlich verhält es sich vielfach mit den unebenbürtigen Kindern. Man macht auch aus Mangel an Vollbürgern vielfach solche Leute zu Bürgern (wegen Menschenmangels wenden sie die Gesetze in diesem Sinne an); sind aber genügend Menschen vorhanden, schalten sie zuerst die Nachkommen von Sklaven oder Sklavinnen aus, dann jene von ausländischen Vätern und lassen zum Schlusse nur jene als Bürger gelten, die beidseits von Bürgern abstammen.
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Daß es also viele Typen von Bürgern gibt, ist aus dem Gesagten klar, ebenso, daß derjenige vorzugsweise Bürger heißt, der an den Ämtern teilnimmt; so spricht Homer von einem »ämterlosen Fremden«, da derjenige, der nicht regimentsfähig ist, wie ein Ausländer wirkt. Aber wo dergleichen nicht klar zum Ausdruck kommt, so geschieht es, um die Gemeinschaft zu betrügen. Ob also die Tugend, die einen zum vollkommenen Manne und zum tüchtigen Bürger macht, eine verschiedene oder dieselbe ist, ergibt sich aus dem Dargelegten. In einigen Staaten ist sie dieselbe, in andern nicht, und dort handelt es sich nicht um jedermann, sondern um den Staatsmann und denjenigen, der regiert oder zu regieren und für die Gemeinschaft zu sorgen fähig ist, sei es als einzelner oder mit andern zusammen. 6. Nachdem dies geklärt ist, haben wir nun zu prüfen, ob man eine Staatsform oder mehrere ansetzen soll, und wenn mehrere, welche und wie viele, und welches ihre Unterschiede sind. Eine Verfassung ist eine Ordnung des Staates hinsichtlich der verschiedenen Ämter und vor allem des wichtigsten von allen. Das wichtigste ist überall die Regierung des Staates, und diese Regierung repräsentiert eben die Verfassung. Ich meine es so: in der Demokratie regiert das Volk, in der Oligarchie umgekehrt die Wenigen, und so kennen wir auch noch andere Staatsformen. Dasselbe gilt auch vom übrigen. Wir müssen zuerst als Voraussetzung feststellen, um welchen Zweckes willen der Staat entstanden ist, und wie viele Formen der Regierung es gibt im Hinblick auf den Menschen und die Lebensgemeinschaft. Es wurde in den einleitenden Untersuchungen, in welchen wir über die Hausverwaltung und die Herrschaft über die Sklaven sprachen, auch gesagt, daß der Mensch von Natur auf die staatliche Gemeinschaft hin angelegt ist. Darum wünschen die Menschen beisammenzuleben, auch ohne daß sie voneinander Hilfe erhoffen. Außerdem führt sie auch der gemeinsame Nutzen zusammen, so weit eben ein jeder an einem würdigen Leben Anteil besitzt. XI
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Dies ist das oberste Ziel, für das Ganze wie für den Einzelnen. Die Menschen treten aber auch einfach um des Lebens willen zusammen und bilden eine staatliche Gemeinschaft. Und vielleicht gibt es ein Element der Würde auch im bloßen Leben allein, wenn die täglichen Beschwerlichkeiten nicht garzu sehr überwiegen. Denn offenbar halten die meisten Menschen viele Widerwärtigkeiten aus und klammern sich an das Leben, da dieses eine gewisse Erfreulichkeit und natürliche Süßigkeit in sich hat. Man kann nun leicht die genannten Arten von Regierung auseinanderhalten. Schon in den publizierten Schriften haben wir vielfach davon geredet. Die Despotie etwa regiert (obschon der Wirklichkeit nach der Nutzen dessen, der von Natur Herr ist, und der Nutzen dessen, der von Natur Sklave ist, einer und derselbe ist) vorzugsweise zum Nutzen des Herrn und nur beiläufig zu demjenigen des Sklaven, sofern nämlich die Despotie nicht aufrecht erhalten werden kann, wenn der Sklave zugrunde geht. Dagegen vollzieht sich die Herrschaft über die Kinder, die Frau und das ganze Haus, die wir die Hausverwaltung nennen, entweder dem Beherrschten zum Nutzen, oder zum gemeinsamen Nutzen beider, an sich aber für den Beherrschten, wie wir das auch bei den andern Künsten sehen, etwa der Medizin und der Gymnastik, die nur nebenbei dem Künstler selbst zugute kommen. Denn der Turnlehrer kann natürlich zuweilen selbst auch unter den Turnenden sein, wie der Steuermann auch immer zu den Mitfahrenden gehört. Doch grundsätzlich achtet der Turnlehrer oder der Steuermann auf das Wohl derer, die er regiert; sofern er aber auch zu diesen zählt, nimmt er nebenbei auch an dem Nutzen teil. Dann wird der eine zu einem der Mitfahrenden, der andere zu einem der Turnenden, obschon er eigentlich der Turnlehrer ist. Darum achtet man auch darauf, daß die Staatsämter, soweit sie auf der Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger aufgebaut sind, immer abwechselnd besetzt werden, so daß einer, wie es sich gehört, zuerst der Gesamtheit dient und dann wieder seinen eigenen Nutzen wahrnimmt, genauso wie er früher selbst als Regierender den Nutzen der andern wahrgenommen hat. Gegenwärtig freilich blickt man nur auf den Nutzen, den man persönlich aus der Gemeinschaft und den XII
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Ämtern ziehen kann; so will jeder dauernd die Ämter besetzen, als ob die Regierenden dauernd gesund bleiben könnten, obschon auch sie für Krankheiten anfällig sind; nur so hätten sie vielleicht das Recht, immer den Ämtern nachzujagen. Soweit also die Verfassungen das Gemeinwohl berücksichtigen, sind sie im Hinblick auf das schlechthin Gerechte richtig; diejenigen aber, die nur das Wohl der Regierenden im Auge haben, sind allesamt verfehlt und weichen von den richtigen Verfassungen ab. Denn dann sind sie despotisch; der Staat ist aber eine Gemeinschaft von Freien. 7. Nach dieser Feststellung haben wir zu untersuchen, wie viele Staatsformen es gibt, und welche sie sind, und vor allem, welches die richtigen sind. Denn kennt man diese, werden auch die verfehlten sichtbar werden. Da nun die Staatsverfassung und die Staatsregierung dasselbe meinen und die Staatsregierung das ist, was den Staat beherrscht, so wird dieses Beherrschende Eines oder Einige oder die Mehrheit sein müssen. Wenn nun der Eine oder die Einigen oder die Vielen im Hinblick auf das Gemeinwohl regieren, dann sind dies notwendigerweise richtige Staatsformen, verfehlte aber jene, wo nur der eigene Nutzen des Einen, der Einigen oder der Vielen bezweckt wird. Denn entweder dürfen diejenigen, die nicht am Nutzen teilhaben, nicht Bürger genannt werden oder sie müssen als Bürger am Nutzen teilhaben. Wir nennen nun von den Monarchien jene, die auf das Gemeinwohl schaut, das Königtum, von den Regierungen Einiger, also mehrerer als Eines, die entsprechende die Aristokratie (entweder weil die Besten regieren, oder weil sie zum Besten des Staates und der Gemeinschaft regieren). Wenn aber die Menge zum allgemeinen Nutzen regiert, so wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politie benannt. Dies mit Recht: denn daß sich Einer oder Einige an Tugend auszeichnen, ist wohl möglich, daß dagegen Viele in jeder Tugend hervorragen, schwierig; am ehesten noch in der kriegerischen, denn diese besitzt die Masse, und darum ist auch in einer solchen
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Verfassung das kriegerische Element das maßgebende, und es haben diejenigen an ihr teil, die Waffen tragen. Verfehlte Formen im genannten Sinne sind für das Königtum die Tyrannis, für die Aristokratie die Oligarchie und für die Politie die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine Alleinherrschaft zum Nutzen des Herrschers, die Oligarchie eine Herrschaft zum Nutzen der Reichen und die Demokratie eine solche zum Nutzen der Armen. Keine aber denkt an den gemeinsamen Nutzen aller. 8. Jede dieser Staatsformen sei nun noch etwas ausführlicher behandelt. Denn da gibt es allerlei Fragen, und wer methodisch zu forschen unternimmt und nicht nur zum Handeln drängt, wird diese Fragen nicht übersehen und nichts beiseite lassen, sondern in jedem einzelnen Fall die Wahrheit feststellen. Die Tyrannis also ist, wie wir sagten, eine Alleinherrschaft, die despotisch über die staatliche Gemeinschaft herrscht; die Oligarchie besteht dann, wenn die Reichen die Verfassung in den Händen haben, und die Demokratie umgekehrt, wenn nicht die Besitzenden, sondern die Armen regieren. Die erste Schwierigkeit erhebt sich bei der Einteilung. Wenn nämlich die Mehrzahl reich wäre und den Staat regierte, so wäre das eine Demokratie, insofern als dann die Menge regiert; und umgekehrt, wenn die Armen an Zahl geringer wären als die Reichen, aber dennoch stärker und Regenten des Staates, so müßte man, da in diesem Falle eine Minderheit regierte, von einer Oligarchie reden. So scheint also die Einteilung der Verfassungen nicht richtig zu sein. Aber wenn man die Minderheit zugleich reich sein läßt und die Mehrheit arm, und die Verfassungen dementsprechend benennt, so daß Oligarchie wäre, in welcher die reiche Minderheit regiert, und Demokratie, wo die arme Mehrheit herrscht, so ergibt dies eine zweite Schwierigkeit. Denn wie sollen wir dann die eben angeführten Staatswesen benennen, in welchen die Reichen die Mehrheit und die Armen die Minderheit bilden und die einen hier, die andern dort regieren, und es doch keine andern Verfassungen außer den genannten gibt? Diese Überlegung XIV
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scheint zu zeigen, daß es zufällig ist, ob nun viele oder wenige regieren, in den Oligarchien hier und den Demokratien dort; denn überall sind die Wohlhabenden wenige und die Armen zahlreich, und so werden denn auch die angegebenen Ursachen von Differenzen faktisch keine Rolle spielen. Der Punkt, in dem sich Demokratie und Oligarchie voneinander unterscheiden, ist Armut und Reichtum. Wo die Regierung auf dem Reichtum beruht, da handelt es sich notwendigerweise um eine Oligarchie, mögen die Regierenden viele oder wenige sein, wo aber die Armen regieren, da ist es eine Demokratie, und es ist, wie wir sagten, eine Nebensache, daß die einen zahlreich und die andern wenige sind. Denn am Reichtum haben nur wenige einen Teil, aber an der Freiheit alle, und aus diesem Grunde nehmen beide Parteien die Verfassungsmäßigkeit für sich in Anspruch. 9. Zuerst gilt es, die Theorien der Oligarchie und Demokratie und die Gerechtigkeit im oligarchischen und im demokratischen Sinne richtig zu beschreiben. Denn alle haben es mit irgendeiner Gerechtigkeit zu tun, aber nur bis zu einem gewissen Grade und nicht mit der ganzen und eigentlichen Gerechtigkeit. So scheint etwa die Gleichheit gerecht zu sein, und sie ist es auch, aber nicht unter allen, sondern nur unter den Ebenbürtigen. Und ebenso scheint die Ungleichheit gerecht zu sein, und ist es auch, aber unter den Unebenbürtigen. Wird diese Beziehung weggelassen, so kommt es zu einer falschen Auffassung. Ursache ist, daß man darin über sich selbst urteilt; und fast alle Leute urteilen schlecht in ihren eigenen Angelegenheiten. Da also die Gerechtigkeit ihrem Wesen nach eine Beziehung darstellt, und zwar in derselben Weise eine Beziehung auf Sachen und auf Menschen, wie früher in der Ethik gesagt wurde, so geben die Leute zwar die Gleichheit in den Sachen zu, streiten aber hinsichtlich der Menschen, vor allem aus dem eben genannten Grunde, weil sie über sich selbst falsch urteilen, und dann, weil beide Parteien bis zu einem gewissen Grade recht haben und darum glauben, sie verträten die Gerechtigkeit überhaupt. So meinen die einen, wenn sie in einem XV
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Punkte, nämlich im Vermögen ungleich seien, so seien sie überhaupt ungleich, die andern, wenn sie in einem Punkt, nämlich der Freiheit gleich sind, so seien sie überhaupt gleich. Das Entscheidende aber sagen sie nicht. Wenn sie nämlich um des Besitzes willen zu ihrer Gemeinschaft zusammengetreten wären, so würden sie am Staate nur soweit teilnehmen, als sie am Besitze teilnehmen. Dann würde die Auffassung der Oligarchen recht behalten, die erklärt, es sei nicht recht, daß derjenige, der von hundert Minen nur eine beigesteuert habe, demjenigen, der alles übrige gegeben habe, sei es an Kapital oder an Zinsen, gleichgestellt sei. Wenn man aber nicht bloß um des Lebens, sondern um des edlen Lebens willen beisammen ist (denn sonst gehörten auch Sklaven und andere Lebewesen zum Staate; dies trifft aber nicht zu, da diese weder an der Glückseligkeit, noch an einem Leben auf Grund freier Entscheidung beteiligt sind), und auch nicht nur um des Beistands willen, um von niemandem unterdrückt zu werden, und auch nicht wegen des gegenseitigen Handelsverkehrs und Nutzens voneinander - denn sonst müßten die Tyrrhener und Karthager und alle Völker, die Handelsverträge miteinander haben, gewissermaßen Bürger eines einzigen Staates sein. Sie haben bekanntlich Abmachungen über die Importe und Verträge, einander nicht zu schädigen, und Urkunden über militärischen Beistand. Aber die Regierungen sind durchaus nicht in allen diesen Staaten dieselben, sondern bei jedem eine andere, noch kümmert sich der eine um die Eigenschaften, die der andere haben muß, oder darum, daß der andere Vertragspartner nicht ungerecht wird und keiner Schlechtigkeit verfällt, sondern ausschließlich darum, daß sie einander gegenseitig keinen Schaden antun. An die politische Tugend und Schlechtigkeit denken nur jene, die sich um gute Gesetze kümmern. Und in der Tat muß ein Staat, der in Wahrheit und nicht bloß dem Namen nach ein Staat ist, sich um die Tugend kümmern. Denn sonst wäre die Gemeinschaft ein bloßer Beistandsvertrag, der sich von den andern solchen Verträgen (die weit voneinander getrennte Staaten verbinden) nur durch die räumlichen Verhältnisse unterschiede, und das Gesetz würde eine bloße XVI
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Abmachung und, wie der Sophist Lykophron sagte, ein gegenseitiger Bürge der Gerechtigkeit, aber nicht in der Lage, die Bürger tugendhaft und gerecht zu machen. Daß es sich so verhält, ist klar. Denn wenn einer die Orte konzentrierte, so daß die Städte der Megarer und Korinther sich mit ihren Mauern berührten, so entstünde daraus doch nicht Ein Staat; auch nicht, wenn sie Ehegemeinschaft miteinander vereinbarten, obschon dies eine dem Staate eigentümliche Gemeinschaftsform ist; auch nicht, wenn die Leute in einiger Distanz voneinander wohnten, aber doch so nahe, daß sie miteinander verkehren könnten und Abmachungen hätten, einander im Warenaustausch nicht zu betrügen : wenn also der eine ein Schreiner wäre, der andere ein Bauer, der dritte ein Schuster usw. und sie der Zahl nach zehntausend wären, aber in nichts anderm eine Gemeinschaft hätten als eben in Handelsabmachungen und Beistandsverträgen, so wäre dies doch noch kein Staat. Warum? Nicht weil die Gemeinschaft nicht eng genug ist. Denn auch wenn sie in solcher Gemeinschaft ganz nahe beisammen lebten (während jeder sein eigenes Haus wie seinen Staat behandelte), und sie eine Bundesgenossenschaft besäßen gegen die Angriffe dritter, so wird auch dies für den, der es genau nimmt, nicht als ein Staat gelten können, da sie ja am gemeinsamen Orte so verkehren, als wären sie getrennt. Offensichtlich ist also der Staat nicht bloß eine Gemeinschaft des Ortes und um einander nicht zu schädigen und um des Handels willen. Sondern dies sind nur notwendige Voraussetzungen, wenn es einen Staat geben soll; aber auch wenn all das vorhanden ist, ist noch kein Staat vorhanden, sondern dieser beruht auf der Gemeinschaft des edlen Lebens in Häusern und Familien um eines vollkommenen und selbständigen Lebens willen. Freilich kann dies nicht zustande kommen, wo man nicht an demselben Orte wohnt und keine Ehegemeinschaft hat. Und so gibt es in den Staaten Verschwägerungen und Brüderschaften und Opferfeste und Formen des geselligen Lebens. Das ist das Werk der Freundschaft. Denn der Wille, zusammenzuleben, ist Freundschaft.
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Ziel des Staates ist also das edle Leben, und jenes andere ist um dieses Zieles willen da. Und der Staat ist die Gemeinschaft der Geschlechter und Dorfgemeinden um des vollkommenen und selbständigen Lebens willen. Dieses endlich ist, wie wir betonen, das glückselige und edle Leben. Man muß also die politischen Gemeinschaften auf die edlen Handlungen hin einrichten und nicht bloß auf das Beisammenleben. Wer darum zu einer solchen Gemeinschaft am meisten beiträgt, der hat auch einen größern Anteil an dem Staate als jene, die an Freiheit und Abkunft gleich oder sogar überlegen sind, aber an politischer Tugend weniger besitzen, oder jene, die an Reichtum hervorragen, an Tugend aber zurückstehen. Offensichtlich haben also jene, die über die Verfassungsformen diskutieren, nur einen Teil der Gerechtigkeit im Auge. 10. Gefragt wird nun, was das Entscheidende im Staate sein soll: die Menge, die Reichen, die Anständigen, der Eine, der der beste von allen wäre, oder der Tyrann? All das scheint Schwierigkeiten zu haben. Denn wenn die Armen zufolge ihrer Mehrzahl den Besitz der Reichen aufteilen, ist dies nicht ungerecht? Und doch schien es dem entscheidenden Teile in der Tat gerecht. Wie soll man dann die äußerste Ungerechtigkeit bezeichnen? Wenn man noch einmal alles nimmt und die Mehrzahl noch einmal das Vermögen der Minderzahl aufteilt, so werden sie den Staat offensichtlich zugrunde richten. Aber die Tugend kann nicht den zerstören, der sie besitzt, und die Gerechtigkeit kann nicht einen Staat ruinieren. Also kann augenscheinlich eine solche Regelung nicht gerecht sein. Außerdem müßten dann auch die Handlungen des Tyrannen alle gerecht sein, da er sich als der Stärkere mit Gewalt durchsetzt, so wie die Menge den Reichen gegenüber. Sollen also die Minderzahl und die Reichen gerechterweise regieren? Wenn nun jene dasselbe tun, rauben und der Menge den Besitz wegnehmen, ist das gerecht? Dann wäre es auchdas erste. Daß also all das schlecht und ungerecht ist, ist offenkundig. Demnach sollen die Anständigen regieren und Herren über alles sein? Dann müssen alle andern ehrlos sein und von der Ehre der politischen XVIII
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Ämter ausgeschlossen bleiben. Solche Ämter nennen wir ja Ehren, und wenn sie immer von denselben besetzt werden, so sind die andern eben ehrlos. Oder soll der eine, der der Beste ist, regieren? Doch dies ist noch oligarchischer, weil dann die Zahl der Ehrlosen noch größer wird. Aber vielleicht wird man sagen, es sei überhaupt verkehrt, daß ein Mensch regiere und nicht das Gesetz, da ja der Mensch den seelischen Affekten unterliege. Aber wenn nun ein Gesetz herrschte, ein demokratisches oder ein oligarchisches, was würde dies an der Frage ändern? Das vorhin Geschilderte würde auch da zutreffen. 11. Vom übrigen sei nun an anderer Stelle die Rede. Daß aber die Entscheidung eher bei der Menge als bei der geringen Zahl der Besten zu liegen habe, das scheint zu bestehen und sich verteidigen zu lassen, ja vielleicht sogar wahr zu sein. Denn die Menge, von der der einzelne kein tüchtiger Mann ist, scheint doch in ihrer Gesamtheit besser sein zu können als jene Besten; nicht jeder Einzelne für sich, sondern die Gesamtheit, so wie die Speisungen, zu denen viele beigetragen haben, besser sein können als jene, die ein Einzelner veranstaltet. Denn es sind viele, und jeder hat einen Teil an Tugend und Einsicht. Wenn sie zusammenkommen, so wird die Menge wie ein einziger Mensch, der viele Füße, Hände und Wahrnehmungsorgane hat und ebenso, was den Charakter und den Intellekt betrifft. So beurteilt auch die Menge die Werke der Musik und der Dichter besser; der eine beurteilt diese, der andere jene Seite, und so urteilen alle über das Ganze. Aber es unterscheiden sich die tüchtigen Männer von jedem einzelnen aus der Menge ebenso, wie man sagt, daß sich die schönen Menschen von den unschönen unterscheiden und das künstlerisch Gezeichnete vom Wirklichen, daß nämlich das in Wirklichkeit zerstreut Vorhandene auf Eines konzentriert wird, wobei beim zerstreut Vorhandenen hier das Auge und dort ein anderer Körperteil schöner sein kann als beim Gezeichneten. Ob nun bei jedem Volke und jeder Menge dieser Unterschied der Vielen gegenüber den wenigen Edlen besteht, ist unklar; oder vielmehr ist es sehr klar, daß das einigen Völkern unmöglich ist; dieselbe Überlegung könnte man auch bei den Tieren anstellen – und XIX
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einige Völker unterscheiden sich sozusagen gar nicht von den Tieren. Aber in bestimmten Fällen kann das Gesagte wohl richtig sein. Damit kann man die gestellte wie auch eine anschließende Frage beantworten, worüber nämlich die Freien und die Menge der Bürger zu entscheiden haben sollen; wir meinen damit diejenigen, die sich weder an Reichtum noch an irgendeiner Tugend auszeichnen. Daß sie an den höchsten Ämtern teilnehmen sollen, ist gefährlich – denn wegen ihrer Ungerechtigkeit und Torheit werden sie hier Unrecht, dort Fehler begehen. Ihnen aber überhaupt keinen Anteil zu geben und sie auszuschließen, ist noch bedenklicher. Denn wenn die Zahl der Ehrlosen und der Armen sehr groß ist, so wird dieser Staat zwangsläufig voll von Feinden sein. Es bleibt also nur übrig, sie am Beraten und Entscheiden teilnehmen zu lassen. So übertragen ihnen Solon und einige andere Gesetzgeber die Wahl der Beamten und deren Rechenschaftsabnahme, aber selbständig regieren lassen sie sie nicht. Denn wenn sie alle zusammenkommen, haben sie genügend Verstand, und wenn sie mit Besseren zusammen sind, so nützen sie dem Staate, so wie die unreine Nahrung, wenn sie der reinen beigemischt wird, das Ganze nahrhafter macht, als wenn es nur wenig wäre. Für sich allein ist aber der Einzelne unfähig zu entscheiden. Diese Verfassungsordnung hat allerdings eine erste Schwierigkeit, daß nämlich doch wohl derjenige, der beurteilen kann, wer ein guter Arzt ist, und der, der selbst Arzt ist und den Kranken von der vorliegenden Krankheit heilen kann, derselbe Mann sein dürfte. Das ist eben der Arzt. Dasselbe gilt von den andern Fertigkeiten und Künsten. Wie sich ein Arzt vor Ärzten rechtfertigen soll, so auch die andern vor ihren Fachgenossen. Arzt ist aber erstens der Ausübende, zweitens der Anordnende und drittens der in der Kunst Gebildete; denn solche gibt es in fast allen Künsten. Das Urteil trauen wir dem so Gebildeten ebenso zu wie dem Fachmann. Dasselbe gilt wohl auch für die Wahl. Denn recht zu wählen ist Sache der Fachleute: die Geometer wählen einen Geometer und die Steuerleute einen Steuermann. Mögen auch Laien etwas von einzelnen Arbeiten und Künsten verstehen, so doch sicher nicht mehr als die XX
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Fachleute. So sollte man also die Menge weder in den Beamtenwahlen, noch in den Rechenschaftsabnahmen entscheiden lassen. Aber vielleicht ist dies nicht alles richtig, erstens wegen der früheren Erwägung, vorausgesetzt, daß die Menge nicht gar zu sklavenartig ist (denn jeder einzelne ist als Richter schlechter als der Fachmann, alle zusammengenommen aber sind sie besser oder doch nicht schlechter); außerdem urteilt wohl nicht immer der Verfertiger allein und am besten, nämlich dort, wo auch Nichtfachleute die Leistungen beurteilen können: ein Haus kann nicht nur der Baumeister beurteilen, sondern noch besser der, der in ihm zu wohnen hat, also der Hausherr; ein Steuerruder beurteilt der Steuermann besser als der Schreiner und »ein Essen der Gast besser als der Koch«. Doch diese Schwierigkeit wird man wohl leicht lösen können. Eine andere schließt sich an. Es scheint nämlich unsinnig, daß die Gemeinen über Wichtigeres entscheiden sollen als die Anständigen; zum Wichtigsten gehören die Wahlen und Rechenschaftsablagen der Beamten. In einigen Staaten werden sie, wie gesagt, dem Volke überlassen. Da ist die Volksversammlung die oberste Instanz in allen diesen Dingen. Aber an den Volksversammlungen nehmen als Mitberatende und Richtende auch Leute teil mit den kleinsten Einkommen und jeden Alters, dagegen sind die Angehörigen der hohen Steuerklassen Finanzbeamte, Feldherren und Träger der höchsten Ämter. Auch diese Frage wird sich gleich wie die vorige beantworten lassen. Denn vielleicht ist es so richtig: nicht der einzelne Richter, der Ratsherr oder das Mitglied der Volksversammlung ist die Behörde, sondern das Gericht, der Rat und das Volk, und davon ist jeder der Genannten bloß ein Teil; ich meine den Ratsherrn, Richter und das Mitglied der Volksversammlung. So ist mit Recht die Menge Herr über die bedeutenden Entscheidungen. Denn aus einer Vielheit setzt sich das Volk, der Rat und das Gericht zusammen. Und die Steuerkraft aller dieser zusammen ist größer als die jener Einzelnen, die nur als wenige die hohen Amtsstellen innehaben. Dies sei also in diesem Sinne festgestellt. XXI
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Die erstgenannte Frage aber zeigt mit besonderer Klarheit, daß entscheidend die richtig formulierten Gesetze sein sollen, daß aber der Beamte, mag er einer sein oder mehrere, darin maßgebend wird, wo die Gesetze nichts Genaues festlegen können, weil man nicht leicht allgemein über alle Fälle Bestimmungen treffen kann. Wie diese richtig formulierten Gesetze aussehen sollen, ist allerdings noch nicht klar, sondern es bleibt das frühere Problem. Denn zugleich mit den Verfassungen werden notwendigerweise auch die Gesetze schlecht oder gut, gerecht oder ungerecht sein. Nur müssen offensichtlich die Gesetze der Verfassung entsprechen. Dann ist auch klar, daß die den richtigen Verfassungen entsprechenden Gesetze gerecht und die den abweichenden Verfassungen entsprechenden nicht gerecht sein werden. 12. Da nun in allen Wissenschaften und Künsten das Gute das Ziel ist, so gilt dies am meisten und vor allem in der wichtigsten von allen, nämlich der Kunst des Staatsmannes. Das politische Gute ist das Gerechte, und dieses ist das, was der Allgemeinheit zuträglich ist. Das Gerechte scheint nun Gleichheit für alle zu sein, und bis zu einem gewissen Grade stimmt dies mit den philosophischen Erwägungen der Ethik überein. Denn diese stellen fest, was und für wen etwas gerecht sei, und daß Gleiche Gleiches erhalten sollen. Worin aber Gleichheit und Ungleichheit zu bestehen haben, muß man auch wissen. Denn auch dies ist eine Frage und bedarf staatsphilosophischer Untersuchung. Man könnte sagen, daß die Ämter je nach dem Vorrang in irgendeinem Gute ungleich verteilt werden müßten, wenn auch im übrigen keine Unterschiede bestünden, sondern alle gleich wären. Denn wo überhaupt Unterschiede vorhanden sind, da ist auch die Gerechtigkeit und die Würdigkeit eine andere. Wenn aber dies stimmt, so müssen auch jene, die sich an Farbe, Größe und sonst einem Gute auszeichnen, einen Überschuß an politischer Gerechtigkeit erfahren. Oder liegt hier nicht der Fehler zutage? In den andern Wissenschaften und Künsten ist es klar: wo Flötenspieler von gleichem Können vorhanden sind, da wird man nicht etwa den Vornehmeren die XXII
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besseren Flöten geben. Denn sie werden darum nicht besser spielen. Wer sich also in der Leistung auszeichnet, der soll auch das bessere Werkzeug erhalten. Wenn dies noch nicht deutlich genug ist, so wird es doch im weitern Verlaufe klar werden. Wenn sich nämlich einer in der Flötenkunst auszeichnet, aber an Vornehmheit oder Schönheit weit zurückbleibt, so würde man doch, obschon die beiden Güter Vornehmheit und Schönheit für sich höher stehen als die Flötenkunst, und im Verhältnis höher über der Flötenkunst stehen als der Flötenspieler durch seine Kunst über den andern, dem Flötenspieler die besseren Flöten gehen. Denn der Vorrang in Adel und Reichtum müßte zur Leistung beitragen, aber das tut er nicht. Nach diesem Prinzip würde sonst jedes Gut mit jedem vergleichbar sein, und wenn irgendeine Größe in Betracht zu ziehen wäre, so könnte die Größe überhaupt mit dem Reichtum oder der Freiheit rivalisieren. Wenn sich also der eine mehr durch Größe auszeichnete als der andere durch Tugend, mag auch im ganzen die Tugend hervorragender sein als die Größe, so wird dann doch alles vergleichbar sein. Denn wenn eine Größe die andere übertrifft, so sind sie offenbar vergleichbar. Da das unmöglich ist, so kann man auch im Staate vernünftigerweise bei dem Kampf um die Ämter nicht auf jede Art von Ungleichheit hinweisen (denn wenn die einen schnell, die andern langsam sind, so dürfen doch nicht darum die einen mehr und die andern weniger erhalten, sondern eine solche Differenz kommt nur in den gymnischen Wettspielen zu Ehren). Man muß also vielmehr in den Dingen wetteifern, die den Staat konstituieren, und so bewerben sich vernünftigerweise die Edlen, Freien und Reichen um die Ämter. Denn man muß frei sein und Steuern entrichten (nur aus Armen kann ein Staat ebensowenig bestehen wie nur aus Sklaven), und wenn dies notwendig ist, dann ist es auch die Gerechtigkeit und die kriegerische Tugend. Denn ohne diese läßt sich ein Staat nicht behaupten : ohne das frühere kann ein Staat überhaupt nicht sein, ohne das spätere kann er nicht gut regiert werden.
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13. Im Hinblick auf die Existenz des Staates also wird man mit Recht in alledem oder doch in einigem davon wetteifern, wo es sich aber um das tugendhafte Leben handelt, so werden wohl mit dem größten Rechte die Bildung und die Tugend im Wettbewerb stehen, wie schon früher gesagt. Da aber nicht an allem den gleichen Anteil jene haben dürfen, die nur in einem einzigen Punkte gleich sind, noch einen ungleichen solche, die nur in einem Punkte ungleich sind, so müssen also alle Verfassungen, in denen dies der Fall ist, Abweichungen sein. Es ist aber schon vorhin gesagt worden, daß alle in gewisser Weise mit Recht in Wettbewerb stehen, aber nicht schlechthin mit Recht. Die Reichen führen an, daß ihnen der größte Teil des Landes gehört, und dieses der Allgemeinheit zugute kommt; außerdem sind sie bei Verträgen meist zuverlässiger. Die Freien und die Adligen wiederum stehen einander nahe; denn die Edleren sind eher Bürger als die Unedlen, und jeder ehrt in seinem Lande den Adel; außerdem darf man vermuten, daß, wer von besseren Vorfahren abstammt, auch selber besser ist; denn die Adligkeit ist die Tüchtigkeit der Familie. Mit gleichem Rechte, werden wir sagen, tritt aber auch die Tugend in den Wettstreit, denn die Gerechtigkeit ist die Tugend in der Gemeinschaft, der alle andern folgen müssen. Ebenso streitet die Mehrzahl gegen die Minderzahl, denn sie ist mächtiger, reicher und besser, wenn man die Mehrzahl im ganzen mit der Minderzahl vergleicht. Wenn nun alle in demselben Staate wären, die Tüchtigen, die Reichen und die Edlen und sonst noch eine Menge von Bürgern, wird man dann schwanken, wer regieren soll oder nicht? Für jede der genannten Staatsformen würde die Entscheidung darüber, welche regieren sollen, unzweifelhaft sein (denn in der Frage nach der Regierung unterscheiden sie sich, ob diese bei den Reichen oder bei den Tüchtigen liegen soll usw.). Dennoch wollen wir prüfen, wie man entscheiden wird, wo all das gleichzeitig beisammen ist. Wenn nun diejenigen, die die Tugend besitzen, nur in ganz kleiner Zahl vorhanden sind, wie soll man da entscheiden? Muß man das »in ganz kleiner Zahl« in bezug auf ihre Aufgabe verstehen, ob sie nämlich den
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Staat regieren können, oder sollen es so viele sein, daß sie für sich allein einen Staat bilden könnten? Es gibt nun eine Frage bei allen, die sich um die politischen Ämter bewerben. Jene, die wegen ihres Reichtums die Regierung beanspruchen, und ebenso jene, die es wegen des Adels tun, könnten damit etwas Ungerechtes verlangen; wenn nämlich etwa ein Einzelner reicher wäre als alle andern, so wird nach demselben Prinzip dieser Eine über alle andern regieren müssen, und ebenso der eine Adlige über alle jene, die ihre Freigeborenheit geltend machen. Dasselbe könnte vielleicht auch in der Aristokratie in bezug auf die Tugend geschehen. Denn wenn ein Einzelner besser wäre als alle andern Tüchtigen in dem Staate, so muß nach derselben Gerechtigkeit dieser allein Herr sein. Endlich, wenn zwar die Menge regieren soll, weil sie stärker ist als die Wenigen, und wenn dann dennoch einer oder mehrere (mehr als einer, aber weniger als die Menge) stärker sind als die übrigen, so müßten dann diese eher regieren als die Menge. All das scheint zu zeigen, daß von diesen Bestimmungen keine richtig ist, soweit man daraus das Recht ableitet, zu herrschen und alle andern abhängig sein zu lassen. Auch gegenjene, die wegen ihrer Tüchtigkeit beanspruchen, den Staat zu regieren, oder wegen des Reichtums, könnte die Menge mit gewissem Recht Einspruch erheben. Denn nichts hindert, daß die Menge zuweilen besser sei als die Wenigen und Reichen, nicht als Einzelne, aber als Gesamtheit. Darum kann man auch auf die Frage, die einige stellen und verfolgen, in diesem Sinne antworten. Es wird nämlich gefragt, ob der Gesetzgeber bei seiner Arbeit und im Bestreben, die richtigsten Gesetze zu geben, auf den Nutzen der Besseren oder der Mehrzahl zu achten hat, wenn die angegebene Situation vorliegt. Das »richtig« ist da als »gleichmäßig« zu verstehen. Das gleichmäßig Richtige bezieht sich auf den Nutzen des ganzen Staates und auf die Gemeinschaft der Bürger. Bürger ist im allgemeinen der, der am Regieren und Regiertwerden beteiligt ist, in jeder Verfassung ein anderer, in der besten aber derjenige, der fähig und willens ist, zu regieren und sich regieren zu lassen im Sinne des tugendgemäßen Lebens.
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Wenn nun ein Einzelner oder Mehrere, die aber für sich doch nicht einen ganzen Staat ausmachen können, sich in der Tugend so sehr auszeichnen, daß die Tugend aller andern zusammen sich mit der ihrigen nicht vergleichen läßt und auch nicht die politische Fähigkeit mit derjenigen jener ersten, wenn es Mehrere sind, oder des Einen, wenn es Einer ist, so darf man diese nicht mehr als einen Teil des Staates auffassen. Denn es geschähe ihnen Unrecht, wenn sie andern gleichgestellt würden, obschon sie an Tugend und an politischer Fähigkeit dermaßen hervorragen. Ein solcher wird wohl wie ein Gott unter den Menschen wirken müssen. So wird sich offenbar auch die Gesetzgebung mit den an Herkunft und Fähigkeit Gleichen zu befassen haben. Für die andern dagegen gibt es kein Gesetz. Denn sie sind selber Gesetz, und wer versuchte, ihnen Gesetze zu geben, würde sich lächerlich machen. Sie würden etwa sagen, was Antisthenes die Löwen sagen ließ, als die Hasen Volksversammlung hielten und für alle gleiches Recht verlangten. Aus eben dieser Ursache haben auch die demokratischen Staaten den Ostrakismos eingeführt. Denn sie scheinen von allen am meisten auf Gleichheit Wert zu legen, so daß sie jene, die übermäßige Macht zu haben schienen (durch Reichtum, viele Freunde oder einen sonstigen politischen Einfluß), ostrakisierten und für bestimmte Zeiten aus dem Staate entfernten. Aus derselben Ursache sollen auch die Argonauten Herakles zurückgelassen haben. Denn er wollte nicht mit den andern die Argo antreiben, da er viel schwerer wäre als die Mitfahrenden. Darum tun doch wohl jene, die die Tyrannis und den dem Thrasybul von Periander gegebenen Rat tadeln, dies nicht ohne weiteres mit Recht (man sagt nämlich, Periander habe dem zu ihm um einen Rat ausgesandten Herold kein Wort gesagt, sondern durch Abhauen der hervorstehenden Ähren das Getreidefeld ausgeglichen. Der Herold verstand den Sinn dieses Handelns nicht, habe es aber gemeldet, Thrasybul dagegen begriff, daß er die hervorragenden Männer beseitigen solle). Dies nützt nämlich nicht nur den Tyrannen, und nicht nur die Tyrannen tun dies, sondern genauso auch die Oligarchien und Demokratien. Denn der Ostrakismos hat in gewisser Weise dieselbe Wirkung, die Hervorragenden zu unterdrücken und zu XXVI
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verbannen. Dasselbe machen auch die Machthaber in den Staaten und Völkern, die Athener mit den Samiern, Chiern und Lesbiern (denn sowie sie sich der Herrschaft über sie bemächtigt hatten, demütigten sie sie gegen die Verträge), und der Perserkönig hat die Meder und Babylonier und die andern, die stolz waren, weil sie selbst einmal geherrscht hatten, oftmals niedergeschlagen. Das Problem stellt sich für alle Verfassungen, auch die richtigen. Die unrichtigen handeln so, indem sie auf das eigene Interesse schauen, aber auch bei denen, die das Gemeinwohl im Auge haben, kommt es zu derselben Situation. Das zeigt sich auch an den sonstigen Künsten und Wissenschaften. Auch ein Maler wird nicht ein Lebewesen mit einem ganz disproportioniert großen Fuße gelten lassen, selbst wenn er noch so schön wäre, noch auch ein Schiffbaumeister den Schlußteil oder sonst einen Teil des Schiffes, noch wird ein Chorleiter einen Sänger, der stärker und schöner singt als der ganze Chor, in diesem Chore mitsingen lassen. Insofern können also die Alleinherrscher und die andern Staaten in diesem Punkte durchaus dasselbe tun, wenn sie es wirklich so tun, daß ihre eigene Herrschaft dem Nutzen des Staates dient. Soweit hat der Gedanke des Ostrakismos bei offensichtlichen Überlegenheiten ein gewisses politisches Recht. Es ist aber besser, daß der Gesetzgeber die Verfassung von Anfang an so einrichtet, daß derartige Heilmittel überhaupt nicht nötig werden. Der zweite Weg, wenn er doch notwendig sein sollte, wäre, dies mit einer Korrektur zurechtzurichten. Dies ist allerdings in den Staaten nicht geschehen. Denn da schaute man nicht auf den Nutzen des eigenen Staates, sondern verwendete den Ostrakismos als eine Waffe im Parteikampfe. Und daß in den verfehlten Verfassungen diese Einrichtung dem partikularen Nutzen dient und gerecht ist, ist klar, ebenso wohl auch, daß sie dort nicht schlechthin gerecht heißen kann. Im vollkommenen Staate besteht jedoch die große Schwierigkeit nicht im Übermaß in den andern Gütern, wie dem Einfluß, dem Reichtum und den Beziehungen, sondern darin, was geschehen soll, wenn einer an Tüchtigkeit hervorragt. Man wird doch einen solchen nicht verbannen und entfernen und noch weniger über einen solchen XXVII
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regieren wollen. Denn das wäre, als wollte man über Zeus regieren und die Herrschaft reihum gehen lassen. Es bleibt also, was ja auch das Natürliche scheint, daß alle einem solchen willig gehorchen, so daß diese in ihren Staaten Könige auf Lebenszeit werden. 14. Es ist vielleicht zweckmäßig, nach diesen Untersuchungen weiterzugehen und nach dem Königtum zu fragen. Denn dies war doch eine der richtigen Verfassungen. Wir haben also zu prüfen, ob die Königsherrschaft einem Staate und Lande, die gut verwaltet werden sollen, zuträglich ist oder nicht, oder eher eine andere Verfassung, oder ob sie hier zuträglich ist und dort nicht. Zuerst muß man wissen, ob es nur eine oder mehrere verschiedene Arten des Königtums gibt. Es ist freilich leicht zu erkennen, daß es mehrere Arten umfaßt und die Weise des Regierens nicht überall dieselbe ist. Das Königtum der spartanischen Verfassung scheint im höchsten Grade gesetzmäßig zu sein; es ist aber nicht souverän, sondern der König hat nur, wenn er außer Landes zieht, den Oberbefehl im Kriege; außerdem sind die Kultverrichtungen den Königen vorbehalten. Ein solches Königtum ist also wie ein selbständiges und lebenslängliches Feldherrenamt. Der König hat keine Gewalt über das Leben, außer im Falle der Feigheit vor dem Feinde, also wie bei den Alten im Standrecht und »nach dem Gesetz der bewaffneten Hand«, wie dies Homer zeigt. Denn in den Volksversammlungen mußte Agamemnon es sich gefallen lassen, beschimpft zu werden, aber beim Ausmarsch hatte er auch das Recht, töten zu lassen. Er sagt ja: »Wen ich aber fern der Schlacht . . . dem wird es nichts nützen, den Hunden und Vögeln zu entfliehen. Denn bei mir steht Leben und Tod.« Dies ist also die eine Art des Königtums, lebenslängliches Strategentum, und diese haben ihre Würde entweder ererbt oder durch Wahl erhalten. Daneben gibt es eine andere Art der Alleinherrschaft, wie bei einigen Barbarenvölkern, die Königtümer haben. Diese haben alle eine tyrannenähnliche Macht, sind aber gesetzlich begründet und ererbt. Denn da die Barbaren sklavischeren Charakters sind als die Griechen, und die Asiaten eher als die Europäer, so ertragen sie eine despotische Herrschaft, ohne sich aufzulehnen. Tyrannisch sind sie XXVIII
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also, aber beständig, weil sie ererbt und gesetzmäßig sind. Aus demselben Grunde ist dort auch die Leibwache königlich und nicht tyrannisch, denn die Bürger bewachen mit ihren Waffen den König, bei den Tyrannen sind es aber Söldner; denn die einen lassen sich durch Gesetze und freiwillig beherrschen, die andern unfreiwillig. Also besorgen im einen Falle die Bürger den Schutz, im andern die Söldner gegen die Bürger. Dies sind also zwei Arten der Alleinherrschaft; eine dritte ist die, die bei den alten Griechen bestand und die man Aisymneten nennt. Dies ist, um es in einem Wort zu sagen, eine gewählte Tyrannis, und sie unterscheidet sich von der barbarischen nicht dadurch, daß sie gesetzlos, sondern nur dadurch, daß sie nicht erblich ist. Einige nun hatten eine solche Herrschaft lebenslänglich, andere für bestimmte Zeiten oder Aufgaben, so wie die Mytilenaier den Pittakos wählten gegen die von Antimenides und dem Dichter Alkaios geführten Verbannten. Daß sie den Pittakos zum Tyrannen wählten, zeigt Alkaios in einem seiner Skolien, wo er den Vorwurf erhebt, »daß sie den niedrig geborenen Pittakos zum Tyrannen bestellten über die feige und gottverfluchte Stadt, einhellig mit lautem Jubel«. Solche Herrschaften sind und waren tyrannisch, weil sie despotisch sind, königlich dagegen, weil sie auf Wahl und auf freiem Willen beruhen. Eine vierte Art königlicher Alleinherrschaft ist die der heroischen Zeiten und beruhte auf Freiwilligkeit, Gesetz und Erbfolge. Denn da jene die ersten Wohltäter der Menge wurden in Künsten oder im Krieg, oder weil sie sie zusammenschlossen, oder Land beschafften, so wurden sie freiwillig zu Königen erhoben, und ihr Amt durch Weitergabe erblich. Sie waren Herren über die Führung im Krieg und über die Opfer, soweit sie nicht den Priestern vorbehalten waren, und sprachen außerdem Recht. Dies taten die einen auf Grund von Schwüren. dieandern ohne Schwüre, und der Schwur bestand im Emporheben des Zepters. Diese Könige der Vorzeit regierten gleichzeitig die Angelegenheiten der Stadt, die des Volkes und die auswärtigen Dinge. Später leisteten sie selbst auf einiges Verzicht, anderes wurde ihnen vom Volke weggenommen, und in den meisten Staaten verblieben ihnen nur die Opfer; wo man aber mit Recht noch XXIX
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von Königtum sprechen konnte, da behielten sie wenigstens die Führung in den auswärtigen Kriegen. Dies sind also die Formen des Königtums, vier an der Zahl, die erste das des Heroenzeitalters (es bestand über frei Zustimmende, aber mit beschränkten Kompetenzen; denn der König war Feldherr, Richter und Verwalter der religiösen Dinge), zweitens das barbarische (eine erbliche und gesetzlich begründete despotische Herrschaft), drittens das der sogenannten Aisymneten (eine gewählte Tyrannis) und endlich als viertes das spartanische (das nichts anderes als ein erbliches Feldherrenamt ist). Auf diese Weise also unterscheiden sie sich voneinander. Eine fünfte Art des Königtums besteht dort, wo Einer Herr über alles ist und wo ein einzelnes Volk oder einzelner Staat in den gemeinsamen Dingen nach der Art einer Hausverwaltung regiert wird. Denn wie die Hausverwaltung eine Art von Königtum im Hause ist, so ist dieses Königtum die Verwaltung eines oder mehrerer Staaten und Völker. 15. Näher zu prüfen sind wohl nur zwei der genannten Arten, die eben angeführte und die spartanische. Denn von den andern sind die meisten zwischen diesen in der Mitte. Sie haben weniger Kompetenzen als das Universalkönigtum und mehr als dasjenige der Spartaner. Und so geht die Frage so ziemlich nach zwei Dingen, ob es nämlich dem Staate nützt, einen lebenslänglichen Feldherrn zu haben, sei es erblich oder abwechselnd oder nicht, und weiterhin, ob es zweckmäßig ist, daß einer Herr über alles sei oder nicht. Die Frage nach einem solchen Feldherrenamt berührt mehr die Gesetze als die Verfassungen, da es in jeder Verfassung vorkommen kann, so daß wir sie fürs erste beiseite lassen. Dagegen ist das, was sonst vom Königtum bleibt, durchaus eine Verfassungsform, so daß man dies prüfen und die vorhandenen Schwierigkeiten untersuchen muß. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, ob es besser ist, vom vollkommenen Menschen oder von den vollkommenen Gesetzen beherrscht zu werden. Jene, die eine Königsherrschaft vorziehen, glauben, daß die Gesetze nur das Allgemeine XXX
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sagen, aber keine Vorschriften von Fall zu Fall geben können. Es ist aber in jeder Kunst einfältig, sich nach Geschriebenem zu richten, und in Ägypten ist es nach dem vierten Tag den Ärzten erlaubt, von den Regeln abzuweichen (tun sie es vorher, dann auf eigene Gefahr). Aus demselben Grunde wird also auch die auf Geschriebenes und auf Gesetze aufgebaute Verfassung nicht die beste sein können. Indessen müssen auch die Regierenden im Besitze jenes allgemeinen Begriffes sein; dabei ist etwas, das ganz frei von Leidenschaften ist, besser als das, dem sie angeboren sind. Dies gilt nicht von den Gesetzen, dagegen hat jede menschliche Seele notwendigerweise diesen Charakter. Aber vielleicht könnte man behaupten, daß der Mensch dafür im Einzelnen besser zu raten vermag. Klar ist also, daß der König selbst Gesetzgeber sein muß, und daß Gesetze vorhanden sein müssen, die aber nicht gelten dürfen, wo sie Fehler machen, wohl aber im Sonstigen. Was aber das Gesetz überhaupt nicht oder nicht richtig regeln kann, soll da der Eine als der Beste regieren oder Alle? Denn auch jetzt tritt man zu Kollegien zusammen zum Gericht, zum Rat und zur Entscheidung, und diese Entscheidungen betreffen immer Einzelnes. Jeder für sich allein ist vielleicht, verglichen mit den andern, schlechter. Aber der Staat besteht aus vielen, so wie ein Festessen, wo viele beitragen, schöner ist als eins, das einer für sich allein bestellt. Und so wird die Menge vieles besser beurteilen können als ein beliebiger Einzelner. Außerdem ist eine Menge schwerer zu verwirren. So wie eine größere Menge Wasser, so ist auch eine größere Anzahl Menschen schwerer zu verderben als eine kleine. Wenn etwa der Eine von Zorn überwältigt wird oder von einer andern solchen Leidenschaft, so muß sein Urteil verdorben werden; es wird aber kaum eintreffen, daß alle zugleich in Zorn geraten und sich verfehlen. Diese Menge muß aber aus Freien bestehen und darf nichts gegen das Gesetz tun, sondern nur dort handeln, wo das Gesetz ergänzt werden muß. Wenn sich das auch nicht leicht bei einer Vielheit findet, so besteht doch die Frage, ob, wo eine Mehrzahl tüchtiger Männer und Bürger XXXI
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vorhanden ist, der Einzelne, der herrscht, weniger dem Verderben ausgesetzt ist als die andern, die eine Mehrzahl und alle insgesamt tüchtig sind. Offensichtlich die Mehrzahl. Freilich können diese in Zwistigkeiten geraten, der Eine dagegen nicht. Dem steht freilich vielleicht wiedergegenüber, daß sie doch seelisch tugendhaft sind genauso wie jener Einzelne. Wenn man also die Herrschaft von Mehreren, die alle tüchtig sind, als Aristokratie bezeichnen soll und die des Einzelnen als Königtum, so ist offenbar für die Staaten die Aristokratie wünschbarer als das Königtum, mag die Herrschaft mit Machtmitteln ausgestattet sein oder nicht, wenn es nur gelingt, mehrere gleich Tüchtige zu finden. Darum bestanden wohl früher die Königtümer, weil Männer, die an Tugend besonders ausgezeichnet waren, selten zu finden waren, vor allem bei der damaligen Kleinheit der Staaten. Außerdem setzte man die Könige ein wegen ihrer Wohltaten, wie eben tüchtige Männer sie vollbringen. Wie dann sich eine Mehrzahl fand, die alle an Tüchtigkeit ebenbürtig waren, da blieben sie nicht mehr beim Königtum, sondern strebten nach einer gemeinsamen Regierung mehrerer und errichteten eine Politie. Dann wurden sie schlechter, profitierten vom öffentlichen Gute und kamen so begreiflicherweise zur Oligarchie. Denn sie betrachteten den Reichtum als das Ehrwürdigste. Von daher gerieten sie zuerst in Tyrannis und aus dieser zur Demokratie. Denn durch die Habgier wurde ihre eigene Zahl immer geringer und die Menge immer mächtiger, so daß sie schließlich einen Angriff unternahm, und die Demokratie entstand. Da gleichzeitig die Staaten auch größer wurden, so kann heute wohl nicht mehr leicht eine andere Staatsform entstehen als die Demokratie. Wenn man aber das Königtum für die beste Staatsform hält, wie soll es dann mit den Kindern des Königs sein? Soll auch das ganze Geschlecht König sein? Dies ist gefährlich, da sie ja werden können, wie es sich auch schon getroffen hat. Oder wird er als souveräner Herr die Herrschaft den Kindern nicht übergeben? Dies wiederum ist nicht leicht zu erwarten; denn dies ist hart und fordert mehr Tugend, als es die menschliche Natur zuläßt.
