ADORNO_Vorlesung Ästhetik_1958_1959
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Theodor W Adorno Nachgelassene Schriften
Theodor W. Adorno Ästhetik
Herausgegeben vom Theodor W. Adorno Archiv
(1958/59)
Abteilung IV: Vorlesungen Band j
Herausgegeben von Eberhard Ortland
Suhrkamp
Inhalt Vorlesungen Stichworte zu den Vorlesungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Erste Auflage 2009 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz und Druck: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany ISBN 978-3-SI8-58S35-I I 2 3 4 5 6 - 14 13 12 II 10 09
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Anmerkungen des Herausgebers
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Editorische Nachbemerkung
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Register
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Übersicht
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Ästhetik 1958/59
I. V O R L E S U N G II. II.
1958
Die philosophische Ästhetik, von der Sie in dieser Vorlesung einiges erfahren sollen - beinahe hätte ich gesagt, von der ich hier in dieser Vorlesung einige Stichproben* zu geben hoffe - , hat es schwer, insbesondere im Bereich der Philosophie. Sie ist eigendich ein bißchen in Mißkredit geraten und hat gegenüber der Entwicklung einer ganzen Reihe anderer philosophischer Disziplinen gerade während der letzten 30 Jahre überhaupt nur eine desultorische Behandlung gefunden. Wenn Sie das jüngst erschienene Fischersche Lexikon der Philosophie zur Hand nehmen, dann werden Sie in dem Artikel über »Ästhetik«, der, soviel ich weiß, von Ivo Frenzel stammt,1 auch einige Hinweise finden auf die Gründe dafür. Es wird nämlich da gesagt, daß auf der einen Seite die philosophische Ästhetik unendlich voraussetzungsvoll sei, abhinge von den jeweils zugrundeliegenden Gesamtphilosophien, insbesondere von den Erkenntnistheorien, und daß sie in den Wechsel dieser Strömungen fast widerstandslos hineingerissen werde; daß sie aber auf der anderen Seite das Kunstwerk in seiner Konkretion selber doch niemals ganz durchdringe und gewissermaßen hinter dem Kunstwerk zurückbleibe. Es komme der philosophischen Ästhetik kein so gesicherter Bestand zu wie anderen philosophischen Disziplinen. Nun meine ich, mit dem gesicherten Bestand der anderen philosophischen Disziplinen ist es auch so eine etwas prekäre Angelegenheit; wenn man sich ansieht, was es da etwa — mit Ausnahme der allerformalsten und, wie ich sagen möchte, nichtssagendsten Sätze der Logik — gibt, was allgemein angenommen wäre, so wird man da doch wohl auch auf ein Vakuum stoßen.2 Ich glaube, daß die eigentümliche Situation der Ästhetik vielmehr daher rührt, daß es so etwas wie eine in sich kontinuierliche Tradition des ästhetischen Denkens, so wie sie sich im Bereich der Erkenntnistheorie und Logik doch wenigstens im Zusammenhang mit der Wissenschaftstheorie vorfindet, 9
eigentlich nicht gibt, daß die Ästhetik überhaupt mehr oder minder sprunghaft verläuft und daß sie dabei hin und her schwankt zwischen etwa dem Versuch, aus bestimmten philosophischen Positionen ästhetische Theorien zu entwickeln, oder umgekehrt, nun den Kunstwerken sich einfach zu überlassen und womöglich deskriptiv auszusprechen, was in diesen Kunstwerken der Fall ist, und auf diese Weise zu einer solchen Ästhetik zu kommen. Ohne daß ich Ihnen versprechen kann, Ihnen hier so etwas wie eine voll entwickelte Ästhetik vorzulegen - aus dem sehr einfachen Grund, daß meine eigenen ästhetischen Gedanken in Fluß sind und keineswegs heute bereits in einer Gestalt, die eine solche Kodifizierung gestattete, aber auch aus dem einfachen Grund, daß eine solche Vorlesung wie diese zweistündige schon der Zeit nach gar nicht gestatten würde, eine solche voll explizite Theorie Ihnen an die Hand zu geben - , meine ich doch, ich könnte Ihnen vielleicht in dieser Vorlesung wenigstens einen Begriff davon geben, daß so etwas wie eine Theorie der Ästhetik, eine philosophische Ästhetik möglich ist, daß sie auch heute möglich, daß sie gefordert ist, und Ihnen an einigen Modellen von ästhetischen Problemen wenigstens entwickeln, wie eine solche Ästhetik auszusehen hat. Insofern ist die Vorlesung anspruchsvoll, als sie versuchen will, die Möglichkeit philosophischer Ästhetik, die mir heute sehr dringend erscheint, Ihnen darzutun; sie ist auf der anderen Seite in keiner Weise anspruchsvoll insofern, als sie es sich nicht zutraut, eine solche philosophische Ästhetik selber nun eigentlich durchzufuhren. Was die Abhängigkeit der Ästhetik von der großen Philosophie anlangt und damit die Bezogenheit von philosophischen Ästhetiken auf philosophische Theorien, so möchte ich Ihnen das gleich zu Anfang kurz erläutern, damit Sie an dieser Stelle etwas von dem Problem sehen, das mit Rücksicht auf den Zusammenhang eben von Philosophie und Ästhetik besteht. Die Kantische Ästhetik, die Kantische Definition des Schönen — oder wenigstens eine der Kantischen Definitionen des Schönen — ist, wie viele von Ihnen wissen werden, die des
»interesselosen Wohlgefallens«;3 also daß uns als Subjekten irgendwelche Gegenstände Wohlgefallen bereiten, ohne daß ein Interesse von unserer Seite dabei ist in dem Sinn, daß unser Begehrungsvermögen oder Wille dabei im Spiele wäre. In dem Augenblick etwa, wo wir die Absicht haben, einen schönen Apfel zu verzehren, verhalten wir uns eben nicht mehr ästhetisch, sondern animalisch oder natürlich, und damit ist diese Kantische Definition des Ästhetischen also verletzt. Das leuchtet ja wohl ohne weiteres ein. Aber so einleuchtend das ist, und so wenig die Philosophie etwa einer solchen Bestimmung wie dieser Kantischen sich entäußern kann, so geht sie doch notwendig zurück auf eine Reihe von Bestimmungen, die nun wirklich nur der Kantischen Philosophie spezifisch sind. Das heißt: Es liegt zunächst einmal darin das, was man transzendentalen Subjektivismus< nennen könnte; das Wesen des Schönen wird hier erkannt von dem Verhältnis aus, das das Schöne zu uns als Subjekten habe, während der Gedanke an ein an sich Schönes, an ein Schönes also, das von unseren spezifischen Auffassungsformen unabhängig wäre und ihnen auch nur selbständig gegenüberträte, in dieser Definition des Schönen überhaupt nicht gedacht wird. 4 Und es ist weiter eine Definition des Schönen, in der ein formales Kriterium wie das der Wöhlgefälligkeit — daß also irgendwelche Formen vorkommen, die unser sinnliches Anschauungsbedürfnis als befriedigend und nicht als unbefriedigend empfindet — vorausgesetzt ist. Ich glaube, Sie brauchen nur eine Sekunde lang einmal sich zu überlegen, ob in der Tat das, was wir mit Grund schön nennen, immer den Charakter dieses sinnlich Wohlgefälligen hat — oder ob zumindest dieser Begriff des sinnlich Wohlgefälligen nicht dabei unter Umständen eine so ungeheure Differenzierung und Komplizierung erfährt, daß von diesem ursprünglich schlichten Gedanken nichts mehr übrig ist —, um sich zu vergegenwärtigen, daß aufgrund dieser Voraussetzung der Kantischen Philosophie eine so plausible Definition des Schönen wie die, welche er gibt, doch eben viel an Plausibilität verliert; das heißt also, daß hier die Ästhe-
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tik in der Tat in die ganze Problematik der Philosophie mit hineingerissen wird. Ich gebe Ihnen zum Kontrast nun die Definition des Schönen, wie sie sich in der »Ästhetik« von Hegel 5 findet, die ja neben der »Philosophie der Kunst« von Schelling 6 und dem dritten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung«7 zu den bedeutendsten theoretischen Leistungen der Ästhetik gehört, die unmittelbar an Kant im Zeichen des deutschen Idealismus sich angeschlossen haben. Diese Hegeische Definition des Schönen lautet: Das Schöne sei »das sinnliche Scheinen der Idee«.8 Darin wird ein Begriff von Idee in einem fast platonisierenden Sinn als substantiell, als etwas - man könnte fast sagen: Gegebenes, als etwas, was erscheinen kann, vorausgesetzt, wie er nun gerade von der Kantischen Philosophie ausgeschlossen war, die es ja verboten hat, mit irgendwelchen Ideen als einer endlichen Positivität zu arbeiten.9 Und nur, wenn Sie dabei mitdenken, was Sie ohne weiteres natürlich nicht wissen können, daß in der Hegeischen Philosophie genau diese Kantische Lehre kritisiert ist, das heißt, daß die Hegelsche Philosophie den Anspruch erhebt, eben doch die Idee oder das Absolute konstruieren und adäquat erkennen zu können, nur dann gewinnt so etwas wie diese Behauptung, das Schöne sei das sinnliche Scheinen der Idee, überhaupt seinen Sinn. Und eine derartige These wie diese großartige D e finition von Hegel verliert natürlich unendlich an Plausibilität in einer geistigen Situation, in der, einen solchen Begriff wie den der Idee als wirkend zu unterstellen, von sehr vielen Menschen einfach als etwas Dogmatisches oder Illusionäres empfunden wird, 10 was einem etwa gegenüber dem Verständnis des realen Kunstwerks gar nicht hilft, in dem nun ja keineswegs stets unmittelbar eine solche Idee sich realisiert. Ich möchte hier gleich zu Anfang der Vorlesung sagen, daß ich mich in einem jedenfalls doch dem Hegeischen Verfahren außerordentlich nahe und verpflichtet weiß: Wenn nämlich in der Definition von Hegel, die ich Ihnen gesagt habe, von diesem »Scheinen der Idee« oder »des Absoluten« gesprochen
wird, 1 1 dann ist damit — und das hängt nun auch wieder mit dem grundsätzlichen Unterschied der beiden großen Philosophien, der Kantischen und der Hegeischen, zusammen — bereits darauf rekurriert, daß das Schöne selbst nicht bloß ein Formales und nicht bloß etwas Subjektives sei, sondern etwas in der Sache selbst. Es wird dabei nicht reflektiert auf mich als auf den Betrachter und auf die Wirkung, die die Kunst auf mich ausübt. 12 Im Gegenteil: Hegel hat in seiner »Ästhetik« diese ganze noch aus dem 18.Jahrhundert stammende Anschauung von der Ästhetik als einer Lehre von der Wirkung der Kunst mit schneidendem Hohn behandelt und, wie ich annehmen möchte, mit vollem Recht; er geht davon aus, daß das Schöne etwas Objektives, etwas Substantielles, etwas in der Sache selbst ist, nämlich eben in der Idee, die ja gegenüber dem bloßen subjektiven Bewußtsein notwendig — wenn man den Begriff in seiner traditionellen, platonischen Bedeutung einmal eine Sekunde lang nimmt - eine solche Art von Objektivität besitzt.
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Ich möchte versuchen, um das an den Anfang zu stellen, die Erwägungen über Ästhetik, die wir hier durchfuhren, zu orientieren an diesem Gedanken einer ästhetischen Objektivität, an dem Gedanken also, daß das Wesen des Schönen nicht nur, sondern alle ästhetischen Kategorien - und das Schöne, möchte ich hinzufügen, ist ja nur eine ästhetische Kategorie, die in ihrer Isoliertheit keineswegs zureicht, uns das ganze Gebiet des Ästhetischen zu erschließen 13 — in ihrer Objektivität zu erschließen sind und nicht als bloße Wirkungen auf uns als Subjekte. Auf der anderen Seite bin ich mir sehr wohl dessen bewußt, daß ich hier nicht etwa dogmatisch den Hegeischen objektiven Idealismus und die objektive Dialektik von Hegel einfach als wahr unterstellen kann. Was ich versuchen kann, ist höchstens und allenfalls das: Ihnen an der Analyse der Kategorien zu zeigen, daß es so etwas wie eine ästhetische Objektivität tatsächlich gibt, und damit etwas zu tun, was mir überhaupt immer mehr als das wesentliche Verhältnis gegenüber der dialektischen Philosophie aufgeht, näm-
lieh zu versuchen, das, was eigentlich an Erfahrung, an lebendiger Erfahrung in der dialektischen Philosophie verschlossen ist, fruchtbar zu machen und es Ihnen zu zeigen. Mit anderen Worten also, um es ganz schlicht zu sagen: Jene Objektivität des Ästhetischen, von der ich annehmen möchte, daß sie uns hier beschäftigen soll, die kann sich ergeben nur als eine Objektivität aus der Analyse von Sachverhalten, Problemen, Strukturen der ästhetischen Gegenstände, nämlich der Kunstwerke. Es gibt keinen anderen Weg zu dieser Objektivität, als in die Kunstwerke selber sich zu versenken, 14 und ich werde denn auch nicht davor zurückschrecken, wenigstens an einigen Modellen Ihnen durchzuführen, wie ich glaube, daß eine solche objektiv gerichtete ästhetische Betrachtung eigentlich durchzufuhren sei, bei der es unser methodologisches Richtmaß sein soll, daß wir — wenn ich noch einmal mit Hegel reden darf - uns möglichst rein der Sache überlassen, 15 ohne von uns allzuviel dazu zu tun. Und je reiner wir uns der Sache, der Bewegung des Begriffs 1 6 dabei überlassen, um so nachdrücklicher, so möchte ich annehmen, wird dabei auch unser eigenes subjektives Bedürfnis zu Ehren kommen. Auf der anderen Seite ist es klar - und darin weiß ich mich mit den Kritikern der traditionellen Ästhetik, zum Beispiel mit Moritz Geiger, 17 durchaus einig - , daß es ein müßiges Unternehmen ist, wenn man es immer wieder versucht hat, Ästhetik von oben her zu konstruieren; also einfach durch dekretorische begriffliche Festsetzungen das Wesen ästhetischer Kategorien — sagen wir: des Tragischen, wie es von Johannes Völkelt 18 versucht worden ist - nun ein für allemal zu umreißen und festzulegen. Diejenigen von Ihnen, die eine Beziehung zu lebendiger Kunst haben, würden mit Recht gegen eine solche von oben her verfahrende Subsumtion der Kunst alles erdenkliche Mißtrauen hegen. Diese Betrachtung von oben her, diese allgemeinbegriffliche Betrachtung, tendiert allein schon durch ihren Charakter der Formalität, der in ihrer Allgemeinheit gelegen ist, im allgemeinen auch dazu — ich meine: infolge ihrer begrifflichen Formalität —, zur Erkennt102
nis des Schönen irgendwelche ganz formalen Kriterien anzulegen, also etwa, daß in der Kunst bestimmte mathematische Proportionen herrschen würden oder daß das Kunstwerk sich uns in einer bestimmten Weise, etwa in Gestalt der Oberflächenlinie (oder wie immer man das nennen mag), wie es Hildebrand 19 genannt hat, sich uns also aufgrund irgendwelcher formaler Regeln als etwas Befriedigendes präsentiere. Ich glaube, daß ich mit Hegel die Ansicht vertreten darf, daß diese Kategorien allesamt gegenüber dem lebendigen Kunstwerk etwas außerordentlich Unzulängliches und etwas außerordentlich Oberflächliches haben. Bitte verstehen Sie mich dabei nicht falsch. Ich möchte nicht etwa sagen, daß es auf diese Momente nicht ankommt, und wenn wir später über das Problem von formaler und inhaltlicher Ästhetik zu reden haben, werden wir uns eingehend damit zu beschäftigen haben, daß diese beiden Kategorien durch einander vermittelt sind, daß die sogenannten Formen sedimentierter Inhalt sind und daß der ästhetische Inhalt seinerseits etwas durch die Form bis ins Innerste Betroffenes ist und keineswegs etwa das, was man so als Rohstoff aus der empirischen Welt übernimmt und in das Kunstwerk eigentlich hineinstopft. Es ist ganz sicher zum Beispiel so, daß alle die Probleme, die heute in der Kunst unter dem Namen der >Konstruktion< aktuell sind und die ja in allen Medien der Kunst heute sehr energisch sich geltend machen, ohne etwas von diesen formalen Konstituentien, unter Umständen auch von mathematischen Proportionen, gar nicht gedacht werden können. Ich möchte also dieses M o ment hier nicht etwa ausschalten, sondern ich möchte Ihnen nur sagen, daß in dem Augenblick, wo man es isoliert, wo man es also nicht in seinem lebendigen Verhältnis, in seiner Dialektik, möchte ich sagen, mit dem konkreten künstlerischen Gehalt sieht, daß man dann allerdings wirklich in ein schlecht Formales hineingerät und schließlich in jene Schulmeisterei, die aufgrund der Erfüllung oder Nichterfüllung irgendwelcher derartiger formaler Proportionen darüber glaubt urteilen zu dürfen, ob ein Kunstwerk etwas tauge oder ob es 15
und ein für allemal dargestellt und dann angewandt wird, halte ich für nicht unmöglich, aber ich kann dagegen nichts tun, als allenfalls Sie darauf hinweisen, daß ich versucht habe, in meinen Büchlein nun gerade gegen diese Trennung von M e thode und Sache mich zu wehren, und dieses Motiv, das übrigens ebenfalls bei Hegel bereits vorgedacht ist, aus dem Stand des gegenwärtigen Bewußtseins heraus zu entwickeln. Sie finden diese Dinge, wenn Sie darauf Wert legen, in der Einleitung zur »Metakritik der Erkenntnistheorie« 21 und auch in der Arbeit über den »Essay als Form«, 22 die darin wohl am weitesten geht. Nun bin ich aber auch in diesen Dingen kein Rigorist; es ist natürlich auch nicht so, daß ich unterstellen würde, daß ich nun wirklich rein aus der Sache heraus, rein aus den Kunstwerken heraus ohne weiteres alle Kategorien herausholen würde. Sondern solange es etwas wie eine Differenz von Subjekt und Objekt, von Erkennendem und Sache gibt, gibt es natürlich auch keine absolute und vollkommene Koinzidenz zwischen Sache und Methode, wie ich sie eben einmal etwas übertreibend stipuliert habe. Und ich möchte im Gedanken an eine gewisse Liberalität, die sich hier ziemt, Sie doch darauf aufmerksam machen, daß ich wenigstens einmal so etwas wie eine kurze Beschreibung dessen gegeben habe, was mir als ästhetische Methode vorschwebt, nämlich in der Einleitung zu der Kranichsteiner Vorlesung über »Kriterien der neuen Musik«. 23 Es ist dabei zwar nur von Musik die Rede, aber es dürfte Ihnen wohl ohne weiteres möglich sein, die Erwägungen, die Sie hier finden, so zu extrapolieren, daß sie auf die ästhetische Problematik insgesamt ihre Anwendung finden können.
nichts tauge, während ganz sicher in großen Kunstwerken immer auch etwas dieser Momente sein wird, aber doch nur so, wie diese Momente sich darstellen in der Spezifikation des ästhetischen Gehalts, mit dem sie jeweils zu tun haben, und nicht etwa als eine abstrakte, davon ablösbare und ein für allemal geltende Bestimmung. Ich möchte Ihnen weiter sagen, daß es nicht meine Absicht ist, in dieser Vorlesung Ihnen sehr viel Methodologisches zu sagen und Ihnen sehr vieles nun selbst über die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Ästhetik zu verraten. Ich könnte bequem diese Vorlesung mit solchen Betrachtungen ausfüllen, und ich weiß, daß es nicht an Philosophen mangelt, die, wenn sie einen Gegenstand wie die Ästhetik abhandeln, aus dem Bedürfnis der Gediegenheit glauben, über die sogenannten Vorerwägungen nie hinausgelangen zu dürfen. Ich will diese Versuchung auch gar nicht unterschätzen. Aber ich möchte mich gegen sie wehren. Ich bin auch darin, wenn Sie mir das Bekenntnishafte in dieser ersten Stunde verzeihen, ein guter Hegelianer, daß ich unterstelle, daß man Schmied wirklich nur vom Schmieden wird; das heißt, daß man eine M e thode nicht dadurch wirklich begreift, nicht dadurch einer Methode von innen her sich versichert, daß man sie in abstracto zunächst einmal darstellt und dann, wie das schöne Wort heißt, auf irgendwelche Gegenstände >anwendetWerte< zu diktieren oder zu setzen, sondern der Begriff einer solchen Wertphilosophie, die von starren, dem Subjekt gegenüberstehenden und unveränderlichen Werten ausgeht, der scheint mir unvereinbar eben mit der geschichtlichen Erfahrung und gerade auch mit der Erfahrung dessen, was sich verbindlich in der Kunst selber zuträgt. Auf der anderen Seite aber bin ich ebensowenig geneigt, mich dem bürgerlichen Convenu der Zufälligkeit des Geschmacksurteils zu beugen, 25 also der Behauptung, daß Kunst Geschmackssache sei, daß dem einen das gefallen könne und dem anderen jenes. Ich möchte dieser Anschauung deshalb mich nicht beugen - ohne nun auf ihre Meriten selber eingehen zu wollen —, weil diese Anschauung eigentlich, wo sie auftritt, überhaupt gar nie wirklich ernst gemeint worden ist. Es ist sehr sonderbar, daß die Menschen, die am meisten sagen, daß sich über den Geschmack nicht streiten lasse, die sind, die am allermeisten über den Geschmack streiten; und der Mann, der etwa von einem exponierten modernen Bild oder einem modernen Musikstück sagt, daß er das nicht versteht, daß er sozusagen von der Verbindlichkeit des Urteils sich dispensiert, ist im allgemeinen genau der, der glaubt, daß er damit, daß er etwas nicht versteht, über die nichtverstandene Sache etwas Vernichtendes bereits ausgesagt habe.26 Aber um Ihnen eine noch einfachere Überlegung zu dem gleichen Gegenstand mitzuteilen: Wie wenig ernst es mit dem Gedanken an die Relativität des Geschmacksurteils ist, das zeigt sich nicht nur darin, daß die Menschen ununterbrochen in Streitigkeiten über ästhetische Qualitäten verwickelt werden, 27 sondern in Deutschland geht das ja bis in die Extreme hinein; man kann sagen, daß in Deutschland die größten philosophischen Kontroversen, etwa die, die Nietzsches Kritik am Chri16 18
stentum betreffen, unmittelbar von Fragen der ästhetischen Qualität, nämlich der des »Parsifal« von Wagner,28 ausgegangen sind.29 Sondern es ist doch auch so, daß im allgemeinen kein Mensch im Ernst unterstellen will, daß es innerhalb der Kunst so etwas wie Unterricht nicht gebe, daß sich Kunst nicht in einem sehr weiten Umfang lernen lasse. Und die Möglichkeit, daß ich einem Menschen den allereinfachsten Unterricht in Harmonielehre gebe, also ihm zeigen kann, wann ein Choral gut und wann ein Choral schlecht harmonisiert ist, wann ein Kontrapunkt sitzt und wann er nicht sitzt; oder daß jemand, der das vermag, einem jungen Menschen demonstriert, wann ein Bild perspektivisch richtig und wann es falsch angelegt ist, - das allein deutet doch bereits hin auf eine Entscheidbarkeit ästhetischer Fragen, die mit der These jenes Relativismus zunächst einmal in gar keiner Weise überhaupt zusammenzubringen ist. Nun, wenn man darauf entgegnet: >Ja, das sind natürlich alles bloße Fragen der Technik, die Technik kann man erlernen, aber die Kunst kann man nicht erlernendas ist doch bloße Technik, aber der absolute Wert des Kunstwerks ist nicht zu entscheiden — ist zu sagen, daß die Trennung des sogenannten künstlerischen Gehalts von der Technik etwas vollkommen Dogmatisches ist, das heißt, daß es einen verbindlichen, objektiv gültigen künstlerischen Gehalt überhaupt nur soweit gibt, wie das Kunstwerk eben in sich technisch konsequent durchgeführt ist. Sie können weiter sagen, daß alle diese Bestimmungen, wie ich sie Ihnen eben genannt habe - die der Harmonielehre oder der Perspektive —, elementar seien und daß ein reifes Kunstwerk, eine reife Komposition, ein reifes Bild, damit natürlich nichts zu tun habe, das sich über die traditionelle Harmonielehre oder die traditionelle Perspektive ja nicht nur hinwegsetzen dürfe, sondern geradezu müsse. 31
Nun, das ist ganz gewiß wahr; aber ich würde doch sagen — ich glaube, das gibt Ihnen wenigstens einen ersten Blick mit Rücksicht auf das Problem der objektiven Qualität des Kunstwerks —, daß der Weg, der dazu fuhrt, im Ernst darüber zu entscheiden, ob ein autonomes und anspruchsvolles, von allen Schulregeln befreites Kunstwerk eines sei, daß dieser Weg einer ist, der eigendich in einer gewissen Kontinuität weiterführt von jenen sogenannten Elementarproblemen des richtigen Harmoniertseins oder des richtigen Gezeichnetseins. Das heißt: Noch die obersten - ich will nicht sagen, die obersten, ich will vorsichtig sein - , aber doch fast die obersten ästhetischen Fragen lassen sich eigentlich nach Kategorien der Stimmigkeit entscheiden, die zwar quantitativ unendlich verschieden sind von jenen primitiven Dingen, auf die ich Sie hingewiesen habe, die aber grundsätzlich in dieselbe Ebene der Entscheidbarkeit hineingehören wie diese; und ich hoffe, Ihnen gerade dieses Moment, das mir ja nun wirklich der Schlüssel zu der Objektivität des ästhetischen Urteils zu sein scheint, in dieser Vorlesung voll entfalten zu können. Jedenfalls die Frage der Zufälligkeit des Geschmacksurteils soll uns nicht beirren. Ich darf en passant hier allerdings sagen, daß ich damit nicht die empirische Zufälligkeit des Geschmacksurteils meine. Das heißt, gegenüber dem Kunstwerk ist es allerdings ziemlich zufällig, was Herr X und Fräulein Y von dem Kunstwerk halten. Und wenn man die ästhetische Qualität zusammenaddieren oder zusammenlogarithmieren wollte aus diesen subjektiven Reaktionsweisen heraus, dann käme man allerdings nicht zu einer Objektivität, sondern der einzige Weg in die Objektivität ist die innere Zusammensetzung der Sache, das kategoriale Gefuge, wenn ich so sagen darf, das ein jedes Kunstwerk in sich selbst darstellt.32 Ich möchte noch ein paar Worte sagen über den verbreiteten Widerstand gegen ästhetische Theorie, weil es vielleicht uns ein wenig helfen wird, uns zu verständigen, wenn Sie über ein paar dieser Widerstände ein bißchen nachdenken und sie wegräumen und sich der Zumutung doch vielleicht 102 20
etwas geneigter zeigen, die allerdings an Sie ergeht: daß nämlich das Verhalten zur Kunst nicht so sehr ein Sonntagsvergnügen ist, sondern etwas sehr Ernstes und sehr Verpflichtendes, oder, wie Hegel das genannt hat, daß die Kunst eben eine Erscheinung, und zwar eine fortschreitende Erscheinung der Wahrheit sei. 33 Dabei ist nun zunächst daran zu denken, daß in dem allgemeinen, vorphilosophischen Bewußtsein Kunst gilt als eine Art Domäne der Irrationalität, als eine Domäne des Unbewußten, als ein Bereich, in dem man den Kriterien der Logizität enthoben sei. Lassen Sie mich gleich sagen, daß die Logik oder Stringenz des Kunstwerks, von der ich Ihnen vorher gesprochen habe im Namen der >Stimmigkeitgeben< oder sie glücklich zu machen. Es wird dann zwar vielleicht gewisse Qualitäten verlieren, die es für das naive B e wußtsein hat, 37 etwa jene Qualitäten des sogenannten sinnlichen Wohlgefallens, von denen ich bereits gesprochen habe und an die ja ungezählte Menschen sich klammern. Es wird aber andere Qualitäten auch dadurch gewinnen, und was immer es an Qualitäten hat, muß, wenn ein philosophisches Bewußtsein ihm angemessen ist, in diesem philosophischen Bewußtsein dann geborgen, wahrhaft aufgehoben sein und nicht nur durch das Bewußtsein einfach zerstört. Die R e f l e xion auf eine Sache macht ja nicht die Sache selber unmittelbar zu einem Reflektierten. 38 Ich hatte vor einiger Zeit in Hamburg einen Vortrag zu halten über »Fragen des zeitge102 22
nössischen Operntheaters«,39 und es meldete sich ein Diskussionsredner und sagte mit einem heftigen Affekt: Ja, also alle diese Überlegungen, die ich anstellen würde, die hätten doch ganz bestimmt den Mozart nicht geleitet; der hätte doch alles das nicht sich dabei gedacht, und, bitte schön, ob ich denn so schöne Sachen komponieren könnte wie der Mozart. 40 Ich habe dem Mann darauf geantwortet, daß ich ja nun einmal unseligerweise dazu aufgefordert wäre, den Vortrag zu halten, und daß, wenn man mich schon eingeladen hat, theoretisch über Kunst zu sprechen, man mir dann nicht vorwerfen kann, daß ich das tue. Aber ich glaube, daß der Affekt, der an dieser Stelle sitzt, wirklich so stark ist, daß eigentlich bereits die theoretische Besinnung, die man über das Kunstwerk anstellt, von vornherein fehlinterpretiert wird, so, als ob sie sich bezöge auf das, was sich in dem Künstler selber, der die Werke hervorbringt, in irgendeiner Weise abgespielt hat. Ich glaube, es ist deshalb wichtig — so trivial es ist, und obwohl ich mich fast ein wenig geniere —, Sie in dieser Vorlesung daraufhinzuweisen, daß ich nirgends, es sei denn, wenn ich in irgendeinem Zusammenhang es einmal ausdrücklich tun muß, in den Erwägungen über Kunst etwas über Künstler sage, über Künstler-Psychologie; daß ich überhaupt hier nicht psychologisch reden will, auch in ganz bestimmten, auch in geschichtsphilosophisch gearteten Zusammenhängen nicht, und vor allem, daß nichts von den Momenten, die ich versuche als die Objektivität des Kunstwerks hervorzuheben, gleich wäre mit den sogenannten >Intentionenindividualistische< bezeichnen darf, und das seinen krassesten Ausdruck findet in dem Glauben, daß Kunst ja etwas sei, was wesentlich abhänge von der Begabung sowohl dessen, der sie hervorbringt, wie auch dessen, der sich verstehend in irgendeiner Weise zu ihr verhält. Und indem Kunst an dieses doch Zufällige und der theoretischen Bestimmung offenbar Entzogene — die individuelle Begabung - festgemacht wird, sieht es so aus, als ob dieser Individuation gegenüber jeder Versuch, allgemeinere Überlegungen zur Kunst anzustellen, etwas Willkürliches sei. Ich möchte dazu sagen, daß ziinächst einmal die Besinnungen über die objektiven Fragen der Kunstwerke und der Ästhetik, die wir anstellen, auf die Sache gehen und nicht auf das Verhältnis der einzelnen Menschen zu dieser Sache. 45 Die Tendenzen der Betrachtung, die wir hier haben, sind eben durchaus objektiv-ästhetischer und nicht etwa psychologischer Art; sonst würde ich eine Vorlesung über Kunstpsychologie und nicht eine Vorlesung über Ästhetik halten. Daß ich dabei diese Gattungen nicht starr voneinander scheiden kann, hat seine guten Gründe, und Sie werden wohl bald bemerken, warum das so ist. Aber jedenfalls: Der Nachdruck dessen, was ich tue — das möchte ich vorweg sagen —, liegt im Gegensatz zu dem überwiegenden Teil der Ästhetik, vor allem aus dem späteren 19. Jahrhundert, auf der Betrachtung der Probleme der ästhetischen Gegenstände und nicht auf der Reduktion der ästhetischen Gegenstände auf irgendwelche Auffassungsweisen von ihnen. Gerade darin scheint jenes Erschlaffen des 102
theoretischen ästhetischen Bewußtseins, von dem ich Ihnen das letzte Mal gesprochen habe, mir wesentlich zu bestehen: daß nach Hegel und mit dem Verfall der Hegeischen Philosophie die theoretische Spekulation eigentlich sich gar nicht mehr in dieser Weise an die Sache selbst heranwagt, sondern immer versucht hat, sie auf psychologische Reaktionsformen zu reduzieren. Da aber jedes Kunstwerk in sich eine merkwürdige Einheit objektiver und subjektiver Momente ist — die das zentrale Thema dessen bildet, worüber wir zu sprechen haben —, so ist allein dadurch schon eine solche psychologische Reduktion und damit die auf bloße Begabung ausgeschlossen.46 Aber das wird denjenigen von Ihnen, die mit diesem Vorurteil herankommen — und etwa denjenigen, die aus irgendwelchen Gründen sich selbst als nicht spezifisch ästhetisch begabt empfinden - , wahrscheinlich eine geringe Hilfe sein. Vielleicht erlauben Sie mir deshalb, daß ich an dieser Stelle wenigstens ein paar Worte über ein psychologisches Problem sage, weil es eben wirklich auf das Grundverhalten von Menschen zur Kunst sich bezieht, und man schließlich ja sinnvoll auch über die objektiven ästhetischen Fragen nur dann reden kann, wenn ein lebendiges Verhältnis dieses einzelnen Menschen zu dem konkreten Kunstwerk irgendwie vorliegt. Es scheint mir nämlich so, daß der Begriff der Begabung in der Kunst in einem gewissen Sinn weit überschätzt wird. Ich möchte damit diesen Begriff nicht aus der Welt diskutieren, und wer etwa Gelegenheit hat, sehr häufig Musikfeste — die man besser Ausstellungen moderner Musik heute nennen müßte — zu hören, wie ich, der wird des Unterschieds von Begabung in einer oft sehr drastischen Weise gewahr. Aber was ich sagen will, ist, daß man diesen Begriff der Begabung nicht als etwas Statisches, nicht als etwas Unveränderliches, sozusagen vom Himmel Gefallenes, hinnehmen darf, so wie etwa Musikalität — und ich würde sagen: fälschlich — sehr oft in Analogie zur Mathematik als so eine Art definitiver Naturbegabung angesehen wird. Die Begabung für Künstlerisches 27
ist ein Teil der gesamten psychologischen Konstitution von Menschen und nicht eine Art von spezialistischer Sonderfähigkeit, die auf die Menschen gefallen ist. Ich meine, man kann ein gutes Gehör haben oder ein gutes Auge, aber das allein ist für die künstlerische Begabung eigentlich gar nicht das Entscheidende; ich habe schon in meinem Leben ausgezeichnete, sehr bedeutende Musiker gekannt, die gar kein besonders gutes Gehör hatten, und ich habe Musiker mit einem märchenhaften Gehör gekannt, die Sechsteltöne singen und treffen konnten, und die mir im Grunde als amusische Menschen erschienen sind. Aber die eigentliche künstlerische B e gabung ist eben doch eine Beschaffenheit der Gesamtperson, und zwar eine, die wesentlich durch eine — wenn ich so sagen darf — negative Fähigkeit charakterisiert wird, nämlich durch die, daß man sich von der Unmittelbarkeit des Daseins, von der Befangenheit in den unmittelbaren Zwecken und Velleitäten47 des Lebens emanzipiert und daß man - wie man das einmal zur Zeit des deutschen Idealismus genannt hat mit einem Wort, das man heute nicht mehr recht in den Mund zu nehmen wagt, an dem aber doch etwas dran ist - , daß man sich zu erheben vermag in dem Sinn, in dem Piaton etwa den Enthusiasmus als die Bedingung überhaupt der Philosophie bezeichnet hat.48 Die Verhaltensweise, die das Verhältnis zur Kunst schlechterdings ausschließt, ist die konkretistische, also die, ich würde sagen, beschädigte Gebundenheit an das, was ist und was praktische Forderungen an einen richtet, und die einen so beherrscht und der gegenüber man solche Schuldgefühle hat, daß man dann gewissermaßen sich selber das Glück verbietet, das an der Stelle beheimatet ist, wo man etwas tut, was einen solchen Sinn im Betrieb der Selbsterhaltung des Einzelnen und der Gesellschaft nicht nachweisen kann. Es ist aber nicht etwa so, als ob nun die bloße Besinnung auf diese Bedingung der künstlerischen Begabung ausreichte, um Menschen, die einen Mangel an dieser Begabung fühlen, davon zu kurieren. Es reicht nur vielleicht aus, sie dazu anzuhalten, den Gründen 102
einmal nachzugehen, die ihnen überhaupt die künstlerische Erfahrung fremd machen, und sie dadurch — vielleicht auch in einer Art von Selbstreflexion - auf die tiefere Motivation j e nes Mangels zu führen. Die dürfte im allgemeinen - wenn ich noch so viel Psychologisches sagen d a r f - darin zu suchen sein, daß es sich um Menschen handelt, die — und zwar meist in ihrer sehr frühen Kindheit - durch irgendeine starke Autorität, vielfach wohl die des Vaters, irgendwie so stark auf das Realitätsprinzip - also auf den praktischen Betrieb der Selbsterhaltung — verwiesen worden sind, daß sie eine Art von Angst haben vor den Dingen, die darüber hinausgehen, daß sie es sich selbst verbieten. Und diese Angst wird dann oft kompensiert und rationalisiert durch eine gewisse Art von falschem Hochmut gegen das, was nun Allotria und dummes Zeug sein soll, und was einem nichts gilt, - ein Hochmut, der doch sehr viel hat von den Trauben, die zu sauer sind.49 Ich habe sehr häufig konstatieren können, daß Menschen, die in einem extremen Maß unmusikalisch waren — etwa unfähig, Noten zu lernen, oder auch nur einfach Melodien richtig nachzusingen - , daß das Menschen waren, denen das von einem strengen Vater irgendwie schon in der frühen Kindheit wirklich ausgetrieben worden ist. Ich habe andererseits sehr oft die Beobachtung gemacht, daß durch gewisse Veränderungen der Existenzform die Aufnahmefähigkeit für Kunst sich plötzlich geändert hat. Ich kenne Fälle von Menschen, die, in einem sehr musikalischen und zugleich autoritären Milieu aufgewachsen, sich zunächst einmal für unmusikalisch gehalten haben - oder von ihrer Umgebung dafür gehalten worden sind und die dann gewissermaßen plötzlich ihre Musikalität entdeckt haben. Und alle diese Dinge sind überhaupt nichts so Starres und Statisches. Das meine ich also, wenn ich Sie davor warne, mit Rücksicht auf Kunst die Frage der sogenannten Begabung zu überschätzen. Es steckt in dieser Uberschätzung auch ein ideologisches Moment darin, nämlich: Gerade die Gesellschaft, die aufjenem Realitätsprinzip so sehr besteht, das den Menschen die Reaktionsfähigkeit für künstlerische Dinge so 29
leicht austreibt, gerade diese Gesellschaft braucht gewissermaßen überall dort, wo sie nun nicht unmittelbar ihre Zwekke verfolgt, gleichsam zur Kompensation, eine Ideologie des absolut Naturhaften, Irrationalen, vom Willen und vom B e wußtsein ganz und gar Unabhängigen. Ich möchte beinahe sagen: Die Tatsache, daß Musikalität eine Gnade Gottes ist, die vom Himmel fällt und an der der Einzelne keinerlei Anteil hat, gehört genauso zum Hausschatz der bürgerlichen Convenus 50 wie auf der anderen Seite die Vorstellung, daß der Papa am Morgen um die richtige Zeit in sein Büro geht und daß man keine Schulden macht. Das sind alles Dinge, die sozusagen aus Schillers Sämtlichen Werken in Prachtausgabe51 stammen und die - nachdem die Bildung, in der sie einmal ihren Ursprung hatten, längst zerfallen ist - nun immer noch umhergeistern und die Menschen verdüstern und die dazu beitragen, die Beziehung gerade auch auf Künstlerisches den Menschen zu erschweren oder zu versagen. Ich weise darauf nun gerade hin, gar nicht so sehr mehr im Gedanken an das psychologische Problem, von dem ich ausgegangen bin, sondern um Sie auf das vorzubereiten, was Sie nun allerdings recht bald in dieser Vorlesung erfahren werden, nämlich daß eben jene Vorstellung der Kunst als eines rein Anschaulichen und damit vom Gedanken, der Anstrengung, der Anspannung schlechterdings Unabhängigen, die Sie mehr oder minder wahrscheinlich zum größten Teil mitbringen werden, daß diese Vorstellung nicht zu halten ist und daß also die Konzeption einer rein anschaulichen Kunst überhaupt sich als etwas sehr Problematisches erweist; im übrigen eine Erfahrung, die unabdingbar ist, gerade wenn es um das Verständnis der eigentlich fortgeschrittenen zeitgenössischen Tendenzen in der Kunst geht. Sie könnten [jetzt] fragen: Wer soll nun eigentlich nach all dem überhaupt mit der Theorie der Kunst sich beschäftigen, wenn es einerseits auf die Begabung nicht so sehr ankommt, und wenn es andererseits so ist, wie ich es Ihnen ja gleich zu Beginn zugestanden habe, daß nämlich in den ästhetischen 102 30
Wälzern, die man in den Bibliotheken philosophischer Seminare findet, unendlich viel kunstfremdes, ja banausisches Zeug sich zusammengeschrieben findet, das gerade einen künstlerisch reaktionsfähigen Menschen von der Befassung mit sogenannter philosophischer Ästhetik abschrecken kann. Ich glaube, ich muß Ihnen hier eine etwas sonderbare Antwort geben, nämlich: Hier liegt die Wahrheit offenbar bei den Extremen, die sich berühren. Es will mir scheinen, als ob es sozusagen zwei Quellen ästhetischer Einsicht gäbe - oder richtiger vielleicht: zwei Pole, bei denen der Funke manchmal vom einen zum anderen herüberschlägt. Der eine dieser Pole ist der wirklich konsequente theoretische Gedanke, der oft gerade dann am fruchtbarsten sich erweist, wenn er sich von den spezifischen ästhetischen Gegenständen relativ fernhält. Das ist der Fall in den großen Systemen der Ästhetik, vor allem in der »Kritik der Urteilskraft«, in der »Ästhetik« von Hegel, aber etwa auch in dem ästhetischen Teil der »Welt als Wille und Vorstellung«. Diese drei Philosophen sind sicherlich nicht das gewesen, was man in so einem engeren Sinn als künstlerische Menschen bezeichnet. Sie sind sicherlich nicht das gewesen, was man >feinsinnig< nennt, aber die Kraft ihrer Erfahrung, der geistigen Erfahrung, ist so tief gewesen, daß sie dadurch auch Bereiche gewissermaßen in sich hereingerissen hat, die ihrem Inhalt nach ihnen noch gar nicht so offenbar waren. 52 Es ist das überhaupt das Erschütterndste an der Kantischen Philosophie — wenn man sie wirklich auch als einen Ausdruck zu lesen versteht, und nicht nur als eine Erkenntnistheorie wie gerade bei Kant immer die Macht des Gedankens selber fast unabhängig von der Zufälligkeit seiner Person und sogar seiner spezifischen Erfahrung in alle möglichen Dinge hineinreicht, die er in dieser Art, wenn Sie so wollen, gar nicht >gewußt< hat; also wie weit das Kantische Wissen über sein Wissen eigentlich hinausreicht: Das ist geradezu, könnte man sagen, die Bürgschaft der Kantischen Genialität, und es scheint mir zuweilen, daß bei Hegel die Dinge gar nicht so sehr verschieden liegen, während merkwürdigerwei-
se bei Schopenhauer, der seiner ganzen Lebenshaltung nach wahrscheinlich mehr auf dem Standpunkt eines die Kunst genießenden Menschen gestanden hat, diese Kraft der spezifischen Einsicht in ästhetische Probleme mir doch nicht in derselben Weise entwickelt scheint. Auf der anderen Seite - am anderen Pol - finden sich nun diejenigen Menschen, die selbst in der künstlerischen spezifischen Arbeit drinstehen, die die spezifische Erfahrung vom Material haben und sie unter Umständen in sich selber reflektieren. Es gibt in der Moderne Menschen, bei denen dieser Reflexionsprozeß so weit geht, daß er von dem künstlerischen Produktionsprozeß eigentlich überhaupt nicht mehr geschieden werden kann. Das ist ein spezifisches Phänomen eben aus unserer Zeit. Ich denke dabei, wie viele von Ihnen erraten werden, vor allem an Paul Valery.53 Sicherlich also ist die Befassung mit Kunst von innen her 54 - und das heißt immer so viel wie: Befassung mit Kunst unter ihren technologischen Kategorien, also unter den Kategorien ihrer immanenten Produktion — ebenso eine legitime Quelle der ästhetischen Einsicht, freilich mit der Erschwerung, daß es verhältnismäßig selten dabei ist, daß Künstler, die diese Erfahrungen haben, auch über das begriffliche Instrumentarium verfügen, diese Erfahrungen theoretisch fruchtbar zu machen; aber andererseits ist dieses Vermögen auch doch nicht so ganz selten, wie es vielleicht scheinen mag. Ich würde also denken, daß eine fruchtbare Beziehung zur theoretischen Ästhetik in der Kommunikation dieser beiden Verfahren - des Verfahrens der »höchsten Höhe«, mit Goethe zu reden, und der »nächsten Nähe« 55 — eigentlich besteht.56 Ich würde aber aufs äußerste warnen vor jener Sphäre, die man mit >Feinsinn< bezeichnen kann, vor der Sphäre des ästhetischen Genießers, vor der Sphäre des sogenannten E i n fühlsamem, vor der des Mannes, der chinesische Stiche sammelt und der so furchtbar gern Kammermusik hat, wenn sie nur nicht zu ernst ist. Das abschreckende Beispiel dieser Art von mittlerem >FeinsinnJa, das ist der Sinn der Kunst; das ist Kunst; nun hab' ich's ein und für allemal in Händen; nun weiß ich, was so ein Kunstwerk istÄsthetik< nicht ohne weiteres auf die Kunst beschränkt ist. Er kommt von dem griechischen ai0^dv0(xai, >wahrnehmenLehre vom Schönen< oder den der >Lehre von der Kunst< irgendwie getroffen wird, obwohl ich gleich hier vorausschikken möchte, daß keiner dieser Begriffe das, was mit Ästhetik gemeint ist, eigentlich erschöpft. Es gilt auch für den Begriff der Ästhetik — wie für jegliche philosophische Reflexion, die ihren Gegenstand als einen lebendigen betrachtet und nicht in dogmatisch geronnener Form —, daß er sich nämlich einer solchen abstrakten Definition entzieht; sondern Ästhetik ist eben dann der Inhalt dessen, was die Bestimmungen ausmacht, die unter diesem Namen zusammentreten. Dieser Z u 35
sammenhang bildet eigentlich überhaupt erst den Namen, und nicht irgendeine einzelne Verbaldefinition, 66 die man nur zu geben braucht, damit sofort eine Hand sich erhebt, die dann sagt, es gibt aber auch etwas, was Ästhetik ist und was unter diese Definition nicht fällt. Wenn Sie einmal das ausscheiden, dann bleibt von der herkömmlichen Definition des Wortes Ästhetik im allerallgemeinsten Sinn nur übrig, daß man es in der Ästhetik mit sinnlich Anschaulichem — jedenfalls als einem wesentlichen Element — zu tun hat, und wenn ich dazu komme, die absolute Gültigkeit der Reduktion des Ästhetischen auf das sinnlich Anschauliche zu kritisieren, dann hat diese Kritik natürlich nur dann einen Sinn, wenn zunächst einmal konzediert wird, daß es sich in der Kunst, oder im B e reich des Ästhetischen in einem allgemeineren Sinn, nicht um Erkenntnis in dem wörtlichen, buchstäblichen Sinn handelt,67 wie etwa die Wissenschaften ihn geben, und daß es sich auch nicht um ein praktisches Verhalten handelt, wie ich es ja in meinem kurzen psychologischen Exkurs von der Ästhetik ausgeschlossen habe. Mehr haben wir also nun zunächst durch diese kurze Begriffsdefinition nicht in Händen. Wenn ich mich weiter halte an das, was die Geschichte dieser Disziplin an wesentlichen Einteilungen produziert hat, dann stößt man als auf die umfassendste auf den Unterschied des Naturschönen und des Kunstschönen. Dabei ist nun das sehr Merkwürdige, das vielleicht in seiner Tragweite noch gar nicht recht gesehen worden ist, daß in der Geschichte der Ästhetik seit dem 18.Jahrhundert das Verhältnis dieser beiden Disziplinen in einer merkwürdigen Weise sich verschoben hat.68 Noch bei Kant wird das Naturschöne mit dem Kunstschönen als auf einer Ebene der Dignität liegend abgehandelt.69 Und man kann sogar bei Kant die erstaunliche Beobachtung machen, daß einige der tiefsten ästhetischen Bestimmungen - ja, daß gerade diejenigen seiner ästhetischen Bestimmungen, die über seine eigene Zeit am weitesten hinausreichen, von denen ich Ihnen einige vortragen werde — gewonnen sind nicht im Bereich der Ästhetik des Kunstschö16
nen, sondern im Bereich des Naturschönen; das heißt: daß der zweite Teil der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«, daß die »Analytik des Erhabenen« sich seinen Worten zufolge lediglich auf das Naturschöne und gerade nicht auf das Kunstschöne bezieht, daß also für Kant nur Natur und nicht Kunst erhaben sein kann. 70 Das hat sich nun in einer sehr merkwürdigen Weise umgedreht; und zwar hat diese Umdrehung ihren Niederschlag gefunden wohl erstmals endgültig in der Hegeischen Philosophie. 71 Der Grund dafür ist die fortschreitende Vergeistigung des Bewußtseins von der Kunst überhaupt, die mit der gesamteuropäischen Bewegung der R o mantik einsetzt, in der Kunst eben immer weniger als der Inbegriff eines sinnlich Wohlgefälligen und in einem immer weiteren Maß als Träger von geistigen Bedeutungen oder, um es in der Sprache jener Philosophie auszudrücken, als Ausdruck einer Idee angesehen wird. Gleichzeitig tritt damit auch der formale Gesichtspunkt, der mit der Idee des bloß sinnlich Angenehmen oder Wohlgefälligen verbunden ist, notwendig immer mehr zurück. Es ist kein Zufall, daß der Übergang von einer Ästhetik, in der der Begriff des Naturschönen vorwaltet, zu einer Theorie des Kunstschönen zusammenläuft mit einer Kritik der Formalästhetik, als den formalen Regeln des Wohlgefälligen, zugunsten einer inhaltlichen Ästhetik, wobei — wie ich gleich sagen möchte — der Begriff dessen, was in Kunst eigentlich Inhalt sei, auch in diesen Philosophien nur im allgemeinen recht roh und unzulänglich gelöst worden ist.72 Und ich möchte gleich hier es als eines der Themen notieren, die wir zu behandeln haben, daß wir nun über jenes Moment des Inhaldichen, das der bloßen Formalästhetik entgegensteht, uns vielleicht doch etwas gründlicher Rechenschaft ablegen sollten, als es in den traditionellen Systemen der Fall ist.73 Ich möchte Ihnen wenigstens, um Ihnen dieses Klima der Abwendung von dem Naturschönen in der Ästhetik zu zeigen, ein paar Stellen aus Hegel vorlesen, die ich für recht charakteristisch halte und an die ich vielleicht ein paar ganz kurze 37
Betrachtungen anschließen darf. Da heißt es also in dem ersten, allgemeinen Teil der Hegeischen »Ästhetik«: »Als die sinnlich objektive Idee nun ist die Lebendigkeit in der Natur schön, insofern das Wahre, die Idee, in ihrer nächsten Naturform als Leben unmittelbar in einzelner gemäßer Wirklichkeit da ist.«74 Das setzt natürlich voraus, was ich Ihnen in der letzten Stunde schon sagte, nämlich eben, daß alles Seiende bei Hegel eigentlich Idee ist, und daß deshalb auch — da die Idee und das Schöne bei ihm koinzidieren - die Natur in ihrer Unmittelbarkeit selber auch ein Stück, ein Moment von Idee hat und, insofern sie es hat, schön ist. Das schränkt Hegel aber nun sogleich ein. Ich darf hier im Anschluß an eine Diskussion bei Gelegenheit der Hegel-Tagung 75 sagen, daß derjenige Hegel völlig mißverstehen würde, der ihn als einen nichtkritischen, das heißt, als einen Denker auffassen würde, bei dem alles grau in grau ist, bei dem die Mühle von Thesis, Antithesis und Synthesis klappert, sondern der wahre Gehalt dieser Bewegung der Hegeischen Philosophie ist ja eben in einem eminenten Maß die Kritik. Wenn Sie Hegel sich wirklich im Ernst ansehen, dann werden Sie finden, daß diese berühmten Bewegungen des Begriffs, um den es sich bei ihm handelt, eigentlich immer zur Substanz Kritik an etwas U n wahrem, Begrenztem, Falschem, Totem, Verfallenem haben. Dazu das folgende Beispiel nun: »Dieser nur sinnlichen U n mittelbarkeit wegen ist jedoch das lebendige Naturschöne weder schön für sich selbst« - das heißt: es weiß nichts davon »noch aus sich selbst als schön und der schönen Erscheinung wegen produziert.« - Das heißt: Es ist nicht um seiner Schönheit willen da, sondern es ist halt da, und die Schönheit, die ihm zukommt, ist eine, die eben nicht durch dieses Moment des subjektiven Geistes und damit nicht durch das Moment der Vergeistigung hindurchgegangen ist. - »Die Naturschönheit ist nur schön für anderes, d. h. für uns, für das die Schönheit auffassende Bewußtsein.« 76 Und Hegel, dessen Ästhetik ja wesentlich objektiv gerichtet ist, dem es also wesentlich darauf ankommt, die Momente des Schönen an ihm selber zu 16
bestimmen, und nicht bloß, soweit es sich um eine Wirkung auf das affizierte Bewußtsein handelt, für den ist diese Bestimmung des Naturschönen, wie sie mit der Kantischen übereinstimmt, daß die Schönheit hier nur eine für das auffassende Bewußtsein sei, zugleich eine sehr tiefe und eingreifende Kritik an diesem Begriff des Naturschönen. Oder er sagt: »Die Form des Naturschönen als abstrakte ist einerseits bestimmte und dadurch beschränkte Form, andererseits enthält sie eine Einheit und abstrakte Beziehung auf sich. [...] Diese Art der Form ist das, was man Regelmäßigkeit, Symmetrie, ferner Gesetzmäßigkeit und endlich Harmonie nennt.«77 Sie finden also hier bei Hegel den Gedanken ausgesprochen, den ich Ihnen vorher schon angedeutet habe, daß der Glaube an die Naturschönheit und die Akzentuierung der Naturschönheit gegenüber der Kunstschönheit wesendich zusammenhängt mit dem Hervorheben von bloß formalen - wenn Sie wollen: mathematischen — Verhältnissen in der Kunst gegenüber ihrem lebendigen geistigen Gehalt. In diesem Satz von Hegel steckt, daß er eben deswegen das Naturschöne für etwas - ich möchte sagen - Subalternes hält, wobei ich mir durchaus darüber klar bin, daß in diesem Gestus von Hegel, diesem Hochmut des Geistes gegen das, was nicht Geist ist, selber auch wiederum ein Moment von Beschränktheit dieser Philosophie steckt; und ich werde daraus dann auch die Konsequenzen ziehen und versuchen, über diese Beschränktheit ein wenig hinauszukommen. Oder er sagt: »Die Schönheit der Regelmäßigkeit ist eine Schönheit abstrakter Verständigkeit«78 — womit er eben jenen Sinn für das Naturschöne ebenfalls mit einer etwas hochmütigen Geste in den Rationalismus des 18.Jahrhunderts zurückverweist, wo ja bekanntlich Baumgarten versucht hat, die Leibnizsche und Wolffsche Philosophie im Sinn einer solchen Ästhetik — einer solchen >aesthetica formalis< — zu ergänzen.79 Der »wesentliche Mangel des Naturschönen« - nämlich daß es keine üdeelle Subjektivität besitzt — »fuhrt uns auf die Notwendigkeit des Ideals, das in der Natur nicht zu finden ist und gegen welches gehalten 39
die Naturschönheit als untergeordnet erscheint.«80 Sie haben hier also wörtlich jenen Begriff der Subalternität, nur ins Deutsche gesetzt, den ich eben imputiert habe. Oder er sagt: »Die Notwendigkeit des Kunstschönen leitet sich also« - nun ist es sehr charakteristisch für Hegel, daß er dann bei einer solchen Kritik nicht stehenbleibt, sondern daß er gewissermaßen aus der Insuffizienz, aus der Unzulänglichkeit des Naturschönen so etwas wie Notwendigkeit der Kunst eigentlich ableitet81 - »aus den Mängeln der unmittelbaren Wirklichkeit her, und die Aufgabe desselben muß dahin festgesetzt werden, daß es den Beruf habe, die Erscheinung der Lebendigkeit und vornehmlich der geistigen Beseelung auch äußerlich in ihrer Freiheit darzustellen und das Äußerliche seinem Begriffe gemäß zu machen. Dann erst ist das Wahre aus seiner zeitlichen Umgebung, aus seinem Hinaussichverlaufen in die Reihe der Endlichkeiten herausgehoben und hat zugleich eine äußere Erscheinung gewonnen, aus welcher nicht mehr die Dürftigkeit der Natur und der Prosa hervorblickt, sondern ein der Wahrheit würdiges Dasein.«82 Also Naturschönheit soll, um dieses Momentes der Zufälligkeit willen, um dieses Momentes willen, daß sie nicht selber von Geist ganz und gar durchherrscht ist, etwas — wir würden sagen: Vorästhetisches, er nennt es »Prosaisches« - haben, demgegenüber der Begriffdes Schönen eigentlich unzulänglich ist und der nur dann überwunden werden kann, wenn dies Auswendige selber, durch die Kunst nämlich, zum Äußeren eines Inneren gemacht wird. Das ist etwa der Gedanke von Hegel. Nun möchte ich nicht etwa diese Entwicklung, die in der Hegeischen Theorie sich anbahnt, revozieren, und ich möchte nicht Ihnen hier eine Theorie des Naturschönen geben — vor allem aus dem einfachen und schlichten Grund, weil ich selbst über eine solche Theorie nicht verfuge 83 und weil ich meine Zweifel habe, ob sie sich geben läßt und ob nicht alle theoretischen Bestimmungen des Naturschönen, wenn man sich auf solche einläßt, wirklich unweigerlich in jene Hausbackenheit zurückfallen würden, die das 19. Jahrhundert da102 40
bei im Auge hatte. Auf der anderen Seite aber vermag ich doch nicht daran vorbeizusehen, daß die Befassung mit dem Problem des Naturschönen eigendich in einer merkwürdigen Weise verdrängt und gewissermaßen nur den Ferienwochen vorbehalten worden ist, daß also an dieser Stelle etwas Unerledigtes steckt,84 womit die Theorie nicht recht sich abgegeben hat, und dessen Mangel dann allerdings selber auch die eigentlich theoretische Ästhetik affizieren mag. Der Grund jenes Unzulänglichen und Bedenklichen dürfte wohl in j e nem von Kant und Schiller her stammenden, aber von Hegel übernommenen Begriff der >Würde< liegen, die allein dem Menschen zukommt und ihm eine Art von Vorzugsstellung einräumt, der gegenüber alles andere, was ist, zu bloßem Material herabgesetzt wird. 85 Wenn man - wie es nun allerdings in der gegenwärtigen Erfahrung unabdingbar mir zu liegen scheint - diese absolute Vorrangstellung des Menschen, diesen philosophischen Anthropozentrismus nicht mehr mitzuvollziehen vermag, dann muß man wohl das Problem des Naturschönen wenigstens in seinem Zusammenhang mit dem Kunstschönen bedenken und darf, selbst wenn man keine explizite Theorie des Naturschönen für möglich hält, jedenfalls nicht bei jenem Hegeischen Verdikt über das Naturschöne als das Untergeordnete stehenbleiben, sondern muß zum mindesten etwas Rechenschaft ablegen von dem Verhältnis zwischen Natur und Kunst, das denn doch weit dialektischer ist, als es bei Hegel sich darstellt, und das uns zugleich dann auch die ersten Kategorien liefern soll für eine Bestimmung dessen, was Kunst selber denn nun überhaupt sei.