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Eine Schwierigkeit macht auch die Frage der bewaffneten Macht: soll derjenige, der König sein will, eine solche Macht um sich herum haben, mit der er jene zwingen kann, die ihm nicht gehorchen wollen, oder wie soll er seine Herrschaft ausüben? Wenn er nämlich Herr ist nach dem Gesetz, und auch nicht gegen das Gesetz seinen Willen durchzusetzen sucht, so wird er doch eine Streitmacht zur Verfügung haben müssen, mit deren Hilfe er über die Beobachtung der Gesetze wacht. Indessen ist die Frage, wo es sich um einen solchen König handelt, nicht schwer zu beantworten. Er muß eine Macht haben; sie soll so groß sein, daß sie jedem Einzelnen und auch einer Mehrheit überlegen ist, dagegen kleiner als diejenige der ganzen Menge; so gestatteten auch die Alten Leibwachen, als sie für den Staat einen Mann bestellten, den sie Aisymneten oder Tyrannen nannten, und so empfahl jemand, als Dionysios Wachen verlangte, zur Antwort den Syrakusanern, ihm eine solche von genau dieser Größe zu geben. 16. Die Untersuchung führt uns nun zu der Frage nach dem König, der alles nach seinem eigenen Willen regiert. Denn das sogenannte gesetzmäßige Königtum beruht, wie wir sagten, auf keiner besonderen Staatsform. (In allen Verfassungen kann es ein lebenslängliches Feldherrenamt geben, auch in einer Demokratie und Aristokratie, und vielfach wird ein Einzelner zum Herrn über die ganze Staatsverwaltung gemacht. So ist es in Epidamnos und im geringeren Umfange auch in Opus.) Was aber das sogenannte Universalkönigtum anlangt, so besteht es dort, wo der König über alle nach seinem Willen regiert. Einige meinen, es sei nicht überhaupt naturgemäß, daß ein Einzelner Herr über alle Bürger sei, sofern der Staat aus Ebenbürtigen bestehe. Denn wo eine natürliche Gleichheit vorliegt, da muß auch der Natur nach dasselbe Recht und dieselbe Würde vorhanden sein, und wie es dem Körper schädlich sei, wenn Ungleiche die gleiche Nahrung oder Kleidung erhalten, so ist es auch mit den Ämtern; also schadet es auch, wenn Gleiche Ungleiches bekommen. Darum ist es dann recht, daß keiner eher regiere als regiert werde, und daß dies abwechselnd XXXIII
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geschehe. Dies ist dann schon ein Gesetz. Denn Gesetz heißt ja Ordnung. So scheint es wünschbarer, daß das Gesetz regiert als ein Einzelner; und wenn es doch gut ist, daß Einige regieren, so ist es nach demselben Prinzip besser, daß diese nur Wächter und Diener der Gesetze seien. Denn es muß ja Ämter geben, aber es sei nicht gerecht, sagt man, daß ein Einzelner sie innehabe, wo doch alle gleich sind. Und wenn es scheint, daß ein Gesetz nicht alles regeln könne, so wird ja wohl auch ein Mensch nicht alles wissen können. Das Gesetz wird also in angemessener Weise erziehen und läßt dann die Beamten das übrige so gerecht als möglich entscheiden und verwalten. Es kann auch verbessert werden, wenn die Erfahrung zeigt, daß man Dinge noch besser regeln kann. Wer also fordert, daß das Gesetz regiere, scheint zu fordern,daß nur Gott und die Vernunft regieren, wer aber einen Menschen dazu beansprucht, der nimmt auch das Tier dazu. Denn die Begierde ist von solcher Art, und der Zorn verwirrt die Beamten und die besten Menschen. Darum ist das Gesetz eine Vernunft ohne Streben. Das Beispiel der Künste scheint falsch zu sein, daß nämlich das Heilen auf Grund von Geschriebenem schlecht und es besser sei, die Fachleute heranzuziehen. Denn die Ärzte tun nichts aus Freundschaft wider ihr Wissen, sondern empfangen den Lohn, nachdem sie die Kranken gesund gemacht haben. Die politischen Beamten aber pflegen immer vieles aus Abneigung oder Gunst zu tun. Sogar in der Medizin möchte man wohl, falls man vermutete, die Ärzte würden, durch die Feinde bestochen, einen Kranken um des Gewinns willen zugrunde richten, lieber die Heilung bei Geschriebenem suchen. Die Ärzte selbst ziehen, wenn sie krank werden, andere Ärzte und die Turnlehrer bei ihren Übungen andere Turnlehrer zu, weil sie die Wahrheit nicht feststellen können, wenn es um ihre eigene Person geht und sie darum befangen sind. Um der Gerechtigkeit willen sucht man also ein Mittleres, und dieses ist eben das Gesetz. Außerdem ist das Gewohnheitsrecht noch wichtiger und betrifft wichtigere Dinge als das geschriebene Gesetz, und wenn ein Mensch als Herrscher zuverlässiger sein mag als die geschriebenen Gesetze, so XXXIV
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ist er es doch nicht mehr als die Gewohnheitsgesetze. Auch kann nicht leicht ein Einzelner vieles überblicken. Er bedarf also mehrerer durch ihn bestellter Beamter– aber was macht es dann für einen Unterschied, ob man dies sofort so einrichtet oder einen Einzelnen regieren läßt? Wenn schließlich, was schon vorhin gesagt wurde, der tüchtige Mann, weil er besser ist, gerechterweise herrschen soll, so sind zwei Tüchtige noch besser als einer. Denn dies meint der Vers: »Zwei zusammen gehend«, und das Gebet des Agamemnon: »Hätte ich doch zehn solche Ratgeber.« Auch jetzt können über einige Dinge die Beamten souverän entscheiden, wie etwa der Richter, dort wo das Gesetz es nicht leisten kann. Wo das Gesetz aber genügt, da bezweifelt keiner, daß nicht das Gesetz am besten regiert und entscheidet. Da man aber das eine im Gesetz fassen kann und das andere nicht, so entsteht eben daraus die Schwierigkeit und Frage, ob eher das vollkommene Gesetz regieren solle oder der vollkommene Mensch. Denn unmöglich ist es, über jene Dinge Gesetze zu erlassen, über die die Regierenden sich zu beraten pflegen. Man bestreitet denn auch nicht, daß ein Mensch in diesen Dingen entscheiden solle, sondern nur, daß es bloß einer se und nicht viele. Denn jeder Beamte, der durch das Gesetz an geleitet ist, entscheidet richtig, aber es ist doch wohl unsinnig zu behaupten, daß einer besser sieht und entscheidet mit zwei Augen und zwei Ohren und handelt mit zwei Händen und Füßen, als viele mit vielen. Auch jetzt machen die Alleinherr scher viele zu ihren Augen, Ohren, Händen und Füßen. Denn sie lassen ihre Freunde und die Freunde ihrer Herrschaft an de Regierung teilnehmen. Wenn sie freilich nicht Freunde sind so werden sie nicht nach dem Wunsche des Alleinherrscher handeln; sind sie es aber für ihn und seine Herrschaft, so ist der Freund ja gleich und ebenbürtig, und wenn er diese zu Regierung heranzieht, so will er eben, daß die Gleichen um Ebenbürtigen entsprechend mitregieren. Dies etwa ist es, was die Gegner des Königtums sagen. 17. In einigen Fällen mag dies richtig sein, in andern wohl weniger. Denn es gibt Menschen, die von Natur unter despotischer, andere, die XXXV
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unter königlicher Herrschaft stehen müssen und andere, für die eine Politie gerecht und zuträglich ist Die Tyrannis ist nicht naturgemäß, und auch nicht die andern abweichenden Verfassungen; sie sind vielmehr naturwidrig Aus dem Gesagten ergibt sich sicherlich, daß es bei Ebenbürtigen und Gleichen nicht zuträglich und gerecht ist, daß Einer Herr über alle sei, sei es, daß keine Gesetze bestehen, sondern er selbst Gesetz ist, oder sei es, daß solche bestehen; und mag er als Tüchtiger über Tüchtige regieren, oder als Untüchtiger über Untüchtige, und auch nicht, wenn er an Tugend hervorragt, außer in bestimmten Fällen. Welches diese Fälle sind. ist nun darzulegen; in gewisser Weise wurde es schon früher gesagt. Zuvor aber ist zu bestimmen, was die königliche, die aristokratische und die politische Regierungsform ist. Königlich regiert ist eine solche Menge, die ihrer Natur nach ein an Tugend hervorragendes Geschlecht in der politischen Führung akzeptiert, aristokratisch eine Menge, die als eine freie durch die in der Tugend Hervorragenden in politischen Beamtenstellen regiert werden kann, und endlich politisch eine solche, worin abwechselnd Regieren und Regiertwerden stattfindet gemäß einem Gesetz, das in richtiger Weise die Ämter verteilt. Wenn nun ein ganzes Geschlecht oder sonst ein Einzelner vorhanden ist, der an Tugend so sehr hervorragt, daß siediejenige aller übrigen übertrifft, dann ist es gerecht, daß diese Geschlecht das Königtum innehabe und Herr über alles sei und daß dieser Eine König sei. Denn wie zuvor gesagt, verhält es sich so nicht bloß nach der Gerechtigkeit, die diejenige] anzurufen pflegen, die aristokratische, oligarchische ode demokratische Verfassungen aufgebaut haben (alle mache] nämlich einen Vorrang geltend, nur eben nicht denselben; sondern auch nach unserer früheren Feststellung. Einen derart hervorragenden Menschen darf man nämlich nicht töten verbannen oder ostrakisieren oder ihn auch nur abwechslungsweise regieren lassen. Denn der Teil ist seiner Natur nach nicht mehr als das Ganze, aber dies würde demjenigen gegenüber eintreten, der einen so großen Vorrang besäße Es bleibt also nur übrig, daß man einem solchen gehorcht uni daß dieser Herr sei, und zwar nicht abwechslungsweise, sondern überhaupt.
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Über das Königtum und seine Formen, und ob es den Staaten zuträglich ist oder nicht, und wem und wie, sei dies gesagt. 18. Da wir aber drei richtige Verfassungen genannt haben und von ihnen jene die beste ist, die von den Besten verwalte wird, also diejenige, in der Einer unter allen oder ein ganze Geschlecht oder eine Menge sich an Tugend auszeichnet, daß die einen sich regieren lassen, und die andern im Hinblick auf die wünschenswerteste Lebensform regieren, und da an Anfang gezeigt wurde, daß die Tugend des vollkommener Menschen und diejenige des Bürgers im vollkommenen Staate dieselbe ist, so ist es klar, daß auf dieselbe Weise und aus den selben Gründen ein einzelner Mann tüchtig wird und einer entsprechenden Staat, eine Aristokratie oder ein Königtum einrichten könnte. Es wird also so ziemlich dieselbe Erziehung und dieselbe Gewöhnung sein, die einen tüchtigen Mann und einen guten Staatsmann und König heranbildet. Nachdem dies festgelegt ist, haben wir nun vom vollkommenen Staate zu reden, wie er von Natur entstehen und ein gerichtet sein wird. Wer dies hinreichend untersuchen will muß .. .
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Viertes Buch 1. In allen Künsten und Wissenschaften, die nicht bloß eine Besonderheit behandeln, sondern umfassend eine gesamte Gattung, ist es die Aufgabe einer einzigen Untersuchung, zu prüfen, was jeder Gattung angemessen ist, etwa, was für eine Übung was für einem Körper zuträglich ist, und welches die schlechthin beste Übung ist (denn wer am besten veranlagt und ausgestattet ist, dem wird auch die beste passen), weiterhin welche bestimmte Übung für die größte Mehrzahl passend ist (denn auch dies ist Aufgabe der Gymnastik); endlich wenn einer nicht nach der hinreichenden Disposition und Kunst verlangt, die die Wettkämpfe fordern, dann ist es zweifellos die Aufgabe des Sport- und Turnlehrers, auch hiefür Übungen anzugeben. Dasselbe konstatieren wir bei der Medizin, Schiffsbaukunst, Schneiderei und jeder andern Kunst. So ist es denn auch offensichtlich die Aufgabe derselben Wissenschaft, zu fragen, welches die beste Verfassung sei und wie sie wohl am meisten nach Wunsch eingerichtet sein wird, wenn nichts von außen stört, und ferner, welche Verfassung welchen Menschen paßt (denn viele werden vermutlich gar nicht bis zur besten Verfassung gelangen können, so daß also der gute und wahrhaft staatsmännische Gesetzgeber sowohl von der schlechthin besten wie auch von der relativ besten Verfassung Kenntnis haben muß), weiterhin drittens, welches die unter bestimmten Voraussetzungen beste Verfassung ist (denn man muß auch die gegebene Verfassung untersuchen können, wie sie entstanden sein wird und wie sie, einmal entstanden, am längsten zu dauern vermag. So kann etwa ein Staat nicht die beste Verfassung einführen, wenn es ihm an den notwendigsten Voraussetzungen dazu mangelt, und auch nicht die in der gegebenen Lage relativ beste; er wird sich also mit einer schlechteren begnügen); neben alledem muß man endlich feststellen, welche Verfassung der größten Mehrzahl der Staaten passen wird. Die meisten, die sich über Verfassungen geäußert haben, haben zwar ausgezeichnete Dinge gesagt, aber keine brauchbaren. Denn man darf nicht nur auf die beste Verfassung hinschauen, sondern auch auf die I
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mögliche und diejenige, die verhältnismäßig leicht und überall zu verwirklichen ist. Faktisch aber suchen die einen nur nach der höchsten, die umständlichster Hilfsmittel bedarf; die andern wollen einen zugänglicheren Staat schildern, beseitigen aber die vorhandenen Verfassungen und loben die spartanische oder eine ähnliche. Es gilt aber eine Ordnung aufzustellen, zu der man sich aus den gegebenen Voraussetzungen leicht überreden und in Bewegung setzen lassen kann; es ist nämlich keine kleinere Aufgabe, eine Verfassung zu verbessern, als sie von Anfang an neu aufzubauen, wie es auch nicht geringer ist, umzulernen als einfach zu lernen. Darum muß der Politiker, wie schon gesagt, zu den erwähnten Aufgaben hinzu auch den vorhandenen Verfassungen seinen Beistand leihen können. Dies kann man aber nicht, wenn man nicht weiß, wie viele Verfassungsformen es gibt. Einige meinen, es gebe eine Demokratie und eine Oligarchie, was aber nicht stimmt. Man muß also die Unterschiede der Verfassungen beachten, wie viele es sind und auf wie viele Arten sie aufgebaut sind. Mit dieser selben Einsicht muß man auch nach den besten Gesetzen forschen und nach denjenigen, die zu jeder der Verfassungen passen. Denn man muß, wie es auch faktisch geschieht, die Gesetze nach den Verfassungen richten und nicht umgekehrt. Denn Verfassung ist die Ordnung des Staates hinsichtlich der Fragen, wie die Regierung aufgeteilt ist, welche Instanz über die Verfassung entscheidet und was das Ziel jeder einzelnen Gemeinschaft ist. Die Gesetze sind aber getrennt von den Vorschriften, die die Verfassung charakterisieren, und geben die Richtlinien, nach denen die Regierenden zu regieren und Übertretungen abzuwehren haben. Man muß also die Unterschiede und die Eigenart der Verfassungen auch kennen um der Gesetze willen. Denn es können nicht dieselben Gesetze allen Oligarchien oder Demokratien nützen, da es ja auch da mehrere Formen gibt und nicht bloß eine einzige Demokratie oder Oligarchie.
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2. In der ersten Untersuchung über die Verfassungen haben wir drei richtige Verfassungsformen unterschieden, das Königtum, die Aristokratie und die Politie, und drei Abweichungen, die Tyrannis vom Königtum, die Oligarchie von der Aristokratie und die Demokratie von der Politie. Über Aristokratie und Königtum ist schon gesprochen worden (denn von der besten Verfassung reden ist dasselbe wie von diesen beiden Verfassungen sprechen; denn jede von diesen will auf die Tugend hin bestehen und zu ihr ausgerüstet sein). Ebenso wurde gesagt, worin sich Aristokratie und Königtum unterscheiden und wann man von einem Königtum reden kann. Es bleibt also, von der Politie zu sprechen (die also denselben Namen hat wie das Allgemeine), sowie über die andern Verfassungen, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis. Man sieht nun gleich, welche von diesen Abweichungen die schlimmste und welche die zweitschlimmste ist. Denn die Abweichung von der ersten und göttlichsten muß am schlimmsten sein; das Königtum aber ist entweder ein bloßer Name, oder dann beruht es auf dem großen Vorrang des Regierenden. So ist die Tyrannis die schlechteste Form und weicht am meisten von der richtigen Verfassung ab, das zweite ist die Oligarchie (denn die Aristokratie ist von dieser Staatsform weit getrennt), das erträglichste die Demokratie. Es hat auch einer der früheren dasselbe gesagt, wenn auch unter einem anderen Gesichtspunkt als wir. Er erklärte nämlich, wenn alle Verfassungen gut wären (also wenn die Oligarchie annehmbar wäre usw.), so wäre die Demokratie die schlechteste, wären sie aber schlecht, so wäre sie die beste. Wir nennen aber diese insgesamt verfehlt und glauben nicht, daß man eine Oligarchie besser als eine andere wird nennen können, höchstens weniger schlecht. Aber diese Diskussion sei jetzt beiseite gelassen. Wir haben zuerst zu bestimmen, wie viele verschiedene Verfassungen es gibt, wenn es also verschiedene Typen von Oligarchie und Demokratie gibt; ferner, welches die umfassendste, wünschbarste Verfassung sei nächst der besten (die man so oder anders aristokratisch und gut aufgebaut nennen mag); weiterhin, welches III
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diejenige ist, die für die größte Zahl von Staaten paßt; sodann welche von den sonstigen Verfassungen in welcher Situation angemessen ist (denn da kann unter Umständen die Demokratie notwendiger erscheinen als die Oligarchie, oder auch umgekehrt); dann wie man, wenn man will, eine solche Verfassung aufbauen kann, ich meine eine der Formen der Demokratie oder der Oligarchie; und endlich, wenn wir alle diese Dinge in der gebotenen Kürze durchgenommen haben, müssen wir versuchen, darzulegen, wie die Verfassungen im Ganzen und jede für sich untergehen oder sich erhalten, und aus welchen Ursachen dies vorzugsweise zu geschehen pflegt. 3. Die Ursache davon, daß es mehrere Verfassungen gibt, ist, daß der Staat zahlenmäßig mehrere Teile besitzt. Denn zuerstsehen wir, wie alle Staaten aus Familien zusammengesetzt sind; von dieser Zahl sind wiederum die einen wohlhabend, die andern arm und die dritten in der Mitte, und von den Wohlhabenden und Armen sind die einen bewaffnet, die andern unbewaffnet. Ferner ist vom Volke der eine Teil Bauer, der andere Kaufmann, der dritte Handwerker. Und auch unter den Angesehenen gibt es Unterschiede an Reichtum und Ansehnlichkeit des Besitzes, etwa in der Haltung von Pferden (denn dies kann man kaum, wenn man nicht reich ist, und darum waren in den alten Zeiten jene Staaten oligarchisch, in denen die Macht auf der Reiterei beruhte. Sie verwendeten ihre Pferde im Kampfe gegen die Nachbarn, so die Eretrier, Chalkidier, die Magneten am Maiandros und viele andere in Kleinasien). Zu den Unterschieden im Reichtum kommen jene an Herkunft und Tüchtigkeit und was wir sonst noch dieser Art als Teile des Staates in dem Abschnitt über die Aristokratie genannt haben. Denn dort stellten wir fest, aus wie vielen Teilen ein Staat notwendigerweise bestehen muß. Von diesen Teilen sind zuweilen alle regierungsfähig, zuweilen weniger, zuweilen mehrere. So muß es offenbar mehrere der Art nach verschiedene Verfassungen geben; denn auch die Teile sind der Art nach verschieden. Denn die Verfassung ist die Ordnung der Ämter, und diese verteilen alle entweder nach der Macht der Berechtigten oder nach einer gemeinsamen Gleichheit etwa unter den Besitzlosen oder den IV
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Besitzenden, oder schließlich einer Gleichheit, die beiden Gruppen gemeinsam ist. Es muß also so viele Verfassungen geben, als es Ordnungen in der Hierarchie und in den Arten der Teile gibt. Vor allem scheinen zwei voranzustehen (wie es bei den Winden vor allem Nord- und Südwinde gibt und die andern als Abweichungen davon), nämlich die Demokratie und die Oligarchie. Die Aristokratie wird als eine besondere Form der Oligarchie gerechnet und die sogenannte Politie als eine Demokratie, wie auch bei den Winden der Zephyr dem Nordwind und der Ostwind dem Südwind zugeordnet wird. Ähnlich verhält es sich auch, wie einige behaupten, mit den musikalischen Harmonien; auch da werden zwei Arten angesetzt, die dorische und die phrygische, und die andern werden gesammelt als dorischer und phrygischer Typ benannt. Vor allem aber pflegt man bei den Verfassungen so vorzugehen. Richtiger und besser ist es jedoch, so einzuteilen, wie wir es tun, indem wir eine oder zwei gut eingerichtete Verfassungen annehmen und die andern als Abweichungen von der gut gemischten Harmonie bzw. vom vollkommenen Staate auffassen, die oligarchischen als allzu straff und despotisch, die demokratischen als allzu locker und weichlich. 4. Man darf aber die Demokratie nicht, wie jetzt einige tun, einfach danach bestimmen, daß die Menge entscheidet (denn auch in der Oligarchie und überall sonst regiert der überwiegende Teil des Volkes), und auch nicht als Oligarchie den Fall bestimmen, wo wenige die Verfassung beherrschen. Wenn nämlich alle zusammen dreizehnhundert wären und davon nun tausend Reiche, die den dreihundert, die arm, aber frei und sonst ebenbürtig wären, keinen Anteil an der Regierung gewährten, wird man das gewiß niemals eine Demokratie nennen. Ebenso wenn die Armen wenige wären, aber stärker als die Reichen in ihrer Mehrzahl, so kann auch dies nicht als eine Oligarchie gelten, wenn die andern als Reiche nicht an den Ämtern teilnehmen dürften. Man muß also vielmehr sagen, daß Demokratie dort herrscht, wo die Freigeborenen regieren, Oligarchie dort, wo die Reichen regieren, wobei offen bleibt, daß die einen oder die andern in der Mehrzahl sein V
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können. Faktisch werden die Freien die Mehrzahl, die Reichen eine Minderheit sein. Auch wenn man die Ämter nach der Größe verteilte, wie es in Äthiopien sein soll, oder nach der Schönheit, so wäre dies eine Oligarchie. Denn die Zahl der Schönen wie der Großen ist gering. Aber es genügt nicht, die genannten Verfassungen allein danach zu unterscheiden. Da es nämlich mehrere Teile innerhalb der Demokratie und der Oligarchie gibt, so muß man weiterhin festlegen, daß auch nicht, wo die Freien eine Minderzahl bilden und über eine Mehrheit von Unfreien regieren, eine Demokratie besteht, wie dies im ionischen Apollonia und in Thera der Fall war (denn in diesen beiden Staaten besetzten die Vornehmen alle Ämter und leiteten die Koloniegründungen, obwohl sie eine Minderheit waren); noch ist dort eine Demokratie, wo die Reichen in der Mehrzahl sind und regieren, wie es früher in Kolophon war (denn dort hatte die Mehrzahl große Reichtümer aufgesammelt, ehe der Krieg gegen die Lyder kam), sondern eine Demokratie besteht nur dort, wo die Freien und Unbemittelten in der Mehrheit sind und regieren, eine Oligarchie dort, wo es die Minderheit der Reichen und Vornehmen tut. Daß es also mehrere Staatsformen gibt und aus welcherUrsache, haben wir gesagt. Daß es aber noch mehr gibt als die genannten, welche und weshalb, das ist jetzt zu zeigen; und zwar gehen wir vom früheren Ausgangspunkte aus. Wir haben festgestellt, daß jeder Staat nicht bloß einen, sondern mehrere Teile besitzt. Wenn wir nun vergleichsweise die Arten der Lebewesen ordnen wollten, so würden wir damit beginnen, abzugrenzen, was jedes Lebewesen haben muß, etwa einige Sinnesorgane und die Werkzeuge zur Verarbeitung und Aufnahme der Nahrung, also Mund und Bauch, ferner Bewegungswerkzeuge – wenn es nur so viele Teile wären, gäbe es schon bei diesen Unterschiede (etwa Typen des Mundes, des Bauches, der Wahrnehmungs und Bewegungsorgane), und die Zahl der Kombinationen macht mit Notwendigkeit eine Menge von Gattungen aus (es kann ja nicht dasselbe Lebewesen mehrere Formen des Mundes oder etwa der Ohren haben); wenn man dies berücksichtigt, so werden alle denkbaren Kombinationen ebenso viele Arten der Lebewesen erzeugen, und es wird ebenso viele Arten geben, wie es VI
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Kombinationsmöglichkeiten der notwendigen Teile gibt. Dasselbe gilt auch von den genannten Staatsformen. Denn die Staaten bestehen, wie oftmals gesagt, nicht aus einem, sondern aus vielen Teilen. Ein Teil ist die Menge, die sich um die Ernährung kümmert, also die Bauern, ein zweiter die sogenannten Banausen, die sich mit den Handwerkskünsten abgeben, ohne die ein Staat nicht existieren kann (von diesen sind die einen unentbehrlich, die andern dienen dem Luxus oder dem höheren Leben), der dritte sind die Kaufleute, also jene, die sich mit Kauf und Verkauf, Import und Detailhandel befassen, der vierte sind die Tagelöhner, der fünfte die Soldaten, der genauso unentbehrlich ist wie die andern, wenn man nicht jedem Angreifer unterliegen will. Denn ein Staat, der seiner Natur nach zur Sklaverei gemacht ist, ist es unter keinen Umständen wert, ein Staat zu heißen. Der Staat genügt sich selbst, der Sklave aber nicht. Dies ist in [Platons] >Staat< zwar elegant, aber nicht hinlänglich behandelt. Sokrates sagt dort, der Staat bestehe aus vier unentbehrlichen Teilen, den Webern, Bauern, Schustern und Baumeistern. Dann fügt er den Schmied bei und den Wächter über die notwendigen Herden, dann den Import und Detailhändler, als ob demnach die ersten doch nicht genügten. Und dies alles füllt den ursprünglichen Staat, wie wenn jeder Staat wesentlich um der Notdurft und nicht um der Tugend willen entstanden wäre, und als ob er Schuhmacher ebenso nötig hätte wie Bauern. Den kriegerischen Teil nennt er erst dort, wo das Land sich vergrößert, dasjenige der Nachbarn berührt, und so zu Kriegen ein Anlaß entsteht. Aber bei den vier oder wieviel Gliedern der Gemeinschaft muß es auch solche geben, die Recht sprechen. Und wenn man die Seele für einen wesent licheren Teil des Lebewesens hält als den Körper, so muß man auch in den Staaten mehr diese Dinge berücksichtigen als jenes, was sich auf die Notwendigkeiten des Lebens bezieht, also die Krieger und die Richter, die die Gerechtigkeit vertreten, ferner die Beratenden, denen die politische Einsicht zugewiesen ist. Ob dies verschiedenen oder denselben Personen zukommt, macht prinzipiell keinen Unterschied. Denn es werden oft dieselben Leute Soldaten und Bauern sein. Wenn man also dieses und jenes als Teile VII
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des Staates anzusetzen hat, so ist klar, daß auch die Soldaten einen notwendigen Teil darstellen. Der siebente Teil sind diejenigen, die mit ihrem Vermögen dem Staate zur Verfügung stehen und die wir die Wohlhabenden nennen, die achten die öffentlichen Angestellten und diejenigen, die als Beamte dienen, da ja ein Staat ohne Beamte nicht sein kann. Es muß also solche geben, die regieren und dem Staate dauernd oder abwechslungsweise eben diesen Dienst als Beamte leisten können. Endlich bleibt, was wir soeben erwähnten, das Beratende und das in Streitfällen Richtende. Wenn aber dies im Staate geleistet und gut geleistet werden soll und gerecht, so muß es auch solche geben, die an der politischen Tugend teilhaben. Die andern Fähigkeiten können oft bei denselben Personen vereinigt sein, so daß dieselben Krieger, Bauern und Handwerker sind, ebenso Beratende und Richter; alle aber erheben auch Anspruch auf die Tugend und glauben in der Lage zu sein, fast alle Ämter zu übernehmen. Daß jedoch derselbe arm und reich sei, ist ausgeschlossen. Darum scheinen dies die wichtigsten Teile des Staates zu sein, die Armen und die Reichen; auch weil die einen zumeist eine Mehrheit, die andern eine Minderheit darstellen, scheinen sie unter den Teilen des Staates in besonderem Maße einander entgegengesetzt zu sein. So werden denn die Verfassungen nach dem Vorrang in diesem Punkte aufgebaut, und es scheinen sich zwei Verfassungen zu ergeben, die Demokratie und die Oligarchie. Daß es also mehrere Verfassungen gibt und weshalb, ist vorhin gesagt worden. Daß es aber auch mehrere Formen der Demokratie und Oligarchie gibt, sei jetzt gesagt. Dies ergibt sich aus dem Bisherigen. Denn es gibt mehrere Arten des Volks und der sogenannten Angesehenen; beim Volk finden sich etwa die Bauern, dann die Handwerker, dann die mit Kauf und Verkauf beschäftigten Kaufleute, dann die Seeleute und bei diesen wiederum die Krieger, Kaufleute, Matrosen und Fischer (an vielen Orten sind alle diese Gruppen sehr zahlreich, etwa die Fischer in Tarent und Byzanz, die Marinesoldaten in Athen, die Kaufleute in Aigina und Chios, die zivilen Matrosen in Tenedos). Dazu kommen die Tagelöhner, die so wenig besitzen, daß sie keine Muße haben, dann die Freien, die nicht beidseitig von VIII
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Vollbürgern abstammen, und was es sonst noch an besonderen Gruppen gibt; unter den Angesehenen schaffen Reichtum, Adel, Tüchtigkeit, Bildung und ähnliche Dinge die Unterschiede. Von den Demokratien ist die erste diejenige, in der die Gleichheit am meisten vorhanden ist. Unter Gleichheit versteht das Gesetz einer solchen Demokratie dies, daß keiner, reich oder arm, einen Vorrang hat, daß kein Teil über den anderen regiert, sondern beide vollkommen ebenbürtig sind. Wenn nämlich die Freiheit sich vor allem in der Demokratie findet, wie einige meinen, und ebenso die Gleichheit, so wird diese am meisten darin bestehen, daß alle so gleichmäßig als möglich an der Regierung teilhaben. Da aber das Volk die Mehrheit ist und das gilt, was die Mehrheit beschließt, so wird eben dies zwangsläufig eine Demokratie sein. Das ist also eine Form der Demokratie. Eine andere ist diejenige, daß Steuereinschätzungen, aber sehr niedrige, die Grundlage bilden. Dann wird jeder, der irgend etwas besitzt, das Recht haben, mitzuregieren, und wer diesen Besitz verliert, hat das Recht nicht mehr. Eine weitere Form der Demokratie ist es, daß alle Bürger von einwandfreier Abkunft regieren können, und daß das Gesetz herrscht. Noch eine andere Form ist es, daß alle regimentsfähig sind, wenn sie bloß Bürger sind, daß aber das Gesetz herrscht. In einer weitern Form der Demokratie gilt dasselbe, nur daß da das Volk entscheidet und nicht das Gesetz, was dort der Fall ist, wo es nach der Absicht der Volksführer auf die Abstimmungen ankommt und nicht auf das Gesetz. Denn in den nach dem Gesetz regierten Demokratien gibt es keine Volksführer, sondern den Vorsitz führen die Besten unter den Bürgern. Wo aber die Gesetze nicht entscheiden, da gibt es die Volksführer. Denn da ist das Volk Alleinherrscher, wenn auch ein aus vielen Einzelnen zusammengesetzter. Die Menge ist ja Herr, nicht als jeder Einzelne, sondern als Gesamtheit (unklar bleibt, welche Vielherrschaft Homer verwirft, ob diese hier oder jene, wo mehrere Einzelne als Beamte regieren). Ein solches alleinherrschendes Volk sucht zu herrschen, weil es nicht von den Gesetzen beherrscht wird, IX
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und wird despotisch, wo denn die Schmeichler in Ehren stehen, und so entspricht denn diese Demokratie unter den Alleinherrschaften der Tyrannis. Der Charakter ist auch derselbe, beide herrschen despotisch über die Besseren; die Volksbeschlüsse wirken hier, wie dort die Befehle, und der Volksführer und der Schmeichler entsprechen einander genau. Und diese beiden haben je die größte Macht, die Schmeichler bei den Tyrannen und die Volksführer bei einem solchen Volke. Daran, daß nicht die Gesetze, sondern die Volksabstimmungen entscheiden, sind eben diese schuld, die alles dem Volk in die Hand geben wollen. Denn so werden sie selbst groß, wenn das Volk Herr über alles ist und sie über die Meinung des Volkes; denn das Volk gehorcht ihnen. Auch wenn sie den Beamten Vorwürfe machen, so sagen sie, das Volk solle entscheiden; dieses nimmt die Aufforderung gerne an, und so lösen sich alle Ämter auf. Demnach ist der Einwand ganz begreiflich, den man erheben kann, eine solche Demokratie sei überhaupt keine Verfassung; wo nämlich keine Gesetze regieren, da ist auch keine Verfassung. Denn das Gesetz soll über das Allgemeine regieren und über das Einzelne die Beamten, und es ist eben dies, was als Verfassung gelten soll. Wenn also die Demokratie eine der Verfassungsformen ist, so ist es klar, daß eine solche Einrichtung, in welcher alles mit Abstimmungen verwaltet wird, auch nicht eine eigentliche Demokratie heißen kann. Denn keine Abstimmung kann Allgemeines feststellen. So seien also die Formen der Demokratie gegliedert. 5. Von den Formen der Oligarchie ist die eine diejenige, daß die Ämter an so hohe Steuereinschätzungen gebunden sind, daß die Unbemittelten trotz ihrer Überzahl nicht daran teilnehmen können; wer aber ein solches Vermögen erworben hat, ist dagegen berechtigt, Ämter zu bekleiden. Eine andere Form ist es, in der die Ämter ebenfalls an hohe Steuerklassen gebunden sind, die Ämter sich aber durch Kooptation ergänzen (wenn diese aus den gesamten Berechtigtenauswählt, so ist
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dies wohl eher aristokratisch, wenn nur au: einem ganz engen Kreis, dann eher oligarchisch). Eine weitere Form der Oligarchie liegt vor, wo der Sohn für den Vater nachrückt, eine vierte, wo dasselbe gilt und dazu nicht das Gesetz, sondern die Beamten entscheiden. Dies ist in der Oligarchie die Form, die der Tyrannis in den Monarchien und jener äußersten eben besprochenen Form in den Demokratien entspricht. Eine solche Oligarchie nennt man Dynastie. Es gibt also ebenso viele Arten der Oligarchie wie der Demokratie. Man darf aber nicht übersehen, daß oftmals eine gesetzmäßige Verfassung nicht demokratisch ist, aber doch durch die Sitte und ihre Führung das Staatsleben demokratisch wird; ebenso kann umgekehrt und anderswo dem Gesetze nach eine Verfassung sehr demokratisch wirken, aber durch die Art der Führung und die Gewohnheiten eher auf eine Oligarchie hinauslaufen. Das gilt vor allem bei Verfassungsänderungen. Denn man geht da nicht sofort zum Neuen über, sondern zuerst beschränken sie sich darauf, einander in Kleinigkeiten zu schikanieren, so daß zwar noch die bisher bestehenden Gesetze gelten, aber doch jene herrschen, die die Verfassung umstürzen wollen. 6. Daß es also so viele Formen der Demokratie und Oligarchie gibt, ist nun klargeworden. Denn entweder müssen alle genannten Teile des Volkes an der Regierung teilhaben oder nur einige. Wenn die Bauern und die Besitzer eines mäßigen Vermögens an der Regierung teilnehmen, so werden sie gemäß den Gesetzen regieren. Denn sie leben von ihrer Arbeit, haben keine Muße und können nur die Volksversammlungen halten, die notwendig sind, und lassen im übrigen die Gesetze regieren. Die andern können sich beteiligen, wenn sie den vom Gesetze vorgeschriebenen Besitz erreicht haben. Also dürfen alle Besitzenden mitregieren. Wenn es nämlich nicht alle dürfen, so ist das oligarchisch; umgekehrt setzt die nötige Muße dazu voraus, daß man Einkünfte hat. Auf diese Weise ist also die eine Art der Demokratie begründet. Eine andere Art beruht auf der sich anschließenden Einteilung. Es können auch alle teilhaben, die von einwandfreier Abstammung sind, XI
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vorausgesetzt, daß sie sich die dazu nötige Muße zu leisten vermögen. So regieren in einer solchen Demokratie die Gesetze, da die notwendigen Einkünfte nicht vorhanden sind. In einer dritten Form können alle Freigeborenen teilnehmen, aber sie werden es aus der angegebenen Ursache nicht tun, und so muß auch da das Gesetz regieren. Die vierte Form der Demokratie ist diejenige, die sich zeitlich als letzte in den Staaten durchgesetzt hat. Denn da die Staaten bedeutend größer geworden waren als am Anfang und eine Menge von Einkünften zur Verfügung steht, so haben alle an der Regierung teil wegen der überwiegenden Masse des Volkes und können sich auch politisch betätigen, da sie die Muße haben und die Armen dafür entlohnt werden. Und gerade eine solche Menge hat am meisten Muße. Denn sie sind ja nicht durch die Fürsorge für ihren persönlichen Besitz gehemmt, sondern dies hindert vielmehr die Reichen, so daß oftmals diese weder an die Volksversammlung kommen noch Richter sein können. So wird die Masse der Armen maßgebend im Staat, und nicht mehr das Gesetz. Aus diesen Ursachen ergeben sich also Art und Zahl der Formen der Demokratie. Was aber die Arten der Oligarchie betrifft: wenn eine größere Zahl von Bürgern ein mäßig großes Vermögen besitzt, so ist dies die erste Art. Denn die Besitzenden können da an der Regierung teilnehmen, und da diese eine bedeutende Menge darstellen, so werden notwendigerweise nicht die Menschen, sondern die Gesetze entscheiden (und zwar je mehr sie sich von der Alleinherrschaft unterscheiden und weder so viel Vermögen besitzen, um sorglos Muße halten zu können, noch so wenig, um am Staate verdienen zu müssen, desto eher wird das Gesetz über sie regieren müssen und nicht sie selbst). Wenn aber die Zahl der Besitzenden geringer ist als vorher, aber ihr Vermögen größer, dann haben wir den zweiten Typus der Oligarchie. Weil sie mehr Macht haben, wollen sie auch mehr beanspruchen. Darum wählen sie selbst unter den andern Bürgern jene, die in die Regierung eintreten sollen; da sie aber noch nicht stark genug sind, um ohne Gesetz regieren zu können, so erheben sie eben dies zum Gesetz. XII
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Werden sie an Zahl noch geringer und an Vermögen noch stärker, so kommen wir zur dritten Stufe der Oligarchie, derart, daß sie von selbst die Ämter innehaben, aber auf Grund eines Gesetzes, wonach auf die Verstorbenen die Söhne folgen sollen. Und wenn sie endlich an Reichtum und Einfluß weit überragen, so steht eine solche Herrschaft der Monarchie ganz nahe; dann entscheiden die Menschen und nicht mehr das Gesetz.und dies ist die vierte Art der Oligarchie, die der äußersten Demokratie entspricht. 7. Es gibt nun noch zwei Formen neben der Demokratie und der Oligarchie; die eine davon ist allbekannt und wird als eine der vier Staatsformen gezählt (d. h. Monarchie, Oligarchie, Demokratie und die sogenannte Aristokratie). Die fünfte ist jene, die den allgemeinen Namen besitzt (man nennt sie Politie), aber da sie nicht oft vorkommt, so wird sie von denen, die die Staatsformen zu zählen versuchen, meist übersehen, und so werden in den Staatstheorien nur die vier gerechnet, wie etwa bei Platon. Eine Aristokratie kann man mit Recht jenes nennen, was wir am Anfang besprochen haben (denn die Verfassung, die auf den schlechthin, und nicht bloß auf Grund irgendeiner Voraussetzung, besten Männern beruht, darf allein mit Recht Aristokratie heißen. Nur in ihr ist der vollkommene Mensch und der tüchtige Bürger schlechthin derselbe, in den andern sind sie tüchtig nur im Verhältnis zu ihrer eigenen Verfassung). Doch gibt es auch Verfassungen, die sich von den Oligarchien und von den sogenannten Politien in bestimmten Richtungen unterscheiden und ebenfalls Aristokratien genannt werden. Wo man nämlich die Ämter nicht nur nach dem Reichtum, sondern auch nach der Tüchtigkeit bestellt, da liegt eine Verfassung vor, die sich von den beiden genannten unterscheidet und aristokratisch heißt. Denn auch in den Staaten, die sich nicht gemeinsam um die Tugend bemühen, gibt es Menschen, die sich auszeichnen und die als anständig gelten können. Wo also eine Verfassung den Reichtum und die Tugend und das Volk berücksichtigt, wie in Karthago, da ist sie aristokratisch, und ebenso wo nur auf zwei Dinge geachtet wird, wie in Sparta, nämlich auf XIII
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Tugend und aufs Volk, und wo eine Mischung dieser beiden Dinge, der Demokratie und der Tugend, vorliegt. Es gibt also neben der ersten und besten Verfassung diese beiden Formen der Aristokratie und dazu eine dritte, wo die sogenannte Politie oligarchische Tendenzen zeigt. 8. So bleibt uns noch von der sogenannten Politie und von der Tyrannis zu sprechen. Wir haben sie so eingeordnet, obschon weder die Politie noch die eben angeführten Aristokratien Abweichungen sind; in Wahrheit verfehlen allerdings alle den vollkommenen Staat und zählen insofern unter die Abweichungen, und dann gibt es von ihnen wieder jene Abweichungen, die wir am Anfang aufgeführt haben. Sinnvoll ist es, erst am Schlusse die Tyrannis zu erwähnen, weil sie am wenigsten von allen eine wirkliche Verfassung ist und wir ja eben die Verfassungen verfolgen. Damit sei also die Reihenfolge begründet. Nun ist die Politie zu untersuchen. Ihre Bedeutung wird nun klarer, nachdem wir die Oligarchie und die Demokratie untersucht haben. Denn die Politie ist mit einem Worte gesagt, eine Mischung von Demokratie und Oligarchie. Man pflegt denn auch die Formen, die mehr zur Demokratie neigen, eigentlich Politien zu nennen, und diejenigen, die sich mehr zur Oligarchie hin bewegen, Aristokratien, weil eher die Wohlhabenden Bildung und Adligkeit besitzen. Auch scheinen die Wohlhabenden schon zu besitzen, weswegen die Verbrecher Unrecht tun, und insofern pflegt man sie edel und angesehen zu nennen. Da nun die Aristokratie den besten unter den Bürgern den Vorrang zuteilen will, so sagt man, daß auch die Oligarchien vorzugsweise aus den Edlen bestehen. Denn unmöglich scheint es, einen Staat gut zu verwalten, der nicht von den Besten, sondern von den Schlechtesten regiert wird, noch auch daß ein Staat, der keine guten Gesetze besitzt, von den Besten regiert werde. Gute gesetzliche Ordnung besteht ja nicht darin, daß gute Gesetze vorhanden sind, sondern darin, daß man ihnen gehorcht. Also besteht eine gute gesetzliche Ordnung erstens darin, daß man den Gesetzen gehorcht, die vorhanden sind, und zweitens darin, daß die Gesetze, denen man folgt, gut sind (denn man XIV
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kann auch schlechten Gesetzen gehorchen). Dies ist in doppelter Weise möglich: entweder folgt man den relativ besten Gesetzen, oder den besten schlechthin. Aristokratie scheint am ehesten dort zu bestehen, wo die Ämter nach der Tugend verteilt sind. Denn Maßstab der Aristokratie ist die Tugend, der Oligarchie der Reichtum, der Demokratie die Freiheit. Daß die Mehrheit entscheidet, findet sich bei allen. Auch in der Oligarchie, der Aristokratie und der Demokratie gilt, was die Mehrheit der Regimentsberechtigten beschließt. In den meisten Staaten wird die Form der Politie beansprucht. Denn nur die Mischung wird den Reichen und Armen, dem Reichtum und der Freiheit gerecht. Und bei den meisten scheinen die Wohlhabenden die Stelle der Edlen einzunehmen. Da nun drei Dinge nach dem gleichen Rechte im Staate streben, Freiheit, Reichtum und Tugend (das vierte, was man die Adligkeit zu nennen pflegt, folgt den zwei letztgenannten:denn die Adligkeit ist alter Reichtum und Tugend), so ist klar, daß man die Mischung von zweien, der Reichen und der Armen, Politie zu nennen hat, die der drei aber vorzugsweise Aristokratie (von der wahren und ersten Aristokratie abzusehen). Daß es also neben der Monarchie, Demokratie und Oligarchie andere Verfassungsformen gibt, ist damit gesagt, ebenso, welche sie sind, und wie sich die Aristokratien untereinander und die Politien von den Aristokratien unterscheiden, und daß sie einander nicht fern stehen. 9. Nun ist zu zeigen, wie neben der Demokratie und Oligarchie die sogenannte Politie entsteht, und wie man sie einrichten soll. Dies wird zugleich klar mit Hilfe der üblichen Bestimmungen der Demokratie und Oligarchie. Denn man muß ihre Unterscheidung heranziehen und von beiden gewissermaßen je einen Zuschuß nehmen und so zur Politie zusammensetzen. Es gibt nun drei Prinzipien der Zusammensetzung und Mischung. Man kann erstens beides nehmen, wo sie Gesetze erlassen haben, etwa über die Richterfunktion. In den Oligarchien werden die Wohlhabenden bestraft, wenn sie nicht mit zu Gericht sitzen, aber die Armen erhalten keinen Sold, bei den Demokratien erhalten umgekehrt die Armen einen Sold, aber die Reichen keine Strafe. Das Gemeinsame und XV
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Mittlere ist die Kombination von beiden, und das ist die Eigenart der Politie. Eine zweite Art der Kombination ist es, wenn man die Mitte von dem nimmt, was beide anordnen. So knüpfen die einen die Beteiligung an der Volksversammlung an gar keine oder nur eine minimale Steuereinschätzung, die andern dagegen an eine große; das Gemeinsame ist, keines von beiden zu tun, sondern die Mitte zwischen den beiden Einschätzungen zu wählen. Eine dritte Mischungsart besteht in der Zusammensetzung eines oligarchischen mit einem demokratischen Gesetz. So scheint es etwa demokratisch zu sein, daß die Amtsstellen ausgelost werden, oligarchisch, daß dies durch Wahl geschieht; demokratisch, daß dies ohne Rücksicht auf die Steuereinschätzung geschieht, oligarchisch, daß dies mit einer solchen Rücksicht geschieht. Im Sinne der Aristokratie und der Politie ist es also, aus beiden etwas zu nehmen, aus der Oligarchie, daß die Beamten zu wählen sind, aus der Demokratie, daß die Steuereinschätzung keine Rolle spielt. So also kann gemischt werden. Eine gute Mischung von Demokratie und Oligarchie zeigt sich daran, daß man denselben Staat ebensogut so wie anders benennen kann; wenn man das tut, wie es geschieht, so eben darum, weil die Mischung gut erfolgt ist. So geht es ja auch der Mitte, weil in ihr die beiden Extreme sichtbar werden. Dies trifft etwa beim Staate der Spartaner zu. Viele suchen zu sagen, daß er eine Demokratie sei, weil seine Ordnung viel Demokratisches enthält, etwa, was die Aufzucht der Kinder betrifft: die der Reichen werden genau gleich aufgezogen wie die der Armen, und die Kinder der Reichen werden in einer Weise ausgebildet, wie es auch diejenigen der Armen könnten. Auch in der nächsten Altersstufe und wenn sie Männer geworden sind, gilt dasselbe: der Reiche unterscheidet sich nicht vom Armen, und in den Syssitien ist die Nahrung für alle dieselbe, und an Kleidung haben die Reichen dieselbe, wie sie auch irgendein Armer haben könnte. Außerdem wird von den zwei höchsten Staatsämtern das eine durchs Volk gewählt, und an dem andern nimmt es teil (die Geronten wählen sie und am Ephorat sind sie beteiligt). Andere nennen diesen Staat eine Oligarchie, weil er viele XVI
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oligarchische Elemente enthält, wie etwa das, daß alle Ämter zu wählen und keines zu erlosen ist, und daß nur wenige über Leben und Tod entscheiden usw. So muß denn in einer gut gemischten Politie beides vorhanden zu sein scheinen und keines von beiden; sie muß sich durch sich selbst und nicht von außen erhalten, aber durch sich selbst nicht so, daß eine Mehrzahl der Nachbarn ihre Erhaltung wünscht (denn das könnte auch bei einer schlechten Verfassung geschehen), sondern so, daß überhaupt keiner der Teile des Staats selbst eine andere Verfassung will. Wie man also die Politie einrichten muß und ebenso die sogenannten Aristokratien, ist damit gesagt. 10. Es bleibt die Tyrannis zu besprechen, nicht, weil viel über sie zu sagen wäre, sondern damit sie auch ihre Beachtung finde, da wir ja auch sie als ein Stück der Staatsverfassungen aufgefaßt haben. Über das Königtum haben wir am Anfang gesprochen, wo wir das Königtum im eigentlichen Sinne behandelten und fragten, ob es den Staaten nützt oder nicht und wen man zum König machen solle und woher und wie. Anläßlich der Untersuchung des Königtums haben wir zwei Arten der Tyrannis unterschieden, da ihre Eigentümlichkeiten variieren und dem Königtum nahe kommen, sofern beide Herrschaftsformen aufdem Gesetze beruhen (bei einigen Barbaren werden unumschränkte Alleinherrscher gewählt, und es gab auch früher bei den Griechen einige solche Herrscher, die man Aisymneten nannte). Sie haben aber auch Unterschiede untereinander: sofern sie nach Gesetz und über freiwillig Gehorchende regierten, waren sie königlich, sofern sie es aber despotisch nach eigenem Gutdünken taten, tyrannisch. Die dritte Art der Tyrannis scheint am meisten ihrem Wesen zu entsprechen und ist das Gegenstück zum Universalkönigtum. Die Tyrannis muß eine solche Monarchie sein, die ohne Verantwortlichkeit über alle Ebenbürtigen und Besseren regiert, zu ihrem eigenen Nutzen und nicht zum Nutzen der Regierten. Darum ist sie unfreiwillig, denn kein Freigeborener wird freiwillig eine solche Herrschaft akzeptieren. XVII
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Dies ist also Wesen und Zahl der Formen der Tyrannis, und aus den angegebenen Ursachen. 11. Welches ist nun für die Mehrzahl der Staaten und der Menschen die beste Verfassung und die beste Lebensform, nicht indem man von einer Tugend ausgeht, die über durchschnittliches Maß ist, oder von einer Bildung, die guter Anlage und glücklicher äußerer Umstände bedarf, noch von einer Verfassung, wie man sie sich wünschen mag, sondern von dem Leben, das die Mehrzahl zu führen vermag, und einer Verfassung, die sich die Mehrzahl der Staaten aneignen können? Denn auch die sogenannten Aristokratien, von denen wir soeben sprachen, sind der Mehrzahl der Staaten fremd oder sind der sogenannten Politie verwandt, weshalb man auch von beiden in einem Zuge reden kann. Die Entscheidung in allen diesen Dingen beruht auf denselben Elementen. Wenn in der Ethik richtig gesagt wurde, daß das glückselige Leben das in der Ausübung seiner Tugend ungehinderte sei und daß die Tugend eine Mitte sei, so muß das mittlere Leben das beste sein, das heißt die Mitte erreichen, die eben jeder erreichen kann. Und diese selben Bestimmungen müssen auch für die Güte oder Schlechtigkeit einer Verfassung oder eines Staates gelten. Denn die Verfassung ist sozusagen das Leben des Staates. In allen Staaten gibt es drei Teile, die sehr Reichen, die sehr Armen und die Mittleren. Wenn nun das Maß und die Mitte anerkanntermaßen das Beste sind, so ist auch in bezug auf die Glücksgüter der mittlere Besitz von allen der beste. Denn in solchen Verhältnissen gehorcht man am leichtesten der Vernunft. Schwierig ist es dagegen, wenn man übermäßig schön, kräftig, adlig oder reich ist, oder umgekehrt übermäßig arm, schwach und gedemütigt. Die einen werden leicht übermütig und schlecht im Großen, die andern bösartig und schlecht im Kleinen; die einen tun im Übermut unrecht, die andern in Boshaftigkeit. Ferner drängen solche am meisten nach den Ämtern und verwalten sie am schlechtesten, was beides dem Staate schädlich ist. Außerdem werden die übermäßig mit Einfluß, Reichtum, Freunden und dergleichen Begünstigten weder gehorchen wollen noch XVIII
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es können (dies fängt bei ihnen schon in der Kindheit an, denn wegen ihres Luxus sind sie auch in der Schule undiszipliniert); wer aber übermäßige Not leidet, ist zu wenig stolz. So können die einen nicht herrschen, sondern nur in sklavischer Weise gehorchen, die andern lassen sich überhaupt nicht regieren, und wenn sie selbst regieren, so tun sie es despotisch. Auf diese Weise gibt es denn einen Staat von Herren und Knechten, aber nicht von Freien; die einen beneiden und die andern verachten, und beides widerstrebt im höchsten Maße der Freundschaft und politischen Gemeinschaft. Denn diese Gemeinschaft hat Freundschaftscharakter; mit Feinden wird man aber nicht einmal den gleichen Weg gehen wollen. Der Staat soll also möglichst aus Gleichen und Ebenbürtigen bestehen, und dies ist bei den Mittleren am meisten der Fall. So wird jener Staat die beste Verfassung haben, der so aufgebaut ist, wie ein Staat nach unserer Feststellung der Natur gemäß aufgebaut sein soll. Diese Schicht der Bürger hat ja auch im Staate am meisten Sicherheit. Denn sie begehren nicht nach fremdem Besitz, wie die Armen, noch begehren andere nach dem ihrigen, wie es die Armen den Reichen gegenüber tun. Und da ihnen keiner nachstellt und sie keinem nachstellen, leben sie ohne Gefahr. Mit Recht hat also Phokylides gewünscht: »Das Mittlere ist bei weitem das Beste, ein Mittlerer möchte ich im Staate sein.« Offensichtlich ist also die auf diese Mitte aufgebaute staatliche Gemeinschaft die beste, und solche Staaten haben eine gute Verfassung, in denen die Mitte stark und den beiden Extremen überlegen ist, oder doch wenigstens dem einen Extrem. Denn wenn sie sich dann der einen Seite anschließt, gibt sie den Ausschlag und verhindert die Übertreibung nach der andern Richtung. So ist es auch für den Staat das größte Glück, wenn die Bürger einen mittleren und ausreichenden Besitzhaben; wo dagegen die einen sehr viel haben und die andern nichts, da entsteht entweder die äußerste Demokratie, oder eine reine Oligarchie oder aus beiden Extremen eine Tyrannis. Denn sowohl aus der radikalsten Demokratie wie aus der Oligarchie entsteht die Tyrannis, aus der Mitte aber und dem ihr Nahestehenden viel
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seltener. Die Ursache werden wir später im Abschnitt über den Wandel der Verfassungen angeben. Daß also die Mitte am besten ist, ist klar. Denn sie allein führt zu keinen Revolutionen, und wo die Mittleren zahlreich sind, da gibt es bei den Bürgern am wenigsten Aufstände und Streitigkeiten. Aus demselben Grunde sind auch die großen Staaten freier von Revolutionen, weil auch da die Mitte zahlreich ist. Bei den kleinen dagegen kann leicht der Zerfall in zwei Parteien eintreten, so daß keine Mitte bleibt, sondern alle nur arm oder reich sind. Ebenso sind die Demokratien sicherer als die Oligarchien und dauerhafter eben wegen der Mittleren (denn in den Demokratien sind diese zahlreicher und haben einen größeren Anteil an den Ämtern als in den Oligarchien); wenn sie aber fehlen und die Armen überwiegen, so gibt es ein Unglück, und der Staat geht schnell zugrunde. Als Beweis dafür kann man ansehen, daß auch die besten Gesetzgeber zu den mittleren Bürgern gehört haben: Solon gehörte dazu, wie seine Gedichte zeigen, ebenso Lykurg, der ja kein König war, und Charondas und die meisten andern. Daraus ergibt sich auch, weshalb die meisten Staaten teils demokratisch, teils oligarchisch sind. Denn da in ihnen vielfach die Mitte schwach ist, so wird immer dasjenige Extrem, das die Oberhand hat, entweder die Besitzenden oder das Volk, die Mittleren verdrängen und die Verfassung in ihrem Sinn ordnen, so daß also eine Demokratie oder eine Oligarchie daraus wird. Überdies gibt es Unruhen und Kämpfe zwischen dem Volk und den Reichen, und diejenige Partei, die über die Gegner die Oberhand gewinnt, wird nicht eine für beide gemeinsame und ausgeglichene Verfassung einrichten, sondern als Siegespreis werden sie die Verfassung ganz in ihrem Sinne, also als Demokratie oder als Oligarchie ordnen. Endlich haben jene Staaten, die Griechenland beherrscht haben, jeweils im Hinblick auf ihre eigene Verfassung entweder Demokratien oder Oligarchien in den Städten eingerichtet, nicht im Hinblick auf den Nutzen jener Staaten, sondern nur auf ihren eigenen.