3. V O R L E S U N G 18. II.
1958
Ich hatte Ihnen das letzte Mal einiges gesagt über das Mißtrauen, dem in wachsendem Maß sich die Betrachtung des sogenannten Naturschönen ausgesetzt hat. Und ich glaube, man braucht sich nur eine Sekunde lang zu vergegenwärtigen, wie lächerlich es wäre, wenn man nun vor einem spezifisch naturschönen Gegenstand philosophische Betrachtungen anstellen und sagen würde, warum nun ein blühender Apfelbaum schön sei, um Ihnen zu zeigen, daß es mit diesem Naturschönen wirklich so geht wie mit sehr vielen Begriffen in der Philosophie: daß sie nämlich ihr Schicksal gar nicht so sehr einer Widerlegung verdanken als einem eigentümlichen Veralten; daß sie dadurch nicht mehr verwendbar sind, daß ihnen gewissermaßen von dem fortschreitenden geschichtlichen Bewußtsein die Substanz entzogen worden ist.86 Wenn Sie sich erinnern an die Argumente gegen die Orientierung der theoretischen Ästhetik am Naturschönen oder an die Argumente, durch welche Hegel den Begriff des Naturschönen überhaupt als >untergeordnet< bezeichnet, dann werden Sie freilich dabei nicht ganz dem sich entziehen können, daß dabei ein Motiv am Werk ist, das denen, die gerade mit der Hegelschen Philosophie vertraut sind, nicht fremd ist, nämlich das Motiv, daß gewissermaßen das Flüchtige, das, was keine feste Gestalt gewonnen hat, was nicht in einem gewissen Sinn sich vergegenständlicht hat, um erst durch seine Vergegenständlichung hindurch wieder mit dem lebendigen Subjekt sich zu versöhnen, — daß also, sage ich, alles Flüchtige oder Ephemere dieser Philosophie wenig gilt.87 Ich möchte auf die Problematik, die an dieser Stelle sich auftut, nicht eingehen; sie gehört wirklich in ein Kolleg über Hegel oder über die Dialektik und nicht hierhin.88 Ich darf nur vielleicht sagen, daß darin einerseits natürlich etwas sehr Großartiges gegenüber dem Sentimentalismus einer bloßen romantischen Gestimmtheit steckt, daß aber auf der anderen Seite durch diese 102
grundsätzliche Haltung gegen das — man könnte fast sagen — Ohnmächtige auch in Hegels Philosophie jene Tendenz sich ankündigt, die dann diese Philosophie insgesamt schließlich doch so sehr auf die Seite des Bestehenden gezogen hat. Nun ist es aber bei der Kunst ganz sicher so, oder bei der Frage nach dem Schönen überhaupt, daß sie gerade an diesem Moment des Flüchtigen, des nicht ganz zu Greifenden, 89 des nicht dingfest zu Machenden ihr Lebenselement hat.90 Und es ist vielleicht doch gut, wenn ich schon jetzt sage, daß — so groß auch der Fortschritt ist, den Hegel in der Ästhetik durch die Subjekt-Objekt-Dialektik und durch das Hineinnehmen inhaltlicher Bestimmungen über den ästhetischen Formalismus des 18.Jahrhunderts gemacht hat - , daß doch dieser Fortschritt auch selber bei ihm bezahlt wird mit einem Moment, man könnte fast sagen, des Kunstfremden, mit einem Uberschuß von Stofflichkeit, der manchmal dazu fuhrt, daß man den Verdacht hegt, bei all ihrer Großartigkeit ist diese Kunstphilosophie eigentlich der Erfahrung des Kunstwerks selber, die nun gerade in diesem Ephemeren besteht, gar nicht so ganz mächtig. Ich glaube, daß Hegel die Flüchtigkeit des Naturschönen — die Tatsache, daß das Naturschöne sich in gewisser Weise der Bestimmung durch den Geist viel mehr entzieht als das Kunstwerk, das dieser Bestimmung durch den Geist als ein selbst je bereits durch den Geist Bestimmtes so viel näher liegt - , daß Hegel diese Flüchtigkeit, dieses Nichtsich-dingfest-machen-Lassen, das zum Wesen überhaupt des Schönen selber rechnet, nun gewissermaßen dem Naturschönen zum Vorwurf gemacht hat, während die Besinnung über das Problem des Naturschönen gerade an dieser Stelle recht einzusetzen hätte.91 Die Tatsache, daß das Naturschöne sich so schwer begrifflich einfangen läßt, und daß Aussagen darüber entweder etwas Formalistisches oder etwas Philiströses annehmen, scheint mir viel eher das ungelöste Problem zu bezeichnen, daß das Denken des Naturschönen noch gar nicht recht mächtig ist, als daß man sich mit dem Hegeischen Verdikt zufriedengeben 43
sollte, daß, weil man hier keine feste, greifbare Gestalt in Händen hat, das Ganze des Naturschönen als etwas Untergeordnetes zu gelten habe. Das, glaube ich nun aber, ist deshalb von erheblicher Tragweite für die Konstitution der Ästhetik überhaupt, weil genau ohne dieses Element, das Hegel zufolge das Naturschöne eigentlich zu einem Vorästhetischen im philosophischen Sinn macht, nun wiederum das Kunstwerk selbst eigendich gar nicht recht gedacht werden kann. Ich möchte gar nicht mich dabei aufhalten, Sie darauf hinzuweisen, daß wohl, wer das Naturschöne nicht wahrzunehmen vermag — wer also nicht in der Erfahrung der Natur bereits jene eigentümliche Trennung von den Aktionsobjekten, den praktischen Objekten zu vollziehen fähig ist, die das Ästhetische ausmacht —, daß ein solcher Mensch wohl auch der künstlerischen Erfahrung eigentlich nicht recht mächtig ist. Sondern ich möchte Sie lieber daraufhinweisen, daß das Naturschöne einen ganz spezifischen Modellcharakter fur das Kunstschöne besitzt, und daß es deshalb gar nicht angeht, in der Betrachtung des Schönen den Gedanken an das Naturschöne, so wie es die gesamte neuere Philosophie getan hat, auszuscheiden, weil die Konzeption des Kunstschönen selbst ihrem eigentümlichsten Sinn nach mit dem Naturschönen und — wie ich Ihnen zu zeigen hoffe - mit Natur selber verwachsen ist.92 Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläutern: Diejenigen von Ihnen, die an dem kunstsoziologischen Seminar teilnehmen, haben das Referat über Benjamin gehört, 93 in dem über den Benjaminschen Begriff der »Aura« gesprochen wurde als jenen eigentümlichen Charakter des hic et nunc, des Einmaligen, das um ein Kunstwerk sich lagert, und das [Benjamin] mit dem »Kultwert« des Kunstwerks zusammenbringt und von dem er annimmt, daß er jedenfalls für das traditionelle Kunstwerk bestimmend gewesen sei. Ich kann es nun nicht für einen Zufall halten, daß dieser Begriff der Aura, den Benjamin in seiner Arbeit über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« eingeführt hat,94 seinerseits gezeigt wird, erläutert wird nicht etwa am Kunst102
werk, sondern an etwas Naturhaftem; das heißt, daß das Phänomen, das er hier am Kunstwerk beschreiben will, eigentlich ein Phänomen ist, das einem in der Betrachtung von Landschaften überhaupt aufgeht. 95 Ich darf Ihnen die Sätze vorlesen, die sich auf die Aura beziehen — eine Stelle, die auch einen Hinweis auf das Naturschöne enthält, ohne diesem im übrigen allzuweit zu folgen: »Es empfiehlt sich, den oben fur geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft — das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«96 Dieser Begriff der Aura, der also dem sehr nahe kommt, was Ihnen allen vertraut ist etwa unter dem Begriff der >Atmosphäre< eines Kunstwerks oder dem, was man dann in Anlehnung an die Terminologie Heideggers später als die >Gestimmtheit< des Kunstwerks bezeichnet hat, diese Aura ist also selber eigentlich ein Naturphänomen, nämlich eben der eigentümliche Charakter der Ferne selbst des Nächsten. Dieser Charakter der Ferne selbst des Nächsten hängt nun ganz sicher tief zusammen mit dem eigentümlichen Moment des Vergänglichen, des Ephemeren, des nicht dingfest zu Machenden, nicht ganz zu Hakenden, der zu dem Wesen des Kunstwerks ebenso wie zu unserer Erfahrung von Natur wesentlich dazugehört. Und in diesen beiden Momenten scheinen die sonst ja so vielfach einander entgegengesetzten Kategorien der Natur als eines Gegenstandes unserer Anschauung - ich spreche nicht von der Natur als Gegenstand der Naturwissenschaften — und der Vorstellung von der künstlerischen Anschauung doch miteinander übereinzustimmen. 97 Lassen Sie mich dem noch ein zweites hinzufugen: Ich glaube, das, was weiter wesentlich ist dafür, daß man eines Kunstwerks mächtig wird, daß man ein Kunstwerk als Kunstwerk überhaupt erfährt, das ist, daß einem in dem Kunstwerk 45
eine Erfahrung von - wie soll man sagen? - >Bedeuten< als ein Objektives entgegentritt. Ich verstehe ein Kunstwerk in dem Augenblick - beinahe hätte ich im Anschluß an einen anderen Benjaminschen Sprachgebrauch gesagt: ein Kunstwerk schlägt dann die Augen auf 9 8 - , wenn ich das verstehe, was es selber sagt, als etwas, was es mir sagt, und nicht als etwas, was ich bloß hineinprojiziere, als etwas, was bloß von mir wäre. Man könnte fast sagen, das sei die Schwelle zwischen der vorkünstlerischen Erfahrung von Kunstwerken, also die der Hausfrau, die einen Roman liest, um sich mit den Personen darin identifizieren zu können - ich habe einmal ein M o n strum gekannt, das gesagt hat, daß sie Proust nicht lesen könne, weil in Proust sich keine Person befinde, mit der sie sich identifizieren könne, woraufjemand von ihr sehr hübsch sagte, das sei auch nicht vorgesehen gewesen —, also ich würde sagen, das sei genau die Schwelle, an der die künstlerische Erfahrung eines Kunstwerks von der vorkünstlerischen oder bloß stofflichen sich unterscheidet, indem man an dem Kunstwerk dessen gewahr wird, was ihm selber als eine Objektivität, als ein geistig Objektives innewohnt, ohne das es lediglich in dem Subjekt sich erschöpfte, das das Werk betrachtet.99 Das Urphänomen dafür aber - das, woran wir diese Möglichkeit ästhetischer Erfahrung überhaupt gewinnen können, und eine Verhaltensweise, die wahrscheinlich jedem Kunstwerk gegenüber verbindlich bleibt - stammt ebenfalls doch aus der Beziehung zu der Natur. 100 Ich glaube, nur wem einmal - und ich würde beinahe denken: in seiner Kindheit - aufgegangen ist, daß, wenn man sagt, dieser Abend ist schwermütig, das nicht eine Stimmung des B e trachters ist, sondern daß dann, freilich in einer Konstellation mit dem Betrachter, der Abend selber schwermütig ist, 101 daß jemand, der diese entscheidende Erfahrung, gewissermaßen diese >Freiheit zum Objekt*, 102 nicht gemacht hat, jene Erfahrung der Selbstvergessenheit gegenüber dem Gegenstand, allerdings überhaupt nicht weiß, was ein Kunstwerk ist. Und die barbarischen Verhaltensweisen der Kunst gegenüber 102
heute, die wir so vielfach beobachten, dürften zum wesentlichen damit zusammenhängen, daß die Matter-of-fact-Haltung, die Terre-ä-terre-Haltung, die durch den positivistischen Geist insgesamt produziert wird, sich auch auf die Kunstwerke erstreckt, 103 so daß die Kunstwerke entweder als Stoffe oder als psychologische Projektionen des Betrachters wahrgenommen werden, aber eben nicht mehr so, wie der Abend als ein an sich schwermütiger erfahren werden kann. Lassen Sie mich dem hinzufugen, daß eben jene Objektivität des geistigen Gehalts, jenes also nicht im subjektiven R e flex sich Erschöpfende, mir den tiefsten Grund dafür abzugeben scheint, warum Begriffe wie der der >StimmungJa, aber .. .< hinein. 177 Aber jedenfalls kann man sagen, das scheint doch gesichert zu sein, daß diese abgegrenzte, ausgegliederte Sphäre der Kunst, deren Verletzung wir eigentlich überhaupt als die Negation von Kunst betrachten, zunächst einmal nichts anderes ist als die Säkularisierung des durch ein Tabu geheiligten, sakralen Bereiches, den man gewissermaßen nicht anrühren darf, ohne daß man sich dabei irgendwelchen Unannehmlichkeiten aussetzt. Und der Schauer vor dem Kunstwerk, der Begriff des Erhabenen also, auf den Sie ja bereits in den ersten Stunden bei Gelegenheit von Kant gestoßen sind, hat fraglos seine genetische Wurzel eben darin, daß etwas von diesem sakralen Wesen des Unbe75
rührbaren, etwas von der Gegenwart des Mana, 178 der großen göttlichen Macht in einem solchen Bereich, in der Kunst eben übriggeblieben ist. Wenn ich Ihnen vorhin von der Spielwurzel der Kunst ein paar Worte gesagt habe, so kann man wohl in diesem Element die Wurzel dessen erblicken, was man dann in der Sprache der Philosophie als das Moment der >Idee< an den Kunstwerken bezeichnet hat. Die Idee, also das Gefühl vom Leben überhaupt, das aus einem Kunstwerk schließlich uns anspringt, das ist die durch das Subjekt, durch die Reflexion, durch die Freiheit des Menschen hindurchgegangene Sakralsphäre, in der eben dieses Mana, diese Kraft, die sich auf alles Seiende verteilt, sich dann gewissermaßen konzentriert. 179 Es liegt in diesem Moment, von dem ich Ihnen eben rede, in diesem M o ment also des Schauers, der mit der abgegrenzten Sphäre der Kunst zusammenhängt, die man gewissermaßen nicht anfassen darf, in diesem Moment der Widerspenstigkeit eines j e den Kunstwerks gegen die Kommunikation mit der empirischen Realität, aber zugleich auch noch etwas anderes. Denn dieses Mana, dieser Geist, der im Kunstwerk sich manifestieren soll, bedeutet immer zugleich auch so etwas wie den Anspruch auf Totalität. Ich glaube, man kann sagen, daß jedes Kunstwerk, noch das erbärmlichste, noch das um des armseligsten Profits willen erzeugte, auch gegen seinen eigenen Willen, auch wenn es davon im Bewußtsein seines Machers nicht das mindeste sich träumen läßt, objektiv, der eigenen Struktur nach, eigentlich immer so etwas wie das Ganze, wie das Absolute, wie die Totalität, die absolute Erfüllung sein will. Und nur dieses Moment, daß eigentlich jedes Kunstwerk uns verspricht, das Absolute zu sein — gewissermaßen unter allen Bedingungen des empirischen Daseins, an die wir uns gekettet finden und von denen wir in einem ganz anderen Zusammenhang heute als einem Gegensatz zu Kunst noch sprechen werden, das von uns genommen werden soll —, und daß wir gewissermaßen das fessellose, schrankenlose Ganze eben sollen erfahren können: Dieses Moment ist - und auch 102
darin können Sie sehen, wie sehr gerade die Seite der Kunst, die ich Ihnen hier hervorhebe, mit der Seite des Scheines zusammenhängt —, was Schopenhauer mit besonderem Hinblick auf die Musik an der Kunst als »die Welt noch einmal«180 bezeichnet hat. Jedes Kunstwerk ist in einem gewissen Sinn >die Welt noch einmaletwas hat< wie von den meisten anderen Dingen in dieser Welt. Und wenn immer wieder die Phrase gebraucht wird von dem Befreienden, das der Kunst innewohne, dann liegt das, glaube ich, weniger an den sogenannten Hochgefühlen, die irgendwelche Gipsklassiker durch ihre Jungfrauen in uns erwecken sollen, sondern es dürfte vielmehr damit zusammenhängen, daß die Kunst uns durch ihre bloße Existenz verspricht, uns von der Allmacht eben jenes Realitätsprinzips, also von der Allmacht des M e chanismus einer Selbsterhaltung auf Kosten alles dessen, was es sonst in der Welt gibt, zu dispensieren. Damit hängt natürlich eng zusammen, daß die große Kunst, auch im einzelnen immer wieder, es gewissermaßen mit den Opfern hält; daß die Geschichte gegen den Strich gekämmt ist; 187 daß sie also nicht die Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Siegers ist, könnte man einmal sagen, sondern die bewußtlose Geschichtsschreibung der Epochen, die Geschichtsschreibung unter dem Gesichtspunkt des Opfers; 188 und daß das, was in den Kunstwerken eigentlich laut wird, immer die Stimme des Opfers ist, 189 und daß es keine Kunst gibt, die das nicht eigentlich vermag. 190 Sie gilt also prinzi102
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piell, schon durch ihr eigenes Prinzip, dem Unterdrückten, und das Unterdrückte wird ihr immer wieder thematisch. Ich glaube, daß das Moment, das man in der Kunst im allgemeinen mit dem Namen Ausdruck benennt und das selber seine sehr schwierige Dialektik hat, die ich Ihnen nicht verschweigen möchte, daß dieses Moment genau damit zusammenhängt, daß die Kunst Stimme des Unterdrückten ist, denn Ausdruck ist eigentlich immer so viel wie Ausdruck von Leiden. 191 Der Ausdruck selber ist gegenüber dem SignifikativRationalen, gegenüber dem bloßen Zeichen, vorweg bereits ein mimetisches Residuum, also ein Moment, das noch übrig ist aus der sonst gebändigten Natur, das dann aber selbst in einer eigentümlichen Weise dort plastisch sich zeigt, also in den Prozeß der fortschreitenden Differenzierung mit einbegriffen werden kann. Man könnte insofern also sagen - wenn Sie mir die dialektische Zuspitzung gestatten - , daß auf der einen Seite die Kunst zwar aus dem Bereich der Natur heraustritt und insofern den absoluten Gegensatz zu allem bloß Natürlichen bildet. Wenn man ein Theaterstück sieht, dann ist im Grunde, wenn es auf der Bühne nach Äpfeln riecht, das bereits die N e gation des Kunstwerks selber, um es einmal ganz grob zu sagen; und wer nicht zunächst einmal überhaupt die Antithese der Kunst zum natürlichen Bereich erfahren hat, ist ein Barbar, wie es solche Menschen sind, die, wenn sie in einem Theaterstück gewesen sind, davon im Praeteritum erzählen, so, als wenn es sich um eine wirkliche Begebenheit gehandelt hätte, weil sie diesen Gegensatz nicht festhalten. Auf der anderen Seite aber ist Kunst selber die Gestalt der Natur in einer Welt, in der die Natur durch einen mächtigen und irreversiblen Prozeß sich selbst entfremdet hat. Sie ist die, könnte man sagen, sich selbst entfremdete Gestalt der Natur, und darin liegt allerdings auch das eine, daß, im Sinne einer solchen Entfremdung, die Kunst der Natur die bessere Treue hält, nicht, indem sie ihr sich in irgendeiner Weise anbiedert und indem sie sich benimmt, als ob sie selber Natur wäre, sondern im Gegenteil gerade dadurch, daß sie auf den Schein des Unmittel-
baren, bloß Natürlichen verzichtet, so wie es jedenfalls heute der Fall ist. 192 Ich möchte aber die Bestimmungen, die ich hier gegeben habe, doch vor einem sehr nahehegenden Mißverständnis schützen. Dieses Mißverständnis wäre nämlich, daß Sie das, was ich Ihnen eben gesagt habe, als so eine Art von Phänomenologie des Verhältnisses von Kunst und Natur auffassen würden - so als ob das nun ein für allemal so wäre - , und daß man, wenn man sich nun an diese Bestimmungen hält, wie ich sie gegeben habe, dann weiß, was Kunst ist und was Natur ist. Es tut mir leid, daß ich wieder einmal mich so benehmen muß, wie es dem Gedanken offenbar geziemt, nämlich daß ich erst versuche, mit einiger Anstrengung zunächst klar Begriffe gegeneinander zu exponieren und voneinander zu unterscheiden, und daß ich Ihnen dann, was ich Ihnen mit einiger Mühe gegeben habe, wieder wegnehmen und Ihnen sagen muß: So einfach ist die Sache denn doch nicht. Ich will damit folgendes sagen: daß dieses Verhältnis von Natur und Kunst, wie ich es Ihnen eben umrissen habe, selber nicht etwa etwas Statisches ist; daß es nicht etwa ein für allemal auf der einen Seite die Sphäre Natur gibt und auf der anderen Seite die Sphäre Kunst, sondern daß diese beiden Momente ständig — und wahrscheinlich so lange, wie es etwas wie Kunst überhaupt gibt — in einem Verhältnis der Spannung zueinander stehen, und daß das Verhältnis dieser Momente zueinander auf allen Stufen der Geschichte der Kunst immer wieder sich ändert. Es kann sogar Stufen geben — um hier nun einmal wirklich eine Bestimmung von einem äußersten Extrem aus zu geben —, wo eine bestimmte Art der ästhetischen Sensibilität, die sich gegen die Sphäre des Kulturgeschwätzes und des A f firmativ-Kulturellen193 richtet, geradezu vom Kunstwerk selber verlangt, um ein Kunstwerk überhaupt zu bleiben, also um seiner Bestimmung im Gegensatz zu der Welt treu zu bleiben, eben jene Kultiviertheit, die seinen Sonderbereich eigentlich definiert, zurückzunehmen und sich denn doch wieder einzulassen mit Elementen aus der empirischen R e a 102
lität — so etwa wie es in den Collagen, in den Montagen immer wieder der Fall gewesen ist, wie der ganze Surrealismus es gezeigt hat und wie Sie es auch heute noch in den letzten Produktionen des großen Malers Picasso finden können, bei dem das Bedürfnis der immerwährenden Metamorphose von irgendwelchen unmittelbar aus der Natur stammenden M o menten eine so einschneidende und große Rolle spielt. 194 Sie dürfen also auch etwa eine solche Bestimmung wie die des Ausgegliedertseins des Ästhetischen aus der empirischen R e a lität nicht als ein Absolutum nehmen, sondern Sie müssen das selber auch nehmen als ein Moment, das in der geschichtlichen Dialektik steht und das prekär ist — ebenso prekär, wie ich Ihnen in einer der vorigen Stunden gesagt habe, daß das sogenannte interesselose Wohlgefallen etwas Prekäres ist, 195 das heißt, daß es ein Kunstwerk, das nicht zugleich auch seine Wurzel im sinnlichen Wohlgefallen hätte und auf dieses sinnliche Wohlgefallen, wenn auch negativ, zurückdeutet, gar nicht geben kann. 196 Das bedeutet nun aber etwas sehr Prinzipielles für die Kunst, das man wohl feststellen muß mit Beziehung auf die Pole, von denen ich Ihnen vorher gesprochen habe, 197 und es bedeutet ein Moment, das man nicht außer acht lassen darf, wenn man nicht wirklich die Polarität, die ich versucht habe, Ihnen anzudeuten, doch zu dem entwerten will, was man als eine Art Naturschutzpark der Kultur< bezeichnen könnte — etwa in der Weise, wie Menschen es sich vorstellen, daß es doch in einer Welt, die so kalt und fremd und hart und böse geworden ist wie unsere gegenwärtige Welt, ein Glück sei, noch irgendwelche innigen Schriftsteller lesen zu können, an denen man sich wärmen kann und bei denen es einem so wohl zumute ist wie angeblich in früheren Zeiten, in denen es wahrscheinlich auch nicht so gewesen ist. Das ist nicht der Sinn dessen, was ich gemeint habe, sondern geradezu das Gegenteil, und ich möchte versuchen, Ihnen sehr einfach zu sagen, warum: Nämlich deshalb, weil die Kunst ja als ein Versuch, eben doch eine solche Sondersphäre herzustellen und in dieser Sondersphäre dem Unterdrückten, 83
dem also, was nicht ratio ist, zu seiner Stimme zu verhelfen, in den Gesamtprozeß von Aufklärung verwickelt ist und von diesem Gesamtprozeß sich auch gar nicht dispensieren kann. Wenn ich Ihnen vorher, zu Beginn der Stunde, gesagt habe, daß bereits die Unterscheidung des Sonderbereichs Kunst von dem sakralen Sonderbereich ein Stück Aufklärung sei insofern, als dieser Sonderbereich ja nun nicht mehr beansprucht, wirkliche Wirklichkeit zu sein mit Einfluß auf die Empirie, sondern etwas gewissermaßen Ohnmächtiges — so ohnmächtig wie die Natur, könnte man beinahe sagen —, dann liegt darin tendenziell schon, daß eigendich dieser Gesamtprozeß der Ausgliederung der Kunst durchdrungen ist vom Prozeß der Aufklärung selber; mit anderen Worten: daß der Versuch der Kunst, Einspruch zu erheben gegen die immer weiter fortschreitende Naturbeherrschung, doch selber auch zugleich ein Moment von Naturbeherrschung, und zwar als ein ganz wesentliches, als ein ganz zentrales Moment, in sich selber einbegreift. 198 Was ich Ihnen hier sage, ist im Grunde nichts anderes als die spezifisch ästhetische Erfahrung eines Sachverhaltes, den die Philosophie, vor allem in Hegel, aber dann auch in allen möglichen anderen, immer wieder und mit großem Nachdruck bezeichnet hat, nämlich daß der Weg, den die Menschheit etwa finden mag in ein Reich der Freiheit - also in ein Reich, in dem Unterdrückung und Gewalt, gegen die Menschen und gegen die Natur gleichermaßen, endlich einmal aufhören —, daß ein solches Bereich nicht herzustellen ist durch irgendein »retour ä«, durch irgendeine Rückkunft zu etwas, was irgendwann einmal gewesen sein soll, wie es in der berühmten Preisschrift von Rousseau 199 zum ersten Mal programmatisch formuliert worden ist, sondern daß die Idee der Natur der Kunst wie der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt vorgezeichnet ist nur dadurch, daß die Menschen die Natur nur soweit beherrschen lernen, daß sie nun nicht länger ihr blind hörig sind.200 Ich meine damit also, daß ein Kunstwerk eigentlich nur dann der Idee sich annähert, der unterdrückten Natur zur Stimme zu dienen, 102
wenn es sich von der Heteronomie der Natur befreien kann; wenn es also nicht länger abhängig ist von irgendwelchen Materialien, die gewissermaßen außerhalb des künsderischen Prozesses als ein Unerhelltes, Blindes, nicht Durchdrungenes sich befinden, und die über den Menschen eine Macht ausüben, die er als heteronom, als fremd, als nicht seinesgleichen empfindet. Mit anderen Worten also — und ich würde sagen, das ist nun wirklich die eigentliche dialektische Pointe in dem Verhältnis zwischen Natur und Kunst: Das Moment, daß die Natur in der Kunst geborgen werde, ist unabtrennbar davon, daß die Kunst in einem immer höheren Maß die Natur zu beherrschen vermag, während, solange sie irgendwelchen Materialien ohnmächtig, blind gegenübersteht, sie eben dadurch nicht die Kraft hat, gewissermaßen die Natur als ganze in sich selbst zum Sprechen zu bringen, und dann eben wieder einem Blinden, einem Unerhellten, einer Art von Mythologie zum Opfer fällt. Und ich würde sagen: Die Spannung zwischen diesen beiden Momenten, also der Gedanke, durch fortschreitende Beherrschung der Natur dieser zugleich zu ihrer Freiheit zu verhelfen, das ist die Spannung, die den künstlerischen Prozeß eigentlich ausmacht, das heißt, den Sinn des Kunstwerks überhaupt definiert. 201 Der Begriff, der hier zuständig ist und den ich an dieser Stelle einführen muß, der für alle Kunst so konstitutiv ist, wie er seit griechischen Zeiten es war, wo das eine Wort die beiden Dinge gleichermaßen deckt, ist der Begriff der Technik. Es gibt keine Kunst, die im Ernst Kunst genannt werden kann, ohne ein technisches Element - das heißt, ohne das Moment, ihr Material soweit zu formen, daß es gerade dadurch, daß es seiner Naturform entzogen und in eine Intention, in ein Menschliches eingeschmolzen wird, Träger dieser Intention wird, die nun ihrerseits der Natur eigendich wieder gilt. In dieser unabdingbaren Notwendigkeit des Anwachsens der Technik liegt das wesendiche Verflochtensein der Kunst mit dem Prozeß der Aufklärung — gerade im Namen eben j e nes der Natur zur Stimme Verhelfens, das ich versucht habe 85
Ihnen zu bezeichnen. 202 Im übrigen ist es wohl auch eine soziologisch einleuchtende Erwägung, daß die Kunst, deren Sondersphäre ja eben doch eine Sondersphäre innerhalb des Ganzen, also innerhalb der gesellschaftlichen Totalität bleibt, sich dann nicht gewissermaßen statisch erhalten kann in sich selbst, sondern, insofern sie in einer Wechselwirkung und auch in einem antithetischen Verhältnis zu dieser Realität steht, ja auch selber notwendig an dieser Realität teilhaben muß. Ich glaube, daß es uns die Überlegungen, die wir eben angestellt haben, erlauben, ein paar Worte zu sagen über den Begriff des Fortschritts in der Kunst. Es hat angeblich einmal eine sogenannte Fortschrittsnaivetät in der Kunst gegeben, einen sogenannten >naiven Fortschrittsglauben — obwohl ich im allgemeinen immer viel eher ein Gezeter über diesen Fortschrittsglauben gehört als diesen Fortschrittsglauben selber gefunden habe. Ich kann nur sagen: Es wäre dem allgemeinen ästhetischen Bewußtsein besser bekommen, wenn es ein größeres Maß an Vertrauen zum Fortschritt, nämlich an Vertrauen zur Entwicklung der Technik und des Metiers hätte, als es zumal bei uns hier der Fall ist. Und auf der anderen Seite hört man dann immer wieder: Ja, es ist doch einfach eine naiv aufklärerische Anschauung, anzunehmen, die Kunst würde Fortschritte machen. Und es ist von einer Reihe sehr bedeutender Leute, zum Beispiel von Hegel 203 bereits, dann unabhängig von ihm von Carl Gustav Jochmann 204 und auch von Karl Marx, mit großem Nachdruck immer wieder gesagt worden, daß es so etwas wie einen Fortschritt der Kunst eigentlich gar nicht gäbe. Das heißt, daß also für uns, wie es an einer berühmten Stelle bei Marx heißt, die homerischen Gedichte noch geradeso kanonisch wären, und wir sie, wie Marx meint, genau noch so >genießen< könnten wie zur Zeit ihrer Entstehung, während es unmöglich sei, der Ilias im Zeitalter des Schießpulvers an die Seite zu stellen, was ihr gleicht. 205 Heutzutage kommen solche Gedanken heruntergekommen vor etwa in Argumenten, wie sie gegen mich gelegentlich geltend gemacht werden, wenn man sagt, daß ich in bezug auf 102
die Musik einfach einen Fortschrittsglauben hätte, aber daß es da doch Seinsmächtigkeiten gebe, die naturhaft und unberührt blieben und die mit der Dialektik nichts zu tun hätten. Ich erspare es mir, auf diese Dinge jetzt einzugehen. Aber ich meine, man kann hier—ja, ich möchte sagen: mit gesundem Menschenverstand — aufgrund der Dinge, die wir uns klar gemacht haben, doch einiges sagen. Nämlich: Es gibt einen Fortschritt der Kunst, allerdings nur in einem ganz bestimmten Sinn, nämlich im Sinn eben des Fortschreitens der Naturbeherrschung. Dieser Prozeß fortschreitender Naturbeherrschung, fortschreitender Materialbeherrschung, fortschreitender Technik ist in einer höchst merkwürdigen Weise irreversibel,206 in einer Weise, zu der man wirklich etwas wie eine primäre künstlerische Erfahrung besitzen muß, um sie richtig zu verstehen. Also wer heute etwa versuchen wollte, mit Mitteln von Beethoven zu komponieren oder mit den Mitteln von Monet noch zu malen, der würde dann eben nicht Werke von der Dignität Beethovens oder Monets hervorbringen, sondern Konservatoriumsschinken oder Hotelbildmalerei,207 jenen Impressionismus siebzehnten Ranges, den man in Hotels allzu häufig findet und dem ich für meinen Teil die Defregger-Reproduktionen 208 dann doch vorziehen würde. Auf der anderen Seite aber steht die Qualität eines Kunstwerks, der Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, keineswegs in einer unmittelbaren Beziehung zu dieser fortschreitenden Materialbeherrschung. Es gibt Kunstwerke aus früheren Phasen, in denen offensichdich die Materialbeherrschung noch nicht entfernt in dem Maße entwickelt war, die aber durch eine bestimmte Einheit zwischen dem Gehalt, dem, was in ihnen an Wahrheit ausgedrückt ist, und der Art ihrer Formation trotzdem sich bewähren, ohne daß aber deshalb irgendein Mensch die Macht hätte, diesen Fortschritt der Materialbeherrschung zurückzudrehen, denn er hat eine eigentümliche - ich möchte fast sagen: dämonische — Macht, über die der individuelle Wille kaum etwas vermag. Insofern müßte man eigentlich reden oder sollte man reden von einem 87
Fortschritt in der Kunst, von der Verfügung über ihr Material und von der unbedingten Notwendigkeit, die für jeden Künstler besteht, mit den fortgeschrittensten Techniken seiner Zeit umgehen zu können. Man dürfte aber andererseits diesen Fortschritt der Materialbeherrschung nicht undialektisch gleichsetzen mit dem Fortschritt der Kunst selber, in der eben dieses Moment gegenüber dem, was dabei beherrscht wird, und dem, was sie selber ausdrückt, eben nur ein M o ment ist und keineswegs das Ganze. 209 Das etwa wäre der vernünftige Sinn, den man dem Begriff des Fortschritts in der Kunst zu geben hätte, der ebenso frei wäre von einer Art tierischer Technokratie der Kunst, wie umgekehrt von dem Obskurantismus, der glaubt, daß das naturbewahrende Wesen der Kunst darin bestünde, daß sie gegen den Fortschritt sich abgrenzt.
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6. V O R L E S U N G 4. 1 2 .
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Ich finde auf dem Katheder die Frage, die sich aus einem kurzen Gespräch ergeben hat, das ich nach der vorigen Vorlesungsstunde mit einem von Ihnen gefuhrt habe; sie lautet: »Warum bringt die Kunst nur das in uns Zerstörte zum Ausdruck?« Ich möchte mich natürlich hier gleich korrigieren — und das ist das Verdienst der Frage, daß sie zu einer solchen Korrektur führt: Ich habe natürlich nicht gesagt, daß die Kunst nur 2 , 0 das in uns Zerstörte zum Ausdruck bringt; obwohl ich allerdings sagen möchte — und das hat mich vielleicht dazu verführt, Formulierungen zu gebrauchen, die zu dieser Frage Anlaß gegeben haben daß in der gegenwärtigen Situation allerdings die Aufgabe der Kunst überhaupt fast ausschließlich darin besteht, gewissermaßen das Beschädigte zum Ausdruck zu bringen, oder - wie es mir vor noch nicht einer Woche Samuel Beckett gesagt hat 211 — das zum Ausdruck zu bringen, was an den Menschen ohnmächtig und unterdrückt ist, und nicht die Kraft und Herrlichkeit, mit der sich, jedenfalls an der Oberfläche, die offizielle und offiziell anerkannte Kunst im allgemeinen beschäftigt hat. Aber ich meine natürlich nicht, daß die Kunst nur das in uns Zerstörte zum Ausdruck bringen soll. Das würde eine Enge der Vorstellung von Kunst überhaupt hervorrufen, die in ihrer Weise der Enge einer Auffassung sicher nicht überlegen wäre, wie sie dem klassizistischen oder akademischen Schönheitsbegriff ungefähr entspricht. Ich wollte nur sagen, und ich möchte das doch noch einmal präzisieren, daß es eigentlich keine Kunst gibt, der nicht als ein wesentliches Element innewohnt, dem zur Stimme zu verhelfen, was in dem Prozeß der fortschreitenden Naturbeherrschung zur Stummheit verhalten oder unterdrückt worden ist — gar nicht notwendig zerstört worden ist. Diese Perspektive des radikal Zerstörten oder Beschädigten ist wohl wirklich erst die Signatur der Kunst unseres Zeitalters, die überhaupt ernst zu nehmen ist. Und ich möch89
te weiter, damit an dieser Stelle kein Mißverständnis entsteht, noch sagen und wiederholen, was ich in der letzten Stunde versucht habe, Ihnen darzulegen: daß nämlich die Kunst nicht undialektisch auf eine solche Formel wie die »Stimme der Natur« gebracht werden könnte. Wenn, wie ich Ihnen gesagt habe, die Kunst wesentlich durch die Konstitution ihres Sonderbereichs der Unmittelbarkeit der Natur sich entgegenstellt, so liegt ja auch immer bereits das Entgegengesetzte, das Naturbeherrschende, in einem gewissen Sinn also das triumphale Element mit darin. Und wenn man in diesen Dingen sehr sensibel ist, so wird man sogar unter Umständen gerade daran leiden, daß in den authentischsten Kunstwerken, also in den Kunstwerken, die die größte Gewalt über die Menschen ausüben, gerade die Macht des Herrschaftlichen am größten ist, die dann in diesen sogenannten authentischen Kunstwerken sich umsetzt in eine gewisse Suggestionskraft, in ein gewisses Moment des einen nicht Auslassens, des einen Zwingens, in dem man gewissermaßen etwas von dem Zwang wiederholt finden mag, den die Menschen in ihrer Geschichte der äußeren Natur und der inneren, also sich selbst, haben widerfahren lassen. Immerhin meine ich, daß dieses Moment, auch dem anderen, dem Unterdrückten, zur Stimme zu verhelfen, wenn nur der Blick oder das Sensorium für die Kunstwerke entwickelt genug ist, sich auch in jenen, wie man so sagt, positiven, authentischen, suggestiven Kunstwerken doch auch wesentlich findet. Deijenige von Ihnen, der mich liebenswürdigerweise daran erinnert hat, heute auf diesen Punkt noch einmal einzugehen, hat mich in der letzten Stunde gefragt, wie es denn nun mit den nackten Gestalten sei, welche die antike Plastik bewältigt habe. Diesen Gestalten könne man doch von Verstümmelung, von Unterdrückung schlechterdings nichts anmerken. Da würde ich sagen: Unmittelbar kann man ihnen das natürlich nicht anmerken - und es ist überhaupt eine der Schwierigkeiten von sinnvollen ästhetischen Erwägungen, daß sie zwar auf der einen Seite nur dann etwas taugen, wenn 102 90
sie es vermögen, in die konkreten Probleme der Kunst hineinzuführen, daß man sie aber auf der anderen Seite niemals so ganz wörtlich nehmen darf. Mit anderen Worten also: Das, worum es sich hier handelt - dieses Moment, dem Unterdrückten zur Stimme zu verhelfen - , dürfen Sie sich nun nicht einfach unmittelbar als ein Stoffliches vorstellen, so als ob in jedem Kunstwerk irgendwie Parteinahme für ein U n terdrücktes vorläge, sondern dieses Moment kann unter U m ständen - wird sogar in der Regel - gerade in den Prinzipien der künstlerischen Gestaltung und gar nicht im Stoffgehalt unmittelbar stecken; ja, es kann unter Umständen sogar sich verkriechen, sich verschanzen in die Wahl der Gegenstände überhaupt. Ich maße mir nicht an, für Fragen der antiken Plastik die Frage nun wirklich genau zu beantworten, um die es sich hier handelt, aber es will mir doch scheinen, daß diese Plastik, die ja, wie Sie alle wissen, in dem klassischen athenischen Stadtstaat, der Polis des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts geblüht hat, doch in einem gewissen Sinn mit dem städtischen Bürgertum insofern zusammenhängt, als sie den Protest gewissermaßen in sich schließt gegen die - wie soll man sagen — Zurichtung des menschlichen Leibes als eine Funktion innerhalb des bürgerlichen Lebensprozesses. Gewiß ist es richtig, daß die freien Bürger von Athen in jener Zeit keine körperliche Arbeit selbst verrichtet haben und daß sie infolgedessen von den körperlichen Deformationen frei geblieben sind, die der Arbeitsprozeß eben so leicht den anderen Menschen antut. Aber jedenfalls ist das doch genau das Zeitalter, in dem die große philosophische Richtung der Sophistik den Gegensatz überhaupt des Gesetzten, Gemachten, des Artifiziellen, dessen, was Oecrei ist, und dessen, was Cpuoei ist, dessen, was von Natur aus sein soll, eigentlich auskristallisiert hat. Die ganze Sophistik beruht ja eigentlich darauf, den Protest dieser unterdrückten Natur gegenüber der ihr auferlegten menschlichen Satzung auszusprechen. Etwas von diesem Geltendmachen derPhysis gegenüber der Thesis steckt sicherlich auch in dieser Wiederherstellung des Leibes, wie sie in der
großen griechischen Plastik visiert und dann ja immer wieder versucht worden ist. Man hat mich gefragt, wie es sich denn nun in Situationen wie in der Schlacht verhielte: ob da die Menschen nicht etwa auch nackt gekämpft hätten und eine solche Situation wiederhergestellt worden wäre. Ich würde sagen, daß im allgemeinen nicht gerade die Schlacht die authentische Situation ist, in der die unterdrückte Natur wieder zu dem Ihren kommt, sondern im Gegenteil, sie pflegt ja dort im allgemeinen in einem recht buchstäblichen Sinn beschädigt zu werden. Wahr daran ist allerdings, daß die Spartaner, die Hopliten, also die spartanischen Vollsoldaten, wenn ich recht berichtet bin, während der Schlacht ihre Kleider abgeworfen und nackt gekämpft haben. Aber damit haben sie sich wohl erheblichen Unannehmlichkeiten ausgesetzt. A u ßerdem handelt es sich dabei viel eher um eine Art archaistisches Ritual, gewissermaßen um die symbolische Wiederherstellung eines bürgerlichen Zuständen vorausgehenden Zustandes, als um den Ausdruck der geschichtlichen Situation etwa zur Zeit des Peloponnesischen Krieges selber. Man könnte also beinahe sagen, daß die Spartaner, die ja in ästhetischer Sublimierung nicht besonders sich hervorgetan haben, sozusagen buchstäblich mit ihrem eigenen Leib das zu vollbringen gesucht haben, wenn auch nur symbolisch, was die große Kunst in der gleichen Epoche in der Darstellung des nackten Leibes versucht hat zu leisten. Ich glaube, daß gerade der Ubergang zu einer die Anatomie des Leibes gegenüber der symbolischen Archaik getreu treffenden Darstellungsweise eine Funktion der Unterdrückung ist, die durch bürgerliche Konvention und bürgerliche Kleidung und alles, was damit zusammenhängt, eben der Leib in den Verhältnissen des griechischen Stadtstaates an sich erfahren hat; daß also, mit anderen Worten, hier der Fortschritt in dem sogenannten Realismus, den man normalerweise bei der sogenannten klassischen gegenüber der archaischen Epoche der griechischen Kunst beobachtet, selbst auf der einen Seite ein Fortschritt der Rationalisierung, also der getreueren, genaueren Beherrschung der 102 92
Mittel ist, daß er aber andererseits auch dem Protest gegen die Unterdrückung eben genau dieses Leibes entspricht, dem man dann hier noch einmal seine Sprache findet, während wahrscheinlich die Funktion der Darstellung des Leibes, nämlich des Leibes als des Trägers eines götdichen Sinnes, oder was immer das gewesen sein mag, in der archaischen Periode etwas vollkommen Verschiedenes gewesen ist. Ich möchte Sie daran erinnern, daß ich Ihnen in der letzten Stunde gesagt habe: Der Gegensatz zwischen dem Moment der Natur und dem Moment der Kunst, oder das Verhältnis von Natur und Kunst als Gegensatz und als Identität, dieses Verhältnis sei nicht zu verstehen als ein statisches Verhältnis; das sei nicht ein für allemal fix und gleichbleibend, so als ob eine Art von Staatsvertrag in einer frühen Zeit die Kunst aus der Natur ausgegliedert hätte und als ob sie da nun in ihrem kleinen Gärtchen für den Rest der Tage ganz behaglich sich einrichten könnte; sondern ich habe versucht, Ihnen darzustellen, daß es geradezu zum Wesen der Kunst gehört, auf all ihren Stufen eben die Spannung, die ich versucht habe, Ihnen darzustellen, wieder aufs Neue zu entfalten. Ich halte es für gut und es reizt mich auch, an dieser Stelle Ihnen nun einmal ein konkretes Modell dieser Art von Spannung zu entwickeln, also zu versuchen, Ihnen zu zeigen, wie in einer bestimmten künsderischen Entwicklung das Moment der Natur und das der Naturbeherrschung sich miteinander verschränken und eine Art von Dialektik eingehen. Dabei wähle ich nun in äußerstem Gegensatz zu den akademischen Gepflogenheiten ein Modell aus der Gegenwart, und zwar aus der allerexponiertesten Gegenwart. Ich möchte das Ihnen gegenüber doch kurz rechtfertigen, eben weil es in einem so radikalen Widerspruch zu all dem steht, was Sie etwa, wenn Sie eine der Philologien lesen, dort im allgemeinen erfahren werden. Gewöhnlich ist es ja in dem Betrieb auch der sogenannten ästhetischen Interpretationen so, daß sie vor den gegenwärtigen Produkten haltmachen, daß man mehr oder minder davon ausgeht, man könne ja doch noch nicht genau wissen,
wie es sich mit den sogenannten modernen Dingen verhalte; dagegen habe sich das Urteil über die ältere, die traditionelle Kunst abgeklärt und man könne infolgedessen interpretieren und etwa auch wertend über die traditionelle Kunst ruhig und mit einem sozusagen [.. ,]. 212 Ich kann mich dieser verbreiteten Ansicht in gar keiner Weise anschließen. Wenn man einmal der Ansicht ist - wie ich sie Ihnen etwas dogmatisch vorgetragen habe, wie ich aber hoffe, sie Ihnen noch sehr viel konkreter entwickeln zu können daß die Kunst wirklich eine Entfaltung der Wahrheit sei, wie es in dem Satz von Hegel heißt, 213 dann bedeutet das natürlich, daß der Wahrheitsgehalt selber sich auch entfaltet, mit anderen Worten also, daß auch der Gehalt der bereits geschaffenen Kunstwerke kein statischer Gehalt ist, nichts, was als ein Fertiges, Dinghaftes uns ein für allemal gegenübersteht, sondern etwas, was sich selber verwandelt und was sogar eine gewisse Schwelle erreicht, an der es von uns überhaupt nicht mehr erfahren werden kann. Ich würde in diesem Sinn sagen, daß die Vorstellung, man könne ältere Kunstwerke besser verstehen als neue, entweder die Angst ist, in modernen Dingen sich allzu sehr zu exponieren und irgendetwas zu sagen, was mit den Spielregeln in Konflikt gerät, oder daß es sich hier einfach um ein bereits verdinglichtes Verhältnis zur Kunst handelt, das heißt, um ein Verhältnis, das eigentlich nur den bereits kodifizierten und aus der lebendigen Beziehung herausgelösten Kunstwerken gilt. U m es einmal sehr zuzuspitzen: Ich bin der Ansicht, daß in einem tieferen Sinn selbst die schwierigsten und komplexesten Kunstwerke der eigenen Zeit verständlicher sind als verhältnismäßig einfache aus einer weiter zurückliegenden Vergangenheit, weil die vergangenen stets eine Art von U m weg der Einfühlung voraussetzen, die Konstruktion einer Seelenlage, die Rekonstruktion eines geschichtsphilosophischen Topos, der uns nicht mehr möglich ist. Wenn es wahr ist, daß das Werk von Johann Sebastian Bach seinen Gehalt in einer ganz bestimmten Konstellation zwischen kirchlich geordneter Frömmigkeit und Pietismus hat, dann würde, diesen Ge102 94
halt wirklich unmittelbar zu erfahren, ja voraussetzen, daß man sich in so etwas zurückversetzen kann, in einen solchen Seelenstand, wie es etwa die Auffassung der Romantik gewesen ist, die ja bekanntlich dem künstlerischen Synkretismus eben mit dieser Auffassung Tür und Tor geöffnet hat. In Wahrheit, würde ich sagen, verstehen auch Menschen, die unfähig sind, ein sehr schwieriges modernes Stück, sagen wir von Boulez, 2 1 4 so durchzuhören, wie sie glauben, daß sie ein Stück von Bach wegen seiner relativen Einfachheit durchhören können, trotzdem, einfach durch die Identität der geschichtsphilosophischen Voraussetzungen — wie der frühe Lukäcs gesagt haben würde: des »transzendentalen Ortes«, 215 also der a priori gegebenen inneren Voraussetzungen überhaupt der Erfahrung, die sie mit einem solchen modernen Werk verbinden — dieses Werk, von dem sie glauben, es nicht verstehen zu können, in Wahrheit unvergleichlich viel angemessener als das ältere; während alles Verständnis des Alteren eben mit einer unendlichen Problematik belastet ist, die sich dann daran zeigt, daß etwa in Literaturgeschichten versucht wird, berühmte Werke der Vergangenheit - sagen wir des 17. Jahrhunderts, denken Sie an einen Roman wie die »Asiatische Banise« 216 - , weil man unmittelbar mit ihnen nichts mehr anfangen kann, weil sie, wie man vulgo sagt, ungenießbar geworden sind, dann zu würdigem und dabei zu glauben, daß man so auf eine Art von Bildungsumweg zu dem kommen kann, was man mit einem selber sehr fragwürdigen Begriff als ästhetischen Genuß< bezeichnet. Ich glaube, daß die ganze Ansicht, die sich in dieser Anschauung manifestiert, grundfalsch ist. Und ich glaube, daß, wenn überhaupt die Befassung mit theoretischen ästhetischen Fragen einen Sinn haben und nicht wirklich nur eine im schlechtesten Sinn professorale Angelegenheit bleiben soll, sie dann in der Tat gespeist sein muß aus den unmittelbarsten Erfahrungen der fortgeschrittensten Kunst, die dem eigenen Bewußtseinsstand entspricht, und sich nicht etwa damit beschäftigen darf, nachzumessen, wie es nun mit dem Goldenen Schnitt
in irgendwelchen Bildwerken der Renaissance bestellt gewesen sei. Dieses vorausgeschickt, möchte ich eingehen auf die Dialektik von Natur und Kunst in der Kunst selber, so wie sie an zwei [Kategorien] für die moderne Kunst - und ich wähle als Modell die mir nächstliegende, die Musik - sehr aktuell [sich zeigt], nämlich an den Kategorien des Ausdrucks und der Konstruktion. 217 Lassen Sie mich dazu Ihnen zunächst ein paar Worte sagen über den spezifischen Ausdrucksbegriff, mit dem wir es in dieser Dialektik zu tun haben. Ausdruck hat natürlich Kunst in unendlich vielen Schichten und auf allen möglichen Stufen. Die Gebärde auf einer Zeichnung von Manet kann ebenso ausdrucksvoll sein wie eine Wendung in einem Quartett von Beethoven oder wahrscheinlich auch wie irgendeine Gebärde auf einer hellenistischen Plastik. Aber wenn wir von Ausdruck so reden, wie diese Kategorie für die moderne Kunst wirklich relevant und konkret geworden ist, dann denken wir dabei zunächst an die Bewegung des E x pressionismus. Wobei ich übrigens sagen möchte, daß ich im Gegensatz zu der vielfach verbreiteten Gewohnheit, auf >Ismen< zu schimpfen 218 - Begriffe wie Expressionismus für recht gute und brauchbare Begriffe halte, weil in ihnen eben doch sich niederschlägt, daß auch scheinbar außerordendich individuelle und spezifische Manifestationen des künstlerischen Bewußtseins ihren geschichtlichen Stellenwert haben; das heißt, daß sie in Wirklichkeit kollektive Bewegungen sind, gespeist aus kollektiven Kräften, wie immer sie sich selber als bloß individuell stilisieren mögen. Wenn Sie an das Ausdrucksideal des Expressionismus denken — also der Kunst, wie sie vor fast genau vierzigJahren gerade in Deutschland die Malerei und die Dichtung, auch die Musik, beherrschte und wie sie, möchte ich sagen, unserer unmittelbaren Erfahrung noch einigermaßen offen ist - , dann werden Sie daran finden, daß hier Ausdruck eigentlich immer genau das heißt, was ich in der letzten Stunde gemeint habe, wenn ich davon sprach, daß die Kunst in einem gewissen Sinn dem Unterdrückten, 102
dem Leidenden zu seiner Stimme verhülfe. 219 Der Expressionismus besteht zunächst wesendich in dem Protest gegen verhärtete gesellschaftliche und konventionelle Formen, sowohl gegen die gesellschaftlichen Verhärtungen etwa im Gefuge des Staates oder gar in der Apparatur des Krieges wie auch gegen die verhärteten Formen der Kunst selber, die gegenüber der Unmittelbarkeit des Leidens der Menschen als unverbindlich angesehen worden sind. Man hat den Versuch gemacht, das Leiden selber gleichsam unmittelbar reden zu lassen, ohne zwischen den Ausdruck und die künstlerische Erscheinung noch ein Drittes, ohne gewissermaßen ein Stilisationsprinzip, ein Milderndes, ein Umfangendes noch dazwischenzuschalten. Wenn ich mir gerade hier die dialektische Bemerkung gestatten darf, so bezeichne ich damit, wenn ich mich nicht täusche, recht genau die Schwelle zwischen zwei künstlerischen Bewegungen, die im übrigen von heute aus gesehen viel mehr miteinander gemein haben, als man so an der Oberfläche denkt, nämlich die Schwelle zwischen dem Jugendstil und dem Expressionismus. Der Jugendstil ist ja durchaus in gewisser Weise auch eine Kunst des Ausdrucks, und das Leiden an der Konvention ist in ihm unendlich stark. Der Versuch, den freien autonomen Menschen, den »freien Adelsmenschen«, wie es bei Ibsen heißt, 220 gegenüber den Konventionen durchzusetzen, ist ja geradezu das innerste Motiv des Jugendstils; nur bleibt dieses Motiv des Ausdrucks im Jugendstil selber noch gebunden an die Vorstellung irgendwelcher, wie man meint, allgemein verbindlicher, vorgegebener Formkategorien, eben der Kategorien, die man, nachdem die akademischen verfallen waren, aus dem reinen Ornament glaubte herauslesen zu können. Man hat also, mit anderen Worten, damals gedacht, aus dem reinen Willen heraus für diesen Ausdruck des Leidens, der Emanzipation des Widerstandes gegen die Konvention selber etwas wie einen Stil herauslesen zu können, während der Umschlag dieser Bewegung in den E x pressionismus statthat in genau dem Augenblick, in dem die Menschen erfahren, daß als Sprache eben des Ausdrucks — als 97
Wort fiir das, was man leidet — auch diese bereits von den geltenden Konventionen sehr weit abstrahierten Formelemente, wie etwa das expressionistische Blumenornament, das ja ganz unmittelbar gewissermaßen die unterdrückte Natur gegenüber den Konventionen betonen will, dem gegenüber nicht mehr ganz tragfähig sind. Das Spezifische für den Ausdrucksbegriff des Expressionismus ist dabei ein Element, das er nun, wenn Sie eine Sekunde an die Problematik des Jugendstils denken und wenn der Ausdruck Sie nicht allzu sehr befremdet, gerade gemein hat mit einer anderen, ihm vorausgehenden Bewegung, nämlich der des Naturalismus; insofern nämlich, als, wie ich Ihnen eben sagte, das principium stilisationis eigentlich verworfen wird 221 und gesucht wird, rein aus dem Ausdruck selber heraus so etwas wie ästhetische Form zu gewinnen. Mit anderen Worten also: Die Intention des Expressionismus ist es, durch eine Art von Ausdrucksprotokollen, dadurch, daß der Ausdruck möglichst unmittelbar, ohne Vermittlung, rein sich darstellt, zu einer ästhetischen Form zu gelangen. [...] Die authentischsten Dokumente des Expressionismus sind wahrscheinlich die, die diesem Ideal ohne ein Dazwischengeschaltetes Ausdruck geben und Form aus dem Ausdruck selber, ohne irgendwelche von außen hereingezogenen Kategorien, zu gestalten am nächsten gekommen sind. Der Expressionismus verfolgt also insofern, als er auf Protokolle, auf Niederschriften - »automatische Niederschriften« hat man später im Surrealismus gesagt222 - von seelischen Regungen abzielt, das Ideal einer reinen Unmittelbarkeit. Insofern also kann man sagen, daß der Expressionismus ein Extrem darstellt in dem Versuch, der unterdrückten Natur jenem einen Pol, von dem ich Ihnen geredet habe — ihr Recht zu verschaffen; und das hängt genau natürlich damit zusammen, daß durch die gesamte gesellschaftliche Dynamik die Vorstellung des geborgenen bürgerlichen Formenkanons im gesellschaftlichen und im ästhetischen Sinn mit dem Ende des edwardischen und wilhelminischen Zeitalters da eben auch zu Ende gegangen war. 102 98
Nun [zeigt sich] aber - und das ist die Dialektik zwischen diesem Moment, also dem, was cpiJOEl ist und was hier sich wieder meldet: >Der Mensch ist gutErgebnis< — wenn man davon reden darf — des Expressionismus für diesen Ubergang zur Konstruktion selber aber bereits die Voraussetzung. Auf der einen Seite nämlich hat der Expressionismus das Material von allen bloß konventionellen Bindungen gewissermaßen gereinigt. Das Material ist jetzt unmittelbar zur Verfügung des Subjekts geworden. Es hat sich an ihm das abgespielt, was Heidegger mit seinem Ausdruck »Destruktion« bezeichnet 231 — wie überhaupt in der Philosophie von Heidegger neben vielem anderen auch Momente des expressionistischen Erbes sich vorfinden gerade in diesem Sinn der Destruktion, also des Abbaus von irgendwelchen fteoei darübergesetzten Formen, die gewissermaßen so et103
was wie nackte Stoffe zurückläßt - , obwohl sich dann, das möchte ich hier gleich hervorheben, zeigt, daß diese vermeintlich nackten, reinen Stoffe, die der Expressionismus auskristallisiert hat und über die dann die Konstruktion in all den Künsten verfügen kann, gar nicht nackt und rein sind, sondern daß sie unendlich viele Vermittlungen, würde man philosophisch sagen, also unendlich viel an Geist, unendlich viel an sedimentiertem Menschlichen stets auch bereits in sich enthalten. Es gehört zu den merkwürdigsten Phänomenen der modernen Kunst, auf die wir dann vielleicht noch näher zu sprechen kommen werden, daß gerade dieses Moment der Sprachlichkeit, dieses Moment des Menschlichen, das noch in den scheinbaren Materialien sich niedergeschlagen hat, gewissermaßen ein Angriffspunkt ist, der die Künstler reizt, und daß sie darin dem expressionistischen Impuls eigentlich unendlich treu bleiben, wenn sie versuchen, immer mehr von diesem Moment der sprachlichen Vorgeformtheit ihres Materials und der Formen, die an diesem Material haften, dann aber doch zu eliminieren, weil der technisch immanente Stand der Verfahrensweise, der heute erreicht ist, nicht länger mehr übereinstimmt mit diesem schon vorgegebenen sprachlichen Element. Z u m anderen hat der Expressionismus die Voraussetzungen für die Konstruktion dadurch gegeben, daß er eben jene Emanzipation des Subjekts von vorgegebenen Formen vollzogen hat, die es ihm nun erlaubt, souverän, frei mit dem Material zu schalten. Hier können Sie nun einmal wirklich sehr genau sehen, wie ernst der Begriff der Dialektik eigentlich in ästhetischen Dingen zu nehmen ist, also keine Redensart ist, die ich gebrauche, weil ich von der Philosophie her nun einmal, Gott sei's geklagt, daran gewöhnt bin, dialektisch zu denken, sondern daß das etwas ist, was von der Sache selber eigendich herkommt. Das Subjekt hat in der in einem weitesten Sinn expressionistischen Kunst versucht, sich selber rein auszudrücken, ohne die Kunst zu einer reinen Zeichensprache seiner Innerlichkeit oder seiner Regungen - es muß nicht 102
einmal die Innerlichkeit sein, man könnte fast sagen: seiner Natur - zu machen und dabei all das zu beseitigen, was ihm dabei heteronom im Weg gestanden hat. Es hat also dabei, wie ich zu Beginn der Vorlesung sagte, die Sache der unterdrückten Natur gewissermaßen vertreten. Aber indem es diese Sache vertreten hat, ist es, gerade indem es diesem Naturverhältnis nachgegangen ist, indem es versucht hat, die Kunst gewissermaßen unmittelbar zur Natur, nämlich zur Natur des Subjekts zu machen, selber souverän geworden gegenüber seinem Material und hat durch diese Souveränität, also durch den Abbau des Heteronomen, durch den Abbau alles dessen, was ihm sich entgegenstellt, nun gewissermaßen eine Freiheit oder eine neue Fähigkeit gewonnen: die Naturbeherrschung, also das entgegengesetzte Moment innerhalb des Kräfteparallelogramms, das Kunstwerke nun einmal darstellen, dieses entgegengesetzte Moment um so mehr hervorzuheben, indem es sein Material auf den reinen Laut, die reine Farbe, den reinen Ausdruckswert reduziert hat. Indem [der Künstler] es zur reinen Natur gemacht hat, hat er es gleichzeitig zu dem reinen Stoff gemacht, über den er nun als Künstler mehr oder minder souverän verfügt, so daß also gerade die Tatsache, daß die Natur in der expressionistischen Bewegung in diesem Sinn rein zur Sprache gekommen ist, die Voraussetzung, ja die Kraft geworden ist, die es fordert und möglich macht, daß nun aus ihr selbst heraus das entgegengesetzte Prinzip, nämlich das Prinzip eben der Konstruktion wirksam wird.