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Aus diesen Gründen entsteht entweder niemals die mittlere Verfassung, oder nur selten und bei wenigen. Nur ein einziger Mann unter denen, die früher an der Herrschaft waren, konnte sich dazu entschließen, diese Ordnung einzuführen, aber sonst ist es in den Staaten bereits Sitte geworden, die Gleichheit nicht einmal zu wollen, sondern entweder die Herrschaft zu erstreben oder dann die Unterwerfung zu dulden. So ist also klar, welches die beste Verfassung ist und aus welcher Ursache. Welche aber von den andern Verfassungen (da wir ja mehrere Demokratien und Oligarchien annehmen) als die erste, zweite usw. anzusetzen sei, also welche besser und welche schlechter ist, das ist nicht mehr schwer zu erkennen, nachdem wir die beste bestimmt haben. Besser wird immer jene sein, die dieser am nächsten steht, schlechter jene, die der mittleren ferner ist, falls man nicht von besonderen Voraussetzungen ausgeht; ich verstehe darunter, daß oft und in gewissen Fällen, obschon eine bestimmte Verfassung an sich die wünschbarere ist, doch eine andere zuträglicher sein kann. 12. Anschließend ist zu fragen, welche und was für eine Verfassung wem und welcher Art Menschen zuträglich ist. Zuerst ist für alle gemeinsam Eines festzustellen: der Teil, der die Erhaltung des Staats will, muß immer stärker sein als der, der sie nicht will. Nun besteht jeder Staat aus Qualität und Quantität. Als Qualitäten verstehe ich Freiheit, Reichtum, Bildung, Adligkeit, als Quantität die Übermacht der Menge. Nun kann sich eine Qualität bei einem andern unter den Teilen des Staats finden als die Quantität: die Unadligen können zahlreicher sein als die Adligen, ebenso die Armen als die Reichen, doch ohne sie ebensosehr an Quantität zu übertreffen, wie sie an Qualität zurückstehen. Darum muß dies miteinander verrechnet werden. Wo nun die Zahl der Armen das rechte Verhältnis überschreitet, da entsteht die Demokratie und jede einzelne Form der Demokratie, je nach der Art des überwiegenden Volkes: wenn die Zahl der Bauern überwiegt, die erste Form, wenn die der Banausen und Tagelöhner, die letzte, und ebenso die andern dazwischen. XXI
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Wo aber die Gruppe der Wohlhabenden und Angesehenen an Qualität mehr überwiegt, als sie an Quantität nachsteht, da entsteht die Oligarchie und bei dieser ebenso jede einzelne Form je nach der Art des Überwiegens der oligarchischen Gruppe. Doch der Gesetzgeber muß in der Verfassung immer die Mittleren mitberücksichtigen. Mag er oligarchische Gesetze geben, muß er sie mit hereinnehmen, und macht er demokratische, dann ebenfalls. Wo aber die Zahl der Mittleren beide Extreme überwiegt oder auch nur das eine, da wird die Verfassung dauerhaft sein können. Denn es besteht keine Gefahr, daß sich einmal die Reichen mit den Armen gegen sie verbinden könnten. Niemals werden die einen den andern dienen wollen, und sie werden auch niemals eine Verfassung finden (falls sie eine solche suchen), die den Interessen beider Teile besser gerecht würde als eben diese. Denn untereinander abwechselnd herrschen werden sie nicht wollen wegen des gegenseitigen Mißtrauens. Am zuverlässigsten ist aber immer der Schiedsrichter, und dieser steht in der Mitte. Je besser also eine Verfassung gemischt ist, desto dauerhafter ist sie. Viele verfehlen sich freilich, auch unter denen, die aristokratische Verfassungen konstruieren wollen, nicht bloß darin, daß sie den Wohlhabenden zuviel geben, sondern auch darin, daß sie das Volk verletzen. Und mit der Zeit entsteht immer aus den scheinbaren Gütern ein wirkliches Unglück. Denn die Eigensucht der Reichen ruiniert eine Verfassung schneller als diejenige des Volkes. 13. Es sind nun fünf Dinge, die, um scheinbar dem Volke entgegenzukommen, in die Verfassungen hineinpraktiziert werden. Sie betreffen Volksversammlung, Regierung, Gerichte, Bewaffnung und Turnen. Bei der Volksversammlung wird erklärt, daß alle teilnehmen dürfen, und daß die Reichen bestraft werden, wenn sie nicht teilnehmen, entweder nur sie, oder doch in viel höherem Grade; bei den Ämtern dürfen diejenigen, die der Steuerschätzung nach entsprechen, sie nicht ablehnen, wohl aber die Armen; bei den Gerichten werden die Reichen bestraft, wenn sie nicht zu Gericht sitzen, die Armen dagegen XXII
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gehen ohne Strafe aus, oder mindestens werden jene stark, diese dagegen ganz gering bestraft, wie in den Gesetzen des Charondas. Zuweilen dürfen alle, die sich eintragen lassen, an Volksversammlung und Gericht teilnehmen; tun sie dies aber nicht, obschon sie sich eingeschrieben haben, unterliegen sie schweren Strafen, so daß sie also wegen der Strafen es vermeiden, sich eintragen zu lassen, und, wenn sie nicht eingetragen sind, auch nicht an Volksversammlung und Gericht dabei sein dürfen. In derselben Weise werden Gesetze über das Waffentragen und das Turnen erlassen. Die Armen brauchen sich keine Waffen anzuschaffen, die Reichen werden bestraft, wenn sie es nicht tun; und wenn die Armen nicht turnen, so gibt es keine Strafe, tun es aber die Reichen nicht, so werden sie bestraft, damit also die einen wegen der Strafe mitmachen, die andern aber nicht, weil sie keine Strafe zu fürchten haben. Das sind also die Kunstgriffe oligarchischer Gesetzgebung. In den Demokratien pflegt man die umgekehrten Kunstgriffe. Man gewährt den Armen einen Sold, wenn sie an Volksversammlung und Gericht teilnehmen, die Reichen aber, wenn sie es nicht tun, belegen sie mit keiner Strafe. Wenn man also gerecht mischen will, so muß man offensichtlich beides kombinieren und den einen Lohn zubilligen, den andern Strafe auferlegen. Denn nur so werden sich alle beteiligen; andernfalls interessiert sich nur die eine Hälfte für den Staat. Die Regierung darf nur bei den Waffentragenden sein. Die Höhe der Steuerschatzung darf man nicht einfach auf einen bestimmten Betrag festlegen, sondern muß prüfen, welches der höchste Ansatz ist, bei dem die Zahl der Regimentsfähigen diejenige der Ausgeschlossenen noch übertrifft; diesen Satz soll man nehmen. Denn die Armen und die von den Ämtern Ausgeschlossenen werden Ruhe geben, wenn sie keiner beleidigt und keiner ihnen etwas vom Besitze nimmt (das ist freilich nicht leicht; denn die Regimentsfähigen werden nicht immer liebenswürdig sein). Sie pflegen auch im Kriege zu zögern und nicht gern mitzumachen, wenn sie arm sind und nicht die Nahrung geliefert bekommen. Geschieht aber dies, dann machen sie gerne mit. Bei einigen bestehen die Regimentsfähigen nicht nur aus den Waffentragenden, sondern auch aus jenen, die früher Waffen gehabt XXIII
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haben. In Malia bestand die Regierung nur aus diesen, die Beamten dagegen wurden aus denen ausgewählt, die noch zu Felde zogen. Bei den Griechen stützte sich ja auch die erste Verfassung nach der Königszeit auf die Bewaffneten, ursprünglich auf die Reiter (denn damals wurde der Krieg durch die Kraft und die Überlegenheit der Reiter bestimmt; ohne System ist nämlich die Infanterie unnütz, die Alten hatten aber darin noch keine Erfahrungen und Prinzipien, so daß also die ganze Stärke bei den Reitern war), als aber die Staaten wuchsen und die Waffenträger zu Fuß sich mehr geltend machten, wuchs auch die Zahl der regimentsfähigen Bürger. So wurde denn, was wir heute Politie nennen, früher Demokratie genannt. Die alten Verfassungen allerdings waren begreiflicherweise oligarchisch und königlich. Denn wegen der geringern Bevölkerungszahl hatten sie keine bedeutende Mitte, so daß das Volk, gering an Zahl und niedrigen Standes, sich leicht beherrschen ließ. Warum also mehrere Verfassungen existieren und warum andere neben den allgemein bekannten (da es ja nicht nur eine einzige Demokratie gibt usw.), und welches die Unterschiede und deren Ursachen sind, und welches im ganzen gesehen die beste Verfassung ist, und welche der sonstigen Verfassungen zu welchen Voraussetzungen paßt, das ist nun behandelt. 14. Wiederum wollen wir allgemein wie im einzelnen zum Nachfolgenden, den angemessenen Ausgangspunkt wählend, jede Verfassung durchgehen. Es gibt in jeder Verfassung drei Teile, bei denen der tüchtige Gesetzgeber jeweils das Zuträgliche zu prüfen hat. Denn wenn es mit ihnen gut steht, so muß es mit der ganzen Verfassung gut stehen, und die Differenzen der verschiedenen Verfassungen sind in eben diesen Dingen begründet. Von diesen dreien ist das eine die über die öffentlichen Dinge beratende Instanz, das zweite die Beamten (also die Frage, welche worüber entscheiden sollen und wie man sie zu wählen hat), das dritte ist die Rechtsprechung. Das Beratende entscheidet über Krieg und Frieden, Abschluß und Auflösung von Bündnissen, über Gesetze, über Tod, Verbannung und XXIV
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Vermögenskonfiskation, über Wahl und Rechenschaftsablage der Beamten. Man muß alle diese Kompetenzen entweder insgesamt allen Bürgern geben, oder alle einigen (etwa einem Beamten oder einem Kollegium von Beamten oder verschiedenen Beamten), oder endlich einige allen und andere nur einigen. Daß alle über alles beraten, ist demokratisch, denn eine solche Gleichheit erstrebt die Demokratie. Immerhin kann das »alle« verschieden verstanden werden, etwa so, daß die Bürger der Reihe nach und nicht alle zugleich diese Rechte ausüben (so ist es in der Verfassung des Telekles von Milet; in andern Verfassungen beraten alle gleichzeitigen Beamten gemeinsam, aber die Ämter treten sie abwechselnd je nach den Phylen und den jeweils kleinsten Volksteilen an, bis sie durch alle hindurchgegangen sind), und daß sie nur dann zusammenkommen, wenn über Gesetzgebung und Verfassungsfragen zu beraten ist oder wenn die Beschlüsse der Beamten entgegenzunehmen sind. In einer andern Weise beraten alle gleichzeitig, kommen aber nur für die Beamtenwahlen, Gesetzgebung, Krieg und Frieden und Rechenschaftsabnahme zusammen; alles übrige beraten die jeweils dazu bestellten Beamten, mögen sie nun aus allen ausgelost oder gewählt sein. Auf wieder andere Weise kommen die Bürger zusammen für Wahl und Rechenschaftsabnahme der Beamten und zur Beratung über Krieg und Bündnisse; alles übrige wird von den Beamten verwaltet, soweit nämlich diese Beamten als Fachleute gewählt sein müssen. Eine vierte Art ist, daß alle zusammenkommen und über alles beraten, und daß die Beamten nichts entscheiden, sondern nur Vorschläge machen. Dies ist die gegenwärtige Art der vollendeten Demokratie, die, wie wir behaupten, der dynastischen Oligarchie und der tyrannischen Alleinherrschaft entspricht. Diese Typen sind also alle demokratisch, daß aber einige über alles beraten, ist oligarchisch. Auch da gibt es vielfache Unterschiede. Wenn nämlich die Beratenden auf Grund einer mäßigen Steuerschätzung gewählt werden, und es eben deshalb viele sind, und sie dem Gesetze folgen und nicht zu verändern trachten, was es XXV
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verbietet, und wo auch jeder sich beteiligen kann, der den Steuersatz erreicht hat, so ist dies zwar eine Oligarchie, aber sie nähert sich wegen ihrer Zurückhaltung der Politie. Wenn aber nicht alle an den Beratungen teilnehmen dürfen, sondern nur Gewählte, aber diese nach den Gesetzen regieren wie vorhin, so ist dies oligarchisch. Wenn hingegen diejenigen, die beraten dürfen, sich selbst durch Wahl ergänzen, und der Sohn an die Stelle des Vaters rückt, und sie über den Gesetzen stehen, dann ist diese Ordnung notwendigerweise extrem oligarchisch. Wenn anderseits über einiges einige, also über einige Dinge wie Krieg, Frieden und Rechenschaftsablage alle, über die andern Dinge aber die Beamten beraten, und diese gewählt und nicht erlost sind, so ist dies eine Aristokratie. Wenn über einige Dinge Gewählte, über andere Erloste, und Erloste entweder schlechthin oder aus zuvor Vorgeschlagenen, oder gemeinsam Gewählte und Erloste beraten, dann sind dies Kennzeichen teils einer Aristokratie, teils einer Politie. So unterscheidet sich also der beratende Teil in den verschiedenen Verfassungen, und jede Verfassung hält es in derangegebenen Weise. Einer Demokratie freilich, so wie sie jetzt meist verstanden wird (ich meine eine solche, in der das Volk auch Herr der Gesetze ist), wäre es zuträglich, beim Beraten am ehesten das zu tun, was in den Oligarchien für die Gerichte geschieht: sie zwingen durch eine Buße jene, die Richter sein sollen, dies auch wirklich zu sein, während die Demokraten den Armen einen Sold dafür ausrichten. Dies sollten sie auch bei den Volksversammlungen tun; denn die Beratungen werden besser, wenn alle daran teilnehmen, das Volk mit den Angesehenen und diese mit dem Volk zusammen. Nützlich wäre es auch, wenn die Ratsmitglieder entweder gewählt würden oder erlost in gleicher Zahl aus den Bevölkerungsschichten. Endlich wäre es nützlich, falls unter den Bürgern die Leute aus dem Volke gar zu sehr überwiegen, entweder nicht allen den Sold zu geben, sondern nur so vielen, als zur Zahl der Angesehenen proportional ist, oder aber die Überschüssigen durchs Los zu entfernen. In den Oligarchien wäre es nützlich, entweder einige aus der Menge dazuzuwählen, oder eine Behörde einzurichten, wie sie in einigen XXVI
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Staaten besteht, und die man Vorberatende und Nomophylakes nennt, und dann mit dem Volke nur diejenigen Geschäfte zu verhandeln, die jene vorbesprochen haben; denn so erhält das Volk einen Anteil an den Beratungen und kann doch nicht die Verfassung umstürzen. Ferner müßte dann das Volk eben das beschließen, was beantragt wird, oder doch nichts dem Widersprechendes, oder man soll alle zur Mitberatung dazunehmen, aber zur maßgebenden Beratung nur die Beamten. Weiterhin soll man das Gegenteil von dem tun, was jetzt in den Staaten geschieht. Das Volk muß die Kompetenz haben, in der Abstimmung einen Antrag zu verwerfen, nicht aber ihn anzunehmen, sondern der angenommene soll noch einmal vor die Regierung kommen. Faktisch geschieht in den Staaten das Gegenteil: die Oligarchen haben das Recht der Ablehnung, nicht aber der Zustimmung, sondern diese wird immer der Menge überlassen. Dies sei also über die beratende und entscheidende Instanz gesagt. 15. Im Anschluß daran sind nun die Regierungsämter zu unterscheiden. Denn auch diese haben viele Verschiedenheiten, der Zahl nach, der Kompetenz nach, der Amtsdauer nach (denn gelegentlich erhalten sie sechs Monate, gelegentlich weniger, oder ein Jahr oder noch längere Amtsperioden), und ob die Ämter überhaupt lebenslänglich oder langfristig sein sollen oder keines von beiden, und ob statt dessen mehrmals die selben an die Reihe kommen dürfen, oder nie zweimal derselbe, sondern immer nur einmal; endlich, was die Bestellung der Beamten betrifft, woher man sie nehmen soll und durch wen und wie. Dies alles ist zu untersuchen nach den verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, und dann festzustellen, welche Möglichkeiten welchen Verfassungen angemessen und zuträglich sind. Schon dies ist nicht leicht zu bestimmen, was man als Regierungsämter bezeichnen soll. Denn die politische Gemeinschaft bedarf vieler Vorsteher, und doch kann man nicht alle, die gewählt oder erlost werden, als Beamte bezeichnen, wie etwa zuerst die Priester (denn dies ist von den politischen Ämtern abgesondert), dann die Chorleiter und Herolde; auch die Gesandten werden ja gewählt. XXVII
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Es gibt nun an politischen Aufgaben entweder die Fürsorge für alle Bürger im Hinblick auf eine bestimmte Aufgabe, wie etwa die des Feldherrn für die Soldaten, oder die Fürsorge für bestimmte Bürger, wie die Aufseher der Frauen und der Kinder; andere Aufgaben sind ökonomisch (denn oftmals werden Getreidekontrolleure gewählt), andere endlich sind dienende und werden, wo die Mittel dazu ausreichen, mit Sklaven besetzt. Ämter sind vorzugsweise jene zu nennen, denen Beratungen über irgendwelche Gegenstände anvertraut sind und Entscheidungen und Befehlsgewalt, und vor allem diese. Denn das Befehlen ist der Regierung besonders eigentümlich. Aber das bedeutet für die Praxis nichts (denn es ist noch nie über die Namen gestritten und darüber entschieden worden), sondern hat eher seinen Ort in der theoretischen Betrachtung. Dagegen welche und wie viele Ämter für einen Staat unentbehrlich sind, und welche nicht notwendig sind, aber in einem guten Staate nützlich, das wird man eher zu fragen haben gegenüber jeder Verfassung und besonders gegenüber den Kleinstaaten. Denn in den großen Staaten kann man je ein Amt für jede Aufgabe schaffen (da viele Bürger vorhanden sind, können viele in die Ämter eintreten, und diese werden teils nur in großen Abständen, teils überhaupt nur einmal von demselben besetzt, und jede Angelegenheit wird auch besser besorgt, wenn ein Beamter nur eine einzige Sache verwaltet und nicht viele). In den Kleinstaaten müssen aber auf wenige Personen viele Ämter gehäuft werden; wegen der Menschenarmut ist esschwierig, viele Bürger als Beamte zu beanspruchen, und wer soll dann diese wieder ablösen? Die kleinen Staaten bedürfen nun allerdings zuweilen derselben Ämter und Gesetze wie die großen. Aber die großen brauchen dieselben viel öfters, die kleinen in langer Zeit nur selten. So ist es also möglich, derselben Person mehrere Aufgaben anzuvertrauen, da diese einander nicht hindern werden. Und wegen der geringen Menschenzahl müssen die Ämter wie die Geräte eingerichtet sein, die gleichzeitig Gabeln und Leuchter sind. Wenn wir nun angeben können, wieviel Ämter jeder Staat notwendigerweise haben muß, und wie viele er nicht haben muß, aber XXVIII
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doch haben sollte, so werden wir auch leichter erkennen, welche Ämter man zu einem einzigen zusammennehmen kann. Ferner muß man beachten, in welchen Fällen viele Ämter an verschiedenen Orten bestimmte Aufgaben haben, und in welchen überall nur eine einzige Behörde zu entscheiden hat; etwa ob über die Ordnung des Verkehrs auf dem Markte die Marktpolizei, und anderswo ein anderer Beamter zu sorgen hat, oder überall derselbe; ferner ob man diese Aufgaben nach den Sachen einteilen muß oder nach den Menschen, das heißt also einen überhaupt für die gesamte öffentliche Ordnung, oder je einen für die Kinder und für die Frauen. Auch im Hinblick auf die Verfassungen ist zu fragen, ob jeweils die Art der Beamten sich da ändert oder nicht; also ob in Demokratie, Oligarchie, Aristokratie und Monarchie dieselben entscheidenden Ämter vorliegen, nur daß sie nicht aus Gleichen oder Ebenbürtigen bestellt werden, sondern immer wieder aus andern, in der Aristokratie aus den Gebildeten, in der Oligarchie aus den Reichen, in der Demokratie aus den Freien; oder gibt es auch einige spezifische Unterschiede in den Ämtern selbst, und dieselben Ämter wären da gleich, dort verschieden (und zuweilen sind ja dieselben Ämter angemessenerweise hier bedeutend, dort unbedeutend)? Es kann aber auch besondere Ämter geben, wie die Probulen. Denn dies ist nicht demokratisch, sondern zur Demokratie gehört der Rat. Es muß nämlich eine Behörde geben, die sich darum kümmert, die Angelegenheiten für das Volk vorzuberaten, damit es keine Zeit verliert; wenn diese aus wenigen Menschen besteht, so ist dies oligarchisch, und die Probulen müssen notwendigerweise wenige sein; also ist dieses Amt ein oligarchisches. Wo aber beide Ämter existieren, da sind die Probulen den Ratsmitgliedern vorgesetzt; denn der Ratsherr ist demokratisch, der Probule oligarchisch. Die Kompetenz des Rates löst sich aber auch in solchen Demokratien auf, in denen die Volksversammlung selbst alles in die Hand nimmt. Das pflegt dort einzutreten, wo der Sold für die Beteiligung an der Volksversammlung reichlich ist. Da haben sie Muße, versammeln sich häufig und entscheiden über alles.
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Die Aufseher über Kinder und Frauen, und was es sonst verwandte Beamte gibt, sind ein aristokratisches, kein demokratisches Amt (denn wie will man den Frauen der Armen das Ausgehen verbieten ?), noch ein oligarchisches (denn die Frauen der Oligarchen leben im Luxus). Darüber mag jetzt soviel gesagt sein; jetzt wollen wir nach der Besetzung der Ämter fragen, und dies von Anfang an durchgehen. Die Unterschiede bestehen in drei Dingen, deren Kombination mit Notwendigkeit alle Möglichkeiten ergibt. Die eine Frage ist, wer die Beamten beruft, die zweite, woher sie genommen werden, und die dritte, auf welche Weise sie bestellt werden. Zu jeder dieser drei Fragen gibt es drei Unterschiede: entweder berufen alle Bürger oder nur einige; und entweder aus allen oder aus einem begrenzten Kreise, der etwa durch Steuerschätzung, Tugend oder dergleichen bestimmt sein kann (wie in Megara aus denen, die mit aus der Verbannung zurückgekommen waren und mit gegen das Volk gekämpft hatten), endlich: entweder bestimmt man durch Wahl oder durchs Los. Verbindet man nun wieder dies miteinander, also etwa so, daß einige Ämter durch einige, andere durch alle besetzt werden, einige aus dem ganzen Volke, andere aus einem begrenzten Kreise und einige durch Wahl und andere durch Losung, so werden sich vier Typen der Unterschiede ergeben. Entweder besetzen alle aus allen durch Wahl, oder alle aus allen durchs Los (und wenn aus allen, dann entweder abwechselnd, etwa nach Phylen, Demen und Bruderschaften, bis es durch das ganze Volk hindurch gegangen ist, oder eben dauernd aus allen zusammen); [oder alle aus einem bestimmten Kreis durch Wahl, oder alle aus einem bestimmten Kreis durchs Los]; oder dann teils so und teils anders; weiterhin, wenn nur ein bestimmter Kreis wählt, dann wiederum entweder aus allen durch Wahl, oder aus allen durchs Los, oder aus einembestimmten Kreis durch Wahl und einem bestimmten Kreise durchs Los, oder eben teils so, teils anders, daß also das eine durchs Los, das andere durch Wahl geschieht. So wird es also außer den zwei Kombinationen zwölf Typen geben. Von diesen sind zwei Typen demokratisch, daß alle aus allen entweder durch Wahl oder durch Los bestimmt werden, oder kombiniert, die XXX
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einen durch Wahl und die andern durchs Los. Daß aber nicht zugleich alle wählen, und entweder aus allen oder aus einigen durch Los oder Wahl oder durch beides gewählt werden, oder so, daß einige aus allen, andere nur aus einigen und wieder auf beide Weisen, also teils durch Los, teils durch Wahl, das gehört zur Politie. Und daß einige aus allen entweder durch Wahl oder Los oder beides (also teils durch Wahl und teils durchs Los) bestellen, ist oligarchisch, daß aber aus beiden, nämlich teils aus allen, teils aus einigen bestimmt wird, gehört zu einer Politie mit aristokratischer Neigung. Daß aber einige aus einigen bestimmt werden, ist oligarchisch, ebenso, daß einige aus einigen durchs Los wählen (doch nicht in derselben Weise), und daß einige aus einigen auf beide Weisen, durch Wahl und Los, es tun. Daß endlich einige aus allen und alle aus einigen durch Wahl besetzen, ist aristokratisch. Dies ist also die Zahl der Typen der Ämterbestellung. Sie verteilen sich in der angegebenen Weise auf die Verfassungen. Was aber welcher nützt und wie man's einrichten soll, das wird sich zeigen, wenn die Kompetenzen und die Art der Ämter festgestellt sind. Unter Kompetenz verstehe ich etwa, ob sie die Steuereingänge oder die öffentliche Sicherheit verwalten. Denn die Art der Kompetenz ist eine andere bei einem Feldherrn als bei dem Amte, das den Marktverkehr kontrolliert. 16. Als letztes muß von den Gerichten die Rede sein. Auch hier sind die Typen nach demselben Verfahren festzustellen. Der Unterschied der Gerichte beruht auf drei Dingen, woraus sie bestellt werden sollen, worüber sie richten sollen und wie sie bestellt werden sollen. Aus welchen, meine ich, ob aus allen oder einigen; worüber, wie viele Arten von Gerichtshöfen es gibt; das Wie, ob sie erlost oder gewählt werden sollen. Als erstes sei festgelegt, wie viele Arten von Gerichtshöfen es gibt. Sie sind acht an der Zahl: für Rechenschaftsablage, für Vergehen gegen die Interessen der Gemeinschaft, für Vergehen gegen die Verfassung, für Beamte und Private bei Appellationen gegen Strafen, für private Verträge von größerer Bedeutung, dann noch die Gerichte XXXI
Aristoteles Politik - IV. Buch
für Mordfälle und für die Ausländer. (Jenes hat, mag es bei denselben Richtern sein oder bei verschiedenen, mehrere Formen: über absichtlichen und unabsichtlichen Mord, und über Fälle, wo der Tatbestand klar ist, aber die Berechtigung diskutiert wird, und eine vierte Art, wenn die wegen Mord Verbannten bei der Rückkehr aufs neue angeklagt werden, so wie es in Athen das Gericht in Phreatto gibt; dies ist aber ein äußerst seltener Fall und kommt nur in großen Staaten vor. Beim Ausländergericht gibt es das eine für Ausländer untereinander und ein anderes für Ausländer gegen Bürger.) Außerdem gibt es neben alledem noch ein Gericht über die kleinen Geschäfte, die eine oder fünf Drachmen umfassen oder noch ein wenig mehr. Denn auch darüber muß entschieden werden können, doch das fällt nicht in die Kompetenz der großen Gerichtshöfe. Aber darüber sei nichts weiter gesagt, auch nicht über Mordgerichte und Ausländergerichte, dagegen wohl über die politischen Gerichte, die, wenn sie nicht richtig eingerichtet sind, zu Streitigkeiten und Verfassungsunruhen Anlaß werden können. Es müssen also entweder alle über alles entscheiden, die durch Wahl oder Los dazu bestimmt sind, oder alle über alles teils mit Los, teils mit Wahl; oder es sind für einige identische Angelegenheiten die einen durchs Los, die andern durch Wahl bestellt. Das sind also vier Typen. Ebenso viele andere ergeben sich, wenn die Bürger nur abwechslungsweise zugelassen werden. Denn auch wenn die Richter nur aus einigen bestellt sind, werden sie entweder über alles durch Wahl berufen, oder aus einigen über alles durchs Los, oder teils durchs Los, teils durch Wahl, oder einige Gerichtshöfe sind in derselben Sache aus Erlosten und aus Gewählten bestimmt. Das sind also, wie gesagt, die weiteren Typen. Man kann auch die Dinge kombinieren, etwa daß ein Teil der Gerichte aus allen, ein Teil aus einigen bestimmt sei, oder daß die Gerichte nach beiden Arten gleichzeitig bestellt werden, so daß etwa in demselben Gerichtshof die einen aus allen bestimmt sind, die andern aus einem bestimmten Kreise, und dies durch Los oder durch Wahl oder durch beides. So ist also gesagt, wie viele Arten der Gerichtshöfe es geben kann. Demokratisch sind da die ersten, worin aus allen Bürgern Richter für XXXII
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alles bestimmt werden, die zweiten oligarchisch, wo sie aus einigen für alles bestimmt werden, die dritten gehören zur Aristokratie und zur Politie, wo für das eine aus allen, für das andere aus einigen die Richter genommen werden.