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Wir hatten in der letzten Stunde versucht, das Problem des Verhältnisses von Natur und Kunst - oder vielmehr die Wiederkehr des Naturmoments in der Kunst und die spezifische Auseinandersetzung mit diesem Moment — an einem zentralen Problem der gegenwärtigen Kunst zu verfolgen, nämlich an dem Verhältnis des Moments, das man als das des Ausdrucks oder der Expression bezeichnet, zu dem der Konstruktion. Und grob hatten wir dabei das Moment des Ausdrucks als ein wiederkehrendes Naturmoment bezeichnet und das der Konstruktion eben als das artifizielle, als das, was man mit Natur macht. Ich glaube, ich habe es nach all dem, was wir bis jetzt bereits hier behandelt haben, eigentlich kaum mehr nötig und tue es nur aus Gewissenhaftigkeit, Sie darauf hinzuweisen, daß ich, wenn ich sage, der Ausdruck sei in der Kunst ein Naturmoment, mir damit nicht etwa vorstelle, das sei so ein Stück stehengebliebene, unverwandelte, sich selbst gleichbleibende Natur. Sondern 232 es ist selbstverständlich so, daß dieses Moment in der Kunst seinerseits auch einem geschichdichen Prozeß unterliegt, ja, man kann geradezu verfolgen - und damit hatte ich mich ja in der letzten Stunde vor allem beschäftigt - , wie in der modernen Kunst dieses Ausdrucksmoment, also dieses Naturmoment, dieses Moment des nicht ganz Erfaßten, auch des Mimetischen, also der unmittelbaren Kundgabe der Regung, einen außerordentlich langen und schwierigen Prozeß durchgemacht hat, bis es eben dazu fähig geworden ist, überhaupt sich manifestieren zu können. Man kann in einem gewissen Sinn sagen, daß die Emanzipation dieses Moments selber ein sehr spätes, artifizielles Produkt ist, daß die Reinheit des Ausdrucks überhaupt erst am Ende eines geschichtlichen Prozesses der Kunst steht und nicht etwa an ihrem Anfang; und das bedeutet selbstverständlich, daß gegenüber einem reinen Naturmaterial von Ausdruck dieses Ausdrucksmoment sich in sich auch außer-
ordentlich verändert hat, und zwar verändert im Sinne der Differenzierung. Das, was also an diesem Naturmoment sich von der ursprünglichen Natur unterscheidet, das ist, daß, indem es in die Kunst findet, dabei differenziert wird zwischen Regungen der verschiedensten Art und zwischen den feinsten Schattierungen. Ja, es scheint gerade so, als ob die Wiederherstellung dessen, was man als Stimme von Natur deuten mag, geradezu gebunden ist an diesen Differenzierungsprozeß, das heißt, daß nur dort, wo die Kunst gewissermaßen des Allerspezifischsten fähig ist, des noch nicht durch klassifikatorische Veranstaltungen Zugerichteten und ins Allgemeine Gewandten, wo sie also wirklich die spezifische Differenz erlangt - und das ist eben erst ein sehr spätes Ergebnis - , daß sie nur dort eigentlich fähig wird, in der Tat Stimme der Natur zu werden; daß der reine Laut, oder die reine Farbe in der Kunst eigentlich erst sich herstellt als Ausdrucksträger da, wo sie gleichzeitig in einem überhaupt nicht weiter zu verfolgenden Sinn als ein hic et nunc, als ein Hierseiendes und als ein Einmaliges bestimmt wird. Und vielleicht gibt Ihnen das auch einen Anhaltspunkt dafür, jene Idee der Natur - der in der Kunst dialektisch gleichzeitig beherrschten und sich wiederherstellenden Natur — zu gewinnen, die von dem oberflächlichen Begriff einer Natur->Lyrik< etwa, einer Naturmalerei, wie von den oberflächlichen Vorstellungen einer, wie man so sagt, >natürlichen< Kunst sich gründlich unterscheidet. Denn diese traditionellen Vorstellungen des Natürlichen in der Kunst setzen ja dabei in Wirklichkeit gerade gewisse Konventionen, gewisse Allgemeinheiten als geltend voraus. Gewöhnlich beziehen sie sich — denken Sie nur an all die schlechten Naturromane — auf den Begriff233 der Natur in abstracto, anstatt daß sie eben jener reinen Regung sich überlassen, von der ich versucht habe, Ihnen herauszuarbeiten, daß sie im Sinn des eigentlichen Expressionsideals sei. Man könnte also geradezu sagen, daß der Begriff von Natur in der Kunst, wie ich ihn in der letzten Stunde Ihnen entwickelt habe, das genaue Gegenteil der Vorstellung einer sogenannten >natur-
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7. V O R L E S U N G 9. 1 2 .
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nahen< Kunst ist, wie sie der Bildungsphilister hegt und wie etwa die Feinde der modernen Kunst ihn immer wieder ausspielen; wobei, nebenbei bemerkt, ihr Grunddenkfehler mir darin zu bestehen scheint, daß sie irgendwelche Zustände, sei's künstlerischer Ausdrucksformen oder sei's überhaupt irgendwelcher geltender Konventionen in der Kunst, so betrachten, als ob sie selber cpiioei, als ob sie selber von Natur aus da wären, anstatt deren eigenen geschichtlichen Wesens eben inne zu werden. Ich hatte Ihnen also das letzte Mal gezeigt, daß der Expressionismus, wenn Sie ihn als ein in sich Dynamisches und nicht Statisches behandeln — und man könnte leicht zeigen, daß der Expressionismus in sich selber eine, und zwar eine sehr strenge und unerbittliche, Entwicklungstendenz hat - , dazu führte, daß auf der einen Seite das Material von Vorformungen gereinigt und dadurch unmittelbar zur Konstruktion wurde, daß aber auf der anderen Seite das Subjekt in dieser Phase eben jene Freiheit auch von allen möglichen konventionellen Bindungen gewonnen hat, die es ihm erlaubte, eben Konstruktion zu gewinnen; wobei wir einen Begriff von Konstruktion erarbeitet hatten, der in einem gewissen Gegensatz zu dem Begriff der Form steht, so wie er traditionell ist. Das heißt: Die Konstruktion ist eben die frei gewordene, die von einem freien und, wenn Sie so wollen, souveränen Subjekt dem Material aufgeprägte Form; während ja die traditionelle Form eben eine solche ist, in der zunächst die Scheidung von Subjekt und Objekt und damit im Zusammenhang die B e freiung des Subjekts noch gar nicht so sich vollzogen hat. Obwohl man dann andererseits — und auch das möchte ich hinzufügen, damit, was ich Ihnen zeige, nicht zu undifferenziert wird - retrospektiv, also von dem Standpunkt der heute gewonnenen konstruktiven Freiheit des Künsders aus, sehr wohl sagen kann, daß große Künsder der Vergangenheit, wie M o zart oder, wie ich es gerade jetzt sehr hübsch in einem Aufsatz in den »Akzenten«234 gelesen habe, Raffael, in ihren aus der Tradition stammenden Formen gleichzeitig doch bereits gro108
ße Konstrukteure gewesen sind. Das heißt, daß diese Form abgesehen von ihrem traditionalistischen Duktus, abgesehen von den Momenten also, in denen sie noch nicht vom Subjekt rein dem Gehalt aufgeprägt erscheint — eben doch in sich so durchgebildet ist, daß sie gleichsam all das bereits leistet, unter der Hülle eben der Konvention, was heute von der frei gewordenen und souveränen Konstruktion verlangt werden muß; nur daß eben damals zunächst diese Formen die vorgegebenen waren und die Konstruktion innerhalb der Formen oder unter der Oberfläche sich vollzogen hat, während heute das Problem der Konstruktion absolut geworden, an Form nichts vorgegeben ist und infolgedessen die Form rein die Leistung des Subjekts ist, das über sein Material verfugt. Und dieses Uber-das-Material-Verfügen des Künstlers ist ja nun andererseits — auch das hatte ich versucht, Ihnen zu zeigen — wieder nichts anderes, als daß er diesem Material möglichst rein sich überläßt, daß er die Freiheit zum Objekt gewinnt, daß er also gewissermaßen ganz und gar sich zum Vollzugsorgan dessen macht, was in jedem einzelnen seiner Momente das Material von ihm will. Ich darf vielleicht die Gelegenheit benutzen, Ihnen zu sagen, daß unter den konventionellen Vorstellungen von der Kunst, von denen sich zu befreien vielleicht recht wichtig für den ist, der überhaupt über künstlerische Fragen theoretisch nachdenkt, sicher nicht die unwichtigste die Idee des Künstlers als eines seiner Sache gewissermaßen unabhängig gegenüberstehenden Schöpfers ist, der alles so irgendwie aus sich herausholt, wobei dann in diese Idee des Schöpfer-Künstlers irgendwelche säkularisierten theologischen Vorstellungen eingewandert sind. Der Künstler wird dann so zu einer Art von kleinem lieben Gott gemacht, weil man an den großen nicht mehr so recht glaubt. Man stellt sich dann vor, daß — wenn's das schon sonst nirgends mehr gibt — der Künstler einen solchen Schöpfungsakt vollbringt. 235 Ich glaube, daß man, indem man damit scheinbar die Kunst und den Künstler maßlos erhöht, in Wirklichkeit der Kunst und dem Künstler 102 108
eigentlich ein gewisses Unrecht antut, und zwar nicht nur dadurch, daß man sie überfordert, sondern auch dadurch, daß man der Sache selber gar nicht gerecht wird. Das heißt, daß man sie als etwas Willkürliches bezeichnet, während es im allgemeinen so ist, daß der Künsder, und zwar nicht jeder Künsder, wenn er — ja, ich möchte sagen — Begabung hat, wenn wirklich etwas da ist und wenn er in wirklicher Freiheit seinem Objekt gegenübersteht, eigentlich unverhältnismäßig wenig daran schafft, überhaupt gar nicht jene Freiheit hat, j e nes Schöpferische, all das, was der Laie ihm zutraut, sondern in einem unendlich viel weiteren Maß dann wirklich dem zu gehorchen hat, was die Sache von ihm will, anstatt daß er nun aus sich heraus so rein diese Sache setzte. Und wenn ich sage, daß man, wenn man das verkennt, dem Künstler damit unrecht tue, so will ich damit nichts anderes sagen, als daß der Objektivitätsanspruch der Kunst - also der Anspruch der Kunst, selber etwas wie eine Erscheinung der Wahrheit eben zu sein und nicht ein bloßes Spiel oder etwas bloß Willkürliches - genau damit zusammenhängt, daß eigentlich der sogenannte schöpferische Akt sich auf ein Infinitesimales, auf eine Art von Grenzübergang reduziert, der freilich nicht weggedacht werden kann, der aber im Grunde nichts anderes bedeutet als eben die Freiheit, dem, was die Sache rein von sich aus will, ohne Hochmut, ohne Eitelkeit und mit der äußersten Konzentration sich zu überlassen.236 Darin allein, und nicht etwa in der Herstellung einer sogenannten objektivistischen Gesinnung, scheint mir überhaupt die Möglichkeit gelegen zu sein, daß die Kunst, gar in der gegenwärtigen Situation, etwas wie Objektivität erlangt, aber nicht dadurch, daß der Künsder auf irgendeine archaisierende Weise nun von sich aus Veranstaltungen trifft, die das Kunstwerk so gestalten, als wäre ihm von vornherein irgend so etwas wie Objektivität sicher. Nun ist es aber fraglos so, daß den Tendenzen des Übergangs der Expression, und zwar des dialektischen Umschlags der Expression in die Konstruktion, den ich in der letzten no
Stunde versucht hatte, Ihnen herauszuarbeiten,237 auch auf der subjektiven Seite, das heißt, auf der Seite des Ausdrucksoder des Gestaltungsbedürfnisses des Künstlers selbst, gewisse Züge entsprechen, und das sind offensichdich Züge, die keineswegs bloß vorherrschen in den künstlerisch Produzierenden, sondern die in der jüngeren Generation heute überhaupt außerordentlich stark und außerordendich gegenwärtig sind. Ich fühle deshalb so etwas wie eine Verpflichtung Ihnen gegenüber, über dieses subjektive Moment, das dem Ausdruck sich entgegenrichtet, Ihnen heute wenigstens einiges zu sagen. Man könnte nämlich sagen, daß etwas wie eine Art Allergie gegen den Ausdruck heute überhaupt besteht oder - um es etwas präziser und etwas artistischer zu sagen - daß die junge Generation, und die jungen Künstler zumal, etwas wie eine Scheu empfinden vor all den Elementen innerhalb des künstlerischen Produktionsprozesses, die man als die sprachähnlichen bezeichnen kann. In diesem Sinn tendiert ja die Sprache selbst dazu, wenn Sie so wollen, heute sich zu entsprachlichen, also ihre expressiven Elemente abzustoßen. Auf der anderen Seite ist es deutlich, etwa in der Malerei und ganz besonders in der Musik, die ich am ehesten überblicken kann, daß die Bestrebungen der jungen Komponistengeneration darauf hinauslaufen, alles was in der Musik an Sprache erinnert, als ein gewissermaßen der Sache Fremdes zu beseitigen, und daß alles, was an Sprache überhaupt dabei noch gemahnt, sie stört. Ich hatte dabei bereits darauf hingewiesen, daß in diesem, wenn Sie so wollen, Reinigungsprozeß, in diesem puristischen Prozeß im künstlerischen Produktionsvorgang, zunächst einmal ganz sicher das Element enthalten ist, daß — und ich würde sagen: das ist ein höchst legitimes Element — man empfindet, daß nun gegenüber dem radikal emanzipierten Material, mit dem die Künsder in all ihren Bereichen heute zu rechnen haben, das, was innerhalb dieser Materialien an Sprache noch vorgegeben ist, wie ein Rudiment eines Alteren ist; daß also die sprachähnlichen oder, wenn Sie so wollen, die expressiven Züge in einen gewissen Widerspruch treten in
zu dem geschichtlichen Stand des Materials selber; daß sie so tun, als wäre da noch irgendetwas vorgegeben, als könnte man sich da noch auf irgendetwas verlassen, was gleichsam aus dem Material selbst redet, während die Gewissenhaftigkeit des radikalen jungen Künstlers genau darauf hinausläuft, daß man eben auf nichts dergleichen mehr sich verlassen kann, sondern man wirklich einer Art von tabula rasa gegenübersteht und die ungeheure Paradoxie jeder im Ernst aktuellen künstlerischen Produktion eben darin besteht, daß man einem Nichts an Formen und an spezifischen Materiahen sich gegenüberfindet und doch dabei gleichsam aus diesem Nichts noch die besonderen Bestimmungen herausholen soll und muß, durch die allein das Kunstwerk verbindlich wird. Denn wenn sie nicht aus dem Material stammen, sondern wenn sie einfach ihm auferlegt werden von außen, dann haben sie ja von vornherein etwas Willkürliches, ein Moment der Zufälligkeit, gegen das man sich außerordentlich sträubt. Aber ich glaube, es liegt hier noch etwas anderes vor, was für die gegenwärtige Situation sehr bezeichnend ist und was man vielleicht doch nicht so unbedingt auf die Formel des geschichtsphilosophischen Standes des Produktionsprozesses selber bringen kann, sondern was eher im Sinne einer dialektischen Anthropologie zu begreifen wäre, nämlich die Scheu, die vorm Ausdruck überhaupt vorliegt. Diese Scheu scheint zunächst einmal damit zusammenzuhängen, daß man jeden Ausdruck in gewisser Weise als eitel empfindet, als eitel im doppelten Sinn: Nämlich einmal so, daß das ohnmächtige und im Grunde gegenüber den überwältigenden Tatsachen der Welt, in der wir leben, ganz gleichgültige Einzelindividuum durch den Ausdruck hindurch den Anspruch erhebt, als ob es doch noch etwas wäre; daß es sich gewissermaßen aufspielt, als wäre es noch etwas Substantielles, als hinge an ihm noch etwas, während gleichzeitig jeder weiß, daß nichts daran hängt. Eitel aber auch in dem zweiten Sinn, daß ein jedes solches Bemühen, durch den Rekurs auf die spezifische, je sich ausdrückende Individualität nun im Kunstwerk etwas Wesentliches zu
verändern an dem Bewußtseinsstand, in dem wir leben, und gar an dem Stand der Welt selber, mit Vergeblichkeit geschlagen ist; daß gleichsam diesem Individuum, indem es sich rein auf sich selbst zurückzieht, nicht mehr die Macht innewohnt, indem es sich ausdrückt, überhaupt etwas Wesentliches auszudrücken, sondern es, indem es sich ausdrückt, eben wirklich nur das ganz Vergängliche, das ganz Ephemere und Gleichgültige ausdrückt, an das es sich nur deshalb klammert, weil nichts anderes da ist, ohne doch daran sich klammern zu können, weil die Individualität selber, ohne daß sie bezogen wäre auf ein Objektives, in sich selber immer auch ein Nichtiges ist. Das, würde ich sagen - also zunächst einmal dieses Moment der Scham, wenn Sie so wollen - , ist zunächst einmal in der Ausdrucksfeindschaft wesentlich enthalten.238 Aber ich glaube, man soll es sich mit diesem Moment doch nicht zu einfach machen. Vergessen Sie nicht, daß — und das ist in der »Dialektik der Aufklärung« ja eingehend ausgeführt 239 — es zur Signatur unserer gesamten Zivilisation von einem sehr frühen Stadium an gehört, überhaupt über die Regung des Ausdrucks eine Art von Tabu zu verhängen; daß gegenüber dem Anspruch der naturbeherrschenden Rationalität jede mimetische Regung, die gewissermaßen von dem geraden Weg der ratio [abweicht], die immer bekanntlich die kürzesten Wege für die wahren und einzigen hält, daß alles, was sich davon abziehen läßt, eigendich ein Sündenfall sei, etwas U n zivilisiertes, man könnte beinahe sagen: etwas Kulturloses. Wer wie ich lange in angelsächsischen Ländern gelebt hat, der hat wahrscheinlich dieses Moment sogar stärker erfahren — dieses Moment des mimetischen Tabus —, als es irgendjemand in Mitteleuropa oder auch in Frankreich so leicht erfahren wird, weil ja wirklich in angelsächsischen Ländern dieses Tabu so stark ist, daß es eigendich als eine Art Unanständigkeit empfunden wird, Ausdrucksregungen stark zu zeigen, etwa ähnlich, wie es in unserer Kultur schon als unanständig empfunden wird, wenn man allzu früh, allzu bereitwillig, allzu hemmungslos über private Dinge redet zu anderen Men-
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sehen, die man nicht kennt. So wie jede expressive Geste, jedes Zeichen heftiger Trauer, jedes Zeichen von Schmerz zumal - und die Ausdrucksregungen sind eigentlich immer Regungen von Schmerz — unter einer Art von Tabu steht: Das tut man nicht. Es ist im Grunde immer die Geste jener berühmten Gouvernante, die den Kindern von Gustav Mahler, als man in den Hafen von N e w York einfuhr und die Kinder sich schrecklich aufgeregt haben, zurief: »Don't get excited! Don't get excited !«240 — weil sich aufzuregen vom Standpunkt dieser Gouvernante aus schon als ein Zeichen schlechter Erziehung gegolten hat. Sich aufzuregen ist sozusagen eine Sache der kleinen Leute; gut erzogene Menschen, der Gentleman oder die Lady, regen sich eigentlich nicht auf. Dieses Moment aber, diese Angst vor dem Ausdruck — und das muß man hier doch wohl durchdenken die ist sicher gegenwärtig in der heutigen Allergie gegen den Ausdruck und sie scheint mir nun zu bezeugen - obwohl in dieser Scheu gegen den Ausdruck jene Elemente enthalten sind, die ich versucht habe, Ihnen als legitime zu bezeichnen - , daß darin doch auch etwas Schlechtes ist. Das heißt, daß hier gewissermaßen jenes Zivilisationsbewußtsein, gegen das zu protestieren ja in Gottes Namen in der verwalteten Welt der Kunst mehr obliegt als wahrscheinlich je zuvor, verdrängt wird, und daß hier die Menschen nur deshalb gegen den Ausdruck allergisch reagieren, weil er sie an Dinge mahnt, die unter der gegenwärtigen Herrschaft des zivilisatorischen Prinzips eigentlich gar nicht mehr richtig zum Leben kommen können. Man hält es gewissermaßen nur aus, wenn man davon nicht redet, wenn es nicht einmal mehr zum Zeichen findet. Ich würde hier zunächst einmal ganz einfach sagen, daß das stärkste Moment dieser Allergie gegen den Ausdruck, die heute herrscht, die Angst ist, die Realangst, die so groß geworden ist, daß die Kunst, die von dieser Realangst allzuviel verrät, eben deshalb den Menschen unerträglich ist. In der Sachlichkeit, die heute gefordert wird, steckt eben beides: sowohl der Versuch, auf alle scheinhaft gewordenen Ausdruckselemente und -bezie-
Dabei ist nun zu erinnern auch an die Problematik des Individualitätsbegriffs selber. Wenn sehr viele Menschen dazu tendieren, diese Individualität als etwas Nichtiges, Zufälliges, rein Privates zu betrachten — wenn sie etwa sagen, bei irgendeinem Bild oder einer exponierten Musik: >Ach Gott, das drückt dessen Regungen aus, aber es vermag eigentlich nicht, diese Regungen zu objektivieren, nicht in ein Allgemeines zu verwandeln, nicht zu mir herüberzubringen; er kann es nicht kommunizieren, es ist seine Privatsache; und was gehen mich die Expektorationen eines solchen Privatmannes eigentlich an; eigendich ist es nur unanständig von ihm, mich damit zu belästigen< —, dann, würde ich sagen, liegt in einer solchen Vorstellung des sich ausdrückenden Subjekts allerdings auch wieder eine gewisse Naivetät. Wenn man schon diesem sich ausdrückenden Subjekt vorwirft, daß es in Wahrheit gar nicht bloß es selber sei, sondern daß es ein Nichtiges sei gegenüber der Objektivität, dann steckt in dieser Aussage auch ein Positives, nämlich, daß es zwar als bloßes Individuum nichtig ist, daß aber das Prinzip, durch das es individuiert ist, also die Tatsache, daß es dieser ohnmächtige, leidende, bedürftige Mensch ist, der hier und an keiner anderen Stelle steht und sich ausdrücken will, selber Ausdruck eben der objektiven Situation ist. Es ist die Objektivität, es ist in letzter Instanz die Gestalt der Gesellschaft selber, die die Menschen zu eben j e nem Minimum reduziert, das ihnen dann auf der anderen Seite wieder verbieten soll, in der gegenwärtigen Welt sich auszudrücken. Wenn das aber so ist, dann stellt damit natürlich auch die Rechtsfrage sich ganz anders. Das heißt: Dann wird
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hungen zu verzichten, wie auch, negativ, die Angst davor, etwas von dem durchzulassen, was eben sonst unter der Oberfläche gehalten wird. Die größten Kunstwerke heute dürften eigentlich immer die sein, in denen zwar das Konstruktionsprinzip sehr radikal bis zu Ende gedacht ist, die aber dennoch, und zwar oft gerade vermöge der Härte dieses Konstruktionsprinzips, diesem Verbot gegenüber der Ausdruckssphäre nicht mehr sich beugen. 241