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Fünftes Buch 1. Die andern Gegenstände, die wir uns vorgenommen hatten, sind nun so ziemlich alle durchbesprochen. Im Anschluß daran muß nun untersucht werden, aus welchen, wie vielen und was für Ursachen die Verfassungen sich verändern, und welches die besondere Gefahr für jede Verfassung ist, und welche Verfassungen in welche vorzugsweise umschlagen, und was bei allen und jeder einzelnen den Bestand sichert, und wodurch jede einzelne Verfassung am ehesten erhalten werden kann. Man muß fürs erste als Ausgangspunkt voraussetzen, daß es viele Verfassungsformen gibt, weil zwar alle im Begriff der Gerechtigkeit und der proportionalen Gleichheit übereinstimmen, aber dies dann doch verfehlen, wie wir es schon vorhin gesagt haben. Die Demokratie entstand dadurch, daß man meinte, wer in einem bestimmten Punkte gleich sei, der sei es auch in allem (weil nämlich alle gleichmäßig frei sind, glauben sie schlechthin gleich zu sein), die Oligarchie umgekehrt dadurch, daß man glaubte, weil die Menschen in einem bestimmten Punkte ungleich sind, so seien sie es überhaupt (da sie nämlich im Vermögen ungleich sind, so meint man, sie seien überhaupt ungleich). Die einen wollen, da sie gleich sind, an allem gleichmäßigen Anteil haben. Die andern suchen als Ungleiche ein Übermaß zu erlangen; denn das Mehr ist ein Ungleiches. So besitzen sie denn alle ein Stück der Gerechtigkeit, im Ganzen aber gehen sie fehl. Aus dieser Ursache kommt es auch zu Unruhen, wenn sie nicht an den politischen Rechten teilhaben gemäß der Meinung, die sie jeweils davon haben. Von allen das größte Recht zu Aufruhr hätten wohl jene, die dies am wenigsten tun, nämlich die an Tugend hervorragenden Bürger. Denn es ist am ehesten anzunehmen, daß diese allein schlechthin ungleich sind. Es gibt aber auch solche, die von hervorragender Abkunft sind und sich wegen dieser Ungleichheit nicht mit dem Gleichen begnügen wollen. Denn sie gelten als adlig, weil ihre Vorfahren tüchtig und reich gewesen sind. Dies also sind sozusagen die Ursprünge und Quellen der Revolutionen und ihre Motive. Darum gibt es auch zwei Arten von Umwälzungen. I
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Die eine betrifft die Verfassung selbst. Man vertauscht die bestehende mit einer anderen, wie die Demokratie mit der Oligarchie oder umgekehrt, oder es wirdaus diesen beiden die Politie und die Aristokratie, oder umgekehrt aus diesen jene zwei. Zuweilen jedoch stellt man nicht die bestehende Verfassung in Frage, sondern will ihren Weiterbestand, aber so, daß man sie in seiner Hand hat, etwa die Oligarchie oder die Monarchie. Außerdem streitet man über das Mehr oder Weniger, etwa daß eine Oligarchie noch mehr oder weniger oligarchisch gestaltet werden soll, und ebenso eine Demokratie und die übrigen Verfassungen, die man entweder straffen oder lockern möchte. Endlich kann man auch nur einen Teil der Verfassung verändern wollen, etwa eine Behörde neu einsetzen oder abschaffen, wie nach einigen in Sparta Lysandros versucht haben soll, das Königtum abzuschaffen, und der König Pausanias den Ephorat. Auch in Epidamnos wurde die Verfassung nur teilweise geändert: an die Stelle der Phylarchen setzte man einen Rat. In der Volksversammlung müssen dagegen auch jetzt noch die aus der regierungsfähigen Bürgerschaft kommenden Beamten anwesend sein, wenn über die Besetzung eines Amtes abgestimmt wird. Oligarchisch war in dieser Verfassung auch, daß es nur einen Archon gab. Überall entsteht die Revolution durch die Ungleichheit, jedenfalls dort, wo sich die Ungleichheit nicht auf eine sinnvolle Relation stützen kann (so ist ein lebenslängliches Königtum nur dann ungleich, wenn es unter Gleichen besteht). Ganz allgemein gesagt, empört man sich, weil man nach dem Gleichen strebt. Dieses Gleiche ist aber doppelter Natur, der Zahl nach oder der Würdigkeit nach: der Zahl nach meine ich das, was an Menge oder Größe eines und dasselbe ist, der Würdigkeit nach das, was dem Verhältnis nach dasselbe ist. So übertrifft die Zahl drei die zwei und diese die eins um dieselbe Zahl eins. Dagegen ist im gleichen Verhältnis größer die vier als die zwei und die zwei als die eins; denn die zwei ist derselbe Teil der vier wie die eins der zwei: beide Male ist es die Hälfte. Nun ist man zwar darin einig, daß das schlechthin Gerechte dasjenige gemäß der Würdigkeit ist; dennoch bestehen darin Differenzen, wie ich vorhin sagte, daß die einen meinen, wenn irgendeine Gleichheit bestehe, so seien sie II
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überhaupt gleich, und die andern, wenn irgendeine Ungleichheit bestehe, so seien sie überhaupt ungleich. Daher entstehen denn auch vor allem zwei Verfassungen, die Demokratie und die Oligarchie. Denn Adel und Tugend gibt es nur bei wenigen; was aber hier entscheidet, findet sich bei mehreren: Adlige und Tüchtige gibt es nirgendwo mehr als hundert, Reiche [und Arme] dagegen überall viele. Daß ein Staat aber schlechthin und vollständig nach einer der beiden Gleichheiten geordnet werde, ist schlecht. Das zeigt sich aus den Tatsachen. Denn keine derartige Verfassung hat Bestand. Es muß ja zwangsläufig ein schlimmes Ende herauskommen, wenn das Erste und der Anfang verfehlt sind. Man muß also teils die arithmetische Gleichheit verwenden, teils diejenige der Würdigkeit nach. Immerhin ist die Demokratie stabiler und freier von Unruhen als die Oligarchie. Denn in den Oligarchien gibt es zweierlei, den Zwist untereinander und denjenigen mit dem Volke, bei den Demokratien dagegen nur denjenigen mit den Oligarchien; ein Aufruhr des Volkes in sich selbst, der der Rede wert wäre, kommt nicht vor. Ferner ist die mittlere Staatsform der Demokratie näher als der Oligarchie, und sie ist die verläßlichste aller derartigen Staatsformen. 2. Wenn wir nun prüfen, woraus die Aufstände geschehen und die Veränderungen in den Verfassungen, müssen wir zuerst allgemein von ihren Ursprüngen und Ursachen reden. Es sind ihrer ungefähr drei an der Zahl, und diese muß man zuerst einmal im Umriß sondern. Denn man muß erkennen, in welcher Verfassung man Revolutionen beginnt und zu welchem Zwecke, und drittens, welches die Ursprünge der politischen Wirren und der Revolutionen sind. Als Ursache dafür nun, daß sich die Bürger selbst schon in der Richtung auf den Umsturz verhalten, ist vor allem das zu nennen, was wir vorhin schon besprochen haben. Die einen verlangen nach Gleichheit und empören sich, wenn sie meinen, zu wenig erhalten zu haben, obschon sie denen, die mehr haben, doch gleich sind; die andern verlangen nach Ungleichheit und Bevorzugung, wenn sie glauben, ungleich zu sein und doch nicht mehr zu haben, sondern nur gleich viel oder gar weniger (dieses Streben kann gerecht, aber auch III
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ungerecht sein). Wenn sie zurückgesetzt sind, empören sie sich, um gleich viel zu erhalten, und wenn sie gleich viel haben, um mehr zu bekommen. Damit ist also gesagt, was der Ausgangspunkt der Revolutionen ist. Der Gegenstand der Revolutionen ist Gewinn und Ehre und das Gegenteil davon. Denn auch dies führt in den Staaten zu Revolutionen, wenn man die Ehrlosigkeit meiden will oder einen Schaden für sich selbst oder seine Freunde. An Ursachen und Ursprüngen der Bewegungen, durch die die Bürger sich in der geschilderten Weise im Hinblick auf das Genannte verhalten, kann man etwa sieben nennen oder auch mehr. Zwei von ihnen sind identisch mit dem eben Genannten, aber nicht in dem bisherigen Sinne. Denn um des Gewinnes und der Ehre willen erhitzen sie sich gegeneinander, aber nun nicht, um dies für sich selbst zu erwerben, wie vorhin gesagt, sondern weil man sieht, daß andere, teils gerecht, teils ungerecht, an diesen beiden Dingen ein Übermaß besitzen. Weitere Ursachen sind die Gewalttätigkeit, die Angst, das Übergewicht und die Verachtung und ein das rechte Verhältnis überschreitendes Anwachsen. Endlich in einem andern Sinne die Amtserschleichung, die Nachlässigkeit, die Kleinheit und die Ungleichheit. 3. Welche Wirkung die Gewalttätigkeit und die Gewinnsucht haben, und in welchem Sinne sie Ursachen sind, ist wohl so ziemlich klar. Denn sind die Regierenden gewalttätig und anmaßend, so erheben sich die Bürger gegeneinander und gegen die Verfassung, die dies möglich macht. Die Anmaßung gründet sich zuweilen auf den Privatbesitz, zuweilen auf die öffentlichen Mittel. Klar ist es auch, was die Ehre vermag, und wie sie die Ursache von Aufständen ist. Denn man empört sich, wenn man selbst ohne Ehre bleibt und andere geehrt sieht. Ungerecht geschieht dies, wenn einzelne gegen ihre Würdigkeit Ehre oder Unehre erfahren, gerecht, wo dies der Würdigkeit entsprechend geschieht. Das Übergewicht ist die Ursache, wo einer oder mehrere mächtiger sind, als es der Staat und seine Organisation ertragen können. In IV
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solchen Verhältnissen pflegt eine Monarchie oder eine Dynastenherrschaft zu entstehen. Darum ist auch an einzelnen Orten der Ostrakismos üblich, etwa in Argos oder in Athen. Besser ist es freilich, von Anfang an darauf zu achten, daß nicht derart Übermächtige entstehen, als dies geschehen zu lassen und nachher die Lage zu heilen. Aus Angst machen Aufstände jene, die Unrecht getan haben und nun eine Strafe fürchten müssen, ebenso jene, die Angst davor haben, Unrecht leiden zu müssen, und nun dem zuvorkommen wollen, so wie sich in Rhodos die Angesehenen gegen das Volk zusammentaten wegen der Prozesse, die gegen sie geführt wurden. Die Verachtung ist die Ursache von Aufständen und Anschlagen etwa in den Oligarchien, wenn diejenigen, die an der Staatsverwaltung keinen Anteil haben, in der Überzahl sind (und überdies meinen, überlegen zu sein), und in den Demokratien, wo die Vermögenden die Unordnung und Gesetzlosigkeit verachten, so wie in Theben die Demokratie zugrunde ging, als sie nach der Schlacht bei Oinophyta schlecht geführt wurde; ebenso bei den Megarern, als sie wegen ihrer Unordnung und Gesetzlosigkeit besiegt wurden, und in Syrakus vor der Tyrannis Gelons und in Rhodos die Demokratie vor dem großen Aufstand. Ebenso gibt es Verfassungsänderungen durch Vermehrungen, die das angemessene Verhältnis überschreiten. Wie nämlich ein Körper aus verschiedenen Teilen besteht und diese im richtigen Verhältnis wachsen müssen, damit die Symmetrie bestehen bleibt (denn andernfalls geht das Wesen zugrunde: wenn etwa der Fuß vier Ellen lang wäre und der übrige Körper nur zwei Spannen. Zuweilen kann sogar der Umschlag in die Gestalt eines andern Lebewesens erfolgen, wenn die unproportionierte Vermehrung sich nicht bloß der Quantität, sondern auch der Qualität nach vollzieht), so ist auch ein Staat aus Teilen zusammengesetzt, von denen oftmals einer unvermerkt anwächst, wie etwa die Masse der Besitzlosen in den Demokratien und Politien. Zuweilen ergibt sich dies auch durch Schicksalsschläge: in Tarent wurde kurz nach den Perserkriegen ein großer Teil der Angesehenen durch die Japyger besiegt und getötet, so daß dann aus V
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der Politie eine Demokratie entstand. Und als in Argos in der Schlacht vom Siebenten viele durch den Spartaner Kleomenes getötet worden waren, da sahen sie sich gezwungen, Periöken in die Bürgerschaft aufzunehmen. In Athen nahm durch die unglücklichen Landkriege die Zahl der Angesehenen ab, weil sie zur Zeit des Peloponnesischen Krieges der Reihe nach immer wieder eingezogen wurden. Dies geschieht auch in den Demokratien, aber seltener; immerhin, wenn die Zahl der Wohlhabenden wächst oder die Vermögen größer werden, schlagen sie um in Oligarchien und Dynastenherrschaften. Die Verfassungen verändern sich auch ohne Revolution durch die Amtserschleichungen, wie in Heraia (man ersetzte dort die offene Wahl durch die Loswahl, weil jene gewählt worden waren, die geschmiert hatten), oder durch Unachtsamkeit, wenn man in die wichtigsten Ämter Männer gelangen läßt, die der bestehenden Verfassung feindlich gesinnt sind. So wurdein Oreos die Oligarchie beseitigt, als Herakleodoros in die Zahl der Archonten aufgenommen worden war, der aus der Oligarchie eine Politie und Demokratie machte. Eine weitere Ursache sind die kleinen Verschiebungen, wenn nämlich oftmals unvermerkt eine große Veränderung in den Gesetzesvorschriften stattfindet, deren einzelne kleine Etappen man nicht beachtet. So war in Ambrakia die Steuerschatzung gering, und schließlich ließ man auch die Mittellosen zu, da ja zwischen dem geringen Census und dem Fehlen des Census überhaupt kein Unterschied sei. Zu Aufständen führt auch die Anwesenheit verschiedener Stämme, jedenfalls so lange, bis eine organische Einheit hergestellt ist. Wie nämlich ein Staat nicht aus einer beliebigen Volksmasse entsteht, so auch nicht in einer beliebigen Zeitdauer. Darum hat es fast immer Konflikte gegeben, wo Mitbewohner oder Kolonisten aufgenommen worden sind. So haben Achaier zusammen mit Troizeniern Sybaris besiedelt, dann vermehrten sich die Achaier übermäßig und vertrieben die Troizenier (daher kam es zum Fluche über die Sybariten). In Thurioi bekamen die Sybariten wieder Streit mit den Miteinwohnern: sie meinten, das Land gehöre ihnen, stellten zu große Ansprüche und VI
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wurden vertrieben. In Byzanz intrigierten die Zugewanderten gegen die Einwohner, wurden entdeckt und durch eine Schlacht vertrieben. Umgekehrt vertrieben in einer Schlacht die Emigranten aus Chios die Antissaier, die sie aufgenommen hatten. Dasselbe widerfuhr den Zanklaiern durch die Samier. Die Einwohner von Apollonia am Pontos ließen Neusiedler kommen und gerieten in Revolutionen. Die Syrakusaner nahmen nach der Tyrannis die Ausländer und Söldner in das Bürgerrecht auf, was zu Aufständen und zu einer Schlacht führte. Nachdem die Einwohner von Amphipolis Neusiedler aus der Chalkidike aufgenommen hatten, gerieten sie in Streit und wurden zum größten Teile von diesen vertrieben. In den Oligarchien macht das Volk Aufstände, das Unrecht zu leiden behauptet, weil es (wie wir früher sagten) nicht an den gleichen Rechten teilhat, obschon es gleich ist; in den Demokratien tun es die Angesehenen, weil sie sich ungleich fühlen und doch mit den andern gleichgestellt sind. Zuweilen gibt es auch Aufruhr wegen der Ortslage, wenn das Land nicht geeignet ist, zu einem einzigen Staate zusammengefaßt zu werden. So erhoben sich in Klazomenai die Leute des Chyton gegen die Bewohner der Insel, und ebenso die Kolophonier und die Notier. Auch in Athen finden sich solche Gegensätze, da die Bewohner des Peiraieus demokratischer gesinnt sind als die der Oberstadt. Wie nämlich im Kampfe trennende Gräben, auch wenn sie ganz schmal sind, dennoch den Zusammenhang der Truppe zerreißen, so scheint da jeder Unterschied zu einem Gegensatz zu führen. Der größte Gegensatz ist wohl derjenige zwischen Tugend und Schlechtigkeit, dann zwischen Reichtum und Armut und so andere, bald mehr, bald weniger; und dazu gehört auch der genannte. 4. Die Revolutionen entstehen nun nicht um geringe Dinge, aber aus geringen Dingen; das, worum sie entstehen, ist dagegen groß. Auch kleine Ursachen haben dort eine große Bedeutung, wenn sie sich an wichtigen Punkten zeigen, so wie es in alten Zeiten in Syrakus war. Da veränderte sich die Verfassung, weil zwei junge Leute einen Aufruhr unternahmen, und zwar wegen einer Liebesgeschichte, beide VII
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aus den regierenden Familien. Denn während der eine verreist war, bemächtigte sich sein Kamerad des Geliebten des ersten; dieser wiederum zürnte ihm und veranlaßte dessen Frau, zu ihm zu kommen. Darauf nahmen alle regierenden Familien für den einen oder den andern Partei, und es kam zum Aufruhr. Darum muß man wohl darauf achten, wenn solche Dinge im Entstehen sind, und muß die Streitigkeiten unter den Führern und Mächtigen beilegen. Denn der Fehler liegt im Anfang, und der Anfang ist, wie es heißt, die Hälfte des Ganzen. Darum ist der kleine Fehler am Anfang gleich bedeutend wie die großen Fehler in späteren Stadien. Im allgemeinen machen die Streitigkeiten unter den Angesehenen den ganzen Staat mitleiden, so wie es in Hestiaia geschah nach den Perserkriegen, wo zwei Brüder sich um den väterlichen Grundbesitz stritten. Der ärmere rief die Demokraten zu Hilfe, weil der andere ihm nicht das Vermögen deklarierte und auch nicht den Schatz, den der Vater gefunden hatte; der andere, der viel Vermögen hatte, gewann die Reichen für sich. In Delphi wurde ein Streit im Zusammenhang mit einer Heirat die Ursache aller späteren Unruhen. Als der Bräutigam zur Braut gehen wollte, begegnete ihm etwas, was er als schlimmes Zeichen deutete, und so ging er weg und nahm die Braut nicht. Die Verwandten aber fühlten sich beschimpft und steckten ihm, als er opferte, Tempelgeld zuund töteten ihn dann als einen Tempelschänder. In Mytilene entstand ein Streit wegen Erbtöchtern, und dieser wurde die Ursache vielen Unheils und auch des Krieges gegen die Athener, in dessen Verlauf Paches ihre Stadt eroberte. Timochares nämlich, einer der Wohlhabenden, hinterließ zwei Töchter; Dexandros wollte sie für seine Söhne haben, wurde aber abgewiesen und erhielt sie nicht, begann einen Aufstand und hetzte die Athener auf, deren offizieller Proxenos er war. Bei den Phokaiern entstand ein Streit zwischen Mnaseas, dem Vater des Mnason, und Euthykrates, dem Vater des Onomarchos, wegen einer Erbtochter, und dieser Streit wurde bei den Phokern die Ursache des Heiligen Krieges. Auch in Epidamnos veränderte sich die Staatsform durch eine Ehegeschichte. Jemand hatte seine Tochter heimlich einem Manne verlobt, und als ihn der Vater des Mannes, der inzwischen Archon geworden war, VIII
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deswegen strafte, nahm sich der andere, der sich beleidigt vorkam, die von der Regierung ausgeschlossenen Bürger zu Helfern. Es gibt auch Übergänge in Oligarchie, Demokratie und Politie, wenn die Regierung oder sonst ein Teil des Staates sich besonders auszeichnen und an Ansehen gewinnen, so wie sich der Rat des Areopag auszeichnete in den Mederkriegen und die Energie des Staates gefördert zu haben schien. Ebenso war die Masse der Seeleute die Ursache für den Sieg bei Salamis und darum auch der Hegemonie auf Grund der Herrschaft über das Meer, und so stärkte sie wieder die Demokratie. In Argos bewährten sich die Angesehenen in der Schlacht von Mantineia gegen die Spartaner und versuchten daraufhin die Demokratie zu stürzen. In Syrakus erfocht das Volk den Sieg im Kampfe gegen die Athener und verwandelte darum die Verfassung aus einer Politie in eine Demokratie. In Chalkis vertrieb das Volk zusammen mit den Angesehenen den Tyrannen Phoxos und beherrschte sofort den Staat. Ebenso geschah es in Ambrakia: das Volk half da den Feinden des Periandros, den Tyrannen zu vertreiben, und brachte sofort die Verfassung an sich. Im allgemeinen darf man nicht übersehen, daß die Schöpfer einer Macht, Privatleute, Beamte, Phylen oder sonst irgendein Teil und eine Masse des Volkes, immer Unruhen veranlassen: entweder fangen die anderen an, die diesen die Ehre mißgönnen, oder diese selbst wollen im Hinblick auf ihr überragendes Verdienst nicht mehr in der Gleichheit bleiben. Die Verfassungen ändern sich auch dann, wenn die als Gegensätze geltenden Teile des Volkes im Gleichgewicht stehen, etwa die Reichen und das unbemittelte Volk, während die Kraft in der Mitte nur ganz gering ist oder überhaupt nicht existiert. Wenn freilich der eine Teil stark überwiegt, so mag der andere gegen den offenkundig Stärkeren nichts riskieren (darum machen auch die an Tugend Hervorragenden sozusagen niemals einen Aufstand. Denn sie sind immer wenige gegen eine Überzahl). Im allgemeinen also verhalten sich die Ursprünge und Ursachen der Revolutionen und Verfassungsänderungen in allen Fällen auf die genannte Weise. IX
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Umgestürzt wird die Verfassung teils durch Gewalt, teils durch List, und zwar durch Gewalt entweder gleich von Anfang an oder dann später, wenn man dazu übergeht, Zwang anzuwenden. Auch die List ist eine doppelte. Zuweilen täuscht man die Bürger am Anfange und ändert die Verfassung mit ihrer Zustimmung, und hält dies nachher mit Gewalt gegen ihren Willen fest (so täuschte man zur Zeit der Vierhundert das Volk mit der Behauptung, der Großkönig würde Geld für den Krieg gegen Sparta zur Verfügung stellen, und als dann der Betrug klar wurde, versuchten sie die Staatsform mit Gewalt festzuhalten). Zuweilen überzeugt man die Bürger von Anfang an, und auch später vermag man sie zu überzeugen und sie freiwillig zu beherrschen. Dies sind also im allgemeinen die Ursachen, aus denen die Verfassungsänderungen in allen Staatsformen zu geschehen pflegen. 5. Dies müssen wir nun für jede einzelne Verfassungsart differenzieren und untersuchen, wie es zugeht. Die Demokratien verändern sich hauptsächlich durch die Zügellosigkeit der Volksführer. Diese führen einzeln Prozesse gegen die Wohlhabenden und treiben sie zum Zusammenschluß (denn gemeinsame Angst verbindet auch die größten Feinde), oder sie hetzen allgemein das Volk gegen sie auf. Das kann man in vielen Fällen beobachten. In Kos wurde die Demokratie gestürzt, weil sie durch schlechte Führer geleitet wurde (denn da taten sich die Angesehenen zusammen), und ebenso in Rhodos. Dort führten die Volksführer eine Besoldung der Bürger ein, verhinderten aber gleichzeitig, daß den Trierarchen das Schuldige ausbezahlt würde. Als diesen nun noch Prozesse angehängt wurden, dasahen sie sich genötigt, sich zusammenzuschließen und die Demokratie zu stürzen. Auch in Herakleia ging die Demokratie zugrunde gleich nach der Gründung der Kolonie, und zwar durch die Volksführer. Die Angesehenen wurden durch diese schlecht behandelt und mußten die Stadt verlassen; dann sammelten sich die Vertriebenen, kehrten zurück und beseitigten die Demokratie. Ebenso erging es der Demokratie in Megara. Um die Vermögen konfiszieren X
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zu können, schickten die Volksführer viele der Angesehenen in die Verbannung, bis es eine ganze Menge von Verbannten gab. Da kehrten diese zurück und besiegten in einer Schlacht die Demokraten und richteten eine Oligarchie ein. Dasselbe geschah mit der Demokratie in Kyme, die durch Thrasymachos aufgelöst wurde. Auch in den andern Fällen würde sich zeigen, daß sich der Umschlag auf diese Weise vollzieht. Zuweilen bedrängen sie, um sich beim Volke beliebt zu machen, die Angesehenen und nötigen sie zum Zusammenschluß (sie konfiszieren ihre Vermögen oder zerstören ihre Einkünfte durch öffentliche Pflichtleistungen), zuweilen klagen sie die Reichen falsch an, um Gelegenheit zu bekommen, deren Besitz zu beschlagnahmen. In früheren Zeiten, als der Volksführer und der Heerführer derselbe war, geschah dann der Umschlag in die Tyrannis. Die meisten der alten Tyrannen nämlich haben als Volksführer begonnen. Daß dies damals geschah, heute aber nicht mehr, hat seine Ursache darin, daß sich damals die Volksführer aus den Feldherren rekrutierten (denn die Redekunst war damals noch nicht ausgebildet); jetzt dagegen hat die Redekunst sich entwickelt, und wer sie beherrscht, führt das Volk; diese unternehmen aber keine Handstreiche mehr, da sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in militärischen Dingen unerfahren sind. Es gab früher überhaupt mehr Tyrannenherrschaften als jetzt, weil damals einzelnen Männern große Kompetenzen anvertraut wurden, wie etwa den Prytanen in Milet (denn der Prytane hatte viele und große Befugnisse); außerdem, weil damals die Staaten noch nicht groß waren, sondern das Volk sich auf dem Lande aufhielt und mit der Landarbeit voll beschäftigt war. Da konnten sich denn die Vorsteher des Volkes, falls sie kriegerisch waren, der Tyrannis bemächtigen. Alle taten dies als Vertrauensleute des Volkes; gegründet war dies Vertrauen auf den Haß gegen die Reichen, so wie in Athen Peisistratos im Aufstand gegen die Großgrundbesitzer unter stützt wurde, und Theagenes von Megara, der sich der Herden der Wohlhabenden, die am Flusse weideten, bemächtigte und sie hinschlachtete; und Dionysios wurde mit der Tyrannis belohnt, als er
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Daphnaios und die Reichen anklagte, da man ihn wegen eben jenes Hasses für volksfreundlich hielt. Es gibt auch einen Umschlag aus der ererbten Demokratie in eine moderne. Wo nämlich die Behörden gewählt werden, nicht aber durch Vermögensschatzung, und das Volk wählt, da bringen es die Ehrgeizigen, die das Volk führen, dahin, daß das Volk zum Herrn auch über die Gesetze wird. Ein Hilfsmittel dagegen, so daß dies nicht eintrifft, oder doch weniger radikal, ist, daß die einzelnen Phylen die Beamten bestimmen, und nicht das Volk im gesamten. Die Veränderungen der Demokratien geschehen nun alle so ziemlich durch die genannten Ursachen. 6. Von den Arten, in denen die Oligarchien sich verändern, sind zwei die sichtbarsten. Die eine ist die, daß das Volk bedrängt wird. Da wird denn jeder sich als Anführer durchsetzen, vor allem wo er selbst zu den Oligarchen gehört, wie Lygdamis von Naxos, der später Tyrann der Naxier wurde. Der andere Ausgangspunkt der Revolution hat mehrere Varianten. Zuweilen geht die Auflösung von den Reichen selbst aus, die nicht an der Regierung teilnehmen, wenn nämlich die Zahl der Regimentsfähigen außergewöhnlich gering ist, wie es in Massalia, in Istros, in Herakleia und anderswo geschah. Die von den Ämtern Ausgeschlossenen riefen Unruhen hervor, bis zuerst einmal die älteren Söhne zu den Ämtern zugelassen wurden und dann auch die jüngeren. An einigen Orten dürfen nämlich nicht Vater und Sohn gleichzeitig ein Amt haben, anderswo nicht gleichzeitig der ältere und der jüngere Bruder. In Massalia wurde die Oligarchie eher zu einer Politie, in Istros dagegen endete sie in der Demokratie, und in Herakleia wurde die Regierung von einer geringen Zahl auf sechshundert übertragen. Auch in Knidos änderte sich die Oligarchie, da die Angesehenen unter sich in Streit gerieten; denn es waren nur wenige regimentsfähig, und zwar so, wie wir schon sagten: war es der Vater, so durfte es der Sohn nicht sein, und von mehreren Brüdern auch nur der älteste. In die Revolution griff nun das Volk ein, wählte einen Anführer unter den
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Angesehenen und griff die übrigen an und siegte. Denn was unter sich uneins ist, ist immer schwach. In Erythrai regierte in alter Zeit die Oligarchie der Basiliden. Obwohl sie den Staat gut verwalteten, wurde es doch das Volk überdrüssig, von wenigen regiert zu werden, und stürzte die Verfassung. Die Oligarchien fallen auch durch sich selbst und durch den Ehrgeiz der Anführer. Solcher Anführer gibt es zweierlei: entweder unter den Oligarchen selbst, und das kann geschehen, auch wo es nur ganz wenige sind, wie in Athen unter den Dreißig die Gruppe um Charikles die übrigen beherrschte, und bei den Vierhundert auf dieselbe Weise die Gruppe des Phrynichos; oder es können die Oligarchen das Volk führen, so wie in Larisa die Politophylakes das Volk führten, da sie selbst vom Volke gewählt wurden, und ebenso in den andern Oligarchien, wo nicht jene die Beamten wählen, die selbst regimentsfähig sind, sondern wo zwar die Beamten aus den hohen Steuerklassen oder aus Klubs ausgewählt werden, aber die Krieger oder das Volk sie wählen, wie es in Abydos war, und dort, wo die Gerichtshöfe nicht durch die Regimentsfähigen besetzt werden. Denn da versuchen sie Einfluß auf die Urteile zu gewinnen und stürzen so die Verfassung um, wie es in Herakleia am Pontos geschah. Oder es kann auch so sein, wenn einige Oligarchen die Herrschaft auf eine noch geringere Zahl beschränken wollen; denn dann sind jene, die die Gleichberechtigung beanspruchen, gezwungen, das Volk zu Hilfe zu rufen. Ein Umsturz der Oligarchie erfolgt auch, wenn sie in Verschwendung ihr eigenes Gut aufzehren. Solche Leute drängen dann nach Umsturz und erstreben die Tyrannis entweder für sich selbst oder machen einen anderen zum Tyrannen, wie Hipparinos den Dionysios in Syrakus. In Amphipolis brachte ein gewisser Kleotimos die chalkidischen Ansiedler herbei, und als sie gekommen waren, hetzte er sie gegen die Reichen auf; auch in Aigina versuchte der, der mit Chares verhandelt hatte, aus einem ähnlichen Grunde einen Umsturz herbeizuführen. Zuweilen versuchen sie sich sofort an einer Veränderung, und zuweilen nehmen sie den Staatsbesitz in Beschlag, und dann streiten
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sie untereinander, oder die andern bekämpfen die Räuber, wie es in Apollonia am Pontos geschah. Eine in sich einige Oligarchie geht nicht leicht aus sich selbst zugrunde. Das zeigt die Staatsverfassung von Pharsalos. Dort sind Wenige die Herren über Viele, weil sie unter sich Disziplin halten. Dagegen löst sich die Oligarchie auf, wenn innerhalb der Oligarchie eine zweite errichtet wird, das heißt, wenn die gesamte regierende Schicht gering ist und nicht einmal alle von den Wenigen an den obersten Ämtern teilhaben, wie es einmal in Elis der Fall war. Denn der Staat wurde durch Wenige regiert, aber nur äußerst wenige wurden Geronten; es gab ihrer nur neunzig und diese lebenslänglich, und die Wahl ging nach dynastischem Prinzip vor sich, ähnlich wie bei den spartanischen Geronten. Die Oligarchie kann sich im Krieg und im Frieden auflösen; im Krieg, weil sie dem Volk mißtrauen und darum Söldner anwerben müssen; wer diese Söldner zur Verfügung hat, der wird häufig Tyrann, wie Timophanes in Korinth. Haben mehrere die Söldner zur Verfügung, so verschaffen sich diese die Herrschaft. Zuweilen freilich fürchten sie dies und gewähren dann dem Volk Teilnahme an der Regierung, weil sie es brauchen. Im Frieden wiederum mißtrauen sie einander gegenseitig und übergeben die Wache Söldnern und einem neutralen Befehlshaber, der dann oftmals Herr beider Parteien wird, wie es in Larisa bei der Gruppe der Aleuaden um Simos geschah und in Abydos mit den Klubs, deren einer derjenige des Iphiadas war. Es gibt auch Revolutionen, wenn unter den Oligarchen selbst die einen von den andern zurückgesetzt oder parteiisch behandelt werden in Eheangelegenheiten oder bei Prozessen. So war in den genannten Fällen eine Ehesache der Grund, und in Eretria stürzte Diagoras die Oligarchie der Ritter, weil er in einer Heiratsangelegenheit beleidigt worden war. Aus einem willkürlichen Prozeßurteil entstand die Revolution in Herakleia und ebenso in Theben, da einer mit Recht zwar, aber in schikanöser Weise wegen Ehebruchs verurteilt wurde, in Herakleia Euetion und in Theben Archias (seine Feinde waren so rachsüchtig gewesen, daß sie ihn auf dem Markt an den Schandpfahl hatten binden lassen). XIV
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Viele Oligarchien gingen auch daran zugrunde, daß sie allzu despotisch vorgingen und einige unter den Regimentsfähigen selbst daran Anstoß nahmen, so in Knidos und in Chios. Es können auch durch Zufälle Veränderungen eintreten in der sogenannten Politie und in jenen Oligarchien, wo es von der Steuerklasse abhängt, daß man am Rat, an den Gerichten und den andern Magistraturen teilnehmen kann. Denn oftmals ist der oberste Steuersatz der augenblicklichen Situation angepaßt, so daß in der Oligarchie nur wenige, in der Politie der Mittelstand zu den Ämtern kommt. Es kann aber dann ein Friede oder sonstiger Glücksfall einen derartigen Wohlstand erzeugen, daß dieselben Besitzer in eine viel höhere Steuerklasse aufrücken müßten, und daß alle an allen Rechten teilnehmen; ein solcher Umschwung kann allmählich und schrittweise erfolgen und unvermerkt, oder auch schneller. Die Oligarchien verändern sich und zerfallen also aus solchen Ursachen (im allgemeinen gehen die Demokratien und Oligarchien vielfach nicht in die entgegengesetzte Staatsform über, sondern sie bleiben in derselben Gattung, etwa so, daß gesetzliche Demokratien und Oligarchien in willkürliche übergehen und umgekehrt). 7. In den Aristokratien entstehen die Revolutionen etwa daher, daß nur wenige an den Ämtern teilnehmen (dies stürzt auch, wie wir sagten, die Oligarchien, da ja auch die Aristokratie in gewisser Weise eine Oligarchie ist; in beiden Fällen regieren nur wenige, bloß nicht nach demselben Prinzip, auch wenn insofern die Aristokratie eine Oligarchie zu sein scheint). Dies muß dort am ehesten eintreten, wo eine Menge vorhanden ist, die jenen an Tugend gleich zu sein beansprucht, wie in Sparta die sogenannten Parthenier (die dem Stande nach ebenbürtig waren); sie wurden bei einer Verschwörung entdeckt und als Kolonisten nach Tarent entsandt. Oder es werden einige Mächtige und an Tugend keineswegs Nachstehende von Amtshöheren mißachtet, wie etwa Lysander von den Königen. Oder es darf ein Tapferer nicht an den Beamtungen teilhaben, wie Kinadon, der unter Agesilaos den Aufstand gegen die Spartiaten unternahm. Oder es sind die einen allzu arm, die andern allzu reich, was vor allem XV
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im Kriege leicht geschehen kann. So geschah es in Sparta in den Messenischen Kriegen, wie sich dies aus der Dichtung des Tyrtaios )Eunomia( entnehmen läßt; denn da waren einige durch den Krieg in größte Bedrängnis geraten und forderten eine Landaufteilung. Oder es ist ein einzelner sehr mächtig und kann noch mächtiger werden und schließlich zur Alleinherrschaft streben, wie es in Sparta mit Pausanias, dem Feldherrn in den Perserkriegen der Fall gewesen zu sein scheint, und in Karthago mit Hannon. Am meisten stürzen die Politien und Aristokratien aber dadurch, daß der Staat selbst von der Gerechtigkeit abweicht. Dies kann daher kommen, daß in der Politie das demokratische und das oligarchische Element und in der Aristokratie jene beiden und die Tugend, vor allem aber jene beiden untereinander nicht gut gemischt sind. Ich meine damit Demokratie und Oligarchie. Denn jene Elemente versuchen die Politien zu mischen und auch die meisten der sogenannten Aristokratien. In der Reihe der angeführten Staatsverfassungen ist ja dies die Eigentümlichkeit der Aristokratien, und darum sind die einen mehr, die andern weniger beständig. Jene, die mehr zur Oligarchie neigen, nennt man vorzugsweise Aristokratien, jene, die zum Volk neigen, Politien. So sind diese auch beständiger als jene. Denn die Mehrzahl ist mächtiger, und wenn sie gleichberechtigt ist, ist sie auch zufriedener. Wenn aber die Reichen durch die Verfassung das Übergewicht erhalten, werden sie leicht übermütig und anmaßend. Überhaupt, wohin in diesen beiden Fällen die Verfassung sich neigt, die Politie zur Demokratie und die Aristokratie zur Oligarchie, dorthin streben auch jene, die ihre eigene Macht mehren möchten. Oder die Entwicklung geht zum Gegenteil, wenn die Aristokratie in die Demokratie umschlägt (denn die Armen, die sich unterdrückt fühlen, ziehen den Staat in jene Richtung) und die Politie in die Oligarchie (denn beständig ist nur die Gleichheit der Würde nach und daß jeder besitzt, was ihm zukommt). So geschah es in Thurioi. Da die Ämter an eine zu hohe Steuerklasse geknüpft waren, wurde diese gesenkt und die Zahl der Ämter vermehrt, da aber anderseits die Angesehenen gegen das Gesetz das ganze Land aufgekauft hatten (denn die Verfassung war so oligarchisch, daß sie in der Lage waren, sich XVI
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durchzusetzen)... das Volk aber, das sich im Kriege geübt hatte, bemächtigte sich der Wachtposten, bis jene freiwillig das Land zurückgaben, das sie sich zuviel angeeignet hatten. Da ferner alle aristokratischen Verfassungen gleichzeitig oligarchisch sind, so können die Angesehenen sich leicht durchsetzen, wie etwa in Sparta die Vermögen auf ganz Wenige konzentriert sind. Die Angesehenen können so ziemlich machen, was sie wollen, und sich verschwägern, mit wem sie wollen. So ging der Staat Lokroi zugrunde durch die Verschwägerung mit Dionysios, was in einer Demokratie nicht möglich gewesen wäre, auch nicht in einer gut gemischten Aristokratie. Meistens lösen sich die Aristokratien unvermerkt und langsam auf, wie wir denn schon vorhin in den allgemeinen Darlegungen über alle Verfassungen gesagt haben, daß auch Kleinigkeiten Umwälzungen nach sich ziehen können. Wenn man nämlich ein Stück der Verfassung preisgibt, so wird manspäter mit größerer Leichtigkeit auch ein bedeutenderes Stück fallen lassen, bis schließlich die ganze Ordnung zusammenbricht. Das geschah mit der Verfassung von Thurioi. Es bestand das Gesetz, daß einer nur alle fünf Jahre Strategos sein dürfte; einige der Jüngeren waren kriegerisch und hatten Ansehen bei der Menge der Wachmannschaften, verachteten die Regierenden und meinten, sie leicht bewältigen zu können. So versuchten sie zuerst, dieses Gesetz zu durchbrechen, so daß derselbe ununterbrochen Stratege sein dürfte, weil sie bemerkten, daß das Volk sie gerne dazu wählen würde. Die zuständigen Beamten aber, die sogenannten Symbuloi, wollten zuerst Widerstand leisten, ließen sich aber dann umstimmen, da sie meinten, es solle nur dies Gesetz geändert werden und der Rest der Verfassung unberührt bleiben. Als dann auch andere Gesetze aufgehoben wurden, versuchten sie vergeblich, es zu hindern, und schließlich verwandelte sich die ganze Staatsordnung in eine Alleinherrschaft derer, die den Umsturz begonnen hatten. Alle Verfassungen werden entweder von innen oder von außen zerstört, wenn etwa ein Staat mit entgegengesetzter Verfassung nahe ist, oder auch fern, aber dann einen großen Einfluß besitzt, wie es
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zwischen Sparta und Athen geschah. Denn die Athener lösten überall die Oligarchien auf und die Spartaner überall die Demokratien. Woher also die Umschwünge der Verfassungen kommen und die Revolutionen, ist damit ungefähr gesagt. 8. Nun haben wir anschließend von der Erhaltung der Verfassungen zu sprechen, im allgemeinen wie im besondern. Als erstes ist klar, daß wir zu erkennen vermögen, wie die Verfassungen erhalten bleiben, wenn wir erkennen, wie sie untergehen. Denn Entgegengesetztes bewirkt Entgegengesetztes, und dem Untergang ist die Erhaltung entgegengesetzt. In den gut gemischten Verfassungen muß man in erster Linie darum besorgt sein, daß keine Gesetzwidrigkeiten vorkommen, vor allem im Kleinen. Denn die Gesetzwidrigkeit schleicht sich unbemerkt ein, so wie ein Vermögen durch fortgesetzte kleine Ausgaben aufgezehrt wird. Man bemerkt die einzelne Ausgabe nicht, weil sie nicht groß ist, und die Vernunft wird durch sie getäuscht wie durch einen sophistischen Beweis: wenn das Einzelne klein ist, so wird es auch das Ganze sein. Zuweilen ist dies richtig, zuweilen aber nicht. Denn die Gesamtheit und das Ganze besteht zwar aus Kleinem, ist aber selbst nicht klein. So muß man also vor einem solchen Anfang auf der Hut sein. Ferner soll man nicht den Kunstgriffen vertrauen, die nur dazu da sind, die Menge zu täuschen (was wir bei den Verfassungen unter Kunstgriffen meinen, ist früher gesagt worden); denn sie werden von den Tatsachen widerlegt. Weiterhin ist zu beachten, daß zuweilen nicht nur Aristokratien, sondern auch Oligarchien Bestand haben, nicht weil diese Verfassungen an sich stabil wären, sondern weil die Regierenden sowohl mit denjenigen, die nicht regimentsfähig sind, wie auch mit den Regimentsfähigen richtig umgehen: die nicht Regimentsfähigen respektieren sie und lassen die zur Staatsführung Begabten unter ihnen zur Regierung zu; sie vermeiden es, die Ehrgeizigen an der Ehre und die Menge an ihrem Gewinn zu kränken, und unter sich und den Regimentsfähigen verkehren sie freundschaftlich. Denn die XVIII
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Gleichheit, die die Demokraten für die Menge beanspruchen, ist bei wirklich Gleichartigen nicht nur gerecht, sondern auch zuträglich. Wenn darum viele an der Regierung beteiligt sind, so sind manche der demokratischen Einrichtungen nützlich, wie etwa, daß die Amtsdauer nur sechs Monate beträgt, damit alle Gleichberechtigten daran teilnehmen können. Denn die Gleichberechtigten stellen unter sich schon ein Volk dar (darum gibt es oft auch unter ihnen Anführer, wie wir oben bemerkt haben), und so geraten die Oligarchien und Aristokratien weniger in Alleinherrschaften. Wenn man nur kurze Zeit im Amt ist, kann man weniger leicht Unheil anrichten als in langer Zeit, und gerade so entstehen ja die Tyrannenherrschaften in den Oligarchien und Demokratien; in beiden streben entweder die Mächtigsten nach der Tyrannis, hier die Volksführer, dort die Dynasten, oder dann jene, die die bedeutendsten Ämter innehaben, wenn sie diese für lange Zeit festhalten können. Die Verfassungen erhalten sich aber nicht nur dadurch, daß nichts Gefährdendes in der Nähe ist, sondern zuweilen auch gerade dadurch, daß es in der Nähe ist. Denn wenn man dann in der Angst lebt, hält man die Verfassung fester in der Hand. So müssen denn diejenigen, die für die Verfassung sorgen wollen, Furcht erzeugen, damit man auf der Hut sei und die Wachsamkeit über die Verfassung, wie eine Nachtwache, niemals ruhen lasse; man muß also das ferne Gefährdende als nahe erscheinen lassen. Man muß sich vor den Rivalitäten der Angesehenen und vor Revolutionen auch auf dem gesetzlichen Wege zu sichern trachten, ebenso jene schützen, die noch nicht in diese Rivalitäten hineingezogen sind. Denn das Übel in seinen Ursprüngen zu erkennen, ist nicht die Sache jedes beliebigen Mannes, sondern eben des Staatsmannes. Wenn Veränderungen durch die Steuerschätzungen in den Oligarchien und Politien drohen, wenn nämlich die Steuerklassen bleiben, der Geldreichtum dagegen wächst, so ist es nützlich, die Menge der gegenwärtigen Steuereingänge mit den vergangenen zu vergleichen; soweit in den Staaten die Steuern alljährlich neu festgesetzt werden, soll dies dann geschehen, in den größeren Staaten alle drei oder fünf XIX
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Jahre. Und wenn der Betrag um ein Vielfaches größer oder kleiner ist als früher, als man die verfassungsmäßigen Steuerklassen schuf, so sollen durch Gesetz diese nach oben oder unten verschoben werden: bei Überschüssen soll es nach oben geschehen und bei Defiziten nach unten, so daß die Steuerklassen sich senken. Wenn man nämlich in den Oligarchien und Politien das eine unterläßt, so kann hier eine Oligarchie, dort eine Alleinherrschaft daraus werden; unterläßt man aber das andere, so entsteht aus einer Politie eine Demokratie und aus einer Oligarchie eine Politie oder eine Demokratie. Die gemeinsame Aufgabe der Demokratie, Oligarchie, Monarchie und jeder Verfassung ist es, keinen Einzelnen über das Maß hinaus emporkommen zu lassen, sondern zu versuchen, eher beschränkte, aber lange dauernde Kompetenzen zu geben, anstatt für kurze Zeit die höchsten Ämter (denn das verdirbt die Menschen, da nicht jedermann Glück zu ertragen imstande ist). Ist dies aber nicht zu umgehen, dann soll man doch nicht alle bedeutenden Ämter gleichzeitig geben und gleichzeitig nehmen, sondern schrittweise. Vor allem aber soll man die Gesetze so einrichten, daß keiner allzu mächtig werde an Einfluß, Freunden oder Geld; ist das nicht möglich, so soll man doch ihre Hilfsquellen des Landes verweisen. Da man auch durch die private Lebensweise Neuerungen einführen kann, so muß eine Behörde existieren, um jene zu beaufsichtigen, die in einer der Staatsform unzuträglichen Weise leben, also in der Demokratie jene, die gegen die Demokratie, in der Oligarchie jene, die gegen die Oligarchie leben, und so in jeder andern Verfassung. Aus denselben Ursachen muß man auch den wohlhabenden Teil des Staates in dem jeweils entsprechenden Sinne überwachen. Ein Hilfsmittel in diesem Falle ist, daß man immer den entgegengesetzten Schichten die Aufgaben und Ämter überträgt (unter entgegengesetzten verstehe ich: die Vornehmen und die Menge, die Armen und die Reichen), und daß man versucht, die Gruppe der Armen mit derjenigen der Reichen zu vermischen oder die Mitte zu stärken; denn dies verhindert die aus der Ungleichheit entstehenden Revolutionen.
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Am wichtigsten in jeder Verfassung ist es, durch Gesetze und sonstige Einrichtungen dafür zu sorgen, daß man sich an den Ämtern nicht bereichern kann. Vor allem in den Oligarchien ist darauf zu achten. Denn dann wird sich die Menge nicht darüber ärgern, daß sie von den Ämtern ausgeschlossen ist, sondern ist sogar zufrieden, wenn man sie bei ihren privaten Geschäften in Ruhe läßt. Wenn sie dagegen meinen, öffentliches Gut werde von den Regierenden unterschlagen, dann sind sie über beides erbittert, sowohl darüber, daß sie an den Ämtern nicht teilhaben, wie auch über den Gewinn. Nur wenn man dies entsprechend einrichtet, kann ein Staat sogar zugleich eine Demokratie und eine Aristokratie sein. Denn dann können die Angesehenen wie die Menge, jeder auf seiner Seite, bekommen, was sie wollen: daß alle regieren dürfen, ist demokratisch, daß faktisch die Angesehenen die Magistraturen besetzen, ist aristokratisch, und dies ist möglich, wenn man aus den Regierungsämtern keinen Gewinn ziehen kann. Denn dann werden die Armen gar nicht regieren wollen, weil sie daran nicht profitieren, sondern sie bleiben lieber bei ihren Sachen; die Wohlhabenden dagegen können es, weil sie auf das öffentliche Gut nicht angewiesen sind. Es ergibt sich, daß die Armen reich werden, weil sie ihrer Arbeit nachgehen, und daß die Angesehenen nicht von beliebigen Leuten regiert werden. Um Unterschlagungen des öffentlichen Besitzes zu vermeiden, muß die Kassenübergabe in Anwesenheit aller Bürger erfolgen und müssen Rechnungsabschriften beiden Verbänden der Piraterien, Lochen und Phylen hinterlegt werden. Damit man andererseits gerne ohne materiellen Gewinn regiert, sollen für bewährte Beamte durchs Gesetz Ehrungen vorgesehen werden. In den Demokratien soll man die Wohlhabenden schonen: nicht nur der Besitz, auch der Ertrag soll nicht aufgeteilt werden, was doch in einigen Staaten unter der Hand geschieht; es ist sogar besser, sie, auch gegen ihren Willen, von kostspieligen, aber nutzlosen Leistungen für den Staat abzuhalten, wie Theateraufführungen, Prozessionen und dergleichen. In der Oligarchie wiederum soll man für die Armen sorgen, ihnen die mit Einkünften XXI
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verbundenen Ämter zur Verfügung halten und einen Übergriff der Reichen gegen sie schwerer ahnden als Übergriff unter ihresgleichen. Die Erbschaften dürfen nicht verschenkt werden, sondern müssen in der Familie bleiben, und keiner darf mehr als eine Erbschaft annehmen. Denn so werden die Vermögen gleichmäßiger, und es gelangen mehr Arme zu Reichtum. Für Demokratie und Oligarchie zweckmäßig ist es auch, jenen, die nicht regimentsfähig sind, in den übrigen Dingen Gleichheit oder den Vorrang einzuräumen, in der Demokratie den Reichen, in der Oligarchie den Armen; abgesehen natürlich von den entscheidenden Staatsämtern. Diese dürfen ausschließlich oder in der Mehrheit nur von Regimentsfähigen besetzt werden. 9. Wer die entscheidenden Regierungsämter ausüben will, muß drei Eigenschaften besitzen: erstens Treue zur bestehenden Verfassung, dann die größte Fähigkeit in der Ausübung der Amtspflichten und drittens die der jeweiligen Verfassung entsprechende Tugend und Gerechtigkeit (wenn nämlich das Gerechte nicht in allen Verfassungen dasselbe ist, dann auch nicht die Gerechtigkeit). Wenn aber nicht alle diese Eigenschaften an einer Person zu finden sind, so erhebt sich die Schwierigkeit, wie man dann wählen soll. So kann einer ein guter Feldherr sein, aber ungerecht und Gegner der Verfassung, ein anderer ist gerecht und loyal [aber unfähig im Amt]. Wie soll man sich da entscheiden? Man muß da wohl auf zwei Dinge achten, nämlich darauf, welche Eigenschaften häufiger sind und welche seltener. So muß beim Feldherrenamt mehr auf die Erfahrung als auf die Tugend geachtet werden (denn es gibt mehr Menschen, die anständig sind, als solche, die Kriegserfahrung haben), bei Polizei und Finanzämtern umgekehrt (denn da braucht es mehr Tugend, als sie die Menschen in der Regel besitzen; das nötige Wissen dagegen hat jedermann). Man kann sich auch fragen, wozu es der Tugend bedarf, wenn einer gleichzeitig Fähigkeiten und Verfassungstreue besitzt; diese zwei Eigenschaften sollten allein alles Erforderliche leisten können. Oder können solche, die diese beiden Eigenschaften haben, unbeherrscht XXII
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sein? Und so wie einige zwar sich selbst kennen und lieben, aber doch ihrem Interesse nicht zu dienen vermögen, so kann es zuweilen auch im Staate sein. Allgemein erhält all das die Verfassungen, was wir bei den Gesetzen als zweckmäßig für eine Verfassung bezeichnen. Das Grundlegende ist das, was wir schon oft wiederholten: dafür zu sorgen, daß immer eine verfassungstreue Mehrheit vorhanden sei. Außerdem darf man nicht übersehen, was faktisch alle verfehlten Verfassungen übersehen: die Mitte. Denn vieles, was demokratisch zu sein scheint, zerstört die Demokratie, und vieles Oligarchische die Oligarchie. Solche Leute meinen, das einzig Richtige sei das Fortschreiten zum Extrem, und sehen nicht, daß etwa eine Nase von der vollkommenen Geradheit etwas zur Habichtnase oder Stumpfnase abweichen kann, aber dennoch schön und anziehend bleibt, dagegen nicht mehr, wenn sie bis zum Extrem weitergeht: dann wird sie zuerst die rechten Proportionen verlieren und schließlich so aussehen, daß man sie vor lauter Übermaß an der einen und Mangel an der entgegengesetzten Eigenschaft gar nicht mehr für eine Nase wird halten können. Dasselbe kann man von den andern Körperteilen und so auch von den Verfassungen sagen. Denn eine Oligarchie oder Demokratie kann lebensfähig sein, auch wenn sie von der vollkommenen Verfassung abweicht. Wenn man aber die eine oder die andere extrem durchführt, dann wird man die Verfassung zuerst verschlechtern und schließlich überhaupt zugrunde richten. Darum müssen der Gesetzgeber und der Politiker wohl bedenken, welche der demokratischen Einrichtungen eine Demokratie erhalten und welche sie ruinieren, und ebenso bei der Oligarchie. Denn keine von beiden kann Bestand und Dauer haben ohne die Wohlhabenden und ohne die Menge; vielmehr wenn etwa die Vermögen gänzlich ausgeglichen sind, so entsteht eine neue Staatsform. Mit übertriebenen Gesetzen also zerstört man die Verfassungen. Man macht in Demokratien und Oligarchien auch den folgenden Fehler: in den Demokratien, wo die Menge die Gesetze beherrscht, begehen die Volksführer regelmäßig den Fehler, daß sie die Reichen bekämpfen und so den Staat spalten. Sie sollten vielmehr zum Schein XXIII
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immer wieder für die Reichen reden. In den Oligarchien sollten umgekehrt die Oligarchen für das Volk reden und genau den entgegengesetzten Eid schwören, als es jetzt geschieht. Denn jetzt wird in einigen Fällen geschworen, »das Volk zu hassen und zu seinem Schaden raten, was ich kann«. Man müßte aber vielmehr das Umgekehrte denken und erklären und durch den Schwur zu verstehen geben, daß man dem Volke keinen Schaden antun wolle. Wichtiger als alles Gesagte für die Erhaltung der Staaten, und was von allen vernachlässigt wird, ist die Erziehung zur Verfassung. Denn auch die nützlichsten und von allen Bürgern einstimmig angenommenen Gesetze sind zwecklos, wenn die Bürger nicht an die Verfassung gewöhnt und in ihr erzogen sind: wenn die Gesetze demokratisch sind, in demokratischer Gesinnung, und in den Oligarchien entsprechend oligarchisch. Wenn es nämlich Unbeherrschtheit bei Einzelnen gibt, so gibt es sie auch bei einem Staate. Die Erziehung zur Verfassung besteht aber nicht darin, daß man das tut, woran die Oligarchen oder Demokraten eine Freude haben, sondern so zu handeln, daß man als Oligarch oder Demokrat regieren kann. Faktisch aber leben in den Oligarchien die Söhne der Regierenden in Ausschweifungen, und die der Armen arbeiten und werden abgehärtet, und so wollen und können diese einen Aufstand wagen. Auch in den Demokratien, wo sie am allerdemokratischsten zu sein scheinen, tun die Leute das, was dem Interesse der Verfassung gerade zuwiderläuft. Dies kommt daher, daß sie den Begriff der Freiheit falsch auffassen. Denn die Demokratie scheint durch zwei Dinge charakterisiert zu sein: durch die Herrschaft der Mehrheit und durch die Freiheit. Die Gerechtigkeit scheint in der Gleichheit zu bestehen, und die Gleichheit wäre die, daß gilt, was der Mehrheit gefällt. Die Freiheit aber wäre, daß jeder tun kann, was er will. Und so lebt denn in solchen Demokratien jeder, wie er will, und danach sehnt er sich, wie Euripides sagt. Dies ist aber falsch. Denn im Gehorsam gegen die Verfassung zu leben, darf man nicht als Knechtschaft auffassen, sondern als Rettung der Verfassung. Damit ist im allgemeinen gesagt, wie sich die Verfassungen verändern und untergehen, und wie sie sich erhalten und Dauer haben. XXIV
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10. Wir haben nun noch von der Monarchie zu reden, wie sie untergeht und sich erhalten kann. Was von dem Königtum und der Tyrannis gesagt werden kann, ist so ziemlich dasselbe, wie was von den Politien gesagt wurde. Das Königtum steht der Aristokratie nahe, und die Tyrannis ist aus den äußersten Formen der Oligarchie und der Demokratie zusammengesetzt. Darum ist sie auch für die Beherrschten am schädlichsten, weil sie aus zwei Übeln zusammengesetzt ist und die Verfehlungen und Irrtümer beider Staatsformen in sich enthält. Schon die Entstehung dieser beiden Alleinherrschaften ist entgegengesetzt. Das Königtum entstand, um die Anständigen gegen das Volk zu schützen, und es sind die Anständigen, die den König stellen auf Grund überragender Tugenden oder tugendgemäßer Handlungen oder eines in diesem Sinne ausgezeichneten Geschlechtes. Der Tyrann entsteht dagegen aus dem Kampf des Volkes und der Menge gegen die Angesehenen, damit das Volk durch diese nicht weiter unterdrückt werde. Dies zeigt die Geschichte. Denn fast alle Tyrannen sind ursprünglich Volksführer gewesen, denen man sich anvertraute, weil sie die Angesehenen bekämpften. Die einen Tyrannenherrschaften sind auf diese Weise entstanden, als die Staaten schon eine gewisse Größe hatten, die früheren dagegen dadurch, daß die Könige die Tradition verletzten und nach einer Despotenherrschaft strebten, andere wiederum durch Männer, die zu den höchsten Ämtern gewählt worden waren (denn in alten Zeiten bestellt das Volk die politischen und sakralen Ämter auf lange Dauer), andere schließlich aus Oligarchien, die die höchsten Ämter auf einen Einzelnen vereinigten. In allen diesen Fällen war das Ziel leicht zu erreichen, wenn nur der Wille da war; denn die Macht war schon vorhanden, teils durch die Königswürde, teils durch ein Amt. So wurden Pheidon in Argos und andere zu Tyrannen von einer Königsherrschaft her, die ionischen Tyrannen und Phalaris durch eine Amtsstellung, Panaitios in Leontinoi, Kypselos in Korinth, Peisistratos in Athen, Dionysios in Syrakus und andere als Volksführer.