eben der Ausdruck dieses >Minimumsentkunstet< man sie bereits und zerstört eigentlich damit eben das, was man von ihnen haben will. Es scheint mir im übrigen eine der charakteristischsten Inkonsistenzen zu sein in dem gegenwärtigen ästhetischen Vulgärbewußtsein, daß, während immerzu von >Bindungen< und dem angeblichen metaphysischen Sinn oder, wie man das so herrlich ausdrückt, der >Aussage< des Kunstwerks die R e d e ist, gleichzeitig unausgesetzt die Forderung erhoben wird, das Kunstwerk solle um des Menschen willen da sein, womit sich eben doch jene Forderung nach der >Bindung< als nichts anderes erweist, denn als was sie sowieso zu beargwöhnen ist: nämlich als ein Ausdruck von verwaltungstechnischer Manipulation. Aber schließlich — Sie könnten ja sagen: Wie man Gott einen guten Mann sein zu lassen pflegt, kann man ja
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dann auch das Kunstwerk einen guten Mann sein lassen. U n d wenn es gar keine Beziehung zum Glück in der Tat mehr in sich enthält, warum soll ich dann schließlich gehalten sein, mit den Kunstwerken mich abzugeben? Ich habe von einer solchen Beziehung Ihnen bereits gesprochen bei Gelegenheit des Beispiels von »Romeo und Julia«; nämlich daß eigentlich jedes Kunstwerk auch in der Negativität, und gerade in der Negativität, die Idee der ganzen Erfüllung der Utopie in sich beschließt. 418 Ich möchte aber hier diese Frage nach dem Verhältnis des Kunstwerks zum Glück oder zum Genuß ein wenig anders wenden, so wie sie dem entspricht, womit wir eben uns abgeben, nämlich der eigentlichen ästhetischen Erfahrung. Es gibt sicherlich so etwas wie Glück oder wie Genuß an Kunstwerken, und es würde gegen den einfachsten Menschenverstand verstoßen, wenn man das aufgrund der metaphysischen Spekulation, die ich Ihnen vorsichtig angedeutet habe, nun einfach leugnen würde und in der Tat nun ganz primitiv Kunstwerke als nur Gott gewidmet und deshalb als ein Absolutes vergötzen würde. Kunstwerke sind keine göttlichen Manifestationen, sondern Menschenwerk und haben insofern allerdings ebenso ihre Grenze wie auch ihre Beziehung auf Menschliches. Aber was ich sagen will, ist nun, daß das Glück, das von den Kunstwerken ausgeht, oder meinetwegen sogar der Genuß, den die Kunstwerke bereiten, nicht unmittelbar eins ist mit ihrer ästhetischen Erfahrung; daß ihre ästhetische Erfahrung selbst nicht in ihren einzelnen Momenten unmittelbar Genuß bereitet, wie der Dilettant und der Spießbürger es sich vorstellen, die das Kunstwerk in einen Teller mit R i p p chen und Kraut verwandeln, sondern daß das Kunstwerk eigentlich das Glück dadurch bereitet, daß es ihm gelingt, einen so in sich hineinzuziehen, wie ich versucht habe, es Ihnen darzustellen; daß es einen also nötigt, die Bahnen mitzugehen, die es in sich selbst beschreibt; und daß es einen dadurch allerdings der entfremdeten Welt, in der wir leben, entfremdet, und durch diese Entfremdung des Entfremdeten die U n -
mittelbarkeit oder das unbeschädigte Leben selber eigentlich wiederherstellt. Wenn es so etwas wie Glück am Ästhetischen oder wie ästhetischen Genuß gibt, dann liegt dieser Genuß also in der Leistung, die, wenn ich so sagen darf, das Kunstwerk an uns vollzieht, indem es uns absorbiert, indem wir in es eingehen und indem wir ihm folgen. Und bei dieser Leistung ist allerdings die ästhetische Qualität wesentlich mitbeteiligt. 419 Sie könnten ja denken: Nun ja, das, was du uns da sagst — das Glück an einem Kunstwerk —, ist doch etwas ziemlich Abstraktes und Allgemeines; das heißt also, dieses Enthobenwerden aus der alltäglichen Sphäre, das ist doch etwas, was von dem mindersten Unterhaltungsroman bis zu den größten Kunstwerken in gleicher Weise gilt, und was du uns servierst, ist eigentlich eine ziemlich schale, abstrakte und leere Sache. Aber ich glaube, wenn Sie so argumentieren wollten, dann wären Sie etwas vorschnell. Denn eben die Fähigkeit des Kunstwerks, den Betrachter oder den Hörer so zu absorbieren, so in sich hineinzuziehen und so, wie ich es genannt habe, der entfremdeten Welt zu entfremden, wie es mir die Idee des Kunstwerks zu sein scheint, das selbst hängt ja ab von der Kraft und Größe des Kunstwerks, von seiner Autonomie, also davon, wie weit es vermag, in sich selbst sein Formgesetz bis in alle Einzelheiten hinein auszuprägen. Man könnte insofern sagen - wenn ich auf die Kategorien zurückkommen darf, die ich in der letzten Stunde Ihnen entworfen habe —, daß das Glück am Kunstwerk an dem Ganzen des Kunstwerks haftet, dessen Kraft schließlich darüber entscheidet, wie sehr es uns aus der bloßen Existenz, sei's auch nur temporär, herausnimmt, oder ob es das nicht tut. Insofern ist die Beschreibung eines Erhobenseins durchs Kunstwerk, wie sie die ältere Ästhetik noch gekannt hat,420 wie sie aber heute kaum mehr existiert, jedenfalls der Beschreibung des sogenannten Genusses ebenso überlegen wie der, was einem das Kunstwerk zu geben habe. Ich möchte wenigstens andeuten, daß Sie an dieser Stelle freilich auch die Problematik der Kunst selber in einer sehr grundsätzlichen Weise berührt finden. Denn diese
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Kraft des Kunstwerks, einem die entfremdete Welt nochmals zu entfremden, ist ja selber eben doch ein Moment des Scheins. Diese reale Welt, der wir dabei entfremdet werden, wird dadurch nicht in ihrer Entfremdetheit aufgehoben, sondern gerade dadurch, daß wir uns ihr entziehen, in einem gewissen Sinn eben so belassen.421 Und es liegt hier in der Tat eben jener Konflikt, wenn ich es einmal mit hochtönenden Worten ausdrücken darf, zwischen dem Moralischen, nämlich dem Anspruch, die Welt zu verändern, und dem spezifisch Ästhetischen, nämlich der Unerträglichkeit der Welt, so wie sie ist, vor. Wenn ich den Roman »Die Kreutzersonate« von Tolstoi, den ich trotz gewisser etwas peinlich asketischer Tendenzen, die er hat, für ein außerordendich bedeutendes Gebilde halte, richtig verstehe, dann läuft eigentlich der Gedanke, den dieser Roman wesentlich entfaltet - und es ist ja ein theoretischer Roman, der der Kritik der Kunst gilt, und zwar gerade der Kritik der großen Kunst; denn er wählt sich mit vollem Bedacht ein sehr bedeutendes Kunstwerk aus, und was er über dieses Kunstwerk sagt, zeugt, nebenbei bemerkt, von einem ganz außerordentlich eindringenden und subtilen Verständnis - , also, was Tolstoi in diesem Roman über das Kunstwerk sagt, läuft eigentlich darauf hinaus, daß sich gerad e r e bedeutender das Kunstwerk und je adäquater die künstlerische Erfahrung ist, der Verblendungszusammenhang dadurch in gewisser Weise verstärkt, man dadurch die Realität um so mehr bei dem Abscheulichen beläßt, das man dabei zu fliehen vorhat. 422 Ich glaube, daß diese Antinomie wenigstens einmal auszusprechen ist und daß es sich hier ja in der Tat um ein Phänomen handelt, das man - wenn man sich nicht gerade in der gegenwärtigen Restaurationsperiode in eine Art naiven Ästhetizismus vergraben will - denn doch auch einmal sagen muß: daß es Perioden gibt, in denen die Kunst genau diesen Stellenwert besitzt, daß sie - und zwar gerade je ernster und vollkommener sie ist - sich als Ersatz vor andere Dinge schiebt, die in einer solchen Situation eben ausgeschlossen sind. Und gerade wenn man wie ich, wie man so sagt, in der
Kunst avantgardistische und sehr extreme Positionen vertritt, dann muß man sich auch wohl darüber klar sein und muß denen, die einem vertrauen, das auch sagen, daß in diesem R a dikalismus auch ein sehr Unradikales, beinahe möchte man sagen: ein Resignatives steckt, und daß es Situationen gibt, in denen gerade die radikale Kunst zu einem Alibi für den Verzicht auf eingreifende Praxis werden kann. 423 Aber ich halte es nicht für meine Aufgabe, dieses Argument hier weiterzuverfolgen. Ich möchte Ihnen nur sagen - da es nichts Isoliertes gibt, da es keinen Satz gibt, der in der Welt, in der wir heute leben, nicht durch die Funktion, die er annimmt, in Lüge verwandelt werden kann, selbst wenn er noch so wahr ist - , daß auch dieser Gedanke, den ich Ihnen eben andeute, zur Lüge geworden ist etwa in dem gesamten Ostbereich, wo man ja nun in der Tat die gesamte Kunst der sogenannten Praxis unterordnet, das heißt: zu einem praktischen Mittel umformt; und was dabei aus der Kunst wird, das heißt: die offensichtliche Insuffizienz und Dummheit und Primitivität der Kunst, die dabei herauskommt, zeigt zum mindesten, daß es sich bei dem Problem, das ich Ihnen hier habe bezeichnen können, nicht etwa um eine Alternative handelt, bei der nun sozusagen der moralische Mensch auf Kierkegaardisch über den ästhetischen nun einfach zu triumphieren vermöchte, 424 sondern daß man es hier mit einer Antinomie zu tun hat, die wahrscheinlich in der Welt, in der wir sind, eigentlich gar nicht aufzulösen ist, und mit der man nichts anderes tun kann, als sich Rechenschaft über sie abzulegen.
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Nun meine ich aber, um noch einmal bei der ästhetischen Erfahrung zu bleiben, daß auch mit dem, was ich Ihnen gesagt habe — nämlich daß das sogenannte Befreiende oder Erhebende, das man der Kunst nachsagt, in der Totalität des Werkes beruhe und in dessen Kraft, einen der Unmittelbarkeit der schlechten und fragwürdigen Existenz zu entheben - , daß auch das eigendich noch nicht das Ganze beschreibt, sondern noch ein Abstraktes ist. Ich glaube, manche von Ihnen werden an dieser Abstraktheit bereits mit Recht sich gestoßen
haben: Daß so unvermittelt, so einfach, wie es dabei erscheint, doch die Erfahrung des konkreten Ästhetischen und jene Befreiung, die dann erst vermittelt durch das Ganze erfolgen soll, einander nicht gegenüberstehen. Wenn ich von der eigenen Erfahrung hier einmal reden darf, die ja doch vielleicht nicht so singular ist, wie man denkt: Ich bin geneigt, in diesen Dingen außerordentlich demokratische Ansichten zu hegen und eigentlich immer vorauszusetzen, daß - wenn es mir nur gelingt, der eigenen Erfahrung wirklich sehr präzis und genau habhaft zu werden - ich gerade damit auch etwas ausspreche, was gar nicht nur mir privat gehört, sondern was mehr oder minder menschlich ist; ich glaube dabei nicht an das absolute Recht der Individuation. Wenn ich also auf die eigene Erfahrung mich hier nochmal beziehen darf, dann will es mir so vorkommen, als ob in der eigentlichen künsderischen Erfahrung, wo sie genuin ist, wo die Beziehung zu dem Kunstwerk aufs äußerste intensiviert ist, wo man — man könnte fast sagen: in dem Puls, in dem Rhythmus des eigenen Lebens ganz und gar eins wird mit dem Leben des Kunstwerks, wo man darin aufgeht, daß es dann Augenblicke des Durchbruchs gibt. Unter Durchbruch verstehe ich dabei, daß es dann Augenblicke gibt - es können zufällige Augenblicke sein, es können aber auch die höchsten und intensivsten Augenblicke eines Kunstwerks sein - , in denen jenes Gefühl des Herausgehobenseins, jenes Gefühl, wenn Sie wollen, der Transzendenz gegenüber dem bloßen Dasein, sich intensiv zusammendrängt, sich aktualisiert, und in denen es uns so vorkommt, als ob das absolut Vermittelte, nämlich eben jene Idee des Befreitseins, doch ein Unmittelbares wäre, wo wir glauben, sie unmittelbar greifen zu können. Diese Augenblicke sind die höchsten wohl und die entscheidenden, deren die künstlerische Erfahrung überhaupt mächtig ist; und es ist wohl denkbar, daß von ihnen eigentlich die Vorstellung, daß Kunstwerke sich genießen ließen, abgezogen ist, weil diese Augenblicke ja wirklich eine Art von Beglückung mit sich führen, die wohl, was es sonst an Glück gibt - ich will nicht sagen: in den Schat-
ten stellen, aber jedenfalls doch dem obersten, was es sonst an Glücksaugenblicken gibt, durchaus gewachsen sind, die dieselbe Gewalt haben, wie die höchsten realen Augenblicke, die wir kennen. Aber merkwürdigerweise sind nun gerade diese Augenblicke, in denen - ja, wie soll man sagen? - der Geist des Kunstwerks oder seine Bedeutung sich aktualisiert und so ist, als ob wir sie unmittelbar, fast körperhaft an uns selber erführen, diese Augenblicke sind kaum solche des Genusses, sondern vielmehr solche des Uberwältigtwerdens, der Selbstvergessenheit, eigentlich der Auslöschung des Subjekts in einem ganz ähnlichen Sinn, [wie] Schopenhauer, freilich unter den Voraussetzungen seiner Metaphysik, diese Wirkungen des Kunstwerks im 3. Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« beschrieben hat.425 Es ist dann so, wie wenn in diesem Augenblick - man könnte sie die Augenblicke des Weinens nennen - das Subjekt in sich erschüttert zusammenstürzen würde. [Es sind] eigentlich Augenblicke, in denen das Subjekt sich selber auslöscht und sein Glück hat an dieser Auslöschung und nicht etwa darin, daß ihm als einem Subjekt nun etwas zuteil würde. Diese Augenblicke sind nicht Genuß, sondern das Glück liegt eben darin, daß man sie hat.426
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Ich möchte sagen, daß die Kunst, die ja so vielfach mit dem Hedonismus zusammengebracht wird und die gerade von den Puritanern aller Religionen und aller sogenannten weltanschaulichen Färbungen immer um ihrer sogenannten Genußsucht willen verdächtigt worden ist, im Sinne dessen, was wir gesagt haben, etwas Antihedonistisches ist; das heißt: daß die Erfahrung der Kunst nicht eine ist, die dem Subjekt in dem herkömmlichen Sinn zugute kommt, sondern eigentlich eine, die von dem Subjekt wegführt. Die künstlerische Erfahrung ist in der Tat, wie Schopenhauer es will, unter diesem Gesichtspunkt eine Art temporärer Suspension, temporärer Aufhebung des principium individuationis in der Idee, 427 wenn ich es einmal in der alten idealistischen Sprache sagen darf, und keineswegs eben der Weg, den etwa unmittelbar die sinnliche Erfüllung geht; obwohl ich gleich hier anmerken
möchte, daß auch die Unterscheidung des sogenannten sinnlichen und des sogenannten geistigen Kunstwerks sich weit schwieriger, weit dialektischer darstellt, als es etwa das Cliche der nordisch-metaphysischen und der südländisch-sinnenfrohen Kunst darstellt, ein Cliche, von dem ich hoffe, daß ich es zusammen mit einer Reihe anderer Cliches Ihnen im Lauf dieser Vorlesung noch entreißen kann. Aber mit dieser lockenden Aufgabe möchte ich mich nun im Augenblick nicht beschäftigen, sondern ich möchte Ihnen im Anschluß an das, was ich Ihnen über den Begriff des Genießens auseinandergesetzt habe, doch auch noch etwas sagen über den Begriff des Verstehens von Kunstwerken, insofern, als das Verstehen von Kunstwerken ja auch darauf hinauskommt, daß man zwischen den Kunstwerken und sich selbst eine Art Beziehung der Aneignung oder der Teilhabe herstellt. Das Kunstwerk wird für die Verstehenstheorie nämlich etwas, was einem selber gehört, was man zu seinem Besitz macht - wie es in der Vorstellung vom Genuß auch gelegen ist - , und ich möchte dieses Moment an der künsderischen Erfahrung keineswegs wegleugnen; ich werde darauf kommen, in welcher Weise es seine Berechtigung hat. Aber zunächst, glaube ich - und das kann Ihnen vielleicht auch ein wenig in Ihrer eigenen Beziehung zu Kunstwerken helfen - , ist das genuine Verhältnis zu Kunstwerken eigendich kein Verhältnis des Verstehens, und zwar deshalb, weil der Kunst kategoriell, ihrem Wesen nach, wenn ich einmal so sagen darf, nämlich ihrer eigenen Konstitution nach, zunächst etwas Unverständliches innewohnt; weil die Kunst selber eben als ein Stück säkularisierter Magie sich jener Gleichmachung an uns und an das Subjekt entzieht, wie sie im Verstehensbegriff eigendich gefordert wird. Wenn die Bestimmung zutrifft, die ich vorhin versucht habe, Ihnen zu geben, daß die künstlerische Erfahrung ein Mitvollzug oder ein Drinsein ist, dann würde in der Tat dieser Typus des Verhaltens zum Kunstwerk die Distanz aufheben, die Dinglichkeit aufheben, die in dem Verstehensbegriff eigentlich angelegt ist. Doch die Kunstwer-
ke selber haben ein Moment des Enigmatischen, dem man zunächst einmal nur dadurch gerecht wird, daß man nicht fragt: Was bedeutet das alles?, sondern daß man in die Sache selber eigentlich sich hineinbegibt. So könnte man zunächst einmal fast sagen: Je weniger man Kunst >verstehtMusikantischen< denken, die immer wieder - und auch noch als ein Lob - irgendwelchen Kompositionen nachgesagt wird; wobei eben gemeint ist, daß eine Komposition unreflektiert, und zwar in sich selbst, also in ihrem Material unreflektiert, gewissermaßen abschnurrt, daß der betreffende Komponist sich der Sache nun wirklich blind überläßt, nämlich daß er sich dem bloßen Gefälle seines Materials überläßt, und dieses Gefälle erweist sich dann bei näherer Betrachtung im allgemeinen gar nicht so sehr, möchte ich einfügen, als das Gefälle des Materials selber, sondern als das Gefälle der Konvention, die das Material dann in der einen oder der anderen Weise schon prä203
formiert hat. Dieses Musikantische — es gibt analoge Dinge ganz gewiß auch in einer bestimmten Quickheit des Malerauges, 431 und es gibt in der Sprache ein Analogon dazu in j e nem grauslichen Phänomen, das man früher mit Lobsprüchen wie, daß einer einen »flüssigen Stil< habe, zu bedenken pflegte —, dieses Phänomen besteht also darin, daß der Stauungsvorgang der Reflexion in dem Kunstwerk selber nicht stattgehabt hat, durch den es überhaupt eigentlich erst zu einem Kunstwerk wird. Und ich würde sagen, es ist ein wesentliches Moment überhaupt der ästhetischen Qualität, daß es dieses Moment der Stauung, der Selbstreflexion besitzt, daß es aber dann auf der anderen Seite bei dieser Selbstreflexion nicht bleibt, sondern daß diese Reflexion dann ihrerseits wieder in die reine Logik der Sache, in den reinen Vollzug des Kunstwerks sich umsetzt. Wenn aber einmal ein solcher Begriff der Reflexion ins Spiel gesetzt ist — und ich glaube, damit berühre ich etwas, was keineswegs nur für die Kunst gilt, sondern einen weit umfassenderen Tatbestand, der für alle Rationalität überhaupt gilt dann ist dieser Vorgang der Reflexion nicht zu stoppen, dann ist dem nicht eine Art von Halt zuzumuten; sondern ein solcher Reflexionsprozeß führt dann notwendig weiter. Wenn Sie also etwa in einem Kunstwerk selber diese in der Sache gelegenen Reflexionen, von denen ich Ihnen einige Beispiele, einige Modelle gegeben habe — oder für deren Absenz ich Ihnen einige solche Modelle gegeben habe wenn Sie diesen Prozeß im Kunstwerk selber einmal vollziehen, dann geht Ihre Erfahrung notwendig schließlich in eine Reflexion auf das Kunstwerk selbst und auf seinen Sinn über. Ich möchte also das in der letzten Stunde Gesagte in der Weise fortführen, daß ich sagen würde: Die primäre Erfahrung ist selbstverständlich nicht die des sogenannten Sinnes, sie ist nicht eine in dem üblichen Sinn verstehende, sondern vielmehr ein Sich-Uberlassen. Und dieses Sich-Uberlassen hat als ein Blindes in sich aber auch ein Moment der Negativität: eben jenes Moment des Dummen, des Musikantischen, das
dann notwendig über sich hinaustreibt. Und durch diesen Prozeß liegt am Ende allerdings ein Verstehen, nämlich ein Begreifen schließlich auch des Sinnes aller Momente, ein B e greifen, das seinen Kanon hat eben an der Erfahrung der Notwendigkeit der Beziehung der in dem Kunstwerk jeweils enthaltenen Momente selbst. Dann kehrt also diese einmal ins Spiel gesetzte Reflexion über das Kunstwerk zu dem Kunstwerk zurück. Und wenn sie in das Kunstwerk zurückkehrt, nachdem sie es zunächst einmal verlassen und gewissermaßen von außen gesehen hat, dann wird sie konstitutiv für die eigentliche künstlerische Erfahrung, die in letzter Instanz dann eben doch als ein Vermitteltes, als ein Geistiges sich darstellt. Ich glaube, dieser Gedankengang ist deshalb nicht ganz unnütz, weil er Sie daraufhinweist, daß gewisse Formen, wie etwa die der Ubersetzung, vor allem aber die des Kommentars und der Kritik, nicht parasitäre Formen sind, die so an der Kunst wuchern und die Kunstwerke als ein Primäres ausbeuten, sondern daß diese Formen selber zum Wesen der Kunst eigentlich konstitutiv mit dazugehören. 432 Das heißt: Nur durch Kommentar und Kritik hindurch, also nur durch die Reflexion, die das Kunstwerk seiner eigenen Logik nach ins Spiel bringt, ist eigentlich die volle Erfahrung des Kunstwerks möglich, und nur durch diese Momente hindurch kehrt das Kunstwerk zu sich selbst zurück oder durch sie hindurch haben Sie das Kunstwerk eigendich begriffen. 433 Sie müssen sich also demnach das Verstehen des Kunstwerks in der Tat als einen Prozeß vorstellen, der von dem Kunstwerk selber gefordert wird, der aber nicht in der Weise sich abspielt, daß nun, wenn man dem Kunstwerk gegenübersteht, schlagartig wie mit einem Zauberstab das Verstehen des Kunstwerks vollzogen wäre. Aber Sie mögen daran auch dieses erkennen, daß die Kunst, die ja als einem bloßen Dasein Gegenüberstehendes ohnehin eine tiefe Affinität hat zur Philosophie, eben durch diese eigentümliche Struktur, die ich versucht habe, Ihnen wenigstens anzudeuten, nun zur Philosophie übergeht, und von sich aus etwas wie Philosophie verlangt.