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Wie wir schon sagten, ist das Königtum der Aristokratie zugeordnet. Denn es beruht auf der Würde, sei es der Tugend des Einzelnen oder des Geschlechts, oder auf besonderen Verdiensten oder auf alledem zusammen und auf der Macht. Denn alle, die einem Staate Wohltaten erwiesen haben, oder die die Macht hatten, dem Staate oder dem Volke solche zu erweisen, haben diese Ehre erhalten, die einen dadurch, daß sie es im Verlaufe eines Krieges verhinderten, daß das Volk der Knechtschaft verfiel, wie Kodros, die andern, indem sie es befreiten, wie Kyros, andere durch Gründung von Staaten und Landerwerb, wie die Könige der Spartaner, Makedonen und Molotter. Denn der König soll ein Wächter sein darüber, daß die Besitzenden kein Unrecht erleiden und das Volk nicht mißhandelt werde. Die Tyrannis dagegen denkt, wie schon oft bemerkt, überhaupt nicht an die Gemeinschaft, außer um ihres eigenen Nutzens willen. Denn das Ziel der Tyrannis ist das Angenehme, das des Königtums die Ehre. Darum sind auch die finanziellen Vorrechte tyrannischer Art, die Ehrenvorrechte dagegen eher königlich. Und bei den Königen rekrutieren sich die Wachmannschaften aus Bürgern, bei den Tyrannen aus Ausländern. Daß also die Tyrannis die Übel der Demokratie und der Oligarchie in sich vereinigt, ist klar. Von der Oligarchie hat sie, daß das Ziel der Reichtum ist (denn nur so kann die Sicherheit durch Wachmannschaften und die Schwelgerei aufrechterhalten werden), und daß sie der Menge mißtraut; darum nehmen sie auch die Waffen weg; weiterhin schikanieren sie das Volk, vertreiben es aus der Stadt und siedeln es zerstreut an; dies gilt für die Oligarchie wie für die Tyrannis. Von der Demokratie haben sie den Kampf gegen die Angesehenen: sie bringen sie heimlich um und auch offen und verbannen sie als Rivalen und der Herrschaft lästig. Von den Angesehenen gehen denn auch die Verschwörungen aus, da die einen regieren, die andern nicht zu Sklaven werden möchten. Dem entspricht der Rat des Periander an Thrasybulos, das Abhauen der überragenden Ähren: man müsse nämlich immer die hervorragendsten Bürger beseitigen.
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Wie schon gesagt, sind die Ausgangspunkte der Umwälzungen bei den Alleinherrschaften so ziemlich dieselben wie bei den Politien. Wegen Beleidigungen, aus Angst und aus Verachtung erheben sich die Untertanen vielfach gegen die Monarchien; wegen Beleidigungen meist, weil sie schlecht behandelt wurden, oder auch, weil ihnen ihr Besitz weggenommen wurde. Auch die Ziele sind, wie dort, dieselben beim Königtum und bei der Tyrannis. Die Alleinherrscher haben ein Übermaß an Reichtum und Ehre, und danach verlangen alle. Die Angriffe richten sich zuweilen gegen das Leben der Herrscher, zuweilen nur gegen ihre Herrschaft. Was durch Kränkung hervorgerufen wird, geht gegen das Leben. Die Kränkung hat viele Formen, und jede von ihnen entfesselt Zorn, und von den Zornigen kämpfen die meisten um der Rache willen, und nicht wegen des Vorrangs der Herrscher. So geschah es mit den Peisistratiden: die Schwester des Harmodios wurde beleidigt und so auch Harmodios (Harmodios wegen der Schwester und Aristogeiton wegen Harmodios). Ebenso verschwor man sich gegen Periandros, den Tyrannen von Ambrakia, weil er beim Symposion seinen Geliebten fragte, ob er schon von ihm schwanger sei. Der Anschlag des Pausanias gegen Philippos geschah, weil dieser ihn durch die Freunde des Attalos hatte beschimpfen lassen, und der des Derdas gegen Amyntas den Kleinen, weil dieser sich rühmte, ihn geschändet zu haben, endlich der des Eunuchen gegen Euagoras von Kypros: weil dessen Sohn jenem die Frau verführt hatte, tötete ihn der Beleidigte. Viele Mordanschläge geschehen auch wegen körperlicher Demütigung durch die Monarchen. So der des Krataios gegen Archelaos: dieser war immer verletzend im Verkehr gewesen, so daß auch ein kleiner Anlaß ausreichte – oder vielleicht, weil er ihm gegen sein Versprechen keine der Töchter zur Ehe gab, sondern die ältere gab er, im Kriege gegen Irras und Arrhabaios, dem König von Elimeia, und die jüngere dem Sohne des Amyntas, um auf diese Weise den Streit zwischen jenem und seinem Sohne von Kleopatra beizulegen. Aber die eigentliche Ursache der Feindschaft war die Kränkung in seinem Liebesverhältnis. Aus derselben Ursache schloß sich ihm XXVII
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Hellanokrates von Larisa an. Archelaos hatte seine Liebe genossen, führte ihn aber gegen das Versprechen nicht in seine Heimat zurück, so daß er glaubte, jener habe nicht aus Liebesleidenschaft, sondern nur aus Übermut mit ihm Umgang gehabt. Python und Herakleides von Ainos beseitigten den Kotys, um ihren Vater zu rächen, und Adamas fiel von Kotys ab, weil er es nicht verzeihen konnte, daß dieser ihn als Knaben hatte verstümmeln lassen. Bei vielen ist der Haß aus einer körperlichen Züchtigung entstanden, und so töteten sie in ihrer Beleidigung den Herrscher oder stellten ihm nach, darunter auch Träger von Ämtern und königlicher Würde. So verübte in Mytilene Megakles mit seinen Freunden einen Anschlag auf die Penthiliden, die umhergingen und die Bürger mit Stäben schlugen, und beseitigte sie; später tötete Smerdes den Penthilos, weil er geschlagen und vor den Augen der Gattin aus dem Zimmer geschleift worden war. Den Mordanschlag gegen Archelaos führte Dekamnichos, der als erster die Mitverschworenen aufhetzte. Ursache des Zorns war, daß ihn der König dem Dichter Euripides zum Auspeitschen übergeben hatte, und Euripides wiederum war aufgebracht gewesen, weil jener eine Bemerkung über seinen üblen Mundgeruch gemacht hatte. Viele andere wurden aus derartigen Ursachen getötet oder gestürzt. Ebenso aus Furcht. Denn diese war eine der Triebfedern bei den Politien wie bei den Monarchien. So beseitigte den Xerxes Artapanes aus Furcht vor dem Gerede wegen Dareios, den er ohne Befehl des Xerxes hatte aufhängen lassen, wobei er gehofft hatte, der König würde es beim Mahle vergessen und Nachsicht üben. Anderswo war die Verachtung die Ursache, so bei Sardanapal, den jemand unter den Frauen spinnen gesehen hatte (wenn die Erzählungen darüber wahr sind; aber wenn es bei ihm nicht stimmt, so mag es bei einem andern so geschehen sein). Und den jüngeren Dionysios stürzte Dion, weil er ihn verachtete und bemerkte, daß auch die andern Bürger ihn verachteten, er aber beständig betrunken war. Es gibt sogar Freunde, die aus Verachtung Anschläge verüben. Weil die Herrscher ihnen vertrauen, verachten sie sie und rechnen damit, daß sie es nicht entdecken. Und auch solche, die meinen, die XXVIII
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Herrschaft leicht ergreifen zu können, handeln eigentlich aus Verachtung; sie vertrauen auf ihre Macht, und gestützt auf sie verachten sie die Gefahr und schreiten rasch zur Tat, wie etwa Feldherren den Alleinherrschern gegenüber. So Kyros dem Astyages gegenüber, dessen Lebensweise und Macht er verachtete, weil die Macht vernachlässigt war und jener selbst in Ausschweifung lebte; ebenso der Thraker Seuthes als Feldherr dem Amadokos gegenüber. Andere haben mehrere Motive des Aufstandes, etwa Verachtung und Gewinnsucht wie Mithridates gegenüber Ariobarzanes. Am meisten handeln aus solchem Grunde die von Natur Kühnen, die gleichzeitig bei den Alleinherrschern kriegerisches Ansehen genießen. Denn Tapferkeit mit Macht vereint ergibt Kühnheit, und beides treibt sie zum Umsturz in der Hoffnung, leicht siegen zu können. Wer aber aus Ehrgeiz einen Anschlag unternimmt, hat andere Gründe als die bisher genannten. Denn wen der Ehrgeiz zum Handeln treibt, der wagt sich nicht, wie es zuweilen den Tyrannen gegenüber vorkommt, des großen Reichtums und der hohen Ehre wegen in Gefahr. Aus solchen Gründen tun es vielmehr jene anderen, diese aber greifen die Alleinherrscher an, wie wenn dies eine der besonders hervorragenden Taten wäre, durch die man berühmt und unter den Menschen angesehen wird; sie wollen mit ihrem Angriff auf die Alleinherrscher nicht die Alleinherrschaft gewinnen, sondern den Ruhm. Freilich sind es nur sehr wenige, die aus diesem Grunde handeln; denn die Voraussetzung ist, daß man in keiner Weise an die eigene Rettung denken darf, falls das Vorhaben nicht gelingen sollte. Sie müssen sich, wozu freilich wohl nicht viele imstande sein werden, den Entschluß des Dion zum Vorbild nehmen, der mit ganz wenigen gegen Dionysios zog und sagte, wie immer die Sache fortginge, ihm genüge es, so weit zu gelangen, daß es, wenn er auch beim ersten kleinen Schritt ins Land sterben sollte, für ihn ein schöner Tod sein würde. Die Tyrannis geht auf die eine Weise zugrunde, wie jede andere Verfassung, von außen, wenn ein feindlicher Staat mit entgegengesetzter Verfassung übermächtig ist; daß dieser dann die Tyrannis stürzen will, ergibt sich aus dem bewußten Gegensatz. Und XXIX
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wer dazu die Macht hat, tut auch, was er will. Feindliche Gegensätze sind für die Tyrannis die Demokratie, so wie bei Hesiod der Töpfer dem Töpfer (denn die äußerste Demokratie ist mit der Tyrannis identisch), und dann das Königtum und die Aristokratie wegen des Gegensatzes der Verfassung (darum haben die Spartaner eine Menge von Tyrannenherrschaften beseitigt, und ebenso Syrakus, solange es eine gute Verfassung hatte). In anderer Weise geht sie durch sich selbst zugrunde, wenn jene, die sie stützen, uneins werden, wie etwa die Gruppe um Gelon und neulich diejenige um Dionysios: bei Gelon war es so, daß Thrasybulos, der Bruder Hierons, den Sohn Gelons zu einem ausschweifenden Leben verführte, um selbst zu regieren; die Verwandten dagegen sammelten sich, damit nur Thrasybulos und nicht die ganze Tyrannis unterginge; doch die Bürger nahmen die Gelegenheit wahr und vertrieben sie alle zusammen. Den Dionysios wiederum vertrieb Dion im Kriege, obschon er sein Verwandter war, aber mit Hilfe des Volkes, und kaum war dies geschehen, ging er selbst zugrunde. Von den zwei Ursachen, die es gibt, einer Tyrannis nachzustellen, Haß und Verachtung, begleitet der Haß den Tyrannen ständig; aber oftmals erfolgt ihr Sturz auch aus Verachtung. Ein Beweis ist: jene, die eine Tyrannis selbst erwarben, haben sie auch meist behaupten können, doch ihre Nachfolger sind fast alle sofort gestürzt worden. Denn diese leben im Genuß, werden verächtlich und geben ihren Feinden viele Blößen. Als einen Teil des Hasses muß man auch den Zorn auffassen. Denn er verursacht so ziemlich dieselben Handlungen. Zuweilen ist er noch tatkräftiger als der Haß, denn die Menschenhandeln energischer, weil die Leidenschaft nicht auf die Überlegung hört. Am meisten folgt der Zorn Beleidigungen; so ging die Herrschaft der Peisistratiden zugrunde und viele andere. Aber besser handelt der Haß. Denn der Zorn ist mit Kummer gemischt, so daß man nicht leicht planen kann; die Feindschaft dagegen ist ohne Kummer. Allgemein gesagt: alle die Ursachen, die wir für die Auflösung der vollendeten und ungemischten Oligarchie und der äußersten
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Demokratie genannt haben, gelten auch für die Tyrannis. Denn jene sind auch nur mehrteilige Tyrannenherrschaften. Das Königtum wird am wenigsten von außen zerstört, und darum hat es auch Dauer. Zumeist geht es durch sich selbst zugrunde, und zwar auf zwei Arten: entweder indem die Gefolgsleute des Königtums sich entzweien, oder dann, wenn die Könige tyrannisch zu werden suchen und sich zu große und gesetzwidrige Gewalt anmaßen. Gegenwärtig entstehen keine Königtümer mehr, sondern was entsteht, sind eher Alleinherrschaften und Tyrannenherrschaften. Denn das Königtum ist eine Herrschaft, die auf freiem Willen beruht und die wichtigsten Angelegenheiten beherrscht. Heute dagegen ist es so, daß es zwar viele Ebenbürtige gibt, aber keiner so ausgezeichnet ist, daß er der Größe und Würde der Königsherrschaft angemessen wäre. Darum erträgt man die Herrschaft von solchen ungern. Wenn aber dann einer durch Betrug oder Gewalt herrscht, dann scheint dies schon eine Tyrannis zu sein. Beim erblichen Königtum ist als Ursache des Untergangs zusätzlich zu nennen, daß dabei viele verächtliche Leute Könige werden und daß diese, obwohl ihre Macht nicht tyrannisch, sondern königlich sein sollte, ihre Stellung mißbrauchen. Dann ist ihr Sturz leicht. Wenn die Untertanen nicht mehr wollen, ist er kein König mehr; wer gegen ihren Willen herrscht, ist dann der Tyrann. Die Alleinherrschaften gehen also durch diese und andere Ursachen zugrunde. 11. Erhalten werden sie natürlich im allgemeinen durch das Gegenteil; im speziellen das Königtum dadurch, daß es Maß hält. Über je weniger sie nämlich herrschen, um so länger wird notwendigerweise ihre Herrschaft dauern. Sie selbst werden weniger despotisch und in ihrer Art zugänglicher und werden von den Untertanen weniger beneidet. Darum hatte das Königtum bei den Molottern einen so langen Bestand, und ebenso das der Spartaner, weil es von Anfang an in zwei Teile geteilt war, und weil dann erst noch Theopompos es unter anderm durch die Einsetzung des Ephorats weiter einschränkte. Indem XXXI
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er die Macht reduzierte, mehrte er die Dauer, so daß er das Königtum in gewissem Sinne nicht minderte, sondern mehrte. So soll er denn auch zu seiner Frau gesagt haben, als sie ihn fragte, ob er sich nicht schäme, das Reich seinen Söhnen geringer zu hinterlassen, als er es von seinem Vater ererbt habe: »Gewiß nicht, denn was ich ihnen hinterlasse, ist dauerhafter.« Die Tyrannenherrschaften werden auf zwei völlig entgegengesetzte Arten erhalten. Die eine ist die überlieferte, nach der die meisten Tyrannen ihre Herrschaft verwalten. Das meiste davon soll auf Periander von Korinth zurückgehen. Vieles kann man auch an dem persischen Reiche ablesen. Zum Teil ist es das bereits längst Angeführte, was so weit als möglich der Erhaltung der Tyrannis dient: die Überragenden beseitigen, die Stolzen wegschaffen und keine Syssitien gestatten, keine Klubs und keinerlei Erziehung und nichts dergleichen, sondern alles verhindern, woraus Stolz und gegenseitiges Vertrauen zu entstehen pflegen, ebenso auch keine Muße und feiertäglichen Zusammenkünfte gestatten, sondern alles tun, damit alle Bürger einander gegenseitig so fremd als möglich bleiben (denn wenn man sich kennt, gewinnt man leichter Vertrauen zueinander). Außerdem sollen die ansässigen Bürger immer kontrollierbar sein und sich stets außer dem Hause aufhalten; denn so können sie am wenigsten heimlich etwas unternehmen und werden sich an demütige Gesinnung gewöhnen, da sie immer in Knechtschaft gehalten werden. Dazu kommt, was sonst noch dergleichen persische und barbarische Tyrannensitten sind (denn all das bezweckt dasselbe). Weiterhin wird sich der Tyrann bemühen, stets zu wissen, was die Untertanen sagen oder tun; er unterhält Beobachter, wie in Syrakus die sogenannten Potagogiden, und wie Hieron die Otakusten aussandte, wo immer eine Zusammenkunft und eine Versammlung stattfand; denn dann reden die Menschen weniger offen, da sie diese Horcher fürchten, und wenn sie offen reden, wird es leichter bekannt. Außerdem wird der Tyrann die Menschen gegeneinander aufhetzen, Freunde untereinander und das Volk gegen die Angesehenen und die Reichen untereinander. Er wird auch die Untertanen arm machen, um seine eigene Wachmannschaft besolden zu können, und damit sie dauernd ihrem XXXII
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Lebensunterhalt nachgehen müssen und keine Zeit zu Konspirationen haben. Ein Beispiel dafür sind die ägyptischen Pyramiden, die Weihgeschenke der Kypseliden und der Bau des Olympions durch die Peisistratiden, dann die Bauten des Polykrates in Samos; denn all dies verfolgt dasselbe Ziel, Beschäftigung und Verarmung der Untertanen. Dazu kommen die Steuern wie in Syrakus, wo unter Dionysios im Verlauf von fünf Jahren sämtliche Vermögen als Steuern eingezogen wurden. Der Tyrann ist auch kriegerisch, damit die Leute beschäftigt sind und dauernd auf einen Anführer angewiesen. Das Königtum wird durch die Freunde erhalten, die Tyrannis dagegen durch das Mißtrauen gegenüber den Freunden, da alle dem Tyrannen ans Leben wollen, diese es aber am meisten können. Was ferner in der vollendeten Demokratie geschieht, ist alles auch tyrannisch, die Frauenherrschaft im Haus, damit sie über die Männer berichten, und zu demselben Zweck die Großzügigkeit den Sklaven gegenüber. Denn Sklaven und Frauen geben dem Tyrannen nichts zu fürchten, und wenn es ihnen gut geht, werden sie zwangsläufig sowohl der Tyrannis wie auch der Demokratie gegenüber loyal sein. Denn auch das Volk will Alleinherrscher sein. Darum wird auch der Schmeichler bei beiden geschätzt, in der Demokratie der Volksführer (der Volksführer ist ja der Schmeichler des Volks) und bei den Tyrannen diejenigen, die sich demütig und eben als Schmeichler benehmen. Darum liebt die Tyrannis auch die schlechten Menschen. Denn sie liebt, daß man ihr schmeichelt, und das wird keiner von freier Gesinnung tun, sondern die Anständigen lieben, aber sind keine Schmeichler. Zudem sind die Schlechten zu schlechten Taten zu gebrauchen; ein Nagel schlägt den andern, wie das Sprichwort sagt. Der Tyrann hat auch keine Freude an Würde und freier Art. Denn dergleichen erlaubt er nur sich allein, wer aber ihm gegenüber Würde und Freiheit bewahrt, raubt dem Tyrannen seine Überlegenheit und sein Herrentum. Solche Menschen werden dann wie Verschwörer gehaßt. So geht der Tyrann auch lieber mit ausländischen Freunden und Gästen um als mit einheimischen; denn diese sind seine Feinde, die andern sind gleichgültig.
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Solche Dinge also gehören zur Tyrannis und erhalten sie, und es fehlt dabei keine Schlechtigkeit. Man kann sie in drei Gruppen zusammenfassen. Denn die Tyrannis strebt nach drei Dingen, einmal nach Unterwürfigkeit der Untertanen (der Demütige stellt niemandem nach dem Leben), dann nach dem gegenseitigen Mißtrauen der Untertanen (denn die Tyrannis geht erst dann unter, wenn einige sich gegenseitig aufeinander verlassen können; darum bekämpfen sie auch die Anständigen, weil sie der Herrschaft gefährlich sind, und zwar nicht bloß darum, weil diese nicht despotisch regiert werden wollen, sondern auch darum, weil sie sich selbst und andern Vertrauen schenken und weder sich noch andere anklagen), und drittens nach deren Unfähigkeit zu handeln; denn keiner versucht Unmögliches, und keiner, der nicht die nötige Macht dazu hat, greift eine Tyrannis an. Das sind also die drei Gesichtspunkte, auf die sich die Politik der Tyrannen zurückführen läßt. Alle Maßnahmen der Tyrannen kann man von einem davon ableiten: daß sie einander mißtrauen, daß sie machtlos seien und daß sie unterwürfig seien. Dies ist also die eine Art, in der die Tyrannis erhalten wird. Die andere geht so ziemlich den entgegengesetzten Weg. Man kann ihn am Sturz der Königsherrschaften erkennen. Wie es nämlich eine Art des Untergangs des Königtums gibt, wenn die Herrschaft zu tyrannisch wird, so gibt es auch eine Art der Erhaltung der Tyrannis, indem sie königlicher wird; nur eins, die Macht, muß festgehalten werden, die Macht, nicht nur mit der Zustimmung, sondern auch gegen die Zustimmung der Untertanen regieren zu können. Wenn sie verlorengeht, ist auch die Tyrannis verloren. Aber dies gilt nur als allgemeine Voraussetzung; im übrigen soll er so handeln wie ein König, oder doch die Rolle eines Königs mit Geschick spielen. Zuerst soll er das Gemeinwohl zu bedenken scheinen und den Staatsbesitz nicht auf solche Geschenke verschleudern, die das Volk ärgern, wenn er nämlich von ihnen nimmt, was sie mit Mühe und Not sich erarbeiten, und es rücksichtslos Hetären, Ausländern und Künstlern verschenkt; er soll vielmehr über Einnahmen und Ausgaben Rechnung ablegen, wie das auch schon einige Tyrannen gemacht haben. Wer so regiert, wird als ein Hausverwalter und nicht als ein Tyrann angesehen XXXIV
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werden; er braucht ja auch nicht Angst zu haben, daß er einmal ohne Geld sein werde. Denn er ist Herr des Staates. Das Ausgeben ist insbesondere für die Tyrannen, die außer Landes weilen, nützlicher, als wenn sie aufgehäufte Schätze zurückließen. Denn dann braucht es für das Vermögen keine Wächter, diesich selbst die Reichtümer anzueignen versuchten. Dergleichen Wächter sind für Tyrannen, die außer Landes verreisen, gefährlicher als die Bürger. Denn die Bürger ziehen mit in den Krieg, die Wächter aber bleiben zu Hause. Weiterhin muß der Tyrann den Anschein erwecken, daß er die Steuern und öffentlichen Leistungen um der Staatsverwaltung willen einzieht und je nachdem für Kriegsfälle; und überhaupt muß er sich als Wächter und Verwalter des öffentlichen Besitzes geben, nicht seines eigenen. Er muß ferner nicht bösartig, sondern ernst wirken und so, daß ihn diejenigen, die er empfängt, nicht fürchten, sondern eher verehren. Dies ist freilich nicht leicht, da man sich da rasch der Verachtung aussetzt. Darum muß er, wenn nicht nach den sonstigen Tugenden, so doch nach der Kriegstüchtigkeit streben und entsprechenden Ruhm um sich verbreiten. Außerdem darf nicht bloß er selbst keinem der Untertanen eine sichtbare Schande antun, weder einem Knaben noch einem Mädchen, sondern auch keiner von seiner Umgebung. Ebenso sollen sich die Frauen seiner Umgebung zu den andern Frauen verhalten, denn durch den Übermut der Frauen sind schon viele Tyrannenherrschaften untergegangen. Was die physischen Genüsse angeht, so soll er es umgekehrt halten, als es einige gegenwärtige Tyrannen tun: diese treiben das nicht bloß vom frühen Morgen an und viele Tage hintereinander, sondern sie wollen sich auch den andern in diesem Zustand zeigen, damit man sie als glücklich und selig bewundere. Er soll also vor allem in diesen Dingen Maß halten oder es doch wenigstens vermeiden, sich dabei von den andern beobachten zu lassen; denn man verachtet und bedroht ja nicht den Nüchternen, sondern den Betrunkenen, und nicht den Wachenden, sondern den Schlafenden. Im übrigen soll er von allem vorhin Aufgeführten so ziemlich das Gegenteil tun. Er soll den Staat einrichten und schmücken nicht als XXXV
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Tyrann, sondern als Fürsorger. Er soll die Pflichten gegen die Götter immer sorgfältig zu beobachten scheinen; denn dann befürchten die Menschen von ihm weniger gesetzwidrige Handlungen, wenn sie den Regenten für fromm und gottesfürchtig halten, und dann stellen sie ihm auch weniger nach dem Leben, da sie annehmen, daß auch die Götter ihm beistehen. Doch soll dies ohne Schwächlichkeit geschehen. Wer in irgendeiner Sache tüchtig gewesen ist, den soll er so ehren, daß der Eindruck entsteht, auch in einem freien Staate könne die Ehre nicht größer sein; solche Ehren soll er persönlich verleihen, die Strafen dagegen soll er durch andere Beamte und durch die Gerichte vollziehen lassen. Ein gemeinsamer Schutz für alle Alleinherrschaften besteht darin, daß man nie einen Einzelnen groß werden läßt, sondern immer nur mehrere, die miteinander rivalisieren. Und wenn man doch einen Einzelnen erheben muß, so keinen Menschen von kühnem Charakter, denn dieser ist in allen Dingen zu rücksichtslosem Handeln fähig; und wenn man jemandem seine Kompetenzen wieder nehmen muß, so soll es allmählich geschehen und nicht alles auf einmal. Man soll sich vor jedem Übergriff hüten, vor allem in zwei Richtungen, in körperlichen Mißhandlungen und in Liebesdingen. Besonders hat man sich da vor den Ehrgeizigen zu hüten. Denn so wie die Geldgierigen eine Verletzung ihres Eigentums schwer nehmen, so nehmen die Ehrgeizigen und Anständigen eine Verletzung ihrer Ehre schwer. Er soll sich also entweder gar nicht auf solche Menschen einlassen, oder die Bestrafungen in väterlicher Art und ohne Verachtung vornehmen, Liebesumgang aus Leidenschaft und nicht aus Willkür suchen, und überhaupt alles, was als Herabsetzung aussieht, durch größere Ehren wieder wettmachen. Von jenen, die ihm nach dem Leben trachten, sind diejenigen die gefährlichsten und bedürfen am meisten der Überwachung, denen an ihrem eigenen Leben nichts liegt, wenn sie ihm nur das seine genommen haben. So muß man sich vor allem vor jenen hüten, die sich selbst oder ihnen nahestehende Menschen für beleidigt halten. Wer nämlich im Zorn handelt, kennt keine Rücksicht auf sich selbst,
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wie auch Heraklit meint, wenn er sagt, es sei schwer, mit dem Zorne zu kämpfen; denn er erkaufe das Seinige um das Leben. Da nun die Staaten aus zwei Teilen zusammengesetzt sind, Armen und Reichen, so wäre es das beste, wenn beide Teile an der Erhaltung der Herrschaft interessiert wären, und insofern keiner durch den anderen Unrecht erlitte. Wo aber die eine Gruppe stärker ist, muß man vorzugsweise sie an die Herrschaft binden, damit, wenn ein Notstand eintritt, der Tyrann nicht gezwungen wird, die Sklaven freizugeben oder die Waffen einzuziehen. Denn dann genügt es, daß jener eine Teil sich mit ihm solidarisch erklärt, damit er dann die Aufständischen überwältigen kann. Es ist nicht notwendig, dies im einzelnen darzulegen. Das allgemeine Ziel ist klar: der Tyrann soll vor seinen Untertanen als Verwalter und König auftreten, nicht als Usurpator, sondern als Fürsorger; er soll sich im Leben an das Maß halten und das Übermaß vermeiden, mit den Angesehenen Umgang haben und die Menge zu führen suchen. Dann wird die Herrschaft nicht nur edler und begehrenswerter, weil sie über bessere Menschen geführt wird und nicht über gedemütigte, und wird nicht gehaßt oder gefürchtet, sondern auch ihre Dauer wird länger sein; und der Tyrann selbst wird seinem Charakter nach zur Tugend geneigt oder doch halbwegs tugendhaft sein, nicht schlecht, sondern nur halbwegs schlecht. 12. Allerdings sind die Oligarchie und die Tyrannis die kurzlebigsten aller Staatsformen. Am längsten dauerte die Tyrannis des Orthagoras und seiner Nachkommen in Sikyon; sie bestand hundert Jahre lang. Ursache war, daß sie mit den Untertanen maßvoll umgingen, sich zumeist an die Gesetze hielten, und da Kleisthenes kriegerisch war, so wurde er nicht verachtet, und außerdem gewannen sie die Menge durch Fürsorge für sich. Es heißt, Kleisthenes soll den Kampfrichter, der ihm den Sieg absprach, selbst bekränzt haben. Einige behaupten, das Sitzbild auf dem Markte sei eben das Bild jenes Richters (auch Peisistratos soll einmal einer Vorladung vor den Gerichtshof des Areopag Folge geleistet haben). Am zweitlängsten dauerte die Tyrannis der Kypseliden in Korinth. Denn sie dauerte 73 Jahre und XXXVII
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sechs Monate: Kypselos regierte 30 Jahre, Periander 40 Jahre und ein halbes, Psammetichos, der Sohn des Gorgos, 3 Jahre. Auch da gelten dieselben Ursachen. Kypselos war ein Volksführer und regierte stets ohne Leibwache, Periander wurde zwar ein Tyrann, war aber kriegstüchtig. Die drittlängste ist die Herrschaft der Peisistratiden in Athen; sie war aber nicht kontinuierlich. Denn zweimal wurde Peisistratos aus der Tyrannis vertrieben, und so regierte er in einem Zeitraum von 33 Jahren während 17 Jahren, seine Söhne aber 18 Jahre, so daß es im ganzen 3 5 Jahre werden. Unter den übrigen ist diejenige des Hieron und Gelon von Syrakus hervorzuheben. Sie bestand freilich nicht lange, im ganzen nur i8 Jahre: Gelon regierte 7 Jahre lang und starb im achten Jahre, Hieron Io, und Thrasybulos wurde im elften Monat vertrieben. Die Mehrzahl der Tyrannenherrschaften hat nur ganz knappe Zeit gedauert. So ist denn allgemein über die Politien und die Monarchien insgesamt gesagt, wie sie untergehen und wie sie sich erhalten. Auch Sokrates spricht im >Staate< über diese Veränderungen, aber nicht in richtiger Weise. Denn er nennt nicht die besondere Form der Veränderung der vollkommensten und ersten Staatsform. Er gibt als Ursache an, daß nichts beharrt, sondern alles in bestimmter Periodik sich wandelt, und das Prinzip davon sei die Zahl, »deren eine drittelfache Wurzel mit fünf multipliziert zwei Proportionszahlen ergibt, wenn nämlich die Zahl der betreffenden Figur zu einer körperlichen gemacht werde«, wobei er meint, daß die Natur zuweilen schlechte und jeder Erziehung widerstrebende Menschen hervorbringe; dies ist an sich nicht falsch (denn es kann Menschen geben, die unfähig sind, erzogen und tugendhafte Menschen zu werden), aber inwiefern soll dies den Übergang aus der von ihm als vollkommen bezeichneten Staatsform eigentümlicher begründen als den aus irgendeiner andern vorhandenen oder noch möglichen Staatsform? Wenn außerdem nach ihm durch die Zeit sich alles verändert, dann wird sich auch, was nicht gleichzeitig begonnen hat, doch gleichzeitig verändern, und wenn es am letzten Tag vor der Wende entstanden ist, so soll es sich gleichwohl mit dem andern zusammen verändern? Und weiterhin: aus welcher Ursache soll sich XXXVIII
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die beste Verfassung gerade in die spartanische verändern? Denn alle Verfassungen verwandeln sich häufiger in eine entgegengesetzte als in die nächstverwandte. Dasselbe gilt auch von den weiteren Veränderungen. Er sagt nämlich, daß von der spartanischen Verfassung der Umschlag in die Oligarchie erfolgt, von dieser in die Demokratie und aus dieser schließlich in die Tyrannis. Es gibt aber auch die umgekehrten Übergänge, aus der Demokratie in die Oligarchie, und dies sogar noch häufiger als in eine Alleinherrschaft. Ferner sagt er überhaupt nicht, ob es nach der Tyrannis eine weitere Veränderung gibt oder nicht, und wenn es sie gibt, aus welcher Ursache und in was für eine Staatsform. Die Ursache davon ist, daß er das wohl nicht leicht hätte sagen können. Es ist unbestimmbar, da sie ja nach ihm wieder in die erste und beste Staatsform zurückgehen müßte; denn nur so gibt es eine Kontinuität und einen Kreis. Aber zuweilen schlägt eine Tyrannis auch in eine andere Tyrannis um, wie in Sikyon diejenige des Myron in diejenige des Kleisthenes, oder in eine Oligarchie, wie in Chalkis diejenige des Antileon, oder in eine Demokratie, wie diejenige des Gelon in Syrakus, oder endlich in eine Aristokratie, wie die des Charilaos in Sparta oder diejenige in Karthago. Umgekehrt gibt es Übergänge in die Tyrannis von der Oligarchie, wie in Sizilien bei fast allen früheren Tyrannenherrschaften: in Leontinoi in die Tyrannis des Panaitios, in Gela in diejenige des Kleandros, in Rhegion in diejenige des Anaxilaos usw. Unsinnig ist es auch, zu meinen, daß der Übergang zur Oligarchie darum stattfinde, weil die Regierenden geld und erwerbsgierig seien, und nicht eher darum, weil die an Reichtum weit überlegenen es für ungerecht halten, daß die Besitzenden und die Besitzlosen im Staate die gleichen Rechte hätten. Denn in vielen Oligarchien ist der Gelderwerb verboten von Gesetzes wegen, in Karthago dagegen, das demokratisch regiert wird, ist er gestattet, und dennoch hat man noch keine Verfassungsänderung vorgenommen. Unsinnig ist es weiterhin, zu behaupten, in der Oligarchie bestünden zwei Staaten, einer der Reichen und einer der Armen. Denn dann wäre dies auch der Fall in Sparta und in jedem beliebigen andern Staate, wo XXXIX
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nicht alle gleich viel besitzen und nicht alle gleich tüchtig sind. Und auch wenn kein einziger ärmer geworden ist, als er vorher war, geht man dennoch von der Oligarchie zur Demokratie über, wenn die Armen die Mehrzahl werden, und aus der Demokratie zur Oligarchie, wenn die Besitzenden mächtiger sind als die Menge, und die einen auf der Hut sind und die andern nicht. Es gibt also viele Ursachen, aus denen Veränderungen eintreten können; doch er nennt nur eine einzige, daß die Menschen durch verschwenderisches Leben in Schulden geraten und arm werden, als ob am Anfang alle oder doch die meisten reich gewesen wären. Dies ist also falsch. Wenn aber von den Führern des Staates einige ihr Vermögen verlieren, dann schreiten sie zu Umsturz, tun es aber andere, dann geschieht nichts Schlimmes; und auch in jenem Falle geschieht der Umschlag ebensosehr in irgendeine sonstige Staatsform wie in die Demokratie. Revolutionen gibt es auch, wenn man von den Ämtern ausgeschlossen ist oder ungerecht behandelt oder beleidigt wird, auch wenn man durchaus nicht sein Vermögen aufgebraucht hat... weil man tun darf, was man will. Dafür nennt Sokrates als Ursache die allzu große Freiheit. Es gibt also viele Arten von Oligarchien und Demokratien; Sokrates spricht aber bei der Behandlung der Übergänge so, als ob es in jedem Falle nur eine einzige Art gebe.
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Sechstes Buch 1. Wie viele und welcher Art die Unterschiede in der beratenden und regierenden Staatsgewalt und in der Ordnung der Behörden und Gerichte sind, und welche Art welcher Staatsform zugeordnet ist, ferner über Untergang und Bewahrung der Staatsformen, wie dies zustande kommt und aus was für Ursachen, darüber haben wir nun gesprochen. Da es nun aber mehrere Formen der Demokratie gibt und ebenso der andern Staatsformen, und da vielleicht über sie alle noch einiges zu sagen übrig bleiben mag, so wird es nicht unzweckmäßig sein, darüber zu sprechen und bei jeder die dazugehörige und angemessene Art zu nennen. Ferner haben wir auch die Kombinationen aller der genannten Formen zu untersuchen. Denn diese Verbindungen machen, daß die Staaten sich verändern, so daß es Aristokratien von oligarchischem und Politien von demokratischem Charakter gibt. Unter den Verbindungen, die wir nun zu prüfen haben, und die bisher noch nicht betrachtet waren, verstehe ich etwa solche, daß der Rat und die Beamtenwahlen oligarchisch geordnet sind, die Gerichtshöfe aber aristokratisch, oder umgekehrt, diese und der Rat oligarchisch und die Beamtenwahlen aristokratisch, oder daß auf irgendeine andere Weise nicht alles vereinigt ist, was einer einzelnen Staatsform eigentümlich ist. Was für eine Demokratie nun was für einem Staate angemessen ist und welche Art von Oligarchie welcher Bevölkerung, und ebenso von den übrigen Staatsformen, welche welcher zuträglich ist, ist früher ausgeführt worden. Aber wir müssen nicht nur wissen, welche von diesen Verfassungen für die Staaten die beste ist; sondern auch, wie man diese und die übrigen organisieren muß, sei in Kürze dargestellt. Zuerst wollen wir von der Demokratie sprechen. Dann wer-den wir auch über die ihr entgegengesetzte Staatsverfassung klar werden, nämlich jene, die von einigen Oligarchie genannt wird. Für diese Untersuchung muß man alle demokratischen Einrichtungen zusammennehmen und ebenso, was sonst zur Demokratie zu gehören scheint. Denn aus der Zusammensetzung dieser Dinge scheinen sich I
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die Formen der Demokratie zu ergeben, und zwar nicht nur eine, sondern mehrere undverschiedene Demokratien. Und zwar gibt es mehrere Demokratien aus zwei Ursachen. Die eine ist die früher genannte, daß das Volk ein verschiedenes ist (denn bald besteht die Menge aus Bauern, bald aus Handwerkern und Tagelöhnern. Wenn hiervon das erste mit dem zweiten zusammengenommen wird und zu diesen beiden Gruppen wieder die dritte, so verändert sich die Demokratie nicht bloß zum Bessern oder Schlechtern, sondern ist überhaupt nicht mehr dieselbe). Die zweite Ursache ist die, von der wir jetzt reden wollen: was zur Demokratie gehört und dieser Staatsform eigentümlich zu sein scheint, macht je nach seiner Zusammensetzung die Demokratie zu einer andern. Denn bald sind weniger von diesen Elementen vorhanden, bald mehrere, bald alle. Nützlich ist es, jedes einzelne davon zu kennen, um diejenige Art von Demokratie einrichten zu können, die man gerade bevorzugt, und um Korrekturen anzubringen. Denn jene, die Verfassungen ausarbeiten, suchen alles ihrem Plane Entsprechende zusammenzubringen und verfehlen sich eben darin, wie vorhin in den Untersuchungen über Untergang und Erhaltung der Verfassungen gesagt worden war. Jetzt wollen wir von den Voraussetzungen, Charakteren und Zielen der verschiedenen Verfassungen sprechen. 2. Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit; man pflegt nämlich zu behaupten, daß die Menschen nur in dieser Staatsform an der Freiheit teilhaben, und erklärt, daß danach jede Demokratie strebe. Zur Freiheit gehört aber erstens, daß man abwechselnd regiert und regiert wird. Denn die demokratische Gerechtigkeit besteht darin, daß man nicht der Würde, sondern der Zahl nach die Gleichheit walten läßt; wo diese Gerechtigkeit herrscht, da muß die Menge Herr sein, und was die Mehrzahl billigt, das muß das Gültige und das Gerechte sein. Man sagt nämlich, es sei gerecht, daß jeder Bürger das Gleiche habe. So sind denn in den Demokratien die Armen mächtiger als die Reichen. Denn sie sind zahlreicher, und maßgebend ist die Meinung der Mehrzahl. Dies ist also das eine Zeichen der Demokratie, das alle Demokraten als Wesenszug dieser II
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Verfassungsform angeben. Ein anderes ist, daß man leben kann, wie man will. Sie sagen, dies eben sei die Leistung der Demokratie; denn nicht zu leben, wie man wolle, sei charakteristisch für Sklaven. Dies ist also die zweite Eigenschaft der Demokratie. Von da her kommt denn, daß man sich nicht regieren läßt, am besten von überhaupt niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. Auch dies trägt also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei. Da nun dies vorausgesetzt wird und dies die Regierungsform ist, so ergibt sich das Folgende als demokratisch: alle Ämter werden aus allen besetzt, alle herrschen über jeden und jeder abwechslungsweise über alle. Ferner werden die Ämter durchs Los besetzt, entweder alle oder doch jene, die nicht der Erfahrung und Kenntnisse bedürfen. Von der Vermögenseinschätzung hängen die Ämter entweder überhaupt nicht oder nur zu einem minimalen Grade ab. Keiner darf ein Amt zweimal bekleiden, oder nur wenige Male oder in wenigen Fällen, abgesehen von den Kriegsämtern. Die Ämter sind alle kurzfristig, oder doch alle, bei denen es möglich ist. Richter sind alle und können aus allen entnommen werden und richten über alles oder doch über das Meiste, Größte und Bedeutendste, wie über Rechenschaftsablagen, Verfassungsfragen und Privatverträge. Die Volksversammlung entscheidet über alles oder doch das Wichtigste, die Behörden dagegen über nichts oder nur ganz weniges. Von den Behörden ist der Rat das demokratischste, dort jedenfalls, wo nicht reichliches Taggeld für jeden zur Verfügung steht. Wo aber dies der Fall ist, da werden auch dieser Behörde die Kompetenzen entzogen. Denn wo eine Volksversammlung in der Lage ist, reichliche Taggelder zu geben, da zieht sie alle Entscheidungen an sich, wie wir schon in der vorangehenden Untersuchung gesagt haben. Ferner werden Taggelder gewährt für alles, wenn möglich (für Volksversammlung, Gerichte, Behörden), oder doch wenigstens für Behörden, Gerichte, Rat und die wichtigsten Volksversammlungen oder doch diejenigen Behörden, die zusammen zu speisen haben. Wenn ferner die Oligarchie durch Adel, Reichtum und Bildung charakterisiert wird, so scheint die Demokratie von alledem das Gegenteil zu sein, Unadligkeit, Armut, Unbildung. Bei den Ämtern III
Aristoteles Politik - VI. Buch
gilt, daß keines lebenslänglich sein darf. Bleibt aber ein solches aus einem früheren Zustand übrig, so wird seine Kompetenz beschränkt und aus der Wahl eine Auslosung gemacht. Dies sind also die gemeinsamen Eigenschaften aller Demokratien. Aus der Gerechtigkeit, die anerkanntermaßen als demokratisch gilt (nämlich daß alle der Zahl nach dasselbe haben), entspricht eben jene Verfassung, die am meisten demokratisch und volkstümlich zu sein scheint. Denn die Gleichheit besteht darin, daß Arme und Reiche in gleicher Weise regieren, daß nicht Einzelne allein entscheiden, sondern alle gleichmäßig ihrer Zahl nach. So, meint man wohl, sei für die Verfassung die Gleichheit und die Freiheit garantiert. 3. Danach stellt sich die Frage, wie man faktisch zu dieser Gleichheit kommt. Soll man die Steuerleistung der fünfhundert Vermögendsten auf tausend aufteilen und so, daß die tausend gleiche Befugnisse haben wie die fünfhundert? Oder soll man die Gleichheit in diesem Sinne nicht so auffassen, sondern zwar so berechnen, aber dann aus den fünfhundert ebenso viele auswählen wie aus den tausend und dann diese zu entscheidenden Instanzen bei Wahlen und bei den Gerichten machen? Wäre nun dies die gerechteste Verfassung im Sinne der demokratischen Gerechtigkeit oder eher jene, die sich nach der Zahl richtet? Denn die Demokraten erklären, gerecht sei, was die Mehrzahl billige, die Oligarchen dagegen, was das größere Vermögen billige. Denn sie sagen, man müsse sich nach dem Umfang des Vermögens richten. In beiden Fällen entsteht eine Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Denn wenn geschieht, was die Wenigen wollen, so haben wir eine Tyrannis (wenn nämlich ein Einzelner noch mehr besäße als die anderen Vermögenden, so wäre er nach der oligarchischen Gerechtigkeit allein zu regieren befugt). Regiert aber die zahlenmäßige Mehrzahl, so werden sie Unrecht tun, indem sie den Besitz der wenigen Reichen konfiszieren, wie wir schon früher gesagt haben. Welches nun die Gleichheit ist, in der beide Teile übereinstimmen könnten, wird sich aus dem jeweiligen Begriff der Gerechtigkeit bei beiden zeigen. Sie sagen einmal, daß das, was die Mehrzahl der IV
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Bürger billige, maßgebend sein solle. Das mag gelten, aber nicht in jedem Falle, sondern, wenn es zwei Teile sind, aus denen der Staat besteht, die Reichen und die Armen, so muß eben das, was beide Teile oder die Mehrheit in beiden billigt, maßgebend sein. Wollen sie aber das Gegenteil, dann soll gelten, was die Mehrzahl und die höher Besteuerten wollen. Es seien also etwa die einen zehn, die andern zwanzig, und von den Reichen stimmen sechs zu und von den Armen fünfzehn. Zu den Armen kommen nun vier von den Reichen hinzu und von den Armen fünf zu den Reichen. Bei welchen nun die Steuereinschätzung größer ist, wenn man beide auf beiden Seiten zusammenzählt, deren Stimme soll maßgebend sein. Wenn auf beide Seiten gleich viel entfällt, so muß dies dieselbe Schwierigkeit ergeben wie jetzt, wenn die Volksversammlung oder der Gerichtshof zu Stimmengleichheit kommt. Da muß man das Los entscheiden lassen oder etwas anderes dieser Art tun. Aber mag es auch noch so schwierig sein, das Richtige in bezug auf die Gleichheit und Gerechtigkeit zu finden, es ist immer noch leichter, als jene zu überreden, die in der Lage sind, Gewalt anzuwenden. Denn es sind immer die Schwächeren, die die Gleichheit und die Gerechtigkeit anstreben, die Stärkeren aber kümmern sich nicht darum. 4. Es gibt vier Arten von Demokratie, und die beste ist die in der Rangordnung erste, wie es in den vorangehenden Untersuchungen gesagt wurde. Sie ist auch die älteste von allen. Ich nenne sie die erste in dem Sinne, wie man etwa die verschiedenen Volksgruppen unterscheidet. Die beste Gruppe ist die der Bauern, so daß man auch die entsprechende Demokratie dort einrichten kann, wo das Volk von Landwirtschaft oder Viehzucht lebt. Weil diese kein großes Vermögen haben, sind sie beschäftigt und können also nicht viele Volksversammlungen abhalten. Weil sie aber gerade das Notwendige besitzen, so halten sie sich bei ihrer Arbeit auf und begehren nicht nach fremden Dingen, und es ist ihnen lieber, zu arbeiten, als Politik zu treiben und zu regieren, außer, wo die Ämter große Gewinne abwerfen. Denn die Mehrzahl der Leute strebt mehr nach Gewinn als V
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nach Ehre. Ein Beweis ist, daß sie die alten Tyrannenherrschaften ausgehalten haben und auch die Oligarchien aushalten, wenn einer sie nicht am Arbeiten hindert und ihnen nichts wegnimmt; denn da werden die einen rasch reich, und die andern werden jedenfalls nicht arm. Auch das Recht, Behörden zu wählen und zur Rechenschaft zu ziehen, befriedigt ihr Bedürfnis nach Ehrgeiz, soweit sie ein solches haben. In einigen Demokratien sind die Leute sogar zufrieden, auch wenn sie nicht an der Beamtenwahl mitmachen dürfen, sondern dies nur bestimmte Einzelne tun, die abwechslungsweise aus der Gesamtheit ausgewählt werden, wie in Mantinea, und das Volk nur ein Recht auf Beratung besitzt. (Und man muß wohl annehmen, daß auch dies, wie es einmal in Mantinea gewesen ist, eine Form der Demokratie darstellt.) So ist es auch für die vorhin genannte Demokratie zuträglich und kommt auch öfters vor, daß zwar die Behörden gewählt werden, und daß alle Recht sprechen und zur Rechenschaft ziehen, daß aber die höchsten Behörden auf Grund der Steuereinschätzung gewählt werden, und zwar die höheren auf Grund der höheren, oder auch, daß gar kein Amt nach der Steuereinschätzung vergeben wird, sondern gemäß der Fähigkeit. Eine solche Staatsverfassung muß gut sein (denn die Ämter werden immer durch die Besten verwaltet, und das Volk will es so und beneidet die Anständigen nicht), und für die Anständigen und Angesehenen genügt diese Ordnung. Denn sie werden dann nicht von andern regiert, die schlechter sind als sie, und sie werden gerecht regieren, da andere das Recht haben, sie zur Rechenschaft zu ziehen. An andere gebunden zu sein und nicht alles tun zu dürfen, was man will, ist nämlich zuträglich; denn die Freiheit, zu tun, was man will, vermag nicht das Schlechte, das sich in jedem Menschen findet, zu zügeln. So muß also eintreten, was für die Verfassungen das Nützlichste ist, daß die Anständigen ohne Fehler regieren und das Volk nicht zu kurz kommt. Es ist also klar, daß dieses die beste Form der Demokratie ist, und aus welcher Ursache: weil nämlich das Volk eine bestimmte Art hat. Um VI
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das Volk aber zu einem ackerbauenden zu machen, gibt es einige unter den in alter Zeit bei den Meisten vorhandenen Gesetzen, die äußerst nützlich sind, etwa, daß man überhaupt nicht mehr als ein bestimmtes Maß an Land besitzen darf, oder nur in einer bestimmten Distanz vom städtischen Markt und den Amtssitzen; in vielen Staaten war es in alter Zeit auch Gesetz, daß man die ersten Landlose nicht verkaufen dürfe. Etwas Ähnliches bewirkt auch das sogenannte Gesetz des Oxylos, wonach man auf einen bestimmten Teil des jedem zugehörigen Landes keine Hypotheken aufnehmen dürfe. Bei den gegenwärtigen Verhältnissen muß man sich auch nach dem Gesetz der Aphytaier richten. Dieses ist gerade in unserem Sinne nützlich. Denn obschon jene zahlreich sind und nur wenig Land besitzen, sind doch alle insgesamt Landwirte. Sie werden für die Steuer nicht nach ihrem gesamten Besitze eingeschätzt, sondern dieser wird in so kleine Teile aufgespalten, daß auch die Armen steuerlich eingeschätzt werden und das Übergewicht erhalten können. Nächst dem Landwirtschaft treibenden Volke ist das beste dasjenige, das aus Hirten besteht und sich von der Viehzucht ernährt. Denn dieses ist einem Bauernvolke sehr ähnlich, und für kriegerische Unternehmungen sind diese nach ihrer Verfassung am meisten geübt, körperlich tüchtig und leicht fähig, unter freiem Himmel zu leben. Fast alle andern Volkstypen, aus denen sich die übrigen Demokratien zusammensetzen, sind bedeutend schlechter als diese. Denn ihre Lebensweise ist schlecht, und von den Arbeiten, die die Masse der Kleinhandwerker, der Marktleute und der Taglöhner in Angriff nimmt, ist keine einzige, die Tugend erfordert. Und weil sich solche Leute dauernd um den Markt und die Stadtmitte herumtreiben, sind sie so ziemlich alle auch leicht zu Volksversammlungen bereit. Die Bauern dagegen leben auf dem Lande verstreut, begegnen einander selten und haben auch nicht das Bedürfnis nach solchen Zusammenkünften. Wo außerdem das Kulturland so gelegen ist, daß es sich weitab von der Stadt befindet, da ist es leicht, eine tüchtige Demokratie und Staatsverfassung einzurichten. Denn da ist das Volk gezwungen, sich auf dem Lande anzusiedeln, und auch wenn es da eine städtische Bevölkerung gibt, so wird es eine Demokratie eben so einrichten VII
Aristoteles Politik - VI. Buch
müssen, daß keine Volksversammlungen ohne die Landbevölkerung abgehalten werden dürfen. Wie man nun also die erste und beste Demokratie einrichten soll, ist gesagt. Klar ist es aber auch, wie es mit den andern steht. Man muß nämlich Schritt für Schritt abweichen und immer wieder den schlechteren Teil der Bevölkerung beiseite schieben. Die extremste Form der Demokratie, an der alle Gruppen teilhaben, kann nicht jeder Staat aushalten; sie kann auch nicht leicht bestehen bleiben, wenn sie nicht durch Gesetze und Gewohnheiten gut beisammengehalten wird (von dem, was diese und die andern Verfassungen zu ruinieren vermag, haben wir vorhin schon das meiste gesagt). Um nun eine solche Demokratie zustande zu bringen und das Volk stark zu machen, pflegen die Anführer so viele Menschen als möglich zu sammeln und zu Bürgern zu machen, nicht nur die echtbürtigen, sondern auch die unebenbürtigen und jene, von denen nur der eine Elternteil, Vater oder Mutter, Bürger ist. Denn dies alles ist vorzugsweise einer solchen Demokratie eigentümlich. Die Volksführer pflegen denn auch so vorzugehen. Man soll aber nur so lange neue Bürger zulassen, bis die Menge des gewöhnlichen Volkes die Zahl der Angesehenen und Mittleren überwiegt, und darüber nicht hinausgehen. Denn tut man dies, so macht man die Verfassung allzu ungeordnet und reizt die Angesehenen auf, die Demokratie nur noch mit Widerwillen zu ertragen, wie dies die Ursache des Aufstandes in Kyrenewar. Wenig Schlechtes übersieht man nämlich; wird es dagegen viel, so fällt es eher in die Augen. Außerdem sind für eine derartige Demokratie auch Einrichtungen von solcher Art nützlich, wie sie Kleisthenes in Athen eingeführt hat, um die Demokratie zu stärken, und wie es die Schöpfer der Demokratie in Kyrene gemacht haben. Man muß nämlich neue und zahlreiche Stammesverbände und Geschlechterverbände einrichten und die Einrichtungen der privaten Kulte auf wenige öffentliche Kulte konzentrieren und alles so berechnen, daß so weit als möglich alle mit allen vermischt und die früheren Verbindungen zerrissen werden. Auch die Einrichtungen der Tyrannen scheinen alle demokratisch zu sein, ich meine etwa die Unkontrolliertheit der Sklaven (was bis zu VIII
Aristoteles Politik - VI. Buch
einem gewissen Grade förderlich sein kann) und der Frauen und Kinder, und die Läßlichkeit, jeden leben zu lassen, wie er will. Denn dann wird es vieles geben, was einen solchen Staat stützt: die Mehrzahl will lieber ungebunden leben als in Zucht. 5. Für den Gesetzgeber und für jene, die eine solche Verfassung einrichten wollen, ist die größte und einzige Aufgabe nicht die, sie zu begründen, sondern vielmehr, sie zu erhalten. Denn daß irgendeine Verfassung einen, zwei oder drei Tage bestehen bleibt, hat keine Schwierigkeit. Darum muß man auf unsere frühere Frage, wodurch eine Verfassung erhalten bleibt und zugrunde geht, zurückgreifen und versuchen, auf Grund davon die Sicherheit herzustellen, das Verderbliche zu meiden und solche Gesetze zu geben, geschriebene wie ungeschriebene, die vor allem umfassen, was die Verfassungen erhält. Man darf nicht meinen, dies sei demokratisch oder oligarchisch, was den Staat im höchsten Grade demokratisch oder oligarchisch macht, sondern das, was ihn die längste Zeit in dieser Verfassung hält. Die gegenwärtigen Volksführer allerdings wollen sich beim Volke in Gunst setzen und lassen durch die Gerichte viele Vermögen konfiszieren. Darum müssen jene, denen diese Verfassung am Herzen liegt, sich gerade dagegen wehren und gesetzlich festlegen, daß das Vermögen der Verurteilten nicht öffentliches Gut werde und der Allgemeinheit zugute komme, sondern dem Kulte. Auf diese Weise werden die Übeltäter nicht weniger vorsichtig sein (denn sie werden in derselben Weise wie bisher gestraft), das Volk aber wird weniger Verurteilungen aussprechen, da es nichts davon erhalten wird. Ferner muß man die auf Konfiskation zielenden Prozesse möglichst beschränken und durch hohe Bußen leichtfertige Anklagen verhindern. Denn man pflegt ja nicht Leute aus dem Volke, sondern die Angesehenen vor Gericht zu bringen; aber es gilt, daß auch dieser Verfassung möglichst alle Bürger loyal gegenüberstehen oder doch wenigstens die Regierenden nicht für Feinde halten. Da weiterhin die extremen Demokratien menschenreich sind und man da nicht leicht ohne Taggeld an den Volksversammlungen teilnehmen IX
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kann, diese Einrichtung aber dort, wo es nicht regelmäßige Staatseinkünfte gibt, den Angesehenen gefährlich ist (denn dann muß das Geld durch Vermögensabgaben und Konfiskationen und unkorrekt geführte Prozesse eingebracht werden, was schon manchen Demokratien zum Verderben geworden ist); wo es also keine solchen Einkünfte gibt, da darf man nur wenige Volksversammlungen veranstalten, und Gerichtshöfe mit vielen Richtern, aber wenigen Sitzungstagen (denn das führt dazu, daß die Reichen die Ausgaben nicht scheuen, wenn die Wohlhabenden keinen Richterlohn erhalten, sondern nur die Armen; es trägt auch dazu bei, daß die Prozesse viel gerechter entschieden werden. Denn die Wohlhabenden wollen nicht viele Tage von ihren privaten Angelegenheiten fern sein, sondern nur für kurze Zeit). Wo es indessen Einkünfte gibt, da darf man nicht tun, was jetzt die Volksführer tun: sie verteilen nämlich den Überschuß, und die Leute empfangen und verlangen sofort wieder nach demselben; eine solche Hilfe an die Armen ist nämlich wie ein durchlöchertes Faß. Der wahrhafte Demokrat muß also vielmehr darauf schauen, daß das Volk nicht gar zu arm werde. Denn dies ist die Ursache, wenn eine Demokratie schlecht wird. Man muß es also so einrichten, daß eine dauernde Wohlhabenheit entstehe; denn dies nützt auch den Wohlhabenden. Man soll den Ertrag der Staatseinkünfte sammeln und aufhäufen und dann ganz den Armen verteilen, und zwar womöglich auf jeden so viel, daß es zum Ankauf eines Landstückes reicht, oder doch wenigstens als Anfangskapital für ein Geschäft oder einen Bauernbetrieb. Wenn dies nicht für alle möglich ist, so soll man doch nach Stammesgenossenschaften oder nach sonstigen festen Gruppen verteilen. Dabei sollen die Wohlhabenden das Taggeld für die notwendigen Zusammenkünfte aufbringen, dafür aber von unnützen Lasten befreit werden. Auf eine solche Weise etwa sind die Karthager organisiertund haben sich das Volk zum Freunde gemacht. Denn sie schicken immer wieder Leute aus dem Volk in die umliegenden Gebiete und machen sie damit wohlhabend. Es ist auch ein Zeichen von Liebenswürdigkeit und
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Klugheit der Angesehenen, wenn sie immer wieder die Armen unterstützen, ihnen Kapital geben und sie einer Arbeit zuleiten. Ausgezeichnet wäre es auch, die Einrichtung der Tarentiner nachzuahmen. Jene stellen den Besitz den Armen zu gemeinsamem Gebrauche zur Verfügung und machen sich so das Volk wohlgesinnt. Außerdem haben sie überall zwei Arten von Ämtern unterschieden, erwählte und ausgeloste: die erlosten, damit auch das Volk an ihnen Anteil hat, die erwählten, damit sie besser regiert werden. Man kann es auch so machen, daß man bei derselben Behörde aufteilt und die einen Mitglieder wählen, die andern auslosen läßt. Damit ist gesagt, wie man die Demokratien einrichten soll. 6. Daraus ergibt sich auch ungefähr, wie man es mit den Oligarchien zu halten hat. Man muß nämlich jede einzelne Oligarchie vom Gegenteil her konstruieren und sie mit der ihr entgegenstehenden Demokratie vergleichen, zunächst die erste und am besten gemischte: sie ist der sogenannten Politie nahe. Man muß da eine doppelte Steuereinschätzung einführen, eine niedere und eine höhere, die niedere, auf Grund deren man an den subalternen Ämtern teilnehmen kann, die höhere, die zu den entscheidenderen Zutritt gibt. Wer unter die Steuereinschätzung fällt, hat das Recht, an der Staatsleitung teilzunehmen, und man wird auf Grund der Steuereinschätzung so viele Leute aus dem Volke zuziehen, daß man mit ihnen zusammen über jene, die an den Bürgerrechten nicht teilnehmen, überlegen ist. Immer muß man aber diese Teilnehmer aus den besseren Gruppen des Volkes heranziehen. Ebenso muß man die nächstfolgende Oligarchie einrichten, indem man ein wenig schärfer oligarchisch regiert. Die der extremen Demokratie entgegengesetzte Oligarchie, die dem Absolutismus und der Tyrannis am nächsten kommt, bedarf um so größerer Fürsorge, da sie die schlechteste ist. Denn so wie gesunde und wohl disponierte Körper und Schiffe, die den Seeleuten für die Fahrt gut zur Hand sind, manche Fehlgriffe zu überstehen vermögen, ohne durch sie zugrunde zu gehen, wogegen kränkliche Körper und baufällige, mit schlechten Seeleuten besetzte Schiffe nicht den XI
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kleinsten Fehler aushalten können, genauso verlangen auch die schlechtesten Verfassungen die größte Fürsorge. Die Demokratien überhaupt werden durch ihren Volksreichtum erhalten (denn dies steht der nach der Würdigkeit bestimmten Gerechtigkeit gegenüber). Die Oligarchie umgekehrt muß offenbar ihre Rettung in der guten Ordnung suchen. 7. Da es nun aber vorzugsweise vier Teile eines Volkes gibt, Bauern, Handwerker, Kaufleute und Tagelöhner, und ebenso vier Waffengattungen: Reiter, Schwerbewaffnete, Leichtbewaffnete und Schiffssoldaten, so ist ein Land, das für das Reiten günstig ist, auch geeignet, eine starke Oligarchie aufzubauen; denn ihre Erhaltung verdanken die Bewohner eben dieser Waffengattung, aber die Pferdezucht ist nur für Besitzer großer Vermögen möglich. Wo das Land umgekehrt für Schwerbewaffnete gut ist, da ist die nächstfolgende Form der Oligarchie angemessen (denn die Ausrüstung von Hopliten ist eher Sache der Wohlhabenden als der Unbemittelten); eine Macht aus Leichtbewaffneten und Schiffssoldaten dagegen ist demokratisch. Oftmals unterliegen in der Tat die Oligarchien, wo es zum Konflikt kommt und eine große Menge von Leuten dieser letzten Arten vorhanden ist. Das Heilmittel dagegen muß man von den kriegserfahrenen Feldherren übernehmen, die mit der Macht der Reiter und der Schwerbewaffneten eine angemessene Zahl von Leichtbewaffneten kombinieren. Die Leichtbewaffneten sind es aber, die in den Auseinandersetzungen dem Volk den Sieg über die Wohlhabenden geben. Denn da sie beweglich sind, können sie leicht gegen Reiterei und Hoplitenmacht kämpfen. Wenn man nun in der Oligarchie die entsprechende Truppe aus dem Volk aushebt, so hebt man sie gegen sich selbst aus. Man muß also die Altersunterschiede zwischen den Alten und den Jungen zugrunde legen und die eigenen Söhne, solange sie zu den Jungen gehören, in den leichten und beweglichen Kampfweisen unterrichten, so daß sie sich dann, wenn sie über das Knabenalter hinaus sind, in eben dieser Kampfart bewähren. XII
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Dem Volk soll die Teilnahme an den Staatsgeschäften gegeben werden entweder so, wie wir es vorher gesagt haben, daß man sie an eine bestimmte Steuereinschätzung knüpft, oder so wie in Theben, daß sie zuerst eine bestimmte Zeit hindurch keine handwerkliche Arbeit getan haben, oder so wie in Massalia, daß man eine Auswahl aus den Würdigsten trifft, undzwar sowohl bei den regierungsberechtigten Bürgern wie auch bei den anderen. Ferner müssen bei den wichtigsten Ämtern, die von den regierungsberechtigten Bürgern besetzt werden sollen, auch Leistungen für die Öffentlichkeit dabei sein, damit das Volk zufrieden ist, nicht daran beteiligt zu sein, und mit den Magistraten Nachsicht übt, weil sie für ihr Amt einen hohen Preis zahlen müssen. So sollen sie denn beim Amtsantritt großartige Opfer veranstalten und irgendein öffentliches Werk herstellen, damit das Volk, das an den Opfermahlzeiten teilnimmt und die Stadt mit Weihgeschenken und Gebäuden geschmückt sieht, die Verfassung gerne dauern läßt. Außerdem wird dies auch für die Angesehenen selbst ein Denkmal ihrer Großzügigkeit sein. Aber die gegenwärtigen Oligarchien tun nichts dergleichen, sondern das Gegenteil. Sie suchen den Profit nicht weniger als die Ehre, und so kann man mit Recht sagen, sie seien kleine Demokratien. Wie man also die Demokratien und die Oligarchien einrichten soll, sei damit gesagt. 8. Im Anschluß an das Gesagte müssen wir nun die Ämter richtig unterscheiden, und, wie schon früher, feststellen, wie viele und welche es sind und was sie zu verwalten haben. Ohne die notwendigen Ämter kann ein Staat überhaupt nicht bestehen, und ohne jene, die der Ordnung und der Würde dienen, kann er nicht gut eingerichtet sein. Außerdem werden in den kleinen Staaten weniger Ämter vorhanden sein müssen, in den großen mehr, wie wir auch schon vorher gesagt haben. Man darf also nicht übersehen, welche man zusammenlegen darf und welche man getrennt halten soll. Unter den notwendigen Ämtern ist die Fürsorge für den Markt das erste. Da muß ein Amt bestehen, das die Aufsicht über die Geschäfte XIII
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und die Ordnung führt. Denn so ziemlich alle Staaten sind gezwungen, untereinander zu kaufen und zu verkaufen, damit jeder die notwendigen Güter erhält. Dies ist die unentbehrliche Voraussetzung der Autarkie, die ja das Ziel sein dürfte, wenn man einheitliche Gemeinschaften bildet. Damit zusammenhängend und verwandt ist weiterhin die Fürsorge für die öffentlichen und privaten Gebäude in der Stadt, damit da Ordnung sei und verfallene Häuser und Straßen instandgestellt und unterhalten werden, ferner, daß die gegenseitigen Grenzzeichen unverletzt bleiben, und was sonst zu dieser Art von Fürsorge gehört. Diese Behörde wird zumeist Stadtverwaltung genannt; sie hat mehrere Abteilungen, die in den volkreicheren Städten von verschiedenen Beamten versehen werden, wie die Überwachung der Mauern, der Quellen und der Häfen. Verwandt mit dieser ist eine andere, ebenfalls unentbehrliche Behörde. Sie führt dieselbe Aufsicht, aber auf dem Land und für die Bezirke außerhalb der Stadt. Man nennt diese Beamten Landaufseher oder Forstaufseher. Dies wären also drei Behörden. Ein weiteres Amt ist dasjenige, bei dem die öffentlichen Einkünfte einlaufen, verwahrt und auf die einzelnen Verwaltungszweige aufgeteilt werden. Diese heißen Steuereinnehmer und Schatzmeister. Eine weitere Behörde ist jene, bei der die Privatverträge und die Gerichtsurteile schriftlich deponiert werden müssen. Bei derselben sollen auch die Klageschriften eingereicht und die Prozesse eingeleitet werden. Zuweilen wird auch diese Behörde in mehrere aufgelöst, zuweilen ist eine einzige für alle diese Dinge zuständig. Man nennt sie dann Hieromnemones, Vorsteher, Mnemones (Archivare) und dergleichen. Mit diesem verbunden, aber das beinahe notwendigste und mühseligste aller Ämter ist das der Vollziehung der Gerichtsurteile, Eintreibung der veröffentlichten Buße, Bewachung der Verhafteten. Mühsam ist dieses Amt, weil es seinen Träger verhaßt macht, so daß man es dort, wo kein großer Lohn zu erwarten ist, gar nicht übernehmen will, und wenn man es schon übernimmt, es auch nicht XIV
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den Gesetzen entsprechend ausübt. Notwendig ist es, weil eine Rechtsprechung gar keinen Sinn hat, wenn sie nicht vollstreckt wird; wenn eine Gemeinschaft nicht bestehen kann, wenn nicht Recht gesprochen wird, so auch nicht, wenn es nicht vollzogen wird. Darum ist es besser, wenn dieses Amt nicht ein einziges sei, sondern für jeden Gerichtshof ein anderes. Ebenso soll man eine Scheidung bei den veröffentlichten Bußen versuchen. Manche Strafen sollen von andern Behörden vollzogen werden, die von den neu Angetretenen verhängten durch neue Behörden, und wo es sich um Beamte handelt, die schon länger tätig sind, da soll der Verurteilende einer andern Behörde angehören als der Vollziehende; so sollen die Stadtaufseher etwa die von den Marktaufsehern verhängten Bußen eintreiben, und die von jenen verhängten wieder andere. Denn je weniger die eintreibende Behörde verhaßt ist, desto leichter werden die Eintreibungen zum Ziele kommen. Wenn aber die Verurteilenden und die Eintreibenden dieselben sind, so erzeugt dies einen doppelten Haß; und wenn für alles dieselben zuständig sind, so werden sie allen verhaßt sein. Oftmals ist auch die Behörde, die die Gefangenen bewacht, getrennt von derjenigen, die die Strafen vollstreckt, wie etwa in Athen das Kollegium der Elfmänner. Darum ist es besser, auch hier zu trennen und auch hier den entsprechenden Ausweg zu finden. Denn jene Behörde ist nicht weniger notwendig als die andere, aber die Anständigen meiden gerade vor allem dieses Amt; schlechte Leute dazu zu bestellen, ist dagegen nicht sicher. Denn diese bedürfen eher selbst der Bewachung, als daß sie andere zu bewachen fähig wären. Darum soll zur Bewachung der Gefangenen nicht eine einzige feste Behörde bestimmt werden und nicht dauernd dieselbe, sondern wo unter den jungen Leuten eine Abteilung von Rekruten oder Wachtmannschaften besteht, soll man sie heranziehen, und unter den Behörden abwechslungsweise immer eine andere. Diese Behörden nun sind die ersten und mögen als die notwendigsten gelten. Nach ihnen kommen solche, die nicht weniger notwendig sind, aber einen höheren Rang einnehmen. Denn sie fordern viel Erfahrung und Zuverlässigkeit. Das sind jene, deren Aufgabe die Bewachung des XV
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Staates ist, sowie alle jene, die mit militärischen Aufgaben betraut sind. Es muß im Frieden wie im Kriege Beamte geben, die die Bewachung der Tore und Mauern kontrollieren und die Bürger militärisch ausheben und einteilen. Zuweilen gibt es für alle diese Aufgaben viele Behörden, zuweilen wenige, und in kleinen Staaten ist alles bei einer einzigen vereinigt. Diese nennt man Strategen und Polemarchen. Ferner, wo es Reiter, Leichtbewaffnete, Bogenschützen oder Schiffssoldaten gibt, da wird zuweilen für jede dieser Gattungen eine eigene Behörde bestellt, die nun Nauarchen, Hipparchen und Taxiarchen heißen, und unter diesen wieder im einzelnen Trierarchen, Lochagen, Phylarchen und was es bei diesen weiterhin für Unterabteilungen gibt. All dies ist aber eine einzige Gattung, die der Militärbehörden. Was diese Behörden anlangt, so verhält es sich also so. Da aber nun einige Behörden, wenn auch nicht alle, viele öffentliche Mittel zu verwalten haben, so muß es noch eine andere geben, die die Abrechnungen erhält und überprüft, selbst aber weiter nichts verwaltet. Diese nennt man Euthynen oder Logistai oder Exetastai oder Synegoroi. Neben allen diesen Behörden steht jene, die am meisten über alles zu entscheiden hat. Oftmals liegt bei ihr gleichzeitig das Entscheiden wie das Antragstellen, oder sie hat den Vorsitz über die Menge, wo das Volk selbst entscheidet. Denn es muß eine Instanz geben, die die entscheidende Behörde im Staate zusammenruft. Zuweilen heißen diese Probuloi, weil sie die Traktanden vorberaten, wo aber die Menge regiert, heißen sie zumeist Bule (Rat). Dies sind so ziemlich die politischen Behörden. Eine andere Art der Fürsorge ist diejenige hinsichtlich der Götter, wo es denn Priester gibt und Beamte, die für den Kult zu sorgen haben, damit die bestehenden Gebäude unterhalten und die verfallenden wiederhergestellt werden, und was eben sonst noch hinsichtlich der Götter Vorschrift ist. Diese Behörde ist zuweilen eine einzige, wie in den Kleinstaaten, zuweilen sind es viele und vom Kulte selbst abgesondert, wie etwa die Hieropoioi, die Naophylakes und die Verwalter des Tempelvermögens. XVI
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Anschließend an diese ist die Behörde ausgesondert, die sämtliche allgemeinen Opfer zu besorgen hat, soweit diese nicht durch Gesetz den Priestern überlassen bleiben, sondern ihren Rang vom gemeinsamen Staatsaltare her haben. Man nennt diese teils Archonten, teils Könige, teils Prytanen. Dies sind die notwendigen Behörden. Sie betreffen, zusammengefaßt gesagt, die Götter, den Krieg, die Einkünfte und Ausgaben, den Markt, die Stadt, die Häfen und das Land, ferner die Gerichtshöfe, die Deposition der Verträge, den Vollzug der Gerichtsurteile, die Bewachung der Gefangenen, Abrechnung, Prüfung und Rechenschaftsablage der Beamten, und endlich, was sich auf die Beratung der öffentlichen Angelegenheiten bezieht. Besondere Behörden gibt es in Staaten, die durch größere Muße und Wohlstand ausgezeichnet sind und auf gute Ordnung Wert legen: Kontrolle der Frauen, der Beobachtung der Gesetze, der Knaben, der Gymnasien, außerdem für die Organisation der gymnastischen und künstlerischen Festspiele und was es sonst noch für derartige Anlässe gibt. Einige dieser Behörden sind offenkundig nicht demokratisch, wie etwa die Kontrolle der Frauen und Knaben. Denn die Armen müssen ihre Frauen und Kinder als Diener- verwenden, da sie sich keine Sklaven halten können. Von den drei Behörden, die gelegentlich als die entscheidenden gewählt werden, den Nomophylakes, den Probuloi und dem Rat, sind die Nomophylakes aristokratisch, die Probuloi oligarchisch und der Rat demokratisch. Auf diese Weise sei also im Umriß von den verschiedenen Behörden gesprochen.
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Aristoteles Politik - VII. Buch
Siebentes Buch 1. Wer die beste Verfassung angemessen erforschen will, muß zuvor bestimmen, welches das wünschbarste Leben sei. Solange dies unbekannt ist, wird es zwangsläufig auch unbekannt bleiben, welches die beste Verfassung ist. Denn jene, die mit den ihnen gegebenen Mitteln nach der besten Verfassung leben, werden sich auch selbst im besten Zustande befinden, falls nicht eine widersinnige Lage vorliegt. Also muß man sich zuerst darüber einig werden, welches die sozusagen für alle wünschbarste Lebensform ist, und dann darüber, ob sie dieselbe ist für die Gemeinschaft und den Einzelnen oder eine andere. Ich denke nun, daß wir über die beste Lebensform in den publizierten Schriften schon Hinlängliches gesagt haben, und so werden wir auch jetzt dies benutzen. Sicherlich wird keiner gegen jene Aufgliederung in drei Teile etwas einzuwenden haben, die äußeren Güter, die körperlichen und die seelischen, und bestreiten, daß der Glückselige alle diese besitzen müsse. Denn keiner wird einen Menschen glückselig nennen, der keinen Teil an der Tapferkeit, Selbstzucht, Gerechtigkeit oder Klugheit besitzt, sondern der vor einer vorbeifliegenden Mücke erschrickt, und der sich beim Begehren nach Essen und Trinken überhaupt keine Schranken auferlegt, der wegen einer Vierteldrachme seine besten Freunde ruiniert, und der in seinem Denken derart unvernünftig und verschroben ist wie ein Säugling oder ein Wahnsinniger. In diesem Punkte werden jedenfalls alle einig sein; die Meinungsverschiedenheiten treten auf beim Wieviel und beim Übermaß. Denn sie meinen, es genüge, von der Tugend irgendein Maß zu besitzen; von Reichtum, Geld, Macht, Ehre und dergleichen suchen sie dagegen das Übermaß bis ins Unbegrenzte. Wir werden ihnen erwidern, daß es leicht ist, in diesem Punkte sich schon an den Tatsachen Gewißheit zu verschaffen. Denn man sieht, daß man nicht etwa die Tugend mit Hilfe der äußeren Güter erwirbt und bewahrt, sondern umgekehrt, und daß das glückliche Leben, mag es nun für die I
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Menschen in der Freude bestehen oder in der Tugend oder in beidem, weit mehr bei denen ist, die im Übermaß mit Charakter und Überlegung ausgerüstet sind und an äußeren Gütern nur Mäßiges besitzen,als bei jenen, die solche mehr als notwendig besitzen, dagegen an jenem zuwenig haben. Dasselbe ist auch auf theoretischem Wege leicht zu erkennen. Denn das Äußere hat eine Grenze wie ein Werkzeug (denn alles Nützliche ist nützlich zu etwas); ein Übermaß davon muß entweder schaden, oder mindestens nützt es denen nichts, die es besitzen. Je mehr dagegen jedes von den Gütern der Seele im Übermaß vorhanden ist, desto nützlicher ist es, wenn man überhaupt in diesem Falle nicht nur vom Schönen, sondern auch vom Nützlichen sprechen darf. Allgemein ist klar, daß die beste Verfassung einer jeden Sache dem Übermaß anderen gegenüber nach denselben Abstand behaupten wird, den die Sache selbst hat, von der sie die Verfassung ist. Da nun die Seele ehrwürdiger ist als der Besitz und der Körper, sowohl schlechthin als auch für uns, so muß auch die beste Verfassung von jedem sich analog verhalten. Endlich sind diese Dinge wünschbar um der Seele willen, und alle Einsichtigen werden sie darum wünschen, und nicht umgekehrt um ihretwillen die Seele. Daß nun einem jeden so viel an Glückseligkeit zufällt, als er Tugend und Einsicht und das Handeln danach besitzt, das stehe für uns fest, und dazu nehmen wir auch die Gottheit zum Zeugen, die selig und glücklich ist, aber nicht durch irgendeines der äußeren Güter, sondern durch sich selbst, und dadurch, daß ihre eigene Natur so bestimmt ist; darum ist auch das Glückhaben notwendigerweise von der Glückseligkeit verschieden. Denn die äußeren Güter werden von selbst und durch den Zufall zustande gebracht, aber gerecht und besonnen ist keiner vom Zufall her oder durch ein Werk des Zufalls. Dazu gehört auf Grund derselben Gedankengänge, daß auch das Staatswesen dann glückselig ist, wenn es das beste ist und sich gut verhält. Es ist aber unmöglich, daß sich gut verhalte, was nicht gut handelt. Und beim Einzelnen wie beim Staat gibt es ohne Tugend und Einsicht keine gute Leistung. Tapferkeit, Gerechtigkeit und Einsicht II
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haben dieselbe Wirkung und Gestalt im Staate, wie wenn man sagt, daß ein einzelner an ihnen teilhat und darum gerecht, klug und besonnen ist. Dies mag nun so weit der Untersuchung vorangeschickt sein. Weder war es möglich, dies nicht zu berühren, noch auch alle dazugehörigen Überlegungen hier heranzuziehen; denn die sind die Aufgabe einer anderen Betrachtung. Jetzt sei nur vorausgesetzt, daß das beste Leben für den Einzelnen wie gemeinsam für das Staatswesen dasjenige ist, das die Tugend und einen hinreichenden äußeren Spielraum besitzt, um an den tugendgemäßen Handlungen teilhaben zu können. Die Zweifel, die sich hier einstellen, lassen wir für jetzt und betrachten sie später, falls jemand durch das Gesagte noch nicht überzeugt sein sollte. 2. Es bleibt noch übrig festzustellen, ob die Glückseligkeit jedes einzelnen Menschen und die des Staates dieselbe ist oder nicht. Auch dies ist offenkundig. Alle werden darin einig sein, daß es dieselbe ist. Denn alle, die beim Einzelnen das vollkommene Leben im Reichtum erblicken, werden auch einen ganzen Staat seligpreisen, wenn er reich ist. Wer das Leben des Tyrannen am meisten schätzt, wird auch jenen Staat für den glückseligsten halten, der über die meisten andern herrscht. Und wenn man den Einzelnen wegen seiner Tugend schätzt, so wird man auch einen Staat um so glücklicher nennen, je tüchtiger er ist. Doch da bedürfen gleich zwei Fragen der Prüfung: die erste, ob das Leben in der staatlichen und politischen Gemeinschaft das wünschbarere ist, oder eher das Leben des Fremden, der von der staatlichen Gemeinschaft abgelöst ist, und die zweite, welche Staatsform nun und welcher Zustand des Staates der beste sei, mag nun die Beteiligung am Staate für alle wünschbar sein oder doch für die Mehrzahl. Da aber nur die zweite Frage eine Aufgabe des politischen Denkens und Forschens ist und nicht die Frage nach der Wünschbarkeit für den Einzelnen, und wir jetzt eben jenen Gegenstand gewählt haben, so
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Aristoteles Politik - VII. Buch
wird die erste Frage nur nebenher zu behandeln sein, die zweite aber den eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchung ausmachen. Daß nun die beste Verfassung notwendig in jener Ordnung besteht, in welcher jeder Beliebige sich am besten verhält und glückselig lebt, ist klar. Aber darüber streitet man auch bei denen, die darin übereinstimmen, daß das beste Leben ein Leben in der Tugend sei, ob nämlich das politische und praktische Leben zu wünschen sei, oder eher ein von allem Äußeren abgelöstes, etwa ein betrachtendes, das von einigen als das allein philosophische angesehen wird. Denn diese zwei Lebensformen sind es ungefähr, die jene vorziehen, die sich am eifrigsten um die Tugend bemühen, sowohl unter den Früheren als auch in der Gegenwart, ich meine das politische und das philosophische. Es macht aber keinen geringen Unterschiedaus, auf welcher Seite sich da die Wahrheit befindet. Denn der gut Überlegende muß sich nach dem besseren Ziele richten, der Einzelne sowohl wie auch insgesamt die Staatsverfassung. So meinen die einen, seine Nächsten zu beherrschen sei, wenn es despotisch geschieht, eine der größten Ungerechtigkeiten, wenn es aber verfassungsmäßig geschieht, so sei es zwar nicht ungerecht, hindere aber das eigene Wohlergehen. Ihnen stehen andere mit ihrer Meinung geradezu gegenüber: das praktische und politische Leben sei das einzige für einen Mann. Denn bei jeder einzelnen Tugend gebe es für den Privatmann nicht mehr Betätigungen als für den, der in der Gemeinschaft tätig sei und Politik treibe. Die einen haben also diese Ansicht, andere halten die despotische und tyrannische Form der Verfassung für die einzig glückliche. Bei einigen ist die Norm der Gesetze und der Erziehung eben diese, wie sie die Nachbarn beherrschen können. Und wenn man auch sagen muß, daß bei den meisten die Mehrzahl der Gesetze sozusagen regellos durcheinandergeworfen ist, so zeigt sich doch, daß die Gesetze, wo sie auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet sind, alle nach dem Herrschen streben; wie etwa in Sparta und in Kreta so ziemlich die ganze Erziehung und die Mehrzahl der Gesetze auf die Kriege hin geordnet sind. Auch bei jenen Barbarenvölkern, die sich politischen Ehrgeiz leisten können, wird diese Fähigkeit geehrt, IV
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so bei den Skythen, Persern, Thrakern und Kelten. In einzelnen Staaten gibt es sogar bestimmte Gesetze, die zu dieser Tugend anfeuern sollen; so sollen in Karthago die Männer mit so vielen Ringen ausgezeichnet werden, als sie Feldzüge mitgemacht haben. Es gab auch einmal in Makedonien ein Gesetz, daß der Mann, der keinen Feind getötet hatte, einen Pferdehalfter tragen müsse. Bei den Skythen wiederum durfte bei einem bestimmten Feste keiner aus einem herumgehenden Becher trinken, der noch keinen Feind getötet hatte. Und bei dem kriegerischen Volke der Iberer befestigen sie so viele Stäbe um das Grab, als einer Feinde erschlagen hat. Dergleichen gibt es bei andern Völkern noch viel, teils in Gesetzen, teils in Bräuchen festgehalten. Bei näherer Überlegung wird man es aber wohl als gar zu unsinnig empfinden, daß dies die Aufgabe des Staatsmannes sein soll, zu überlegen, wie er die Nachbarn beherrsche und regiere, mögen diese es wollen oder nicht. Denn wie könnte dies staatsmännisch oder gesetzgeberisch sein, was nicht einmal gesetzlich ist? Ungesetzlich ist es, nicht nur gerecht, sondern auch ungerecht herrschen zu wollen; und siegen kann man auch ungerecht. Auch gibt es in den andern Wissenschaften nichts Ähnliches: denn es ist nicht die Aufgabe des Arztes, die Patienten, oder des Steuermanns, die Passagiere nach Belieben zu überreden oder mit Gewalt zu zwingen. Die meisten Menschen freilich scheinen die Staatskunst mit der Despotie zu verwechseln, und was sie sich selbst gegenüber weder für gerecht noch für zuträglich halten, das schämen sie sich nicht, gegen andere zu üben. Selbst verlangen sie für sich eine gerechte Regierung, aber den andern gegenüber ist ihnen die Gerechtigkeit gleichgültig. Wenn ferner der Natur nach die einen offenbar zum Beherrschtwerden bestimmt sind und die andern nicht, und es sich faktisch so verhält, so darf man nicht versuchen, über alle zu herrschen, sondern nur über die zum Beherrschtwerden Bestimmten, so wie man auch nicht zum Mahle oder zum Opfer auf Menschen Jagd machen darf, sondern nur auf die dazu bestimmten Tiere, also auf die wilden und eßbaren Tiere. Gewiß könnte ein einzelner Staat auch für sich allein glücklich sein, wenn er eine gute Verfassung hat; falls nämlich dies möglich ist, daß V
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irgendwo ein Staat existiert, der für sich lebt und ordentliche Gesetze hat, und wo denn der Aufbau der Verfassung nicht auf den Krieg oder auf den Sieg über die Feinde berechnet ist; denn nichts dergleichen braucht da vorzukommen. Es ergibt sich also, daß alle Zurüstungen zum Kriege zwar schön sind, aber nicht als das höchste Ziel von allem, sondern nur als ein Mittel dazu. Die Aufgabe des tüchtigen Gesetzgebers ist dann, zu prüfen, wie der Staat und ein Verband von Menschen und jede andere Art von Gemeinschaft am guten Leben und an der für sie möglichen Glückseligkeit Anteil haben können. Freilich wird es in den zu erlassenden Vorschriften einige Unterschiede geben. Falls Nachbarstaaten vorhanden sind, hat der Gesetzgeber auch darauf zu achten, wie man sich gegen welche zu verhalten hat, und wie man jedem einzelnen gegenüber die angemessenen Maßnahmen trifft. Doch davon werden wir später noch hinlänglich sprechen können, auf welches Ziel hin man die beste Staatsverfassung einrichten soll. 3. Hier müssen wir uns mit denen beschäftigen, die zwar darüber einig sind, daß das tugendgemäße Leben das wünschbarste sei, die aber über seine Realisierung verschieden urteilen, und zwar mit beiden: die einen nämlich verwerfen das politische Regieren und meinen, das Leben des Freien sei ein anderes als dasjenige des Staatsmannes und das wünschbarste von allen, die andern aber ziehen jenes vor. Denn es sei unmöglich, daß derjenige, der nichts tue, sich wohl befinde, und das Wohlbefinden und die Glückseligkeit seien dasselbe. Beide haben teilweise recht und teilweise nicht: Der eine darin, daß das Leben des Freien besser ist als das despotische. Dies ist richtig. Es liegt nichts Großartiges darin, einen Sklaven als Sklaven zu verwenden. Denn das Befehlen in den lebensnotwendigen Dingen hat nichts Schönes an sich. Dagegen zu glauben, daß jede Art von Herrschaft eine Despotie sei, ist nicht richtig. Denn die Herrschaft über Freie ist von derjenigen über Sklaven ebenso verschieden, wie das von Natur Freie selbst von dem von Natur Sklavischen. Darüber ist in den einleitenden Untersuchungen schon gehandelt worden. Unrichtig ist es auch, die Untätigkeit höher zu loben als die Tätigkeit. VI
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Denn die Glückseligkeit ist eine Tätigkeit, und die Tätigkeiten der Gerechten und Besonnenen haben in sich vieles Schöne als Ziel. Freilich könnte man auf Grund dieser Bestimmung annehmen, es sei das beste, Herr über alles zu sein. Denn so wäre man der Herr der meisten und schönsten Handlungen. Und so solle der, der zu regieren fähig sei, dies nicht dem Nächsten überlassen, sondern es ihm wegnehmen, und es dürfe weder ein Vater auf die Kinder, noch die Kinder auf den Vater, noch überhaupt ein Freund auf einen Freund Rücksicht nehmen und daran denken. Denn das beste sei das Wünschbarste, und sich wohl zu verhalten sei das beste. Dies wird nun vielleicht mit Recht gesagt, falls man tatsächlich durch Rauben und Gewalttun das höchste Ziel erreichen kann. Aber vielleicht ist dies nicht möglich, und diese Annahme beruht auf einem Fehler. Denn die Handlungen können nicht mehr schön sein bei einem, der sich nicht so weit auszeichnet wie ein Mann vor einer Frau, oder ein Vater vor den Kindern, oder ein Herr vor den Sklaven. Darum wird der Übertretende nicht mehr hinterher so viel gut machen können, wie er zuvor bereits über die Tugend hinausgetreten ist. Denn für jene, die einander gleichstehen, liegt das Schöne und Gerechte im Abwechseln; nur dies ist gleich und gleichmäßig. Ungleichheit bei Gleichen und Ungleichartigkeit bei Gleichartigen ist gegen die Natur, und nichts, was gegen die Natur ist, ist schön. Also nur wenn ein anderer überlegen ist in der Tugend und in der Fähigkeit, das Beste zu vollbringen, so ist es schön, diesem zu folgen, und gerecht, ihm zu gehorchen. Es muß freilich nicht nur die Tugend vorhanden sein, sondern auch die Fähigkeit, zu handeln. Wenn nun dies richtig ist und man die Glückseligkeit als ein gutes Verhalten bestimmen muß, so dürfte wohl das praktische Leben gemeinsam für den ganzen Staat wie auch für den Einzelnen das beste sein. Indessen braucht sich das praktische Leben durchaus nicht nur auf andere zu richten, wie einige meinen, und es sind durchaus nicht nur jene Gedanken praktisch, die um der aus dem Handeln sich ergebenden Zwecke willen geschehen, sondern vielmehr die selbstzwecklichen und die Betrachtungen und Überlegungen, die um
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ihrer selbst willen erfolgen. Denn das Wohlergehen ist ein Ziel, und darum ist es auch ein Handeln. Wir nennen denn auch vorzugsweise handelnd selbst in bezug auf die äußeren Handlungen jene, die in ihrem Denken Baumeister sind. Es müssen auch nicht jene Staaten untätig sein, die für sich gegründet und so zu leben entschlossen sind. Die Tätigkeit kann sich auch von einem Teil zum anderen vollziehen. Denn durch viele Arten von Gemeinschaft sind die Teile des Staates untereinander verknüpft. Dasselbe gilt auch für jeden einzelnen Menschen. Denn sonst würden sich Gott und der ganze Kosmos schwerlich gut verhalten, da sie ja keine äußeren Tätigkeiten besitzen außer den in ihnen eigentümlich beschlossenen. Daß also dieselbe Lebensform sowohl für jeden einzelnen Menschen wie auch gemeinsam für die Staaten und die Menschen die beste sein muß, dies ist klar. 4. Nachdem wir nun dies als Einleitung über diese Dinge vorausgeschickt und die andern Verfassungen bereits untersucht haben, so beginnen wir die übrigen Probleme mit der Frage, welches die Voraussetzungen sein müssen bei einem Staate, der nach Wunsch eingerichtet sein soll. Denn die beste Verfassung kann ohne eine angemessene materielle Grundlage nicht entstehen. Wir müssen darum gewissermaßen als Wünsche vieles voraussetzen, ohne daß freilich darunter etwas Unmögliches sein darf. Ich meine Dinge wie die Zahl der Bürger und den Umfang des Gebietes. Wie nämlich auch die Handwerker, etwader Weber oder der Schiffbaumeister, das passende Material für ihre Arbeit zur Verfügung haben müssen (und je besser jenes zubereitet ist, desto schöner wird auch das Werk ihrer Kunst werden), ebenso muß auch der Staatsmann und Gesetzgeber sein Material in geeignetem Zustande vorfinden. Die wichtigste Grundlage für den Staat ist die Zahl der Menschen, wie viele und welcher Art sie naturgemäß sein sollen, und ebenso, wie groß und von was für einer Beschaffenheit das Gebiet sein soll. Die meisten meinen nun, daß ein glücklicher Staat groß sein müsse. Auch wenn dies wahr ist, so wissen sie doch nicht, was man unter VIII