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Nun möchte ich doch zurückkehren zu dem, womit wir uns eigentlich befassen, nämlich zu der Dialektik, die an dem Begriff" des Schönen wesentlich haftet. Im Zusammenhang mit den Betrachtungen, die der Erfahrung des Kunstwerks gelten und in denen ich Ihnen gezeigt hatte, daß diese Erfahrungen nicht hedonistisch sind, daß man also nicht etwa das Kunstwerk unmittelbar gewissermaßen kulinarisch genießt, daß der Begriff des >Kunstgenusses< überhaupt etwas sehr Fragwürdiges ist, hatte ich zunächst einmal versucht, Sie von der Sache her einzuführen in die anwachsende Allergie, in die zunehmende Empfindlichkeit gegen den Begriffdes Wohlgefälligen in der Kunst, also die Allergie gegen einen in sich ungebrochenen — man könnte geradezu im Sinn dessen, was ich vorher erörtert habe, auch sagen: einen nicht in sich selbst reflektierten—Begriff von Schönheit. Ich darf hinzufügen, daß mit dieser Allergie gegen das Schöne, gegen das einfach vorgegebene Schöne, zugleich auch die Problematik der Kunst notwendig anwächst. Kandinsky hat, wie Sie alle wissen, ja vor nun wohl vierzig Jahren jenes berühmte Manifest geschrieben, das Buch »Uber das Geistige in der Kunst«,434 in dem er zum ersten Mal gegenüber der allherrschenden Vorstellung von der Kunst als einem sinnlich Unmittelbaren nun die alte These der idealistischen, der spekulativ-idealistischen Philosophie vom wesentlich geistigen Charakter der Kunst umgesetzt hat in ein Programm der künstlerischen Gestaltung selber, die ihm zufolge dann lediglich noch Ausdruck eines Geistigen sein soll und ihre sinnliche Unmittelbarkeit mehr oder minder ganz preisgeben; eine Entwicklung, die ja dann in dem ganzen Komplex sich fortgesetzt hat, der unter dem — im übrigen wenig sinnvollen — Namen »abstrakte Kunst« Ihnen geläufig ist. Je mehr aber der Geist diesen Vorrang im Kunstwerk annimmt, je mehr die sinnlichen Momente dann wirklich nur noch als Träger eines Inneren bestimmt werden, um so mehr wächst damit in gewisser Weise auch die Problematik des Kunstwerks an, in einer Weise, die von Hegel auch bereits — längst, ehe diese Entwicklung eingesetzt hat, fast
hundert Jahre früher — antizipiert worden ist, indem er die Theorie vertreten hat, daß eine vergeistigte Kunst, also eine Kunst, in der die Beziehung der sinnlichen Unmittelbarkeit und des Geistes keine vorgegebene oder, wie er es nennt, keine >substantielle< mehr ist, sondern jedem Künstler eigentlich aufs neue problematisch wird, zu etwas wird, was von dem Kunstwerk überhaupt erst herzustellen ist, und daß damit die Sphäre der Kunst überhaupt sich selber als eine problematische herausstelle, eben weil ihrjenes Moment der Substantialität, also der vorgegebenen Einheit der sinnlichen und geistigen Momente abgehe, die Hegel allerdings, nun ganz im Sinn des Klassizismus um das Jahr 1800, mit der Antike hat gleichsetzen wollen. 435 Das Problem, dem man sich hier gegenübersieht in der modernen Phase der anwachsenden Allergie gegen das bloß sinnlich Schöne in der Kunst, die gleichbedeutend ist mit ihrer Vergeistigung, ist etwas verschieden von dem Problem, das Hegel gewahrt hat. Hegel hat - und dabei hat er ohne Frage an den Synkretismus der romantischen Bildungsbestrebungen seiner Zeit gedacht, die ihre ästhetischen Formen aus allen erdenklichen Kulturen und Voraussetzungen herangeschleppt haben - Hegel hat als die Gefahr dieses Momentes der in sich reflektierten, der ganz geistig gewordenen Kunst bezeichnet, daß dem Künstler nun überschauend alle Formen gleichermaßen offenstünden und deshalb keine Form mehr verbindlich sei.436 Und er hat damit in der Tat sehr großartig den Stil-Synkretismus theoretisch und kritisch antizipiert, der dann im 19.Jahrhundert geherrscht hat; wie ich überhaupt die Gelegenheit ergreifen möchte, Sie darauf hinzuweisen, daß die dialektische Philosophie nicht etwa, wie der Unverstand es ihr nachsagt, eine Nacht ist, in der alle Katzen grau sind und in der es eigentlich nichts Wahres und nichts Unwahres gibt, sondern daß sie in einem eminenten Sinn eben eine kritische Philosophie, auch darin die zu sich selbst gekommene Philosophie Kants ist. Aber dieser Synkretismus hat sich ganz gewiß fortgesetzt auch bis in unsere eigene Zeit hinein. Die Problematik, der aber an der spezifischen
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Stelle, von der wir reden, die neue Kunst sich gegenübersieht, von deren Erfahrungen wir ja grundsätzlich in dieser Vorlesung ausgehen möchten, die ist doch etwas anderer und noch gravierenderer Art. Man kann nämlich sagen, daß diese Gefahr den Künstlern selber bewußt geworden ist, obwohl es auch in unserer Zeit weiß Gott nicht an Künstlern, und keineswegs nur an schlechten, gefehlt hat, die geglaubt haben, daß eben jene Souveränität des künstlerischen Geistes seinem Material gegenüber nun in der Tat es erlaube, mit allen möglichen Formen zu spielen und über alle möglichen Formen zu verfügen. Aber es hat sich doch — und ich glaube, damit berühre ich in der Tat einen relativ sehr fortgeschrittenen Standpunkt der künstlerischen Entwicklung selbst — heute eigentlich durchgesetzt, und zwar in allen künstlerischen Bereichen, soweit ich berechtigt bin, darüber ein Urteil abzugeben, daß es mit dieser Offenheit so eine bedenkliche Sache ist. Die entscheidende Lehre, die Künstler während der letzten dreißig oder vierzigJahre gezogen haben, ist eben, daß jene Beliebigkeit, wie sie zuletzt noch etwa im Einfluß des Exotismus in den verschiedensten Formen auf die moderne Kunst sich abgespielt hat, eine bedenkliche Sache ist; daß sie eben wirklich Unverbindlichkeit entspricht und alles darauf ankommt, daß heute, wo diese Substantialität, also die Vorgegebenheit eines Formenkanons in der gesamten Kultur verlorengegangen ist, der Kunst nichts anderes hilft, als daß jedes einzelne Gebilde sich rückhaltlos in das j e eigene Formgesetz versenkt, ohne gewissermaßen nach außen zu schielen; daß also die Kunst gerade [angesichts] der durch die Bildung ihr gegenüberstehenden schlechten Fülle, gegenüber dem schlechten Reichtum des ihr Möglichen, sich selbst einschränkt, auf dieses abstrakt ihr Mögliche verzichtet zugunsten des konkret hic et nunc von ihren eigenen spezifischen Bedingungen Geforderten. Aber auch dann ist das Problem, auf das wir hier gestoßen sind, für die Kunst nicht etwa gelöst. Denn es hat sich gezeigt, daß gerade, je mehr jene Vergeistigung des Kunstwerks anwächst - und sie muß anwachsen als Allergie gegen das Wohl-
gefällige, wie es durch die Kulturindustrie, die Reklame und überhaupt das kommerzielle System der gegenwärtigen Welt uns aufgezwungen wird - , auch in dieser Vergeistigung eine außerordentliche Schwierigkeit bleibt, nämlich die Schwierigkeit, die man als die der Vermittlung zwischen dem geistigen Moment der Kunst und den Ausdrucksträgern, den sinnlichen Momenten der Kunst, vielleicht bezeichnen darf. Ich meine damit etwa jenes Moment, das in den frühen Manifesten der modernen Malerei so deutlich hervorgetreten ist, wo man zum Beispiel von einer Farbensymbolik geredet hat und gesagt hat: Ja, die Farben, die sind also nicht bloße sinnliche Valeurs, sondern sie haben als Träger eines Geistigen allesamt auch eine Bedeutung, und wenn ich nicht diese Bedeutung sehe - das Böse rot, das Friedliche oder gar das Kosmische blau, 437 oder was immer es sonst sein mag dann sehe ich eigentlich nicht richtig. In all diesen Beziehungen, soweit sie sich auf irgendwelche isolierte künsderische Materialien beziehen, steckt ein Moment der Willkür, oder Sie können ebensogut auch sagen: steckt ein Element der Konvention, ein Element des sozusagen Festgesetzten - daß diese Farbe j e nem Ausdruck zu entsprechen habe —, so wie es im übrigen in der expressionistischen Dichtung in einem weiten Maß vorkam, wo ja wirklich bei Heym, bei Trakl, bei Stadler mit bestimmten Farben sich dann in einer Art von Starrheit auch gewisse Ausdrucksbedeutungen assoziiert haben, die dem Wesen der Farben als solchen gar nicht notwendig innewohnen. 438 Der Verfall dieser Tendenzen, gewissermaßen die Parodie auf die Vergeistigung der Kunst, ist dann das Kunstgewerbe, das glaubt, daß sogenannte edle Stoffe oder irgendwelche bestimmt gearteten rituellen Gesten von ihrem spezifischen Zusammenhang abgelöst oder andere Elemente dieser Art eben, und gerade auch vor allem symbolische Farben, von sich aus eigendich es leisteten. Mit anderen Worten also — und ich möchte Sie auch hier nur auf ein Problem der neuen Kunst aufmerksam machen, das Ihnen vielleicht ein wenig helfen mag, sich kritisch zurechtzufinden: Jener unausweich-
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liehe Prozeß der Vergeistigung der sinnlichen Momente der Kunst, mit dem wir es hier zu tun haben, kann sich niemals orientieren — ich glaube, das ist etwas, wozu die Erfahrung innerhalb der modernen Kunst uns gedrängt hat - an irgendeinem sinnlich Einzelnen. Kein sinnlich Einzelnes an sich ist ein absolut Geistiges, ist ein absoluter Ausdrucksträger, genügt von sich aus, das Geistige herzustellen.439 Als wir vor dreißig oder vierzig Jahren zum ersten Mal mit den neuen, außerordentlich dissonanten Akkorden operiert haben, haben wir auch geglaubt, daß jeder einzelne dieser Akkorde durch seine Komplexität, durch seine Gefugtheit, durch seine Vielschichtigkeit, vor allem durch seine Unbetretenheit, von sich aus bereits etwas geistig Neues wäre, etwas, was nun den dabei gemeinten Ausdrucksgehalt in zwingender Weise manifestiert. Und ich möchte im übrigen auch gar nicht so weit gehen, das rundweg zu leugnen. Es ist gerade so gewesen, daß in der Ära der Emanzipation der neuen Kunst, der Malerei ebenso wie der Musik, wo diese extremen Valeurs zum ersten Mal verwandt worden sind, ihnen mit der Kraft des ersten Mals zugleich auch etwas von jenem Geistigen innewohnte, auf das wir gebaut haben. Nachdem dann aber durch die gesamte künstlerische Entwicklung diese extremen Valeurs selber sich immer mehr in das verwandelt haben, was man heute ja wohl in allen Kunstformen mit dem Ausdruck >Material< bezeichnet — der einem nicht gefallen braucht, um den man sich aber sehr schwer herumdrücken kann - , hat sich gezeigt, daß alle diese einzelnen Materialien - und wenn es die schönsten zwölftönigen Akkorde und wenn es noch nie dagewesene N u ancen von einem Noldeschen R o t oder noch nie dagewesene Farbkontraste sind — eben allein jene Vergeistigung nicht leisten, sondern daß die Kraft der Vergeistigung, die allerdings unabdingbar von jeder Kunst heute gefordert ist, wenn sie nicht wirklich Coca Cola sein will, ganz allein in der Konfiguration dieser Momente liegt, darin also, welchen Stellenwert im Zusammenhang eines Kunstwerks diese Momente haben, und nicht mehr bei irgendeinem Isolierten von ihnen. 440 130 210
Ich habe diese Betrachtung deshalb eingefugt, weil Sie hier vielleicht auf eine sehr einfache Weise etwas verstehen können, was Ihnen sonst, soweit Sie nicht spezifisch in ästhetischen Zusammenhängen leben, etwas befremdend und unheimlich klingt, nämlich das Problem des sogenannten Konstruktivismus in der Kunst. Dieser Konstruktivismus in der Kunst bedeutet nicht etwa eine äußerliche Übertragung etwa der Konstruktionsideale, wie sie durch die Neue Sachlichkeit, den Funktionalismus in der Architektur herangewachsen sind, so daß nun die zweckfreien, die autonomen Künste sich ähnlich konstruktiv benehmen müßten, wie es ihnen die Zweckkünste, also vor allem die Architektur, aber dann auch die eigentlichen technischen Disziplinen vormachen, sondern diese Forderung nach Konstruktion — der gegenüber sicher sehr viele von Ihnen, soweit Sie diese Dinge nicht wirklich theoretisch durchdacht haben, sagen werden: ja, Gott, warum soll denn da nun absolut konstruiert etwas Dinghaftes mir entgegengesetzt werden, während ich doch von der Kunst eigentlich verlange, daß sie meine eigene Stimme ist, daß sie mein einheimisches Bereich ist, in dem ich selber rede diese Notwendigkeit der Konstruktion ist, das möchte ich versuchen, Ihnen klarzumachen, aus der eigentlich künstlerischen Problematik, aus der innerästhetischen Problematik selbst hervorgegangen. 441 Das heißt: Nachdem einmal irgendwelche von außen her verpflichtenden Normen der künstlerischen Gestaltung — traditionelle, konventionelle Elemente, topische Elemente, wie man im Anschluß an einen Begriff der klassischen Philologie 442 sagen könnte — für die moderne Kunst nicht mehr existieren, aber gleichzeitig eben jene Forderung, daß das Künstlerische Träger eines Geistigen sein müsse, j e dem Künstler unabdingbar sich aufdrängt und diese Vergeistigung der Kunst von keinem einzelnen Sinnlichen mehr geleistet werden kann, kann all das eben nur dadurch geleistet werden, daß die verschiedenen einzelnen Momente eines Kunstwerks in einen Strukturzusammenhang miteinander treten, der in sich selbst, in jedem einzelnen Kunstwerk, ein
ganz und gar durchgebildeter, ein ganz und gar konsequenter im Sinn einer bestimmten nun wirklich nur der Kunst eigentümlichen Logik ist, und zwar derart, daß innerhalb dieses spezifischen Zusammenhangs des Kunstwerks jedes einzelne Moment sich erweist als notwendig in dem Gefuge des Ganzen. Und dieses Bestreben eben wird durch den KonstruktionsbegrifF in der Kunst bezeichnet, der ja eigentlich gar nichts anderes sagt, als daß Vergeistigung des Kunstwerks dadurch herbeigeführt wird, daß die einzelnen Momente in einen stringenten notwendigen Zusammenhang gerückt werden, der ihnen dann eben erst die Kraft des Geistigen verleiht, die dem einzelnen Moment als solchem in seiner Isoliertheit nicht zukommt. 443 Daß dabei auch dieses Konstruktionsprinzip wieder sehr exponiert ist und daß anstelle jener Vergeistigung durch die Konstruktion auch die bloße Bastelei treten kann, das habe ich Ihnen, glaube ich, in einem anderen Z u sammenhang gesagt und habe es auch sonst oft genug ausgesprochen.444 Ich möchte mich hier nur darauf beschränken, Ihnen an dieser Stelle zu zeigen, wie sehr die Konstruktionsprobleme der modernen Kunst aus ihrer eigentümlichen geschichtsphilosophischen Lage und auch aus dem Zwang eben zur Vergeistigung hervorgehen, nämlich deshalb, weil geistig an einem Kunstwerk nichts Einzelnes ist — weil, wie Kant es genannt hat, nichts bloß Sinnliches erhaben sein kann - , und deshalb das, was einmal früher von außen her durch Stil, durch vorgegebene Formen geleistet worden ist, nur von der inneren Organisation des Kunstwerks her geleistet werden kann; und der Inbegriffeben dieser inneren Organisation des Kunstwerks, das wäre der Begriffseiner Konstruktion. 445 Lassen Sie mich dem hinzufügen, daß der Begriff des Wohlgefälligen, von dem ich Ihnen gesagt habe, daß wir ihm gegenüber in wachsendem Maß allergisch würden, ohne daß wir doch das Moment des sinnlichen Reizes aus dem Kunstwerk je ganz verscheuchen dürften, selber auch einen geschichtlichen Stellenwert besitzt, daß er sich ändert. Ich erinnere Sie etwa daran, daß die Verwendung extrem kontra130
stierender Farben, wie sie zuerst von Manet in die Malerei eingeführt worden ist, damals noch gar nicht verbunden mit den teilweise schockierenden und nach damaligen Begriffen abstoßenden Stoffen, denen Manet sich dabei zugewandt hat, als maßlos häßlich, als dissonant empfunden worden ist, während für uns, nach all dem, was wir unterdessen an ästhetischen Erfahrungen durchgemacht haben, etwas sinnlich Reizvolleres gerade als die Farbenkompositionen von Manet, die ja die traditionelle sogenannte Bildkomposition ersetzt haben, sich gar nicht denken läßt.446 Und es ist ganz genau so in der Musik auch mit den einzelnen Klängen. Es gibt unzählige solcher Einzelklänge, die man noch vor vierzig oder fünfzig Jahren als schroff dissonant empfunden hat und die - aufgrund ihrer Gebrochenheit in sich, aufgrund bestimmter Klangqualitäten oder aller möglichen Dinge technischer Art, auf die ich jetzt nicht eingehen kann — heute geradezu den Eindruck des sinnlich Reizvollen machen, während es natürlich auch Klänge gibt, die das gar nicht tun und die dem geradezu opponieren. Welches dieser Momente nun jeweils in einem Kunstwerk eingeführt wird, liegt allein bei der Autonomie des Künstlers — oder, um es genauer zu sagen: bei der Autonomie des künstlerischen Formgesetzes, dem jeweils ein Werk sich eigentlich einordnet. Ich möchte dem aber doch noch eines hinzufügen, nachdem ich heute Ihnen im wesentlichen im Zusammenhang mit der Allergie gegen das Wohlgefällige von der Dialektik eben zwischen sinnlichen und geistigen Momenten im Kunstwerk gesprochen habe, die eigentlich ja überhaupt in der Vorlesung fast gegen meinen Willen ins Zentrum der ganzen Betrachtung gerückt ist: Sie werden nämlich sehr oft hören — und das ist eine sehr weit verbreitete Theorie —, daß es gewissermaßen zwei Typen von Kunstwerken gebe, nämlich auf der einen Seite das geistige Kunstwerk, das man dann sehr oft dem Norden zuschreibt, und auf der anderen das sogenannte sinnenfrohe Kunstwerk, wie man es mit dem Süden assoziiert. Die Theorien, auf deren kunstgeschichtlichen Ursprung ich jetzt gar nicht einzu213
gehen brauche, 447 haben sich so verbreitet, daß man sie fast mit der Muttermilch einsaugt, selbst wenn man zunächst ihrem spezifischen Ursprung gar nicht gerecht wird. Ich möchte nun nicht etwa die Berechtigung dieser Dinge bestreiten; man braucht wirklich nur eine Bellini-Madonna 448 und die Stuppacher Madonna von Grünewald 449 sich zu betrachten, und man wird sehen, daß zunächst einmal an dieser Unterscheidung auch etwas in einem ganz handgreiflichen und drastischen Sinn Richtiges ist. Es kommt mir nur darauf an, Ihnen zu zeigen, daß auch hier, wie in sehr vielen anderen Dingen, diese Art der Antithese des geistigen und künstlerischen Kunstwerks — jedenfalls als eine philosophische — eigentlich keinen Bestand hat, und zwar deshalb, weil der metaphysische Gehalt eines Kunstwerks sich nicht erschöpft darin, daß es nun ein sogenanntes geistiges Kunstwerk sei. Z u behaupten etwa, daß ein nordisches Kunstwerk deshalb, weil es unmittelbar metaphysischen Gehalt hat, über einem südländischen Kunstwerk, weil es unmittelbar zum Gehalt ein sinnliches Grundverhältnis zur Welt hat, stünde, daß also gewissermaßen die Metaphysik der Kunst eigentlich nur auf metaphysische Kunst sich bezöge, scheint mir eine außerordentliche Simplifizierung dessen zu sein, worum es geht. Es kann nämlich gerade die Absenz des geistigen Moments in der Kunst in einem bestimmten Sinn, eine bestimmte Art der Versenkung in das Sinnliche und auch eine bestimmte Art, wenn Sie wollen, des Hedonismus des Kunstwerks, der jede Art von geistiger Transzendenz von sich abschneidet, durch dieses Abschneiden zum Ausdruck eines metaphysischen Gehalts selber werden; nämlich zu dem Ausdruck, wenn ich einmal den Mund sehr voll nehmen darf, der metaphysischen Trauer oder der Gottverlassenheit. Und es kann unter U m ständen gerade dieser metaphysische Ausdruck der Trauer, wie er den großen sogenannten sinnlichen Kunstwerken eignet, dann schließlich sogar an metaphysischem Gehalt über die in Kunstwerken positiv gesetzte Metaphysik vielleicht hinausgehen. Ich wollte Ihnen zum Schluß gerade noch diese
Möglichkeit zeigen, damit Sie, nachdem ich den Vorrang des sogenannten geistigen Moments so nachdrücklich hervorgehoben habe, nun nicht glauben, daran einen einfachen Kanon zu besitzen.450
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14- V O R L E S U N G
15. i . 1959 Es sind mir aus Ihrem Kreis — und wenn ich das sagen darf: von der denkbar kompetentesten Seite aus Ihrem Kreis - zwei Fragen zugekommen, auf die ich gerne antworten möchte, aus dem Grund vor allem, weil es sich hier um die Klärung doch wohl des zentralsten Begriffs handelt, mit dem wir es in dieser Vorlesung überhaupt zu tun haben. Und obwohl ich mich, in den verschiedensten Zusammenhängen, bemüht habe, Ihnen diesen Begriff zu artikulieren, ist es vielleicht doch angezeigt, daß wir zusammenfassend noch einmal darüber etwas sagen. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um die Frage des geistigen Gehalts der Kunstwerke. Ich glaube, daß es gut platonisch ist, wenn ich Ihnen dabei zunächst einmal zusammenfasse, was wir, soweit meine Einsicht reicht, uns darunter nicht denken sollen. Zunächst nämlich nicht das, was etwa ein Autor, ein Schriftsteller, ein Musiker, ein Maler an sogenannten Ideen oder Gefühlen, oder was immer es sei, in das Werk hineingesteckt hat. Sicherlich sind die Momente, die, sei es in künstlerischer Absicht, sei es auch vermittelt durch unbewußte Prozesse, von dem produktiven Subjekt in das Kunstwerk eingehen, auch wesentlich, und sicherlich ist seine Objektivität durch diese subjektiven Momente vermittelt. Wenn man das nicht unterstellte, käme man in der Tat zu jener Auffassung des vom Himmel gefallenen Kunstwerks, die ja im allgemeinen gerade von Dilettanten und Banausen vertreten wird. Aber das, was im Kunstwerk zählt, ist doch wohl nur das, was in der Sache selber sich verkörpert. Und Geist gibt es im Kunstwerk als geistigen Gehalt, als Verbindliches nur insofern, als er objektiv, ohne jede Rücksicht auf den Produzierenden, durch das Kunstwerk selber zwingend sich darstellt - man kann wohl sagen: insofern als er vom Kunstwerk verwirklicht wird. Das, was der Autor in das Kunstwerk hineinsteckt, auch an sogenannten geistigen M o tiven, was er sich, wie man so sagt, dabei denkt etwa, oder wel130
che Intentionen er dabei verfolgt, ist demgegenüber - ja, ich muß es paradox sagen — eigentlich etwas bloß Stoffliches. In Dichtwerken sind das die Gedanken, die darin vorkommen, und nichts, was in der Sprache sich abspielt und dadurch im Begriff, ist ja vom Gedanken radikal getrennt. Was aber an Gedanken da so unmittelbar hineingesteckt wird, ist genau so ein Stück Stoff wie die Worte, die verwendet werden, oder wie Farben in einem Gemälde oder wie Töne und Tonrelationen in einer Komposition. Ich glaube, ich darf dieses M o ment deshalb hervorheben, weil ich den Eindruck habe — und damit möchte ich mich besonders auch an die Germanisten unter Ihnen wenden - , daß sehr viele der geläufigen Interpretationen von Literatur sich in der Tat bescheiden mit der Herausarbeitung eben des sozusagen Hineingesteckten. Und dabei kommt dann in der Tat etwas Bescheidenes heraus, nämlich: der Autor steckt soundsoviel an Ideen, an Weltanschauungen, an Intentionen in ein Kunstwerk hinein, und der Interpret oder der Geisteswissenschaftler - also der Mensch, der demgegenüber verstehend sich verhält —, der tut das wieder heraus, was der Autor vorher hineingesteckt hat; wobei man sich dann fragen könnte, warum eigentlich dieses ganze Spiel angestellt worden ist, das ja wirklich etwas an die Geschichte von den beiden Bauern erinnert, von denen ein j e der die berühmte Krott gefressen hat. 451 Daß man auf eine so billige Weise zum Gehalt eines Kunstwerks kommen könnte, sollte man kaum für möglich halten. Aber es handelt sich dabei keineswegs um eine bloße Schreckensvision, die ich von der Wissenschaft an dieser Stelle hege, sondern um die B e schreibung eines tatsächlich weitverbreiteten Sachverhalts. Wenn Sie zum Beispiel die Literatur über Thomas Mann überblicken, so werden Sie finden, daß im allgemeinen diese Interpretationen sich damit zufrieden geben, die philosophischen Motive, die Thomas Mann in sein Werk, ich muß schon sagen: hineingestreut oder hineingesenkt hat, nun wieder säuberlich herauszuklauben.452 Und wenn man das getan hat, dann meint man nun wirklich, des Gehalts eines solchen 217
Kunstwerks innegeworden zu sein. Es gibt Werke, vor allem aus der späteren Periode von Thomas Mann - also aus der zweiten Hälfte seiner produktiven Phase, wie sie mit dem »Zauberberg«453 anfängt - , in denen er aus sehr triftigen M o tiven sich in der Tat mit philosophischen Dingen eingelassen hat, die dann darin vorkommen. Jemand, der auf die Jagd zum Dissertieren geht und diese Dinge mehr oder minder zwingend bestimmt, findet sich da reich belohnt; es ist gar nicht abzusehen, wie viele Doktorarbeiten da im Laufe der Zeit noch entstehen mögen. 454 Aber natürlich hat das alles mit dem wirklichen geistigen Gehalt eines Kunstwerks, auch dem von Thomas Mann, noch gar nichts zu tun. Also selbst wenn man zum Beispiel sich nicht unmittelbar bei den Ideen bescheidet, die alle möglichen Figuren bei Thomas Mann - insbesondere natürlich die dafür besonders beliebten feindlichen Brüder Naphta und Settembrini, 455 aber auch zahllose Diskutanten etwa im »Doktor Faustus«456 - von sich geben, sondern auch, wenn man daraus das Fazit zieht und dann etwa glaubt, in Gestalt des fett gedruckten Satzes aus dem Schneekapitel des zweiten Teils vom »Zauberberg« vom Herrn der Gegensätze457 den Gehalt dieser Romane zu haben, so ist das im Grunde alles eine höhere Form von Stoffhuberei. Die Frage nach dem eigentlichen Gehalt des Kunstwerks fängt überhaupt erst in der Sphäre an, in der auch diese scheinbaren geistigen Gehalte noch als bloße Sachgehalte458 begriffen sind. Das ist eine Frage, die, soweit ich sehen kann, bis heute kaum in Angriff genommen worden ist; wie ich denn überhaupt meine, daß es bei Thomas Mann einmal wirklich darauf ankäme, von den sämtlichen, quasi offiziell vorgegebenen Kategorien, wie sie aus der Lebensphilosophie stammen - also Gegensätze: Leben und Tod, Verfall, Decadence und demgegenüber Geist, und wie all diese Dinge heißen mögen - , sich gründlich zu emanzipieren und diese Dinge einmal so anzusehen, als ob nicht das alles bereits im Baedeker stünde. Aber abgesehen davon glaube ich, daß der geistige Gehalt eines Kunstwerks auch nicht in dem sich erschöpft, was man etwa 130
mit einem nun wirklich arg kompromittierten Wort, das wohl die wenigsten von Ihnen sich getrauen würden, in den Mund zu nehmen - mit der >Weltanschauung< eines Kunstwerks bezeichnet. Wenn das mehr sagen soll als wirklich das Alleräußerlichste und Allerphrasenhafteste wie, was ein Kunstwerk will, oder wes Geistes Kind es sei, dann kann diese sogenannte Weltanschauung ja wohl schwerlich etwas anderes bedeuten als etwa — wie in älterer Kunst, wie im Mittelalter - die tragende Voraussetzung, auf der ein Kunstwerk überhaupt erwachsen ist. Und das dürfte denn doch wohl auch auf bürgerliche Zeiten zu extrapolieren sein, denn in einem gewissen Sinn ist die bürgerliche Weltanschauung mit ihren Kategorien von Individuum, von Verantwortung, von Autonomie, mit den Konflikten, die in der bürgerlichen Gesellschaft unvermeidlich gesetzt sind - zwischen den Normen der Gesellschaft auf der einen Seite und dem Anspruch der Freiheit des Individuums auf der anderen - , ebensosehr Voraussetzung etwa der großen bürgerlichen Romane, von Flaubert oder von Fontane, 459 wie im Mittelalter eben eine substantielle Vorstellung vom Christentum eine solche Voraussetzung war. Aber der geistige Gehalt des Kunstwerks dürfte sich doch wohl erst konstituieren in der spezifischen Art, in der nun die Gestaltung über diese allgemeinen Voraussetzungen hinausgeht, oder in der sie sich im Kunstwerk selber konkretisieren. Sonst wäre der geistige Gehalt etwas unbeschreiblich Armes und Eintöniges. Es hätten dann nämlich eigentlich alle Kunstwerke, die von derselben Weltanschauung, von denselben substantiellen Gesamtkategorien getragen werden, eben darum auch den gleichen geistigen Gehalt. Dann wäre die Frage nach dem geistigen Gehalt des Kunstwerks in der Tat zu dem reduziert, was die Frage nach einem Geistigen niemals werden darf, nämlich zu der Frage nach dem allgemeinen Begriff, der einer jeglichen seiner bestimmten Manifestationen mehr oder minder unverändert zugrundeliegt. Aber auch wenn man von Weltanschauung in dem Sinn redet, in dem es in unserer Zeit sogenannte Weltanschauungen gibt - also etwa die 219