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einem großen und kleinen Staate zu verstehen hat. Sie beurteilen nämlich die Größe nach der zahlenmäßigen Menge der Bewohner; man muß aber nicht so sehr auf die Menge als auf ihre Funktion achten. Es gibt nämlich eine bestimmte Aufgabe des Staates, und derjenige Staat, der sie am ehesten zu erfüllen vermag, wird auch als der größte bezeichnet werden können, so wie man etwa den Hippokrates nicht als Mensch, sondern als Arzt größer nennen wird als jemanden, der sich an körperlicher Größe auszeichnet. Selbst wenn man die Zahl der Einwohner als Maßstab nehmen müßte, dürfte man nicht jede beliebige Menge nehmen (denn es muß wohl in den Staaten auch eine große Anzahl von Sklaven, Zugewanderten und Fremden geben), sondern nur so viele ein Teil des Staates sind und seine ihm zugehörigen Glieder bilden. Wenn ein Staat viele Bürger dieser Art besitzt, ist es ein Zeichen seiner Größe; ein anderer dagegen, der eine große Anzahl von Banausen, aber nur wenige Hopliten besitzt, kann unmöglich groß sein. Denn eine große und eine volkreiche Stadt ist nicht dasselbe. Die Tatsachen zeigen sogar, daß es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, einen allzu volkreichen Staat mit guten Gesetzen zu verwalten. Jedenfalls sehen wir keinen einzigen von den Staaten, die als gut regiert gelten, nach einer übermäßigen Bevölkerungszahl streben. Dasselbe läßt sich auch theoretisch erweisen. Das Gesetz ist eine Art von Ordnung, und gute Gesetze müssen eine gute Ordnung darstellen. Eine allzu große Zahl kann aber an der Ordnung nicht teilhaben. Denn dies wäre die Aufgabe einer göttlichen Macht, derselben, die auch dieses All zusammenhält; im allgemeinen beruht ja die Schönheit auf der Fülle und Größe. Darum wird auch ein Staat, für den neben der Größe die genannte Bestimmung gilt, notwendig der vollkommenste sein. Außerdem gibt es ein bestimmtes Maß für die Größe eines Staates, wie auch für alles andere, die Tiere, Pflanzen und Werkzeuge. Auch da besitzt jedes seine Fähigkeit nur soweit es an Kleinheit oder an Größe das Maß nicht zu sehr überschreitet; sonst wird es bald seine eigentümliche Natur überhaupt verlieren oder in schlechtem Zustande sein. Ein Schiff von der Länge einer Spanne ist gar kein Schiff mehr IX
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und eines von zwei Stadien auch nicht, und wenn es sonst irgendeine Größe hat, so wird es leicht wegen seiner Kleinheit oder aber wegen seines Übermaßes fahrtuntauglich werden. So ist auch ein Staat mit zuwenig Bürgern nicht autark (der Staat muß aber ein autarkes Gebilde sein), und ein allzu großer Staat ist zwar in den notwendigen Dingen autark, aber so wie ein Volksstamm, nicht wie ein Staat; in diesem Falle nämlich kann nicht leicht eine Verfassung Bestand haben. Denn wer wird der Feldherr eines übergroßen Heeres sein, oder wer ein Herold, wenn er nicht eine Stentorstimme besitzt? Darum wird es einen Staat von derjenigen Bevölkerungszahl an geben, die in der politischen Gemeinschaft autark im Hinblick auf das vollkommene Leben sein kann. Es kann auch ein größerer Staat existieren, der ihn an Menge übertrifft, aber dies geht, wie wir sagten, nicht ins Unbegrenzte. Welches die Grenze des Zuwachses ist, ist aus den Tatsachen leicht zu entnehmen. Die politischen Aufgaben verteilen sich auf Regierende und Regierte. Die Aufgabe des Regierenden ist, anzuordnen und zu entscheiden. Um aber gerecht zu urteilen und die Ämter dem Würdigsten geben zu können, müssen die Bürger einander nach ihren Qualitäten kennen. Wo dies nicht der Fall ist, da muß es um Regierung und Rechtsprechung schlecht bestellt sein. Denn in beiden Punkten ist es ungerecht zu improvisieren, was doch bei einer Übervölkerung offenkundig geschieht. Auch wird es dann für Ausländer und Zugewanderte leicht, am Bürgerrecht teilzunehmen. Denn in der Masse der Bevölkerung ist es nicht schwierig, unbemerkt zu bleiben. Es ist also klar, daß dies der beste Maßstab für einen Staat ist: die höchste Zahl der Einwohner, die noch überschaubar bleibt und ein Leben in Autarkie ermöglicht. Dies sei also hinsichtlich der Größe des Staates festgelegt. 5. Ähnliches gilt vom Gebiete. Was seine Qualität angeht, so wird jeder dasjenige loben, das sich am meisten selbst genügt (dies wird eines sein, das alle Produkte liefert; denn alles zu besitzen und nichts zu entbehren bedeutet eben Autarkie). Umfang und Größe sollen so sein, daß die Einwohner großzügig und maßvoll in Muße X
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leben können. Ob wir diesen Maßstab mit Recht anwenden oder nicht, wird später genauer zu untersuchen sein, wenn wir allgemein über den Besitz und die wünschbare Größe des Vermögens sprechen werden und darüber, wie dieses sich zum Gebrauche verhalten soll. Denn in diesem Punkte gibt es viele Schwierigkeiten, weil die Menschen zu einem von beiden Extremen neigen, die einen zur Ärmlichkeit, die andern zum Luxus. Die Beschaffenheit des Landes ist nicht schwer anzugeben (hier muß man zum Teil auch den in der Kriegskunst Erfahrenen folgen): Es muß den Feinden schwer sein, in es einzudringen, den Bewohnern hingegen leicht, aus ihm herauszukommen. Und wie wir von der Bevölkerungszahl sagten, daß sie leicht überschaubar sein müsse, so gilt dies auch vom Lande. Beim Lande bedeutet die Überschaubarkeit, daß man ihm leicht zu Hilfe kommen kann. Wenn man der Stadt die wünschbarste Lage geben will, so soll sie zum Meere und zum Lande hin gleich günstig gelegen sein. Ein Maßstab ist der eben genannte: Sie muß für Hilfeleistungen von allen Orten aus gleich leicht erreichbar sein. Ein anderer Gesichtspunkt ist, daß die geernteten Früchte ihr leicht zugeführt werden können, ein anderer, daß das Holzmaterial, und was das Land etwa sonst an derartigen Betrieben besitzt, leicht hergeschafft werden kann. 6. Ob ferner die Verbindung zum Meer für ein gut geordnetes Staatswesen nützlich oder schädlich sei, darüber wird viel diskutiert. Man sagt, daß der Zustrom von Fremden, die in andern Gesetzen aufgewachsen sind, und außerdem die Bevölkerungsvermehrung für die gesetzliche Ordnung unzuträglich seien. Denn durch den Verkehr auf dem Meere hin und her kommt eine Menge von Kaufleuten zusammen, und dies sei einer guten Verwaltung des Staates hinderlich. Daß es nun, wenn dies nicht eintritt, für die Sicherheit und die leichte Beschaffung der lebensnotwendigen Güter besser ist, wenn die Stadt und das Land am Meere Anteil haben, ist unverkennbar. Denn die Einwohner müssen, um den Feinden standhalten und sich behaupten zu können, von beiden Seiten her Hilfe erhalten können, vom Lande XI
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und vom Meere her. Und wenn sie die Angreifer nicht auf beiden Seiten schädigen können, so werden sie es doch auf dem einen Wege eher tun können, wenn sie über beide verfügen. Ferner ist es notwendig, daß sie einführen können, was bei ihnen nicht vorhanden ist, und ausführen können, wovon sie Überfluß haben. Den Überseehandel nämlich soll der Staat für sich und nicht für andere treiben. Jene aber, die bei sich einen Markt für alle einrichten, tun es um der Einkünfte willen. Einen derartigen Ehrgeiz soll der Staat nicht haben und darum auch nicht einen solchen Handelsplatz besitzen. Da wir nun sehen, daß faktisch viele Länder und Städte Ankerplätze besitzen und Häfen, die im Verhältnis zur Stadt günstig gelegen sind, so daß weder das Stadtgebiet selbst sie verwalten muß, noch sie allzu ferne liegen, sondern durch Mauern und andere Befestigungen gesichert sind, so ist klar, wenn durch eine solche Verbindung ein Vorteil entsteht, so soll unser Staat diesen Vorteil besitzen; entsteht aber ein Schaden, so kann man sich leicht durch Gesetze vor ihm hüten, indem man ausdrücklich jene nennt und bestimmt, welche Leute zum Handelsverkehr zugelassen werden und welche nicht. Was die Seemacht betrifft, so ist es offensichtlich am besten, wenn sie bis zu einem gewissen Umfange vorhanden ist. Denn man muß nicht bloß für sich selbst, sondern auch für manche Nachbarn furchterregend sein und Beistand leisten können, zur See so gut wie auf dem Lande. Was Zahl und Größe dieser Macht anlangt, so muß man auf die Lebensweise des Staates Rücksicht nehmen. Wenn er nämlich ein politisch führendes Leben haben will, so muß auch die Macht solchen Plänen angemessen sein. Die Menschenmenge freilich, die zu einer Flotte gehört, braucht nicht notwendig dem Staate anzugehören; denn es ist nicht wünschbar, daß sie zu den Bürgern zählen. Die Seesoldaten freilich sind Freie und gehören zu den Fußtruppen und befehlen und regieren über die Matrosen. Wo aber eine Menge von ausländischen Landarbeitern vorhanden ist, wird es auch eine Menge von Seeleuten geben müssen. So ist es gelegentlich in der Tat, wie etwa im Staate von Herakleia. Sie vermögen viele Trieren zu bemannen, obschon ihr Staat an Größe viel bescheidener ist als mancher andere. XII
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Über das Land, die Häfen, die Stadtanlage, das Verhältnis zum Meere und über die Seemacht sei also in der angegebenen Weise gehandelt. Was die Bürger betrifft, so haben wir über ihren Begriff und ihre Zahl schon früher geredet; von welcher Beschaffenheit sie ihrer Natur nach sein sollen, davon sei jetzt die Rede. 7. Eine Vorstellung davon wird man wohl erhalten, wenn man auf die unter den Griechen berühmten Staaten blickt und auf die sonstige Oikumene, so wie sie unter die Völker verteilt ist. Die Völker der kalten Regionen nämlich und jene in Europa sind von tapferem Charakter, stehen aber an Intelligenz und Kunstfertigkeit zurück; also sind sie vorzugsweise frei, aber ohne staatliche Organisation, und ohne über die Nachbarn herrschen zu können. Die Völker Asiens dagegen sind intelligent und künstlerisch begabt, aber kraftlos, und leben darum als Untertanen und Knechte. Das griechische Volk wohnt gewissermaßen in der Mitte zwischen beiden und hat darum an beiden Charakteren Anteil. Denn es ist energisch und intelligent. So ist es frei, hat die beste Staatsverfassung und die Fähigkeit, über alle zu herrschen, wenn es einen einzigen Staat bilden würde. Denselben Unterschied sehen wir auch bei den griechischen Stämmen untereinander. Die einen haben eine einseitige Natur, die andern haben die verschiedenen Fähigkeiten aufs beste vereint. Offensichtlich also müssen jene, die der Gesetzgeber leicht zur Tugend soll führen können, ihrer Natur nach sowohl intelligent wie auch tapfer sein. Wenn einige nämlich sagen, die Wächter müßten zu den Bekannten freundlich, zu Unbekannten aber böse sein, so ist es eben der Mut, der diese Freundlichkeit erzeugt. Denn dieses Seelenvermögen ist es, auf dem die Freundschaft beruht. Ein Beweis: Wer sich verachtet glaubt, erhebt sich im Zorne heftiger gegen Bekannte und Freunde als gegen Unbekannte. Darum beklagt sich auch Archilochos mit Recht über seine Freunde, wenn er zu seiner Seele spricht: »Die Freunde sind es, die dich erbittert haben.« Aber auch die Fähigkeit, zu herrschen und frei zu sein, haben alle auf Grund dieser Eigenschaft. Denn der Mut ist herrschend und unbeugsam. Doch ist es nicht richtig zu sagen, solche seien den Unbekannten XIII
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gegenüber böse. Denn gegen niemanden soll man so sein, und auch die von Natur großgesinnten sind nicht bösartig, außer gegen solche, die Unrecht tun. Doch dann sind sie es den Bekannten gegenüber erst recht, wie wir sagten, dann nämlich, wenn sie sich für ungerecht behandelt halten. Dies ist auch sinngemäß. Denn dort, wo sie meinen, daß man ihnen Wohltaten schulde, glauben sie, daß sie nicht nur den Schaden haben, sondern auch um jene betrogen werden. Darum heißt es: »Kämpfe unter Brüdern sind schlimm«, und: »Wer über das Maß geliebt hat, haßt auch über das Maß.« So ist denn ungefähr gezeigt, wie groß die Zahl der Bürger sein soll, welches ihre Natur, und wie groß und welcher Art das Land zu sein hat (denn man darf bei Dingen, die sich in der Wirklichkeit abspielen, nicht dieselbe Genauigkeit verlangen wie bei solchen, die der Theorie angehören). 8. Wie aber anderswo bei den Naturgebilden die Teile des Ganzen nicht identisch sind mit den Bedingungen, ohne die das Ganze nicht bestehen kann, so ist es klar, daß auch die notwendigen Voraussetzungen des Staates nicht als Teile des Staates gelten können, ebensowenig wie bei irgendeiner andern Gemeinschaft, die einen spezifischen Charakter hat (die Glieder der Gemeinschaft müssen nämlich ein Gemeinsames haben, mögen sie gleichmäßig oder ungleichmäßig daran teilhaben): also etwa die Nahrung oder ein Landgebiet oder anderes dergleichen. Wenn das eine das Mittel ist und das andere der Zweck, so gibt es zwischen diesen beiden nichts Gemeinsames, höchstens darin, daß das eine schafft und das andere entgegennimmt. Etwa wie sich jedes Werkzeug und der Handwerker zu dem Werk, das entstehen soll, verhalten: das Haus hat mit dem Baumeister nichts Gemeinsames, sondern die Baukunst ist um des Hauses willen da. So bedarf denn auch der Staat des Erwerbes, aber der Besitz ist nicht ein Teil des Staates; und es gibt viele lebende Wesen, die ein Teil des Besitzes sind. Der Staat ist nun eine Gemeinschaft von Ebenbürtigen zum Zwecke eines möglichst guten Lebens. Da weiterhin die Glückseligkeit das Beste ist, und sie in der Betätigung der Tugend und in dem XIV
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vollkommenen Umgang mit der Tugend besteht, und da außerdem die einen daran teilhaben können, die andern nur wenig und andere gar nicht, so ist es klar, daß aus dieser Ursache eben die verschiedenen Formen des Staates und die verschiedenen Verfassungen entstehen. Denn jeder sucht dies auf eine andere Weise und mit andern Mitteln, und so werden auch ihre Lebensformen und Staatsformen verschieden. Man wird aber immerhin fragen, wie viele Dinge es sind, ohne die ein Staat nicht bestehen kann. Denn auch, was wir als Teile des Staates auffassen, gehört wohl zu diesen, da sie mit Notwendigkeit vorhanden sein müssen. Man muß also die Zahl der Aufgaben feststellen, dann wird er klar werden. Als erstes muß die Nahrung vorhanden sein,dann die Handwerkskünste (denn um zu leben, bedarf es vieler Hilfsmittel), drittens die Waffen (denn die Glieder der Gemeinschaft brauchen Waffen unter sich zum Schutze der Regierung gegen die Ungehorsamen sowie gegen jene, die sie von außen angreifen wollen), ferner ein gewisser materieller Wohlstand, damit sie für den täglichen Bedarf wie für den Krieg etwas haben, fünftens und vor allem die Verehrung der Götter, die man Kult nennt, und als sechstes und notwendigstes von allem eine Instanz, die über das Zuträgliche urteilt und über das, was in der Gemeinschaft gerecht ist. Dies sind die Aufgaben, die sich so ziemlich für jeden Staat stellen (denn der Staat ist keine beliebige Menschenmasse, sondern eine solche, die, wie wir sagen, sich zum Leben selbst genügt; wenn irgend etwas davon fehlt, so ist es unmöglich, daß die Gemeinschaft sich schlechthin selbst genüge). Es ist also notwendig, daß der Staat auf diese Aufgaben auch eingerichtet sei; es muß also ausreichend viele Bauern geben, die die Nahrung bereitstellen, ebenso Handwerker und Krieger, ferner Wohlhabende, Priester und Richter über das Gerechte und Zuträgliche. 9. Nachdem dies festgestellt ist, ist schließlich zu prüfen, ob alle an allen diesen Verrichtungen teilhaben sollen (es könnten ja alle gleichzeitig Bauern, Handwerker, Ratsherren und Richter sein), oder ob man für jede einzelne Aufgabe Spezialisten nehmen soll; oder ist XV
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zwangsläufig einiges Sache der Spezialisten, anderes Sache von allen? Dies ist nicht in jeder Verfassung gleich. Wie wir oben sagten, können alle an allem beteiligt sein oder auch nicht, sondern die einen an diesem, die andern an jenem. Dies macht ja den Unterschied der Verfassungen aus. Denn in den Demokratien haben alle an allem teil und in den Oligarchien umgekehrt. Da wir nun nach der besten Verfassung fragen, also derjenigen, bei der der Staat am glücklichsten ist, und da wir vorhin feststellten, daß die Glückseligkeit ohne Tugend nicht bestehen kann, so ist es klar, daß im vollkommenen Staate, dessen Bürger also schlechthin und nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen gerecht sind, diese weder als Banausen noch als Krämer leben dürfen (denn ein solches Leben ist unedel und der Tugend widersprechend); ebenso wenig dürfen diejenigen, die vollkommene Bürger werden wollen, Bauern sein (denn es bedarf der Muße, damit die Tugend entstehen und politisch gehandelt werden kann). Da nun aber auch das kriegerische Element sowie das über das Zuträgliche Beratende und über das Gerechte Urteilende vorhanden und vorzugsweise ein Teil des Staates ist, soll man auch dies aufteilen oder beides denselben übertragen? Auch da ist deutlich, daß man es in gewisser Weise denselben, in anderer Weise verschiedenen übergeben muß. Denn jede dieser Aufgaben ist einem andern Lebensalter angemessen: die eine verlangt Einsicht und die andere Kraft, und so wird man sie verschiedenen geben. Denselben aber insofern, als diejenigen, die Gewalt anzuwenden und sich zu wehren vermögen, unmöglich immer die Gehorchenden bleiben können. Denn wer über die Waffen Herr ist, ist auch Herr darüber, daß die Verfassung bestehen bleibt oder nicht. Also wird die Verfassung diese politischen Aufgaben denselben übergeben, aber nicht gleichzeitig; sondern, da ja von Natur die Kraft bei den Jüngeren und die Einsicht bei den Älteren zuhause ist, so scheint es nützlich und gerecht, in diesem Sinne zu verteilen. Diese Verteilung entspricht auch der Würde. Auch der Besitz muß bei diesen sein. Denn die Bürger sollen wohlhabend sein, und die genannten sind eben die Bürger. Die Banausen gehören nämlich nicht zum Staate, noch auch irgendeine XVI
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andere Klasse, die nicht die Tugend zur Aufgabe hat. Dies ergibt sich aus der Voraussetzung: Was glückselig sein soll, muß die Tugend dazu besitzen können, und bei der Glückseligkeit eines Staates darf man nicht nur an einen Teil, sondern muß an die Gesamtheit der Bürgerschaft denken. So muß denn auch der Besitz diesen gehören, weil ja die Bauern Sklaven sein sollen oder umwohnende Barbaren. Es bleibt von der Aufzählung noch der Stand der Priester. Auch deren Einordnung ist klar. Weder einen Bauern noch einen Banausen darf man zum Priester machen (denn es ziemt sich, daß es die Bürger sind, die die Götter ehren), und da die politische Gemeinschaft in zwei Teile zerfällt, die Waffentragenden und die Beratenden, so wird man den Gottesdienst und die damit verbundene Ruhe den Alten geben, also ihnen die Priestertümer anvertrauen. Damit ist gesagt, welches die Bedingungen sind, ohne die der Staat nicht sein kann, und welches seine Teile sind (Bedingungen sind für den Staat notwendigerweise die Bauern, Handwerker und alle Tagelöhner; Teile des Staates sind die Waffentragenden und Beratenden. Jedes dieser Elemente steht für sich, teils dauernd, teils partiell). 10. Daß man den Staat nach Klassen einteilen müsse und daß die Waffentragenden und die Bauern voneinander geschieden werden sollen, ist nicht erst seit kurzem den Staatswissenschaftlern klar geworden. Denn in Ägypten hält man es heute noch so, ebenso in Kreta; in Ägypten soll es Sesostris so angeordnet haben, in Kreta Minos. Alt scheint auch die Einrichtung der Syssitien zu sein, in Kreta seit dem Königtum des Minos und in Italien seit noch viel älterer Zeit. Die Gelehrten sagen, es habe unter den dortigen Einwohnern einen König Italos von Oinotria gegeben, nach dem die Einwohner den Namen Oinotrer mit demjenigen der Italer vertauscht hätten, und von da hätte jene europäische Küste zwischen dem Skylletischen und dem Lametischen Golfe den Namen Italien erhalten. Diese beiden Punkte liegen eine halbe Tagereise voneinander entfernt. Dieser Italos soll die Oinotrer, die vorher Nomaden gewesen waren, zu Bauern gemacht und bei ihnen unter andern Gebräuchen auch als erster denjenigen der XVII
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Syssitien eingeführt haben. Darum gelten bei einigen seiner Nachfahren auch jetzt noch Teile seiner Gesetze und die Syssitien. Gegen Tyrrhenien hin wohnten die Opiker, die früher, wie jetzt, den Namen Ausoner trugen, gegen Iapygien und den Ionischen Golf die Choner, in dem Lande nämlich, das Siritis heißt. Auch die Choner gehörten zum Stamme der Oinotrer. Da entstand also zuerst die Ordnung der Syssitien; die Einteilung der Bürgerschaft in Klassen aber kommt aus Ägypten. Denn die Zeit des Sesostris ist viel früher als das Königtum des Minos. Man muß allerdings annehmen, daß auch sonst die meisten Dinge in der langen Zeit mehrfach entdeckt worden sind, oder vielmehr unendlich oft. Denn auf die notwendigen Dinge brachte die Menschen offenbar das Bedürfnis selbst, was aber zur Vornehmheit und zum Reichtum des Lebens gehört, das entwickelte sich vermutlich erst, als jenes schon bestand. Dasselbe wird auch wohl für die Verfassungsdinge gelten. Daß dies aber alles sehr alt ist, zeigt eben Ägypten. Denn diese scheinen das älteste Volk zu sein, und doch haben sie seit jeher Gesetze und eine politische Ordnung. So muß man sich denn klug an das schon Entdeckte halten, und was noch fehlt, festzustellen suchen. Daß also das Land denen gehören muß, die die Waffen tragen und die an der Regierung Anteil haben, wurde vorhin gesagt; ebenso, daß die Bauern von diesen verschieden sein sollen, und wie groß und welcher Art das Land sein muß. Nun haben wir zuerst über die Verteilung des Landes zu reden und darüber, wer und welcher Art die Leute sein sollen, die es bearbeiten; denn der Besitz soll nach unserer Ansicht ja nicht gemeinsam sein, wie einige meinten, sondern nur durch großzügigen Gebrauch gemeinsam werden, noch soll irgendeiner der Bürger der Nahrung ermangeln. Was die Syssitien angeht, so sind alle der Meinung, daß sie für gut eingerichtete Staaten eine nützliche Einrichtung darstellen. Warum auch wir dieser Meinung sind, werden wir später sagen. Daran müssen alle Bürger teilnehmen; freilich wird es für die Armen nicht leicht sein, vom Eigenen den vorgesehenen Beitrag zu liefern und für den übrigen Haushalt genug zu haben. Ebenso sind die Aufwendungen für die Götter vom ganzen Staate gemeinsam zu tragen. Also muß das XVIII
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Land zweigeteilt werden in einen gemeinsamen und einen privaten Teil, und davon jeder wiederum in zwei Teile: vom gemeinsamen sei der eine Teil für die Leistungen des Kultes bestimmt, der andere für den Unterhalt der Syssitien; vom privaten soll der eine Teil an den Staatsgrenzen gelegen sein, der andere mehr gegen die Stadt zu, damit jeder zwei Lose erhält und jeder an beiden Orten etwas habe. Denn so will es die Gleichheit und Gerechtigkeit, und so werden die Bürger auch im Kriege gegen Nachbarn besser zusammenhalten. Wo das nämlich nicht der Fall ist, da vernachlässigen die einen den Kampf gegen die Angrenzer, die andern dagegen denken allzusehr daran und mehr, als es schicklich ist. Darum gibt es gelegentlich das Gesetz, daß bei einem Kriege gegen die Nachbarn die unmittelbar an diese angrenzenden Bürger nicht mitberaten dürfen, weil sie wegen des privaten Interesses nicht richtig werden raten können. Aus diesen Gründen muß also das Land in der angegebenen Weise verteilt werden. Die Bauern sollen, wenn es nach Wunsch geht, am ehesten Sklaven sein, weder alle von gleicher Abkunft noch von mutigem Charakter (denn so werden sie, wie man annehmen darf, zur Arbeit tauglich sein, und man hat von ihnen keine Aufstände zu befürchten), in zweiter Linie umwohnende Barbaren von ähnlicher Art wie die Sklaven. Von diesen sollen die Privatsklaven auf den privaten Landstücken wohnen, und jene, die das gemeinsame Land bebauen, sollen Staatssklaven sein. Wie man aber mit den Sklaven umgehen soll und daß es gut ist, allen Sklaven als Lohn für ihre Leistung die Freiheit zu versprechen, davon wollen wir später reden. 11. Daß der Staat so gleichmäßig als möglich auf Festland und Meer und auf die Gesamtheit des Festlandes verteilt sein soll, das wurde schon ausgeführt. Was aber die Lage der Stadt selbst angeht, so wäre es wünschbar, daß sie auf vier wesentliche Punkte Rücksicht nähme: erstens, wie es notwendig ist, auf die Gesundheit (jene, die sich nach Osten neigen und gegen die Ostwinde zu offen sind, sind am gesündesten, in zweiter Linie dann die nach Norden gewandten, da sie den Winterstürmen offenstehen). Weiterhin muß sie für die Aufgaben XIX
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von Krieg und Frieden günstig daliegen. Was die kriegerischen angeht, so muß sie gute Ausgänge haben, den Gegnern aber schwer zugänglich und schwer zu umzingeln sein; sie muß so weit als möglich am Orte selbst eine Menge von Quellen und Bächen besitzen; ist dies nicht der Fall, so muß man den Mangel durch die Anlage zahlreicher und großer Zisternen für das Regenwasser ersetzen, so daß es nie an Wasser fehlt, wenn man durch Feinde vom offenen Lande abgeschnitten sein sollte. Auch die Gesundheit der Einwohner hängt zwar erstens an einer guten Lage und Orientierung des Ortes, zweitens aber am Vorhandensein von gesundem Wasser; so darf man diesen Punkt keineswegs vernachlässigen. Denn was wir für den Körper am meisten und am häufigsten benötigen, das ist auch für die Gesundheit am wichtigsten. Und dazu gehört eben die Beschaffenheit des Wassers und der Luft. Darum muß in wohlberatenen Staaten, wo das Wasser nicht überall gleich gut und in gleicher Fülle vorhanden ist, dafür gesorgt werden, daß das Trinkwasser von demjenigen zum sonstigen Gebrauche abgetrennt gehalten werde. Was die befestigten Stellen betrifft, so ist nicht für alle Staaten dasselbe empfehlenswert. Eine Burg gehört zu einer Oligarchie oder Monarchie, eine ebene Fläche zur Demokratie, und zur Aristokratie weder das eine noch das andere, sondern eher eine Mehrzahl fester Plätze. Die Einrichtung der Privathäuser gilt als hübscher und in vielfacher Hinsicht praktischer, wenn sie geradlinig ist und dem neueren und hippodamischen Prinzip folgt. Für die Sicherheit im Kriege ist jedoch das Gegenteil, so wie es früher war, besser. Denn da finden sich Fremde schlecht heraus, und Eindringlinge kommen nur mühsam hindurch. Also muß man beides berücksichtigen (man kann dies, wenn man es macht, wie es auf dem Land üblich ist und was einige das Prinzip der Rebpfähle nennen): man soll im ganzen die Stadt nicht geradlinig einrichten, wohl aber in ihren einzelnen Teilen. Dann ist sowohl für die Sicherheit wie auch für die Schönheit gesorgt. Was die Mauern betrifft, so haben jene, die erklären, ein Staat, der nach Tugend strebe, habe keine solchen nötig, etwas gar zu
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altertümliche Ansichten, vor allem da sie sehen, wie es den Staaten geht, die sich mit dergleichen Erklärungen gebrüstet haben. Einem ebenbürtigen und an Zahl nicht sehr überlegenen Feinde gegenüber ist es nicht ehrenvoll, hinter festen Mauern Schutz zu suchen. Da es aber durchaus vorkommen kann, daß die Masse der Angreifer für die menschliche Tapferkeit einer Minderzahl zu groß wird, so muß man, wenn man sich retten und nicht Unglück und Mißhandlung erleiden will, annehmen, daß die zuverlässigste Festigkeit der Mauern auch am kriegsgemäßesten ist; dies vor allem heute, wo so präzise Geschütze und Belagerungsmaschinen erfunden worden sind. Denn die Städte nicht zu ummauern bedeutet dasselbe, wie wenn man einen jedem Einfall offenen Ort suchen und die Höhenzüge ringsum abtragen oder um die Privatwohnungen keine Umfassungsmauern errichten wollte, da sonst die Bewohner feige würden. Man muß auch beachten, daß Bürger, die ihre Stadt ummauert haben, durchaus frei sind, sich ihrer zu bedienen oder nicht; wer aber keine Mauern hat, hat keine Wahl. Wenn es sich aber so verhält, dann soll man nicht nur Mauern darum ziehen, sondern sie auch unterhalten, damit sie in einem würdigen und für den Kriegsfall bereiten Zustand bleiben, vor allem im Hinblick auf die neuen Erfindungen. Denn wie die Angreifer alles vorsehen, um sich die Oberhand zu sichern, so müssen auch die Verteidiger sich alles zunutze machen und Neues dazu suchen und erfinden. Denn man wird Leute überhaupt nicht angreifen, die wohl vorbereitet sind. 12. Da nun die Gesamtheit der Bürger auf die Syssitien verteilt sein soll und die Mauern durch Wachlokale und Türme unterbrochen sind, die sich an geeigneten Stellen befinden, so liegt es nahe, einige der Syssitien auch in den Wachlokalen selbst einzurichten. Auf solche Weise ließe sich also dieser Punkt verwirklichen. Die Häuser für den Kult und die wichtigsten Syssitien für die Beamten sollen jedoch an einem passenden Orte beisammen sein, soweit nicht das Gesetz oder ein pythischer Orakelspruch für die Heiligtümer einen bestimmten Platz zuweist. Dieser Ort muß seinem Range gemäß sichtbar sein und fester gebaut als die angrenzenden Teile der Stadt. Unterhalb dieses XXI
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Ortes soll sich ein Markt befinden von der Art, die man in Thessalien »freien Markt« nennt; er hat unberührt zu sein von allen Verkaufsgeschäften, und kein Banause oder Bauer oder dergleichen darf ihn betreten, es sei denn, er werde von der Regierung zitiert. Dieser Ort wäre hübsch angelegt, wenn sich auch die Turnplätze der Männer dort befänden. Denn auch diese Einrichtungen sollen dem Alter nach getrennt werden, und bei den Jüngeren sollen sich bestimmte Beamte aufhalten, die Älteren dagegen umgekehrt bei den Beamten. Denn die sichtbare Gegenwart der Beamten erzeugt am ehesten die wahre Ehrfurcht und den Respekt vor den Freien. Der Geschäftsmarkt dagegen soll von diesem abgetrennt und anderswo sein, an einem Ort, wohin die Importe vom Meere wie diejenigen vom Lande her leicht geschafft werden können. Da ferner die Vorsteher der Stadt sich in Priester und Beamte aufteilen, so sollen auch die Syssitien der Priester ihren Ort nahe bei den Kultgebäuden haben. Die Beamten dagegen, die für die Verträge zuständig sind, für Anklageschriften und für Vorladungen und dergleichen Verwaltungsakte, ferner für die Marktpolizei und die sogenannte Stadtpolizei, müssen sich beim Markte und an einem allgemein zugänglichen Orte aufhalten, also beim Verkaufsmarkt. Denn jener erste war der Muße vorbehalten, dieser dagegen den notwendigen Geschäften. Dieselbe Ordnung muß auch auf dem Lande nachgebildet werden. Auch dort muß es für die Beamten, die man Waldaufseher oder etwa Feldpolizei nennt, bestimmte Wachlokale geben und in deren Nähe die Syssitien; außerdem müssen über das Land hin Heiligtümer für die Götter und für die Heroen verteilt sein. Indessen ist es zwecklos, diese Dinge in alle Einzelheiten auszuführen und sich darüber zu verbreiten. Denn es ist leichter, dergleichen auszudenken, als auszuführen. Zu reden ist Angelegenheit des Wünschens; daß es geschieht, Angelegenheit des Glücks. So wollen wir denn diese Dinge hier nicht weiter verfolgen. 13. Nun ist von der Verfassung selbst zu reden und festzustellen, aus welchen und was für Elementen ein Staat bestehen soll, der glücklich sein und gut regiert sein soll. XXII
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Es gibt zwei Dinge, auf denen überall das Gelingen beruht: das eine ist, daß die Absicht und das Ziel des Handelns richtig bestimmt werde, das andere, die zu diesem Ziele führenden Mittel zu finden. (Denn diese zwei Punkte können miteinander in Einklang stehen oder nicht; zuweilen ist die Absicht richtig, aber im Handeln verfehlt man das Treffen; zuweilen sind alle Mittel zum Zwecke richtig gewählt, aber das Ziel selbst ist falsch, und zuweilen endlich verfehlt man beides, wie es in der Medizin geschehen kann: zuweilen bestimmt der Arzt weder richtig, wie der gesunde Körper aussehen muß, noch vermag er die Mittel zur Erreichung des ihm vorschwebenden Zieles zu finden. Also muß man in den Künsten und Wissenschaften beides beherrschen, das Ziel und die Wege zum Ziel.) Daß nun alle Menschen nach dem vollkommenen Leben und der Glückseligkeit streben, ist klar. Aber die einen haben die Möglichkeit, dahin zu gelangen, die andern nicht, durch den Zufall der Umstände oder durch ihre Natur (denn das edle Leben bedarf gewisser Hilfsmittel, und zwar die gut Gebildeten in geringerem, die schlecht Gebildeten in höherem Maße). Andere wiederum suchen die Glückseligkeit überhaupt nicht auf dem richtigen Wege, obschon sie dazu die Möglichkeit hätten. Da nun unsere Aufgabe ist, nach der vollkommenen Verfassung zu fragen, also derjenigen, nach der ein Staat am besten zu leben vermag, und ein Staat wohl nach derjenigen Verfassung am besten lebt, in der die Glückseligkeit am ehesten verwirklicht werden kann, so müssen wir natürlich wissen, was die Glückseligkeit ist. Wir behaupten nun (wir haben dies in der Ethik untersucht und machen uns das Dortige zunutze), daß sie eine Tätigkeit und ein vollkommener Gebrauch der Tugend sei, und dies nicht bedingungsweise, sondern unbedingt. Bedingungsweise nenne ich das Unentbehrliche, unbedingt nenne ich das Schöne. So etwa bei den gerechten Handlungen: gerechte Strafen und Züchtigungen sind tugendgemäß, aber bedingungsweise und haben das Edle nur bedingungsweise an sich (denn es wäre besser, daß der Einzelne wie der Staat dergleichen überhaupt nicht nötig hätten), dagegen sind die Handlungen, die sich auf Ehre und Besitz beziehen,
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unbedingt edel. Denn das eine ist die Beseitigung eines Übels, das andere das Gegenteil. Es ist Einrichtung und Erzeugung von Gutem. Gewiß wird ein tugendhafter Mann sich auch in Armut, Krankheit und ähnlichen Unglücksfällen edel verhalten. Aber die Glückseligkeit besteht im Gegenteil (auch dies war in der Ethik festgelegt, daß der Tugendhafte so ist, daß wegen seiner Tugend für ihn das schlechthin Gute gut ist; dann werden auchseine Verhaltensweisen schlechthin gut und edel sein müssen). Darum meinen auch die Leute, daß die äußeren Güter die Ursache der Glückseligkeit seien, also wie wenn man die Ursache eines glänzenden und schönen Kitharaspieles eher im Instrument als in der Kunst sehen wollte. So muß denn dem Gesagten gemäß das eine schon vorhanden sein, das andere durch den Gesetzgeber geschaffen werden. Wir hoffen also, daß der Staat in seinem Aufbau die Dinge zur Verfügung hat, über die das Glück regiert (denn daß es über gewisse Dinge regiert, nehmen wir an). Daß aber der Staat tugendhaft sei, das ist nicht mehr ein Werk des Glücks, sondern der Einsicht und des Willens. Ein tugendhafter Staat besteht darin, daß die an der Regierung teilhabenden Bürger tugendhaft sind. Und nach unserer Voraussetzung werden alle Bürger an der Regierung teilhaben. Man muß also prüfen, wie einer ein tugendhafter Mann wird. Denn selbst wenn es möglich wäre, daß die Gesamtheit der Bürger tugendhaft wäre, nicht aber jeder einzelne, so wäre doch dieses wünschbarer. Denn wenn es jeder einzelne ist, so sind es auch alle. Gut und tugendhaft wird man durch drei Dinge, nämlich Anlage, Gewöhnung und Einsicht. Zuerst muß man geboren sein, als Mensch nämlich und nicht als irgendein anderes Lebewesen, und dann auch mit bestimmten Eigenschaften des Körpers und der Seele. In einigen Dingen nützt die Anlage nichts, denn die Gewöhnung verändert sie. Denn es gibt einige, von Natur ambivalente Eigenschaften, die sich durch die Gewöhnung zum schlechtern oder zum bessern wenden können. Die andern Lebewesen leben zur Hauptsache von der Naturanlage, einige auch teilweise durch Gewohnheit, der Mensch aber auch mit der Vernunft. Nur er besitzt sie. So muß dieses alles miteinander übereinstimmen. Denn die Menschen machen vieles XXIV
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gegen die Gewohnheit und gegen die Anlage durch die Vernunft, wenn sie sich davon überzeugen, daß es anders besser sei. Wie nun jene, die das geeignete Material für den Gesetzgeber darstellen sollen, ihrer Natur nach beschaffen zu sein haben, wurde früher gesagt. Das übrige ist die Aufgabe der Erziehung. Denn das eine lernen die Menschen durch Gewöhnung, das andere durch Hören. 14. Da nun jede politische Gemeinschaft aus Regierenden und Regierten zusammengesetzt ist, so müssen wir untersuchen, ob die Regierenden und die Regierten ihr Leben hindurch dieselben oder verschiedene sein sollen. Denn nach der Entscheidung in diesem Punkte wird sich auch die Erziehung richten müssen. Wenn sich nun die einen von den andern so unterscheiden, wie wir meinen, daß die Götter und Heroen sich von den Menschen unterscheiden, nämlich mit einer großen Überlegenheit erst im Körperlichen, dann auch seelisch, so daß also der Vorrang der Regierenden über die Regierten unbestreitbar und sichtbar wäre, so wäre es offensichtlich besser, wenn stets und ein für allemal dieselben regierten und regiert würden. Da dies aber nicht leicht anzunehmen ist, und es auch nicht vorkommt, wie es Skylax von den Indern berichtet, daß die Könige dort in der Tat die Untertanen in solchem Maß überragen, so ist es also offenbar aus vielerlei Ursachen notwendig, daß alle in gleicher Weise abwechselnd regieren und regiert werden. Denn für Gleiche gilt das Gleiche, und eine Verfassung, die nicht auf der Gerechtigkeit aufgebaut ist, hat es schwer, sich zu behaupten. Denn nicht nur die Regierten, sondern auch alle auf dem Lande werden sich zum Umsturz bereit finden, und daß die Teilhabenden an der verfassungsmäßigen Regierung so zahlreich wären, daß sie alle diese überwältigen könnten, ist undenkbar. Anderseits ist es unbestritten, daß die Regierenden sich vor den Regierten auszeichnen müssen. Worauf dies beruhen wird, und wie sie dementsprechend an der Regierung Anteil erhalten, das hat der Gesetzgeber festzustellen. Darüber ist vorher gesprochen worden. Denn die Natur selbst hat eine Einteilung an die Hand gegeben, indem sie die Menschen von derselben Art teils älter, teils jünger machte, so XXV
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daß also das eine regieren, das andere regiert werden soll. Darüber wird sich keiner ärgern, daß er seinem Alter entsprechend regiert wird, und hält sich nicht für zu gut dazu, zumal da er ja auch später selbst den Lohn dafür empfangen wird, wenn er in das angemessene Alter kommt. So sind es in einem Sinne dieselben, die regieren und regiert werden, in einem andern Sinne andere. Demgemäß muß auch die Erziehung teils dieselbe, teils eine andere sein. Man sagt ja, daß der, der gut regieren soll, zuvor regiert werden muß. (Regiert wird, wie wir am Anfang gesagt haben, bald zu Gunsten des Regierenden, bald zu Gunsten des Regierten. Das eine ist die Herrschaft über Sklaven, das andere diejenige über Freie. Die Aufgaben unterscheiden sich vielfach nicht dem Inhalt, sondern dem Zwecke nach. So gibt es viele Pflichten, die als dienende gelten, denen sich aber auch freigeborenejunge Leute unterziehen sollen. Denn das Edle und Unedle im Handeln unterscheidet sich nicht an der Sache selbst, als vielmehr am Zwecke und an der Absicht.) Da wir nun behaupten, daß die Tugend des Bürgers, des Regierenden und die des vollkommenen Mannes dieselbe sei, und da derselbe Mensch zuerst Regierter sein wird und dann erst Regierender, so wird also der Gesetzgeber darauf achten müssen, wie und durch welche Tätigkeiten die Menschen tugendhaft werden, und welches das Ziel des vollkommenen Lebens ist. Es werden zwei Seelenteile unterschieden, deren einer an sich vernunftbegabt ist, der andere zwar nicht an sich, aber doch fähig, auf die Vernunft zu hören. Diesen beiden gehören die Tugenden zu, denen gemäß einer irgendwie ein tugendhafter Mensch heißt. Die Antwort auf die Frage, bei welchem der Teile eher das Ziel sei, ist nicht schwer zu geben, wenn man in derselben Weise einteilt wie wir. Denn stets ist das Geringere um des Besseren willen da, und dies gilt in den Dingen der Kunst wie in den Dingen der Natur. Besser ist aber das Vernunftbegabte. Dieses ist aber in der Art, wie wir es zu tun pflegen, wiederum zweigeteilt: die eine Vernunft ist handelnd, die andere betrachtend, und demgemäß ist notwendigerweise auch der Seelenteil unterschieden. Auch bei den Tätigkeiten besteht nach unserer Meinung das entsprechende Verhältnis, und die Handlungen des XXVI
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bessern Seelenteils müssen wünschbarer sein für jene, die entweder alle oder doch diese beiden zu erreichen vermögen. Denn für jedes ist das das Wünschbarste, was für es das höchste Erreichbare darstellt. So ist denn auch das ganze Leben zweigeteilt in Arbeit und Muße, in Krieg und Frieden, und von den Zielen des Tuns sind die einen notwendig und nützlich, die andern edel. Da muß es denn dieselbe Entscheidung geben wie bei den Seelenteilen und ihren Tätigkeiten, daß nämlich der Krieg um des Friedens willen, die Arbeit um der Muße willen und das Notwendige und Nützliche um des Edlen willen zu betreiben ist. Der Staatsmann hat demnach als Gesetzgeber auf alles zu achten im Hinblick auf die Seelenteile und ihre Tätigkeiten, und vor allem in der Richtung auf das Bessere und auf das Ziel. Dasselbe gilt bei der Entscheidung über die Lebensformen und die Gegenstände. Denn man muß arbeiten und Krieg führen können, aber noch eher Frieden halten und Muße üben, und das Notwendige und Nützliche tun, aber noch eher das Edle. Auf diese Ziele hin muß man schon die Kinder unterrichten, und so auch die andern Lebensalter, solange sie der Erziehung bedürfen. In Wirklichkeit aber zeigt sich nun, daß jene griechischen Staaten, die als die besteingerichteten gelten, und die Gesetzgeber, die sie eingerichtet haben, die Verfassungen durchaus nicht auf dieses oberste Ziel hin aufgebaut noch auch in den Gesetzen und der Erziehung alle Tugenden berücksichtigt haben, sondern vielmehr in vulgärer Weise abgebogen sind auf jene, die als besonders nützlich und erfolgversprechend gelten. Auch von den spätern haben einige, die Theorien darüber verfaßt haben, sich ähnlich geäußert. Denn sie loben die spartanische Verfassung und bewundern die Zielsetzung des Gesetzgebers, daß er alles auf den Sieg und auf den Kampf eingerichtet hat. Dies ist theoretisch leicht zu widerlegen und ist nun auch in der Praxis widerlegt. Denn wie die meisten Menschen danach verlangen, über recht viele Leute zu regieren, weil sie dann eine Masse von äußeren Vorteilen haben, so scheint auch Thibron den spartanischen Gesetzgeber darum bewundert zu haben und auch alle andern, die über ihre Verfassung geschrieben haben, weil die XXVII
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Spartaner infolge ihrer Abhärtung in Gefahren über viele Menschen regierten. Aber jetzt bleibt den Spartanern von ihrer Herrschaft nichts mehr übrig, und sie sind offenbar auch nicht mehr glücklich, und so ist auch ihr Gesetzgeber nicht gut gewesen. Denn dies ist doch lächerlich, daß sie zwar bei seinen Gesetzen blieben, ohne daß sie einer hinderte, sie anzuwenden, und nun trotzdem das vollkommene Leben verloren haben. Man hat auch keine richtige Auffassung von der Regierungsform, die der Gesetzgeber offenbar besonders hoch schätzen soll. Die Regierung über Freie ist nämlich edler und reicher an Tugend als diejenige über Sklaven. Man darf fernerhin den Staat nicht dann für glücklich halten und den Gesetzgeber loben, weil er sie zu siegen lehrte, um die Nachbarn zu beherrschen. Das bringt nur großen Schaden. Denn dann wird auch jeder Bürger, der dazu in der Lage ist, versuchen, ob er nicht seinen eigenen Staat beherrschen könne. Dies werfen die Spartaner aber gerade ihrem König Pausanias vor, der doch ein so hohes Ansehen genoß. Dergleichen Theorien und Gesetze sind also weder staatsmännisch noch nützlich noch richtig. Denn das Vollkommene ist für die Gemeinschaft wie für den einzelnen dasselbe, und der Gesetzgeber muß eben dies in die Seelen der Menschen einprägen. Die Übung zum Kriege soll man nicht darum pflegen, um Unschuldige versklaven zu können, sondern erstens, um selbst nicht von andern unterworfen zu werden, und sodann, um eine Führerstellung zum besten der Regierten einzunehmen, aber nicht, um 'als Herr über alle zu gebieten, und drittens, um als Herr zu regieren über jene, die mit Recht in der Sklaverei sind. Daß nun der Gesetzgeber mehr darauf achten soll, daß die Gesetzgebung über den Krieg und das Sonstige um des Friedens und der Muße willen eingerichtet werde, das bestätigen auch die Tatsachen. Denn die meisten kriegerischen Staaten bleiben erhalten, solange sie Krieg führen, aber wenn sie einmal die Herrschaft gewonnen haben, gehen sie zugrunde. Denn im Frieden verlieren sie, wie das Eisen, ihre Härte. Schuld daran ist der Gesetzgeber, der sie nicht zur Muße erzogen hatte. XXVIII
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1 5. Da nun das Ziel für die Gemeinschaft und den einzelnen dasselbe ist, und demnach dieselbe Bestimmung gelten muß für den vollkommenen Menschen und die vollkommene Verfassung, so müssen augenscheinlich in den Verfassungen die auf die Muße hinzielenden Tugenden vorhanden sein. Denn das Ziel ist, wie schon oft gesagt, im Kriege der Frieden und in der Arbeit die Muße. Für die Muße und das freie Leben sind unter den Tugenden jene nützlich, die in der Muße ihr Werk tun, aber auch jene der Arbeit. Denn es muß viel Notwendiges schon vorhanden sein, damit man in Muße leben kann. So muß der Staat zuchtvoll sein und tapfer und ausdauernd, denn nach dem Sprichwort haben Sklaven keine Muße; wer aber nicht tapfer Gefahren überstehen kann, der ist Sklave dessen, der ihn angreift. Man bedarf also der Tapferkeit und Ausdauer zur Arbeit, der Philosophie zur Muße, und der Zucht und Gerechtigkeit in beiden Fällen, vor allem aber, wenn man Frieden hält und Muße übt. Denn der Krieg zwingt zu Gerechtigkeit und Selbstzucht, aber der Genuß des Glücks und die Muße im Frieden macht die Menschen eher übermütig. Also brauchen besonders viel Gerechtigkeit und Selbstzucht jene, denen es vollkommen gut zu gehen scheint und die alle die selig gepriesenen Güter genießen – jene Güter, so wie sie sich nach den Dichtern auf den Inseln der Seligen finden. Solche brauchen am allermeisten die Philosophie und die Zucht und Gerechtigkeit, je mehr sie in der Fülle solcher Güter in Muße leben. Daß also ein Staat, der glückselig und tugendhaft sein soll, eben an diesen Tugenden teilhaben muß, ist klar. Denn wenn es beschämend ist, nicht mit den Gütern richtig umgehen zu können, so ist es noch beschämender, dies nicht mit der Muße zu können, sondern in der Arbeit und im Kriege tüchtig zu erscheinen, dagegen im Frieden und in der Muße sklavisch. Also soll man nicht die Tugend üben wie der Staat der Spartaner. Denn diese unterscheiden sich nicht darin von den andern, daß sie andere Dinge für die höchsten Güter hielten als alle andern, sondern darin, daß sie meinen, diese ließen sich vorzugsweise durch eine bestimmte Tugend erreichen. Und da sie diese Güter und deren Genuß XXIX
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höher als die Tugend schätzten... daß man aber die Tugend um der Tugend selbst willen üben muß, ist klar. Wie aber und auf welchem Wege, das ist jetzt zu fragen. Wir haben oben unterscheidend festgestellt, daß es der Anlage, der Gewöhnung und der Vernunft bedarf. Wie die Menschen ihrer Naturanlage nach sein sollen, war früher festgestellt; es bleibt übrig, zu fragen, ob man sie eher mit der Vernunft erziehen soll als mit der Angewöhnung. Denn dieses muß gegenseitig im schönsten Einklang stehen. Man kann nämlich mit seiner Vernunft die beste Absicht verfehlen, und man kann auch durch die Gewohnheit ebenso fehlgehen. Zuerst ist klar, daß hier wie überall die Entstehung einen Anfang hat und das Ziel sich daher bestimmt, woraufhin jeweils der Anfang ausgerichtet ist. Für uns sind Vernunft und der Geist das Ziel der Natur, so daß man daraufhin das Werden und die Sorge um die Gewohnheiten einrichten muß. Ferner, da Seele und Leib zwei Dinge sind und in der Seele zwei Teile, der vernunftlose und der vernunftbegabte, und diese nun wieder zwei Verhaltensweisen zeigen, das Streben und das Erkennen, so ist ebenso der Körper seinem Werden nach früher als die Seele, und das Vernunftlose früher als das Vernunftbegabte. Das zeigt sich so: Zorn und Wollen und ebenso das Begehren hat das Kind von Geburt an, die Überlegung und der Geist kommen aber erst mit fortschreitendem Alter. So muß man denn zuerst für den Körper sorgen und dann für die Seele und dann für das Begehren, und zwar für dieses um des Geistes willen, für den Körper aber um der Seele willen. i6. Da nun der Gesetzgeber von Anfang an darauf achten muß, daß die Körper der Säuglinge so tüchtig wie möglich werden, so muß er sich zuerst um die Ehe kümmern, was fürMenschen sich miteinander ehelich verbinden sollen und wann sie das tun sollen. Die Gesetze darüber sollen diese Gemeinschaft an sich und für die Zeit des Lebens berücksichtigen, damit sie im gleichen Rhythmus älter werden und die Fähigkeiten nicht in der Weise sich unterscheiden, daß der Mann wohl noch zeugen kann, die Frau aber nicht mehr gebären, oder umgekehrt (denn dies schafft Zwistigkeiten und Auseinandersetzungen). Ebenso XXX
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soll auch die Abfolge der Kinder bedacht werden. Die Kinder sollen an Jahren ihrem Vater nicht gar zu sehr nachstehen, denn dann nützt den Älteren der Dank von den Kindern nichts mehr, noch auch den Kindern die Hilfe, die der Vater soll leisten können; noch sollen sie ihm zu nahe kommen, denn dies schafft viele Schwierigkeiten; es fehlt dann wie unter Altersgenossen allzusehr der Respekt, und die Vertrautheit führt zu Diskussionen hinsichtlich der Hausverwaltung. Ferner, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, müssen die Kinder auch körperlich in der vom Gesetzgeber gewünschten Verfassung sein. Dies alles läßt sich durch eine einzige Vorkehrung erreichen. Da die Zeugungsfähigkeit für den Mann im Ganzen gesehen im äußersten Falle siebzig Jahre ist, für die Frau fünfzig, so muß die Vereinigung dem Alter nach diese Zahlen berücksichtigen. Die Verbindung von ganz Jungen ist für die Kinderzeugung schädlich. Denn bei allen Lebewesen sind die Kinder von zu jungen Eltern schwächlich, überwiegend weiblich und von unansehnlicher Gestalt, so daß dies zwangsläufig auch für die Menschen gelten wird. Ein Beweis: in den Staaten, in denen es Sitte ist, daß junge Leute sich miteinander verbinden, da sind sie körperlich schwach und klein. Auch leiden die jungen Frauen bei der Geburt mehr und sterben häufiger. So soll denn auch aus solchen Ursachen ein Orakel an die Troizenier ergangen sein, daß viele sterben wegen des zu frühen Heiratens der Mädchen, und nicht wegen der Einholung der Feldfrucht. Es ist auch im Hinblick auf die Zucht besser, wenn die Mädchen in etwas höherem Alter verheiratet werden. Denn die jungen Frauen sind, wie man meint, im Beischlaf gar zu zügellos. Außerdem glaubt man, daß das Wachstum der Männer leide, wenn sie den Beischlaf pflegen, während der Same noch im Wachsen ist. Denn auch da gibt es eine feste Zeit, über die hinaus keine Ansammlung mehr stattfindet. So ist es richtig, die Mädchen etwa mit achtzehn und die Männer etwa um siebenunddreißig Jahre herum zu verheiraten. Denn dann sind sie körperlich auf der Höhe bei der Vereinigung, und die Fruchtbarkeit hört später für beide Teile zur selben Zeit auf. Auch geschieht die Abfolge der Kinder für die ersten in der Blütezeit, wenn XXXI
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sie, wie zu erwarten, gleich zur Welt kommen, und für die spätesten dann, wenn mit dem siebzigsten Lebensjahr die Altersschwäche beginnt. So ist also gesagt, wann die Vereinigung stattfinden soll. Was aber die Jahreszeit angeht, so kann man sich mit Recht an den üblichen Brauch halten und die Vereinigung sich im Winter vollziehen lassen. Die Gatten müssen sich dazu selbst erkundigen, was die Ärzte und die Naturforscher sagen. Denn die Ärzte bezeichnen genau die verschiedenen Zeiten für den Körper, die Naturforscher untersuchen die Windverhältnisse und erklären die Nordwinde für besser als die Südwinde. Welche körperlichen Dispositionen für die Nachkommenschaft am förderlichsten sind, darüber ist eher in den Untersuchungen über die Aufzucht der Kinder zu sprechen. Hier sei dies nur im Umriß berührt. Die Konstitution der Athleten ist nützlich weder für die politische Tätigkeit, noch für die Gesundheit oder die Kinderzeugung, ebenso auch nicht die zarte und allzu schwächliche, sondern eben die mittlere. Man muß also trainiert sein, aber nicht mit allzu gewaltsamen Mitteln und nicht einseitig wie bei den Athleten, sondern in großzügiger Weise. Dasselbe gilt hier für Männer und Frauen. Auch die Schwangeren müssen für ihren Körper sorgen und weder sich gehen lassen, noch bloß trockene Nahrung genießen. Dies kann der Gesetzgeber leicht damit bewerkstelligen, daß er täglich einen Gang zur Verehrung derjenigen Götter vorschreibt, die als Schützer der Geburten gelten. Den Geist dagegen müssen sie im Gegensatz zum Körper mehr in Ruhe lassen. Denn das Kind scheint Dinge von der Mutter aufzunehmen, wie die Pflanzen von der Erde. Was Aussetzung oder Aufnahme der Kinder anlangt, so soll es Gesetz sein, daß nichts Verstümmeltes aufgezogen wird; wenn dagegen die Zahl der Kinder zu groß wird, so verbietet zwar die Ordnung der Sitten, irgendein Geborenes auszusetzen; dennoch soll die Zahl der Kinder eine Grenze haben, und wenn ein Kind durch die Vereinigung über diese Grenze hinaus entsteht, so soll man es entfernen, bevor es Wahrnehmung und Leben erhalten hat. Denn was erlaubt ist oder nicht, soll sich nach dem Vorhandensein von Wahrnehmung und Leben richten.
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Da also für Mann und Frau das früheste Alter festgelegt ist,in welchem sie zur Vereinigung schreiten können, so sei auch festgelegt, bis zu welchem Alter sie Kinder erzeugen sollen. Denn die Nachkommen von zu alten Eltern werden wie diejenigen der zu jungen verkürzt an Körper und Seele, und die der Greise einfach schwach. Also muß man sie zeugen, wenn der Geist auf seiner Höhe ist; das ist zumeist (entsprechend dem, wie die Dichter das Leben in Heptaden eingeteilt haben) um das fünfzigste Altersjahr herum. Vier oder fünf Jahre nach diesem Zeitpunkt soll man keine Kinder, die öffentlich anerkannt werden sollen, mehr zeugen. Im weiteren wird man wohl der Gesundheit wegen und aus andern derartigen Ursachen den Beischlaf weiter pflegen dürfen. Was aber den Verkehr mit andern Frauen oder Männern angeht, so scheint dies durchaus unstatthaft, solange ein Gatte faktisch vorhanden ist. Tut einer dies aber in der Zeit der Kinderzeugung, so soll er mit einer dem Vergehen entsprechenden Strafe belegt werden. 17. Sind die Kinder geboren, so hat, wie man annehmen muß, die Nahrung auf die Entwicklung des Körpers einen sehr großen Einfluß. Es zeigt sich an der Beobachtung der andern Lebewesen und an den Völkern, die ihre Leute zu einer kriegerischen Haltung erziehen wollen, daß eine reichliche Milchnahrung den Körpern am angemessensten ist, dagegen wenig Wein wegen der Krankheiten. Ferner soll auch soviel Bewegung vorgenommen werden, als das Alter es zuläßt. Um aber die noch weichen Glieder nicht zu verbiegen, verwenden noch heute einige Völker mechanische Hilfsmittel, die den Körper der Kinder fest machen. Auch an Kälte müssen sich die Kinder möglichst bald gewöhnen. Denn dies ist für die Gesundheit wie für die Kriegstüchtigkeit äußerst zweckmäßig. So gibt es bei vielen Barbaren die Sitte, die Neugeborenen in einem kalten Flusse einzutauchen, bei andern, wie bei den Kelten, ihnen nur ganz geringe Kleidung zu geben. Man muß sie also an alles gewöhnen, was man kann, und am besten gleich damit beginnen, aber ganz planmäßig. Denn wegen seiner angeborenen Wärme ist der Körper der Kinder besonders leicht an die Kälte zu gewöhnen.
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Im ersten Lebensalter ist es also zweckmäßig, diese und ähnliche Vorkehrungen zu treffen. Im folgenden Alter bis zum fünften Jahre soll man sie noch nicht zum Lernen anhalten und auch nicht zu schwerer Arbeit, damit das Wachstum nicht gehindert werde, sondern sie sollen eben jene Bewegung erhalten, die für die Munterkeit des Körpers zuträglich ist, und die man durch allerlei Verrichtungen und durch das Spiel veranlassen kann. Die Spiele aber wiederum sollen nicht unedel sein und nicht anstrengend oder zu ausgelassen. Ebenso sollen die Aufseher über die Erziehung sich darum kümmern, was für Reden und Erzählungen Kinder dieses Alters anhören dürfen. Denn all das soll eine Vorbereitung auf den spätern Unterricht darstellen. Darum sollen denn auch die Spiele zur Hauptsache Nachbildungen dessen sein, was sie später im Ernst treiben werden. Was das Schreien und Weinen der Kinder betrifft, so ist es unrichtig, dies verbieten zu wollen, wie es die Staatstheoretiker vorschlagen. Denn dies trägt zum Wachstum bei und ist in gewisser Weise ein Turnen. Und wie ein tiefes Atemholen die Arbeitenden stärkt, so wirkt auch das Schreien der Kinder. Die Aufseher über die Erziehung haben diese und andere Dinge zu beachten, und auch, daß sie so wenig wie möglich mit Sklaven zusammen sein sollen. Denn in diesem Alter und bis zu sieben Jahren sollen die Kinder zu Hause aufgezogen werden. Es ist klar, daß sie sonst das unedle Wesen mit Augen und Ohren aufnehmen, da sie ja noch so klein sind. Überhaupt soll der Gesetzgeber vor allem andern das gemeine Reden aus dem Staate verbannen; denn wenn man leicht über Gemeines reden kann, so wird man auch bald zu entsprechenden Taten kommen. Vor allem gilt dies für die Jungen, die nichts dergleichen sagen oder hören dürfen. Und wenn einer etwas derartig Verbotenes sagt oder tut, so soll der Freigeborene, der aber noch nicht den Zutritt zu den Syssitien erhalten hat, mit Schande und Schlägen gezüchtigt, der Ältere dagegen wegen seiner sklavischen Gesinnung wie ein Unfreier an seiner Ehre gestraft werden. Da wir das Reden solcher Dinge verboten haben, so gilt dies natürlich auch für das Betrachten unpassender Bilder oder das Anhören XXXIV
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entsprechender Vorträge. Die Regierenden haben also dafür zu sorgen, daß keine Standbilder oder Gemälde als Nachahmung solcher Handlungen vorhanden seien, außer etwa bei gewissen Göttern, bei denen das Gesetz auch Ausgelassenheiten zuläßt. Hier erlaubt das Gesetz den Männern, die schon ein gewisses Alter haben, für sich und ihre Kinder und Frauen die Götter zu ehren. Die Jüngeren aber dürfen nicht als Zuhörer von Iamben und Komödien zugelassen werden, bis sie in das Alter gekommen sind, in dem sie schon bei den Syssitien mitmachen dürfen, und in dem die Erziehung sie schon allegegen Trunkenheit und den aus solchen Dingen erwachsenden Schaden unempfindlich gemacht hat. Wir haben dies jetzt nur beiläufig erwähnt. Später werden wir Genaueres zu sagen haben und uns fragen, ob die Jungen hier zugelassen sein sollen oder nicht, und wie sie es sollen. Augenblicklich reden wir eben nur vom Notwendigsten. Nicht mit Unrecht hat in diesem Zusammenhang der tragische Schauspieler Theodoros erklärt, er lasse keinen vor sich auf die Bühne kommen, auch nicht von den zweitrangigen Schauspielern, da die Zuschauer durch den ersten Eindruck am meisten beeinflußt würden. Dasselbe gilt auch für den Umgang mit den Menschen wie mit den Dingen. Denn wir lieben alle das erste am meisten. Darum muß man von den Jungen alles Schlechte fernhalten und vor allem, was lasterhaft und abstoßend ist. Nach den fünf Jahren sollen sie in den zwei weiteren bis zum siebenten schon lernen, was es für sie zu lernen gibt. Sodann gibt es zwei Lebensalter, nach denen die Erziehung abgeteilt werden muß, einmal vom siebenten Jahre bis zur Pubertät und dann von der Pubertät bis zum einandzwanzigsten Jahre. Denn jene, die das Leben in Hebdomaden einteilen, machen es im allgemeinen nicht unrichtig, doch muß man der natürlichen Gliederung folgen. Denn jede Kunst und Erziehung will ja nur die Natur ergänzen. Man muß also zuerst prüfen, ob es überhaupt eine bestimmte Ordnung für die Erziehung geben soll, ferner, ob man lieber gemeinsam oder jeden einzelnen für sich (wie es jetzt in den meisten Staaten der Fall
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ist) erziehen soll, und drittens, wie die Erziehung selbst beschaffen sein muß.
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Achtes Buch 1. Daß sich der Gesetzgeber in erster Linie um die Erziehung der Jungen kümmern muß, wird wohl niemand bestreiten. Wo es in einem Staat nicht geschieht, da erwächst auch ein Schaden für die Verfassung. Die Menschen müssen ja im Hinblick auf die jeweilige Verfassung erzogen werden. Denn der eigentümliche Charakter jeder Verfassung erhält diese und begründet sie auch von Anfang an, so der demokratische die Demokratie und der oligarchische die Oligarchie. Und immer ist der beste Charakter auch Grund der besseren Verfassung. Ferner muß man in jeder Fähigkeit und Kunst zur Ausübung vorgebildet und vorher geübt worden sein, und so offenbar auch auf das tugendhafte Verhalten. Und da das Ziel jedes Staates eines ist, so muß auch die Erziehung für alle eine und dieselbe sein; die Fürsorge dafür muß staatlich und nicht privat geregelt werden und nicht so wie jetzt, wo ein jeder privat sich um seine Kinder kümmert und ihnen privat eben das beibringt, was ihm gerade gut scheint. Denn gemeinsame Tätigkeiten sollen auch gemeinsam eingeübt werden. Man darf nicht meinen, daß irgendeiner der Bürger sich selbst angehöre, sondern alle gehören dem Staate; jeder ist ja ein Teil des Staates, und die Fürsorge für den einzelnen Teil geschieht naturgemäß im Hinblick auf die Fürsorge für das Ganze. In diesem Punkte wird man die Spartaner loben. Denn sie bemühen sich am meisten um die Kinder, und dies von Staats wegen. 2. Daß man also Gesetze über die Erziehung erlassen und diese öffentlich regeln soll, ist klar. Was aber die Erziehung ist, und wie man erzogen werden soll, das muß man auch wissen. Faktisch ist man über die Gegenstände uneinig. Denn nicht alle wollen den jungen Menschen dasselbe beibringen im Hinblick auf die Tugend und auf das vollkommene Leben, und es ist auch nicht klar, ob die Erziehung mehr den Intellekt als den Charakter betreffen soll. Die gegenwärtige Erziehungsweise verwirrt noch das Problem, und es ist nicht klar, ob man eher üben soll, was zum Leben nützlich ist, oder was vielmehr I
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auf die Tugend zielt, oder eher das Erlesene; denn jede dieser Möglichkeiten hat ihren Vertreter gefunden. Was nun die Erziehung zur Tugend betrifft, so ist nichts allgemein anerkannt:denn schon darüber sind die Meinungen durchwegs verschieden, welche Tugend man am höchsten schätzen soll, und so ist man dann natürlich auch uneins in der Frage nach ihrer Einübung. Daß man vom Nützlichen das Unentbehrliche lernen soll, ist evident. Daß man aber nicht alles lernen soll, zeigt die Zweiteilung in edle und unedle Tätigkeiten, so daß man an solchen Dingen nur so weit sich beteiligen soll, daß man durch sie nicht zum Banausen wird. Als eine banausische Arbeit, Kunst und Unterweisung hat man jene aufzufassen, die den Körper oder die Seele oder den Intellekt der Freigeborenen zum Umgang mit der Tugend und deren Ausübung untauglich macht. Darum nennen wir alle Handwerke banausisch, die den Körper in eine schlechte Verfassung bringen, und ebenso die Lohnarbeit. Denn sie machen das Denken unruhig und niedrig. Unedel ist es nicht, die vornehmen Wissenschaften teilweise und bis zu einem gewissen Grade kennenzulernen, aber sich allzu intensiv mit ihnen beschäftigen, führt zu den eben genannten Schädigungen. Es macht auch einen großen Unterschied, wozu einer etwas tut oder lernt. Denn um der Sache selbst oder um der Freunde oder der Tugend willen es zu tun, ist nicht unedel, aber einer, der dieselben Sachen auf Anweisung anderer tut, wirkt oftmals knechtisch und sklavisch. 3. Die gegenwärtig üblichen Lehrgegenstände schwanken nun, wie gesagt, hin und her. Es sind im wesentlichen vier Dinge, in denen man zu unterrichten pflegt: Grammatik, Turnen, Musik und gelegentlich das Zeichnen; die Grammatik und das Zeichnen als nützlich fürs Leben und vielfältig anwendbar, die Gymnastik als Übung zur Tapferkeit. Bei der Musik erheben sich Fragen: die meisten interessieren sich für sie um des Vergnügens willen, ursprünglich aber galt sie als ein Stück Erziehung, weil die Natur selbst danach strebt, wie oftmals gesagt, nicht nur richtig tätig zu sein, sondern auch in edler Weise Muße üben zu können.
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Aristoteles Politik - VIII. Buch
Denn dies ist der Ursprung von allem, um einmal mehr davon zu reden. Wenn man nämlich beides braucht, so ist doch die Muße wünschenswerter als die Arbeit; sie ist das Ziel, und man muß sich fragen, was man in der Muße tun soll. Spielen soll man nicht, denn dann müßte das Spiel das Ziel unseres Lebens sein. Wenn dies ausgeschlossen ist und man eher bei der Arbeit zuweilen spielen soll (denn der Arbeitende bedarf der Erholung, das Spiel dient eben dazu, und bekanntlich ist die Arbeit mit Mühe und Anspannung verknüpft), so muß man die Spiele gestatten, aber den Gebrauch genau kontrollieren, um sie als eine Art von Arznei anzuwenden. Denn eine solche Bewegung der Seele ist eine Lockerung und eine lustvolle Erholung. Die Muße scheint aber ihre Lust und die Glückseligkeit und das selige Leben in sich selbst zu haben. Dies kommt nicht den Arbeitenden zu, sondern jenen, die Muße haben. Denn der Arbeitende arbeitet auf ein Ziel hin, das noch nicht erreicht ist, die Glückseligkeit ist aber ein Ziel und ist nach allgemeiner Ansicht nicht mit Schmerz, sondern mit Lust verbunden. Freilich fassen nicht alle diese Lust in derselben Weise auf, sondern jeder für sich nach seiner Art, der Beste aber wählt die beste und die vom Schönsten her entspringende. So ist klar, daß man auch für das Leben in der Muße bestimmte Dinge lernen und sich aneignen muß, und daß diese Lehr- und Bildungsgegenstände selbstzwecklich sind; jene dagegen, die mit der Arbeit zu tun haben, dienen der Notdurft und einem fremden Zweck. So haben denn auch die Früheren die Musik zur Bildung gerechnet, aber nicht als notwendig (denn das ist sie nicht), noch als nützlich, wie die Grammatik für den Geschäftsverkehr, für die Hausverwaltung, zur weitern Ausbildung und zu vielen politischen Aufgaben; auch das Zeichnen scheint ja nützlich zu sein, um die Arbeiten der Handwerker besser beurteilen zu können; ebenso ist die Gymnastik nützlich für Gesundheit und Kraft. Aber keins von beiden entsteht doch aus der Musik. Es bleibt also, daß sie für das Leben in der Muße bestimmt ist, und darauf pflegt sie auch bezogen zu werden. Denn man ordnet sie dort ein, wo man das Leben der Edlen vermutet. So hat Homer gedichtet: »sondern wen man zum festlichen Mahle laden soll«, und III
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dann nennt er andere, »die den Sänger rufen«, der »alle ergötzt«. Und anderswo nennt Odysseus jenes das beste Leben, wenn die Menschen sich erfreuen und »die speisenden Gäste im Haus den Sänger hören, der Reihe nach hingelagert«. Daß dies also eine Ausbildung ist, die man seinen Söhnen nicht als nützlich verschafft und nicht als notwendig, sondern als edel und schön, ist offensichtlich. Ob es aber von ihr eine oder mehrere Arten gibt, und welches diese sind und inwiefern, das ist nachher zu behandeln. Jetzt ist uns soviel klar geworden, daß wir bei den Früheren ein Zeugnis von den feststehenden Bildungsgegenständen her haben. Denn offenbar ist dies bei der Musik so. Auch beim Nützlichen soll man die Kinder nicht nur eben um des Nutzens willen unterrichten, etwa in der Grammatik, sondern weil sich daraus noch viele andere Lehrgegenstände entwickeln können; ebenso ist das Zeichnen nicht nur dazu da, damit man beim Verkauf eigener Waren nicht betrogen werde, oder überhaupt im Kauf und Verkauf von Gegenständen sich nicht täuschen lasse, sondern eher, damit man einen Blick für die Schönheit der Körper erhalte. Denn überall bloß den Nutzen zu suchen, gehört sich für die Großgesinnten und die Edlen am allerwenigsten. Da es weiterhin klar ist, daß man zuerst durch Angewöhnung und erst nachher durch Belehrung erzogen werden soll und eher körperlich als intellektuell, so muß man offenbar zuerst die Knaben dem Turnlehrer anvertrauen und dem Ringlehrer. Der eine verschafft eine gute Körperverfassung, der andere führt zu Leistungen. 4. Freilich zielen heute diejenigen Staaten, die sich am meisten um Erziehung zu kümmern scheinen, auf eine athletische Verfassung und gefährden das Aussehen und das Wachstum des Körpers. Die Spartaner haben diesen Fehler nicht gemacht, aber sie machten sie durch Anstrengungen wie zu Tieren, da dies der Tapferkeit am meisten dienlich sei. Und doch, wie schon oft gesagt, darf man als Erzieher nicht auf eine einzige Tugend und nicht zuerst gerade auf diese schauen. Selbst wenn man das dürfte, so erreichen sie ihr Ziel doch nicht. Denn auch bei andern Lebewesen und andern Völkern IV
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folgt, wie wir sehen, die Tapferkeit keineswegs der Wildheit, sondern vielmehr einem ruhigen und löwenhaften Charakter. Es gibt viele Völker, die zum Töten und Menschenfressen leicht bereit sind, wie am Pontos die Achaier und Heniochen und einige Binnenlandvölker, teils mehr, teils weniger und soweit sie Räuber sind, aber Tapferkeit haben sie keine. Wir wissen auch von den Spartanern, daß sie allen andern überlegen waren, als sie sich auf die Ausdauer in Anstrengungen konzentrierten, daß sie aber jetzt in den gymnischen Wettkämpfen so gut wie im Kriege hinter anderen zurückstehen. Denn ihre Überlegenheit kam nicht daher, daß sie die Jungen auf diese Weise trainierten, sondern nur daher, daß sie als Geübte gegen Ungeübte kämpften. So muß man denn nach dem Edlen und nicht nach dem Tierartigen streben. Denn auch ein Wolf oder sonst ein wildes Tier würde nicht einen edlen Kampf wagen, sondern nur der tüchtige Mann. Wer aber die Kinder zu sehr mit dergleichen beschäftigt und sie im Notwendigen unerzogen läßt, macht sie in Wahrheit zu Banausen, einzig und allein zum Kriegführen brauchbar und auch da noch, wie wir zeigten, schlechter als andere. Man muß also [die Spartaner] nicht nach den früheren Leistungen beurteilen, sondern nach den gegenwärtigen: jetzt haben sie Konkurrenten in ihrer Art der Erziehung, früher hatten sie keine. Daß man also die Gymnastik braucht, und wie man sie brauchen soll, ist anerkannt. Bis zur Pubertät soll man leichtere Übungen wählen und allzu harte Diät und schwere Anstrengungen meiden, damit das Wachstum nicht gehindert werde. Daß eine vorzeitige Überanstrengung dazu führt, beweist deutlich das Folgende: unter den Olympioniken gibt es kaum zwei oder drei, die als Knaben und auch als Männer gesiegt haben, da sie durch ihr hartes Training in der Jugend ihre Kraft aufgebraucht haben. Wenn sie sich aber nach dem Eintritt der Pubertät noch drei Jahre lang mit andern Gegenständen beschäftigt haben, dann kann man das nachfolgende Alter auch zu Anstrengungen und Zwangsdiäten heranziehen. Aber man soll sich nicht gleichzeitig mit dem Körper und dem Geiste anstrengen. Denn jede der Anstrengungen wirkt in gegensätzlicher Richtung: die Anstrengung des Körpers hindert den Intellekt und umgekehrt. V
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5. Hinsichtlich der Musik haben wir schon vorher einige Fragen aufgeworfen, die wir nun zu Ende führen wollen, um zu den Erwägungen, die man etwa hier anstellen möchte, einige Voraussetzungen zu liefern. Denn es ist nicht leicht zu sagen, welches ihre Wirkung ist, noch wozu man sie üben soll, ob des Spiels und der Erholung wegen wie den Schlaf oder das Trinken (dies ist an sich nichts Ernsthaftes, aber angenehm und vertreibt die Sorgen, wie Euripides sagt. Darum nimmt man diese Dinge gerne zusammen und betreibt sie zusammen: den Schlaf, das Trinken und die Musik, und auch den Tanz rechnet man hierher). Oder soll man meinen, daß die Musik es eher mit der Tugend zu tun habe, sofern sie, wie die Gymnastik eine bestimmte Körperverfassung erzeugt, ihrerseits eine bestimmte Verfassung des Charakters hervorbringt und den Menschen gewöhnt, sich an rechten Dingen zu erfreuen, oder daß sie zur Lebensart beiträgt und zur Erkenntnis (dies wäre als drittes noch einmal zu nennen). Daß man nun die Jungen nicht auf das Spiel hin unterrichten soll, ist klar. Denn beim Lernen spielt man nicht, sondern es ist vielmehr eine beschwerliche Angelegenheit. Aber auch zur Lebensart gehört es bei dem Alter der Kinder noch nicht - denn was noch nicht entwickelt ist, hat mit dem Ziel des Lebens nichts zu tun. Aber vielleicht könnte das, was die Kinder im Ernst treiben, den erwachsenen Männern dann zum Spiele dienen. Aber wenn dies zuträfe, wozu sollten sie dann lernen und nicht vielmehr wie die Könige der Perser und Meder andere dies ausüben lassen und deren Ausbildung sich zum Genusse werden lassen? Denn offenbar leisten jene Besseres, die darin berufsmäßig ausgebildet sind, als jene, die sich nur eine Weile im Rahmen der allgemeinen Bildung damit beschäftigt haben. Allerdings, wenn man sich selbst beruflich damit beschäftigen müßte, so wäre das gleich, wie wenn man sich persönlich mit der Zubereitung der Speisen zu befassen hätte, was unsinnig ist. Dieselbe Schwierigkeit macht es, wenn die Musik den Charakter besser machen soll. Denn wozu soll man auch dann lernen und nicht vielmehr beim Zuhören anderer sich in richtiger Weise freuen und VI
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recht urteilen lernen wie die Spartaner? Denn sie lernen das nicht, haben aber doch ein richtiges Urteil über, wie sie sagen, die brauchbaren und die unbrauchbaren Lieder. Dasselbe gilt endlich, wenn sie zum Lebensgenuß und zu edler Lebensweise gebraucht werden soll. Wozu soll man da lernen oder nicht eher genießen, wenn andere sich betätigen? Man kann an die Vorstellung denken, die wir von den Göttern haben: auch Zeus selbst singt und spielt nicht bei den Dichtern, sondern wir halten solche vielmehr für Banausen und finden, ein Mann tue das nicht, außer im Rausche oder im Spiel. Aber darüber vielleicht später. Die erste Frage ist hier, ob die Musik zu den Lehrgegenständen gehört oder nicht, und was sie von den drei genannten Dingen leistet, Erziehung, Spiel oder Lebensart. Mit guten Gründen kann man sie auf all das beziehen und von allem etwas bei ihr finden. Denn das Spiel ist zur Erholung da, und die Erholung muß angenehm sein (sie ist ja ein Heilmittel gegen die Schmerzen der Anstrengung, und das geistige Leben muß nicht nur edel, sondern auch angenehm sein; denn die Glückseligkeit besteht aus diesen beiden Dingen), und von der Musik sagen wir alle, daß sie zum Angenehmsten gehört, sowohl für sich allein wie auch mit Gesang; Musaios sagt ja: »den Sterblichen ist es das Süßeste, zu singen«, und so nimmt man sie gerne zu Zusammenkünften und Unterhaltungen hinzu, weil sie zu erfreuen vermag. So wird man annehmen dürfen, daß die jungen Leute in ihr erzogen werden sollen. Denn die unschädlichen Vergnügungen sind nicht nur dem obersten Ziel, sondern auch der Erholung dienlich. Da sich aber die Menschen selten beim obersten Ziele aufhalten, aber sich viel erholen und spielen, bloß zum Vergnügen, so wäre es wohl nützlich, sich dann in den Freuden der Musik zu erholen. Indessen machen die Menschen gerne das Spiel zum Ziele. Denn auch das Ziel hat wohl seine Lust, aber nicht eine beliebige; und indem wir diese suchen, verwechseln wir jene mit ihr, weil sie mit dem obersten Ziele des Handelns eine gewisse Ähnlichkeit hat. Das Ziel ist aber um keines Ergebnisses willen wünschbar, und seine Lust besteht um keines Ergebnisses willen, sondern kommt aus dem VII
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Vorangegangenen, den Mühen und Beschwerden. Man kann aber die Ursache dafür, daß sie die Glückseligkeit von eben solcher Lust erwarten, hieraus entnehmen. Wenn sie sich aber mit Musik beschäftigen, so nicht nur darum, sondern auch, weil sie für die Erholung brauchbar zu sein scheint. Man muß aber fragen, ob dies nicht eher zufällig ist und sie selbst ihrer Natur nach über einer solchen Verwendung steht, und ob man von ihr nicht bloß das allgemeine Vergnügen haben kann, das alle wahrnehmen (denn die Musik verschafft einen natürlichen Genuß, darum ist sie jedem Alter und jedem Charakter willkommen); man muß vielmehr prüfen, ob sie nicht auch den Charakter und die Seele berührt. Dies müßte sich zeigen, wenn sie in bestimmter Weise unsern Charakter bildete. Daß das zutrifft, ergibt sich aus vielen und vor allem aus den Liedern des Olympos. Sie machen anerkanntermaßen die Seele enthusiastisch, und der Enthusiasmus ist eine Modifikation des seelischen Charakters. Außerdem sympathisieren wir alle, wenn wir musikalische Darstellungen hören, auch ohne Tanz und Gesang. Fernerhin gehört die Musik zum Angenehmen, und es ist Sache der Tugend, sich richtig zu freuen, zu lieben und zu hassen. Also muß man nichts so sehr lernen und sich angewöhnen wie das richtige Urteilen und die Freude an anständigen Charakteren und an schönen Handlungen. Und nun sind die Rhythmen und Töne den wirklichen Naturen des Zorns, der Milde, der Tapferkeit und Zucht und ihrer Gegensätze und den andern ethischen Dingen außerordentlich verwandt, wie die Erfahrung zeigt: denn wir verwandeln uns seelisch, wenn wir solches hören. Und die rechte Gewöhnung der Ablehnung und der Freude in diesem ähnlichen Bereiche ist mit dem entsprechenden Verhalten in der Wirklichkeit nahe verwandt (so wie wenn einer sich über eine Abbildung freut aus keiner andern Ursache als wegen der Gestalt selbst; dann wird ihm auch der Anblick des Gegenstandes selbst, von dem jenes ein Abbild war, erfreulich sein). In den Sinnesdingen gibt es sonst nirgends eine solche Beziehung zu den Charakteren, weder im Tastbaren noch im Schmeckbaren, höchstens ein wenig bei den Gesichtseindrükken (da liegen Gestalten VIII
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vor, aber nur partiell, und nicht jeder kann sie wahrnehmen. Außerdem bestehen keine direkten Beziehungen zum Charakter, sondern Gestalt und Farbe sind bloße Zeichen des Charakters, körperliche Merkmale der Affekte; immerhin gibt es da so große Differenzen, daß die jungen Menschen nicht die Gemälde Pausons anschauen sollen, sondern die des Polygnot und wer sonst von den Malern und Bildhauern einen ethischen Charakter besitzt). In den Tönen haben wir aber eine unmittelbare Nachahmung der Charaktere, wie sich das faktisch zeigt: denn schon die Art der Harmonien zeigt Unterschiede, so daß wir uns als Hörer bei jeder von ihnen verwandeln und uns anders einstellen, bei der einen traurig und melancholisch, wie bei der sogenannten mixolydischen, bei der andern eher weich, wie bei den ausgelassenen, und in einer gefaßten Mittellage wieder bei einer andern, wie es allein die dorische Harmonie zustande zu bringen scheint, und enthusiastisch werden wir bei der phrygischen. Dies wird von den Spezialisten auf diesem Gebiete richtig festgestellt, denn sie können es aus den Tatsachen selbst beweisen. Dasselbe gilt auch für die Rhythmen. Die einen haben einen ruhigen, die andern einen bewegten Charakter, und hier. haben wieder die einen ordinäre, die andern edlere Bewegungen. Es ergibt sich daraus, daß in der Tat die Musik den Charakter der Seele zu beeinflussen vermag. Kann sie dies, so muß man auch die jungen Leute zu ihr hinführen und in ihr erziehen. Auch paßt die Unterweisung in der Musik sehr in die Natur dieser Altersstufe. Denn die jungen Leute können bei ihrem Alter nichts freiwillig aushalten, wenn es nicht versüßt wird, und die Musik gehört ihrem Wesen nach zum Angenehmen. Es scheint auch eine Verwandtschaft der Harmonien und Rhythmen zu der Seele zu bestehen. So meinen denn auch manche der Weisen, die Seele sei eine Harmonie, andere, sie besäße eine Harmonie. 6. Ob man nun so lernen muß, daß man selbst singt und spielt oder nicht, wie wir früher fragten, das sei jetzt untersucht. Offensichtlich macht es einen großen Unterschied, wenn man etwas werden will, ob man selbst arbeitet. Denn es gehört zu den IX
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unmöglichen oder doch schwierigsten Dingen, eine Sache gut zu beurteilen, in der man nicht selbst gearbeitet hat. Außerdem brauchen Kinder eine Beschäftigung, und die Klapper des Archytas ist eine ausgezeichnete Sache, wenn er sie den Kindern zum Spielen gibt, damit sie nichts im Hause zerschlagen. Denn junge Geschöpfe können nicht stillsitzen. Dieses Spielzeug paßt nun für die Säuglinge, für ältere aber vertritt die Erziehung die Stelle der Klapper. Man soll also die Musik so unterrichten, daß sie auch ausgeübt wird. Was zum Alter paßt oder nicht paßt, ist leicht festzustellen, und damit auch zu widerlegen, wer behauptet, eine solche Beschäftigung sei banausisch. Denn erstens übt man, um urteilen zu können, und darum soll man noch in der Jugend üben, als Altere aber nicht mehr ausüben, doch richtig urteilen und sich am Rechten freuen, dank dem in der Jugend genossenen Unterricht. Was aber den Vorwurf anlangt, den einige erheben, die Musik mache zu Banausen, so ist er leicht zu widerlegen. Man soll prüfen, wie weit die auf die staatsbürgerliche Tugend hin Erzogenen sich mit solcher Arbeit befassen, welche Lieder und Rhythmen sie beherrschen, und was für Instrumente sie benutzen sollen; denn auch das macht offenbar einen Unterschied. In diesen Dingen liegt die Widerlegung des Vorwurfs. Denn gewiß können bestimmte Arten der Musik die erwähnte Wirkung ausüben. Klar ist also, daß das Lernen der Musik weder die spätere Tätigkeit hemmen noch den Körper banausisch und untauglich zu den kriegerischen und politischen Aufgaben machen darf, und zwar zunächst für das Leben, später für das Lernen jener Dinge. Dies kann beim musikalischen Unterricht so geschehen, daß man sich nicht auf die Wettkämpfe der Berufsmusiker hin anstrengt und sich nicht auf ungewöhnliche und ausgefallene Leistungen verlegt, wie sie jetzt bei den Wettkämpfen gefordert werden und von den Wettkämpfen schon in den Unterricht eingedrungen sind; aber auch das andere soll nur so weit getrieben werden, als man sich an den schönen Rhythmen und Tönen freut und nicht bloß an der gewöhnlichen Musik, an der sich sogar die Tiere und die Masse der Sklaven und Kinder vergnügen.
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Daraus ergibt sich auch, welche Instrumente man verwenden soll. Zu diesem Unterricht sind weder Flöten heranzuziehen noch sonst ein Spezialinstrument wie die Kithara und dergleichen, sondern nur jene, die gute Zuhörer der Musik in der bildungsmäßigen Form wie in der andern heranbilden. Auch ist die Flöte nicht ethisch, sondern eher orgiastisch, so daß man sie bei solchen Gelegenheiten verwenden soll, wo das Hören mehr eine Reinigung als eine Belehrung anstrebt. Als ein Hindernis im Sinne der Bildung ist noch beizufügen, daß die Flöte es unmöglich macht, dazu zu reden. So haben die Früheren mit Recht ihren Gebrauch bei Jungen und Freigeborenen abgelehnt, obschon sie sie zuvor selbst verwendet hatten. Als sie nämlich durch den Wohlstand auch mehr Muße bekamen und in ihrer Tüchtigkeit großgesinnter wurden, schon vorher und vor allem nach den Perserkriegen von Stolz erfüllt wegen ihrer Taten, interessierten sie sich für alle Bildungsgegenstände mit Begierde und ohne Auswahl. Da kam denn die Flötenkunst zu den Bildungsstücken dazu. Denn in Sparta spielte ein Chorführer dem Chor vor, und in Athen wurde es so sehr Mode, daß die meisten der Freigeborenen sie erlernten; das zeigt die Tafel, die Thrasippos als Chorege dem Ekphantides aufstellen ließ. Später kam diese Kunst durch die Erfahrung selbst wieder außer Mode, da die Menschen besser zu beurteilen lernten, was der Tugend dient und was nicht. Dasselbe geschah auch mit der Mehrzahl der alten Instrumente, wie Pektis, Barbitos, und was den Hörern des Spieles besonders Vergnügen machen sollte, den Septangeln, Triangeln und Sambykai und allen denjenigen, die Fingerfertigkeit erfordern. Einleuchtend ist auch die von den Alten über die Flöte erzählte Sage; sie erzählen, Athena habe sie erfunden und dann weggeworfen. Und mit Recht heißt es, die Göttin habe es getan, weil sie sich darüber geärgert habe, wie sehr das Instrument das Gesicht entstellt. Noch wahrscheinlicher ist es allerdings, daß eben der Flötenunterricht für den Intellekt nichts bedeutet; Athene aber ist für uns die Göttin des Wissens und der Kunst. Wir lehnen also die spezialistische Ausbildung in den Instrumenten und der Ausübung ab. Dabei nenne ich spezialistisch jene, die für die XI
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Wettkämpfe geschieht. Da arbeitet man nicht zu seiner eigenen Vervollkommnung, sondern zum Vergnügen der Zuhörer, und zwar zu einem ordinären Vergnügen, da wir eine solche Ausbildung nicht als edel, sondern als knechtisch ansehen; und bei ihr wird man Banause. Denn das Ziel, worauf sie hinstreben, ist schlecht. Der Hörer ist ordinär und beeinflußt die Musik, so daß er auch die Künstler so werden läßt, wie er es wünscht, und ebenso werden die Körper durch die Bewegungen. 7. Nun haben wir auch von den Harmonien und Rhythmen im Hinblick auf die Erziehung zu reden: soll man alle Harmonien und Rhythmen anwenden oder unterscheiden, und gilt dieselbe Unterscheidung auch für den Unterricht, oder gibt es drittens noch eine andere? Wir sehen ja, daß die Musik in Lied und Rhythmus besteht, und bei beiden muß man sich über den Einfluß auf die Bildung klar sein. Und muß man eher die melodische oder die gut rhythmische Musik vorziehen? Wir glauben nun, daß hierüber manche gegenwärtige Musiker Gutes gesagt haben und ebenso unter den Gelehrten diejenigen, die in der musikalischen Erziehung Erfahrung besitzen; so können wir die an solchen Fragen Interessierten für die Einzelheiten auf jene verweisen. Hier sei nur schematisch und in großen Zügen geredet. Wir nehmen die Unterscheidung an, die einige Gelehrte vorgenommen haben, die die Lieder in ethische, praktische und enthusiastische teilten, und die die Natur der Harmonien jeweils in bezug auf jene Typen bestimmten. Wir behaupten weiterhin, daß die Musik nicht bloß einem einzigen Zwecke dient, sondern mehreren: der Bildung und der Reinigung (das Wort Reinigung sei hier einfach angewandt, Genaueres wird später in den Untersuchungen über die Dichtung zu sagen sein) und drittens dem geistigen Leben, der Lockerung und der Erholung von der Anspannung. So ist es klar, daß man alle Harmonien anwenden soll, aber nicht alle auf dieselbe Weise, sondern zur Erziehung die am meisten ethischen, beim Anhören anderer, die spielen, die praktischen und die enthusiastischen; denn jener starke Eindruck, der in einigen Fällen die Seele ergreift, ist überall vorhanden, aber es kommt auf das XII
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Mehr oder Weniger an, wie bei Mitleid oder Furcht oder beim Enthusiasmus. Durch solche Bewegungen werden einige Menschen stark gepackt, bei den heiligen Gesängen aber sehen wir diese, wenn sie die Seele beruhigende Töne vernehmen, sich sammeln, wie wenn sie eine Heilung und Reinigung erführen. Dasselbe müssen auch die zu Mitleid, Furcht oder sonstigen Affekten Geneigten erfahren, soweit einen jeden dergleichen trifft, und alle erleben eine Reinigung und eine angenehme Erleichterung. Und so verschaffen auch die reinigenden Gesänge den Menschen eine unschädliche Freude. So sollen denn in solchen Harmonien und Liedern jene wetteifern, die sich mit Theatermusik beschäftigen. Der Theaterbesucher ist freilich von doppelter Art, der eine frei und gebildet, der andere ordinär, ein Banause und Taglöhner usw., und man muß auch diesen Leuten Wettkämpfe und Schaustellungen zur Erholung darbieten. Aber bei ihnen ist die natürliche Verfassung der Seele gewissermaßen verbogen, und so gibt es denn auch bei den Harmonien die Abweichungen und bei den Liedern das Angespannte und Kolorierte. Denn jedem macht Vergnügen, was zu seiner Natur paßt, und so muß man die Wettkämpfer entschuldigen, wenn sie diese Art von Zuschauern eben mit solcher Musik unterhalten. Was aber die Erziehung betrifft, wie gesagt, so muß man die ethischen Liedformen und Harmonien anwenden. Solcher Art ist die dorische, wie schon bemerkt. Man kann aber auch eine andere annehmen, wenn jene sie uns empfehlen, die gleichzeitig in den philosophischen Fragen und in der musikalischen Bildung Bescheid wissen. Sokrates im »Staat« läßt mit Unrecht neben der dorischen nur die phrygische Harmonie gelten, und dies, obschon er unter den Instrumenten die Flöte verwirft. Dabei hat unter den Harmonien die phrygische dieselbe Bedeutung wie unter den Instrumenten die Flöte. Beide sind orgiastisch und leidenschaftlich. Das zeigen die Dichtungen. Denn jede dionysische und verwandte Bewegung stellt sich unter den Instrumenten am meisten in der Flöte dar, und von den Harmonien sind es die phrygischen, in denen diese sich angemessen ausdrücken. Und so scheint ja auch der Dithyrambos anerkanntermaßen phrygisch zu sein. Dafür nennen die Fachleute viele Beispiele, vor allem, daß es XIII
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Philoxenos nicht gelang, seine Mythen in dorischer Harmonie zu komponieren, sondern unter dem Zwang der Natur selbst geriet er zur phrygischen Harmonie als zur angemessenen. Über die dorische sind alle einig, daß sie am ruhigsten ist und am meisten männlichen Charakter zeigt. Da wir ferner die Mitte zwischen den Extremen loben und behaupten, daß man sie zu suchen habe, so hat eben die dorische Harmonie diese Natur im Verhältnis zu den anderen, und so sollen denn auch die jungen Leute vorzugsweise mit dorischen Liedern unterrichtet werden. Es gibt aber da zwei Ziele, das mögliche und das passende. Denn jeder muß vor allem nach dem Möglichen streben und nach dem Passenden. Auch dies richtet sich nach den Lebensaltern: denn die im Alter Ermatteten werden nicht leicht die erregten Harmonien singen können, sondern solchen legt die Natur die sanfteren vor. Darum machen einige Musiker auch darin dem Sokrates mit Recht einen Vorwurf, daß er die sanfteren Weisen von dem Unterricht ausschloß, da er sie für berauschend hielt, nicht im Sinne des Weins (denn dieser peitscht vielmehr auf), sondern einschläfernd. Darum muß man auch für das spätere Alter sich auch an solche Harmonien und entsprechende Lieder halten. Und wenn es endlich eine Harmonie gibt, die dem Knabenalter entspricht, weil sie bildend und zugleich disziplinierend wirkt, so mag dies von allen Harmonien am meisten die lydische sein. Demnach soll man diese drei Grundsätze für die Erziehung festhalten: das Maß, das Mögliche und das Passende.
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