Weltanschauung des Existentialismus, wie sie in den R o m a nen von Sartre oder von Camus 460 dargestellt wird, oder eine bestimmte Art katholischer Weltanschauungsromane, wie sie ja auch sehr verbreitet sind - ich denke hier besonders an Graham Greene, 461 der in Deutschland ja wohl bekannter ist als in den Ländern, in denen seine Sprache zu Hause ist - , dann wird auch dort sich das herausstellen, daß die sogenannte Weltanschauung gegenüber dem eigentlich Gestalteten ein Hinzutretendes, ein der Sache selbst relativ Äußerliches ist, das in der Sache abgehandelt wird. Das heißt: Es ist in diesen R o m a nen nicht etwa substantiell der geistige Gehalt ein spezifisches Moment der Katholizität, sondern es wird halt gern darin über den Glauben geredet; der Glaube wird gewissermaßen thematisch, und indem er thematisch wird und abgehandelt wird, wird er zu einem Stofflichen. Und ich möchte hinzufügen, daß mit Rücksicht gerade auf diese Problematik zwischen den religiösen Weltanschauungsromanen in unserer Zeit und den irreligiösen Weltanschauungsromanen gar kein so großer Unterschied herrscht, wie das so in der Tagesdebatte und in den gegenseitigen Polemiken aussieht. Es ist selbst bei einem Mann wie Camus, dessen Gestaltungskraft im einzelnen ich gar nicht verkennen möchte, doch auch weitgehend so, daß es sich um eine Art von Thesendichtung handelt, bei der die Weltanschauung, wenn sie auch nichts von ihm aus Partikulares ist, trotzdem mehr demonstriert wird an den Sachen, die sich da abspielen, als daß sie aus den Sachen selber als geistiger Gehalt und als ein Substantielles herausspränge. [.. .]462 finden Sie mit einer großen Kraft zur Konkretisierung, aber immerhin doch bebildert mehr oder minder die Frage oder den Versuch einer Antwort —, wie es möglich sei, in einem Zustand der Ungläubigkeit, wenn ich es altmodisch sagen darf, gleichwohl als ein moralischer Mensch zu handeln. All diesen Dingen gegenüber ist also der geistige Gehalt eines Kunstwerks etwas viel Verschlosseneres, etwas viel weniger Zugängliches. Und wenn es überhaupt einen Sinn hat, daß man der Kunst sich nicht als ein bloß Erfahrender überläßt, 130 220
sondern daß man über die Kunst philosophische Betrachtungen anstellt, dann, glaube ich, rechtfertigt sich das genau an dieser Stelle: daß eben der geistige Gehalt des Kunstwerks selbst, zunächst einmal die Bestimmung dessen, was ein solcher geistiger Gehalt überhaupt sei, gar nicht so ohne weiteres unmittelbar einem zufällt, sondern der angestrengten Überlegung bedarf. Ich habe Ihnen das in der letzten Stunde schon in der Form angedeutet, daß ich Ihnen sagte, die Interpretation und Kritik und damit schließlich die Philosophie selbst stellt ein notwendiges Moment in der objektiven Entfaltung der Kunstwerke dar - eine Ansicht im übrigen, die, wie Sie mir glauben können, nicht bloß die eines wild gewordenen und von der Hybris erfaßten Philosophierenden ist, sondern die ja nun mit der allergrößten Gewalt im künsderischen Prozeß selber von Paul Valery ergriffen worden [ist].463 All dem gegenüber meine ich nun, daß der Gehalt des Kunstwerks, der ihm nicht abstrakt gegenübersteht, konstituiert wird durch das hic et nunc des Kunstwerks, durch seine spezifischen Konfigurationen, durch die Momente, die das Kunstwerk in sich enthält, und durch die Totalität, zu der diese Momente sich zusammenschließen. Sie könnten sagen, dadurch sei zwar gewissermaßen darauf verwiesen, wo man den geistigen Gehalt eines Kunstwerks zu suchen habe, aber das genüge so wenig, wie es etwa genüge, wenn man angebe, in welchem Raum, in welchem Bereich ein Verbrecher sich aufhalte, um nun den Verbrecher selbst dingfest zu machen und gewissermaßen also mit seinem Namen zu nennen. Aber ich meine, Sie können doch unter diesem Aspekt wahrscheinlich dem Begriff des Gehaltes des Kunstwerks am nächsten kommen, [wenn] Sie versuchen, ihn zu begreifen, ihn zu fassen als das Moment eben, das durch die spezifische Konfiguration des Kunstwerks eigentlich gebildet wird. Ich meine also - und ich möchte noch einmal versuchen, Ihnen das so deutlich zu sagen, wie ich es nur kann - , daß der geistige Gehalt eines Kunstwerks nicht dessen bloße Erscheinung ist, also weder sein Sinnliches, noch etwas, was als Intention durch dieses
Sinnliche so ausgedrückt wird, wie etwa Zeichen im allgemeinen sonst in den Sprachen, in den signifikativen Sprachen uns einen Sinn übermitteln. Sondern der geistige Gehalt des Kunstwerks ist das Verhältnis seiner sinnlichen Momente zueinander in der Art, daß durch ihren Zusammenhang, durch ihr Verhältnis zueinander, die Stoffmomente oder die sinnlichen Momente des Kunstwerks über sich hinausgehen. Wenn man in so abstrakten Ausdrücken zu reden liebte, könnte man wohl auch sagen, der geistige Gehalt des Kunstwerks sei eigentlich nichts anderes als die Transzendenz seiner sämtlichen, zueinander in Beziehung stehenden sinnlichen M o mente. Wenn man von Struktur bei einem Kunstwerk redet, dann meint man ja damit eigentlich nicht eine Deskription etwa der typischen sinnlichen Formen, die dabei verwandt werden - also, sagen wir, eine bloß geometrische Struktur, die zugrundeliegt, oder eine impressionistische Struktur, oder irgendetwas Derartiges. Sondern was man mit >Strukturzusammenhang< mit Grund und auch von den verschiedensten Seiten her in der Ästhetik an einem Kunstwerk eigentlich gesucht hat, war eigentlich immer bestimmt als ein Sinnzusammenhang. Mit anderen Worten also: Dadurch, daß eine Reihe von verschiedenen Momenten innerhalb eines Kunstwerks in eine Beziehung zueinander treten, die sie sowohl vereint und an ihnen eine Synthesis vollzieht, die auf der anderen Seite sie aber auch unterscheidet, ihre Gegensätze festhält, ja, unter Umständen sie in ausdrücklichen Gegensatz überhaupt setzt, dadurch wird das Kunstwerk unmittelbar als ein Sinnvolles erfahren. Und der Begriff des Geistigen, um den es sich hierbei handelt, läßt sich wirklich - ich möchte beinahe sagen: sehr handfest - bestimmen. Wir dürfen nämlich bei diesem Strukturmoment deshalb von einem Geistigen reden, das mehr ist als das bloß Sinnliche, weil es an keinem isolierten Sinnlichen allein dingfest zu machen, weil es nicht irgendein sinnliches Moment des Kunstwerks an sich genommen ist, sondern weil es eigentlich ein Relationsbegriff ist, also etwas, was überhaupt nur durch das Verhältnis 130 222
der verschiedenen sinnlichen Momente zueinander greifbar wird, oder, wie ich es in der Hegeischen Sprache der Philosophie auszudrücken liebe: weil es ein Vermitteltes ist. Ich glaube, Sie können hier nun ziemlich genau sehen, was mit diesem Begriff gemeint ist: auf der einen Seite also etwas, was nicht als ein von der sinnlichen Gestalt des Kunstwerks selbst Getrenntes, Selbständiges darin so enthalten wäre wie die Nuß in der Schale, auf der andern Seite aber auch etwas, was nicht sich erschöpft in der sinnlichen Erscheinung, sondern das Moment [ist], das durch den Zug, den die sinnliche Erscheinung selber hat, über die sinnliche Erscheinung hinausgeht, also der Inbegriff der Phänomene des Kunstwerks, der mehr ist als eben diese Phänomene, und eben darum keine pure Unmittelbarkeit. Ich möchte Sie aber auch davor warnen, nun etwa - und diese Versuchung liegt nahe, und eine bequeme Ästhetik läßt sich darauf besonders gerne ein - dieses geistige Moment des Kunstwerks mit Begriffen wie Ganzheit oder Gestalt, wie sie die psychologische Mode, und zwar die restaurativ psychologische Mode von heutzutage nahelegt, gleichzusetzen. Dieser Zusammenhang ist kein einfach gestalthafter, kein ungebrochener Zusammenhang. Ein Kunstwerk ist nicht einfach eine Ganzheit, obwohl es auch eine Ganzheit ist. Oder jedenfalls: Es muß nicht notwendig eine Ganzheit sein; oder, wenn ich einmal in der Sprache der Gestalttheorie reden darf, es muß nicht notwendig das sein, was man in der Sprache der Gestaltpsychologie eine »gute« oder eine »geschlossene Gestalt« nennt, 464 sondern es kann eine offene, es kann sogar eine schlechte, es kann eine in sich brüchige Gestalt sein. Mit anderen Worten: Die divergenten M o mente, die ein Kunstwerk in sich enthält, werden nicht durch die strukturelle Einheit notwendig - und ganz gewiß nicht in der gegenwärtigen Kunst und in ihrer gegenwärtigen Situation - nun bruchlos vereint, sondern weil ja das Kunstwerk seine Tiefe, seine Gewalt, seine Substantialität eigentlich daran hat, wie weit es fähig ist, die Widersprüche, unter denen die Menschen leiden, in sich zu begreifen, diese Widersprü-
che, soweit sie verdeckt sind, aufzudecken, und indem es sie aufdeckt und ausspricht, auch ihre Versöhnung vorwegzunehmen. Insofern das Kunstwerk also dieser Idee unterstellt ist, sind die in ihm enthaltenen Momente nicht ohne weiteres im Sinn einer Synthesis, einer Einheit des Mannigfaltigen so zu denken, wie es die harmonistische Vorstellung von dem Schönen will; sondern es scheint mir wesentlich zur Kunst zu gehören — offen zu der gegenwärtigen Kunst und latent wahrscheinlich überhaupt zu aller Kunst - , daß dieses sogenannte Mannigfaltige, das das Kunstwerk in sich beschließt, und aus dem es seine Strukturzusammenhänge, seine Sinnzusammenhänge bildet, in sich selbst antagonistisch und gespalten ist. Ich darf hier vielleicht etwas ausführen, was ich in einem Nebensatz gesagt habe: Mir erscheint es überhaupt für das Verhältnis der neuen Kunst gegenüber der traditionellen sehr wesendich, daß die neue Kunst wirklich in einem echt dialektischen Sinn gleichzeitig etwas ganz anderes und doch nichts ganz anderes ist als die traditionelle. Das, worin sie ganz anders ist, ist gerade dem, der nicht in der neuen Kunst groß geworden ist, ja am ehesten auffällig. Der Unterschied scheint mir in Wahrheit immer vielmehr der zu sein, daß Momente, Spannungsverhältnisse, verschlossene — wie Schönberg es genannt hat: »subkutane«465 - Strukturen, die innerhalb der traditionellen Kunst durch vorgegebene Formschemata, durch TÖJtOl, nach denen man die künstlerische Struktur behandelt hat, nach irgendwelchen festen Formkanons vorweg behandelt hat, nicht hervorgetreten sind, während in der modernen Kunst diese Spannungen, die latent in der traditionellen Kunst allesamt auch vorhanden sind, hervortreten, aber nun gewissermaßen selber thematisch und unmittelbar zu Gegenständen der Formung werden, so daß also das naive Gemüt, das etwa glaubt, ein expressionistisches Kunstwerk sei ein solches, in dem das Innere nach außen gekehrt wird, schließlich in der philosophischen Reflexion gar nicht als so töricht erscheinen mag, wie ein solcher Satz, wenn er naiv vorgebracht wird, zunächst einmal klingt. Wenn diese Ein130 224
heit, die den Sinnzusammenhang ausmacht, nun nicht eine solche harmonische Einheit von seienden, nebeneinanderstehenden Momenten ist, sondern eine Einheit von einander widersprechenden oder von divergenten, unter Umständen von chaotischen, dann ist darin gelegen, daß die Frage nach der Einheit des Kunstwerks selbst eigentlich als eine dynamische Frage verstanden werden muß, als ein Werden, und nicht als ein statisches Verhältnis, nicht als eine Art Harmonie. Und wenn ich an einer früheren Stelle der Vorlesung polemisiert habe gegen den Versuch von Heidegger und der Heideggerschen Schule, das Kunstwerk auf den Begriff des Seins466 zu reduzieren, dann kann ich Ihnen damit, glaube ich, die genaue Begründung dieser Polemik geben: nämlich daß das Kunstwerk notwendig aus antagonistischen Momenten besteht und nicht etwa aus solchen, die in einer Art von vorgeordneter Einheit stünden. Weil die Einheit des Kunstwerks selbst eine sich erzeugende ist, deshalb ist das Kunstwerk selber, auch wenn es da ist, auch wenn es noch so sehr in sich zu ruhen scheint, in Wirklichkeit ein Kraftfeld und ein Prozeß. Und ich würde sagen, es gehört zu den tiefsten Fragen der Ästhetik, daß das Kunstwerk eigentlich um so mehr seiner Idee treu bleibt, je mehr es diesen Prozeß, je mehr es diesen Charakter eines Spannungsfelds verwandelt in den Schein eines Seins. Wenn das Kunstwerk als ein bloßes Werden unmittelbar hervortritt, dann werden wir sagen: Es ist nicht objektiviert, es hat eben nicht die Sphäre eines an sich im Schein Seienden erreicht, die jedenfalls zu dem Begriff der Kunst bis zu einer gewissen Schwelle dazugehört hat. Hat aber das Kunstwerk dieses konstitutiv-dynamische Moment nicht in sich, dann ist diese Einheit selber ein bloß Scheinhaftes und ein ganz und gar Unverbindliches, dem Kunstwerk selbst [bloß äußerlich] gegeben. Es kehrt hier abermals, wie sehr oft in der Ästhetik, eine Bestimmung wieder, wie sie die Dialektik für die Logik eigentlich gewonnen hat, wie ja die dialektische Logik in gewisser Weise überhaupt im Medium der künstlerischen Erfahrung dargestellt werden könnte: Der geistige Ge-
halt eines Kunstwerks wäre also, insofern in ihm dieses Kräftespiel zu einer Art Balance gelangt - wir werden darauf noch zurückkommen —, die Resultante der antagonistischen Kräfte des Prozesses, der in ihm statthat. Es ist aber zugleich immer auch dieser Prozeß selber, der durch seine Totalität zu dem Kunstwerk zusammenschießt. Und das, was uns am Kunstwerk immer wieder als dessen Leben erscheint, was wir am Kunstwerk als ein Lebendiges erfahren — und Kunstwerke sind ja keine Geschöpfe, der Begriff des Lebens hat bei ihnen nur eine gebrochene, eine mittelbare Bedeutung —, das ist eigentlich nichts anderes, als daß es immer auch in dem geronnenen, objektivierten Zustand doch den Prozeß ausspricht, den es in sich beschließt, daß es ihn aber zugleich in gewisser Weise auch, indem es ihn ausspricht und indem es ihn abrundet, indem es ihn auf seine Gestalt bringt, seinerseits wieder transzendiert. Ein Kunstwerk erfahren oder ein Kunstwerk mitvollziehen, würde also nichts anderes heißen, als alle diese Momente des Kraftfelds, die das Kunstwerk darstellt, die es zugleich ist und übersteigt, an dem Kunstwerk mitvollziehen. Und insofern kann man wohl sagen, daß die ästhetische Erfahrung selber eigendich eine geistige Erfahrung ist, obwohl diese geistige Erfahrung, wenn sie nicht die dichteste und genaueste der sinnlichen Sachverhalte des Kunstwerks ist, das Wesen des Kunstwerks notwendig verfehlt. Nun möchte ich dazu noch etwas hinzufügen, womit ich noch einmal auf eine Kategorie zurückkomme, die ich in den letzten Stunden behandelt habe, die aber jetzt vielleicht im Sinn dessen, was ich heute gesagt habe, um die Dinge noch etwas tiefer und präziser zu fassen als bisher, doch ein neues Licht gewinnt, nämlich die Allergie gegen das sogenannte sinnliche Moment, gegen das sinnlich Wohlgefällige am Kunstwerk. Die Gründe, die ich Ihnen dafür zunächst genannt habe, vielleicht ist manchen von Ihnen das aufgefallen - nämlich der anwachsende Widerstand, den das Kunstwerk um seiner Substantialität und seiner Wahrheit willen entfaltet hat gegen seine Verschandelung durch den Kom130
merz, gegen seine Verwandlung in ein Mittel der Kommunikation und gegen all diese Dinge - , das wäre ja zunächst noch, darin muß ich mich selbst kritisieren, ein dem Kunstwerk Äußerliches. Sie könnten mich immerhin fragen: Was geht es denn einen großen Künstler - den Picasso oder den Joyce oder den Schönberg oder Kafka - an, was die Kulturindustrie für Greuel begeht? Im Gegenteil: Geht man nicht unter sein Niveau, wenn man sich mit diesen Greueln abgibt und macht man sich nicht gewissermaßen von Herrn Disney 467 oder von Technicolor abhängig, wenn man nun in dem, was man selber tut, die süßen Farben und Formen nachahmt, mit denen jene Geldverdiener im allgemeinen zu operieren pflegen? Aber ich glaube, dieses Moment der Allergie gegen das sinnlich Wohlgefällige hat doch auch seinen Grund in der Sache, und ich wollte mit diesem Hinweis auf das Anwachsen der Allergie im Verhältnis zu der anwachsenden Verwandlung von Kunst überhaupt in Konsumgut eigentlich weniger Ihnen das innere Motiv dieser Allergie bezeichnen, als Ihnen zeigen, was sonst vielleicht in dieser Betrachtung doch allzu kurz gekommen wäre: nämlich daß es bei dieser Allergie um ein Geschichtliches sich handelt. Diese Allergie scheint mir nämlich nichts anderes zu sein als die Empfindlichkeit gegen eine bestimmte Art von Betrug. Erinnern Sie sich eine Sekunde daran, daß ich versucht habe, Ihnen die Idee des Kunstwerks als die eines Kraftfelds darzustellen, das sowohl sein eigener Inbegriff wie seine Versöhnung ist. Dann könnte man sagen, daß das sinnlich Wohlgefällige diese Versöhnung gleichsam falsch antizipiert, daß [es] also so tut, als ob die Versöhnung der Widersprüche, deren oberste Idee doch wohl die des Kunstwerks überhaupt ist, eine jetzt und hier bereits vollzogene wäre, derart, daß die einzelnen Momente des Kunstwerks in ihrer U n mittelbarkeit bereits Träger dieser Versöhnung wären. Gerade deshalb aber, weil die Idee des Kunstwerks, wenn ich es so sagen darf, die Utopie ist, also die absolute Erfüllung, ist diese Idee allergisch, ist sie bis zum Weißglühen empfindlich gegen jeden Versuch, das, was sie eigentlich meint, als ein schon jetzt 227
und hier Seiendes, als ein Unmittelbares einzuschmuggeln und dadurch die Antagonismen und das Leiden zuzuschminken, die in Wirklichkeit Schuld daran tragen, daß diese Utopie eben nicht erfüllt ist. Das, wogegen die Allergie gegen das Wohlgefällige, gegen das sinnlich Angenehme in der Kunst eigentlich sich richtet, ist der Betrug, daß das Kunstwerk, das ja das Bild und Zeichen ist, jetzt und hier unmittelbar die Erfüllung sei, die sinnliche Erfüllung sei, die die Wirklichkeit den Menschen versagt. Es ist die Empfindlichkeit also sozusagen, wenn ich es einmal psychologisch ausdrücken darf, gegen die Degradierung des Kunstwerks zu einer Ersatzbefriedigung. Gemeint ist gerade durch die Dissonanz in einem weitesten Sinn, wie sie für alle unsere Kunst das Zentrale ist, die Konsonanz. Die Konsonanz aber ist unerträglich, weil in ihr selber nichts anderes sich widerspiegelt als die noch unaufgelöste Dissonanz der Realität. Das sinnliche Moment der Kunst selber ist vielleicht überhaupt, im Sinn einer metaphysischen Spekulation, das allerhöchste Moment, das der Kunst möglich ist, in dem Sinn, in dem überhaupt sinnliche Erfüllung die ist, die dem, was man metaphysische Erfahrung nennt, am nächsten kommt; so wie man denn auch zwischen Utopie und Materialismus mit Recht die tiefsten Sympathien hat konstatieren dürfen. Eben darum aber will man es nicht und kann man es nicht dulden, daß diese vollendete Utopie, die der Geist, der ja selber immer ein Stück Anweisung auf Sinnliches, auf nicht Präsentes, auf noch nicht Gegenwärtiges ist, gleichsam nur vorwegnimmt, ohne zu beanspruchen, unmittelbar sie bereits zu sein, daß diese Utopie der ganzen, der ungeschmälerten sinnlichen Erfahrung verraten werde an ein Vorläufiges, an eines, was sie selber eigentlich noch gar nicht ist. Nach all dem, glaube ich, wird es Sie vielleicht weniger befremden, als es noch in der letzten Stunde Sie befremdet hätte - nachdem wir nun sehr eingehend und, wie ich hoffe, mit einiger Gewissenhaftigkeit uns klar gemacht haben, in welchem Sinn die Kunst dem Begriff der Schönheit fortschrei130
tend opponiert, jedenfalls in ihm nicht sich erschöpft —, wenn ich dem nun hinzufuge, daß das nicht bedeuten kann, daß die Theorie der Kunst, die Ästhetik, nun des Begriffs der Schönheit entraten soll. Man kommt sonst wirklich in jene Sphäre, die erinnert an Schlagwörter wie das von der »Psychologie ohne Seele« — also eine Wissenschaft, die eigentlich ihr eigenes Substrat verloren hat468 —, eine Konstruktion, der ich gezwungen war, kritisch konstatierend einen analogen Begriff in der Soziologie, nämlich den einer »Soziologie ohne Gesellschaft«, hinzuzufügen. 469 Es gehörtja überhaupt zu der Signatur des heute herrschenden positivistischen Geistes, daß die fortschreitende Aufklärung der entscheidenden Begriffe der einzelnen Disziplinen sich bemächtigt und diese Begriffe gewissermaßen auflöst; damit aber, daß sie diese Begriffe selbst auflöst, auch gleichsam der Kraft sich begibt, aus der die Aufklärung selber eigentlich gelebt hat, so daß dann die Aufklärung in einer außerordentlich ernsten Gefahr sich befindet, sich zu bescheiden zur Kapitulation vor dem, was nun einmal bloß der Fall ist. So gibt es also einen bestimmten Typus positivistischer Ästhetik, der etwa sich daran halten will, das ästhetische Erlebnis zu beschreiben, ohne daß ein Begriff wie der der Schönheit dabei überhaupt vorkommt. 470 Was dabei dann aber herauskommt, wäre in der Tat nur noch eine Tatbestandaufnahme von irgendwelchen Relationen zwischen ästhetischen Objekten und dem Subjekt und wäre eigentlich gleichbedeutend mit der Applikation der Theorie und mit dem Verzicht auf den Geist, der nun einmal doch das Medium der Kunst und darum notwendig auch einer jeglichen Theorie von der Kunst ist. Jene Tendenz einer Ästhetik ohne Schönheit ist aber, möchte ich der Gerechtigkeit halber sagen, nicht nur auf die positivistische Dummheit beschränkt, sondern sie findet sich auch dort, wo gewissermaßen subtile und empfindliche Nerven mit Recht das Geschwätz von der Schönheit als einer Harmonie, die Berufung auf das Wahre, Schöne und Gute und ähnliche Sonntagsgüter nicht länger ertragen und lieber mit einer Art von trotzig-keuschem Schweigen 229
sich behelfen, als in diese Sphäre sich hineinzubegeben. So nahe mir die Erfahrungen liegen, die ich damit bezeichnet habe, so glaube ich doch, daß es zu den Verpflichtungen gehört, die man auf sich nimmt, wenn man überhaupt einmal philosophisch sich verhält, daß man sich der Zimperlichkeit den festen Begriffen gegenüber entäußert, daß man nicht Todesangst hat, sich an Begriffen die Hände aufzureißen und anderes Unheil über sich zu bringen, sondern daß man die Begriffe festhalten muß. Und nur dadurch, daß man sie festhält, wird es einem dann wohl möglich sein, sie so zu differenzieren, daß sie der Erfahrung angemessen werden, aber nicht dadurch, daß man sie über Bord wirft und glaubt, daß man das Geistige, Höhere, Differenzierte, Subtilere in Gestalt des B e griffslosen nun unmittelbar besäße. Und das eigentlich ist das Motiv, das mich dazu bringt, in der nächsten Stunde Ihnen doch über die Idee des Schönen etwas zu sagen, und ich werde dabei den Weg verfolgen, zu zeigen, daß der Begriff der Wahrheit in seiner Unmittelbarkeit, den die ästhetischen Theorien neuerer Zeit ja dem des Schönen im allgemeinen entgegensetzen, 471 eben doch an das Spezifische des Kunstwerks - wenn man von dieser Wahrheit unmittelbar redet — nicht heranreicht.
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15. VORLESUNG 20. 1. 1 9 5 9
Es ist mir abermals aus Ihrem Kreis eine Kommunikation zugekommen, auf die ich aus zwei Gründen gerne eingehen möchte: Einmal, weil es Gelegenheit gibt, gewisse Dinge zu klären, die vielleicht in den letzten Vorlesungen zu unbestimmt geblieben sind, dann aber auch, weil die mir gestellten Fragen ganz unmittelbar überleiten oder hineinfallen in den Zusammenhang, in dessen Entwicklung wir gerade stehen. Es handelt sich diesmal allerdings um spezifische Fragen der bildenden Kunst, und ich möchte die Gelegenheit ergreifen, zu sagen, daß ich selbstverständlich nicht prätendieren kann, in Fragen der bildenden Kunst mit derselben Erfahrung, nämlich der gleichen technischen Erfahrung zu reden, mit der ich in musikalischen Dingen reden kann und mir schließlich einbilde, auch in literarischen Dingen mitreden zu dürfen. Ich bin mir dessen bewußt, daß die Probleme der verschiedenen Künste keineswegs so unmittelbar identisch sind, wie man es im allgemeinen behauptet. Ich glaube, ich habe Ihnen gelegentlich darüber [gesprochen], daß in dem Begriff der Künste — oder der Kunst insgesamt gegenüber den einzelnen Künsten — bereits ein Moment von Neutralisierung und Verdinglichung liegt. Ich bin mir also vollkommen darüber klar, daß Extrapolationen aus dem einen Bereich in den anderen problematisch sind. Andererseits aber ist auch nicht zu verkennen, daß in einer Situation, in der die Integration alles Geistigen so weit fortgeschritten ist wie in unserer und in der schließlich jede Kunst in einem solchen Maß zum Sprecher oder zum Ausdruck gewisser geschichtsphilosophischer Erfahrungen geworden ist, doch auch tendenziell wieder die Differenzen zwischen den Kunstgattungen herabgesetzt sind, mögen sie immer auch in einem radikalsten Sinn unüberwindlich sein. Und nachdem gerade zu dem Gegenstand, um den es sich hier handelt, mir von einer Seite, auf die ich sehr großen Wert lege, nämlich von Daniel-Henry Kahnweiler 472 231
in Paris, bestätigt worden ist, daß es zu den Problemen, die ich in der Arbeit über »Das Altern der neuen Musik« 473 in den »Dissonanzen« behandelt habe, außerordentlich genaue Analoga in der bildenden Kunst gibt, und nachdem ich auch selbst immerhin Gelegenheit gehabt habe, diese Dinge einigermaßen zu verfolgen, glaube ich mich keiner allzu großen Grenzüberschreitung schuldig zu machen, wenn ich versuche, zu diesen Fragen über bildende Kunst etwas zu sagen. Ich glaube, ich verfahre am besten so, daß ich eine Reihe von Punkten aus dieser Kommunikation herausgreife und nacheinander behandle, denn die Komplexe sind so ineinander verschlungen, daß man sie nur behandeln kann, wenn man dabei auch auf gewisse Voraussetzungen eingeht, die in der Gesamtanschauung dabei zugrundeliegen. Es heißt da: »Wenn der besondere Sinn eines Kunstwerks durch die spezifische Konfiguration von dessen Elementen bestimmt ist und wenn die Bedeutung von bildender Kunst überhaupt in der scheinbaren und paradoxen Individuation und inhaltlichen Vergegenwärtigung der durch die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Naturbeherrschung aufgehobenen Entfremdung besteht«, und so weiter. Ich möchte dazu zunächst einmal sagen - und ich bitte den Interpellanten, das etwas Schulmeisterliche darin vergeben zu wollen: Die Bestimmungen, auf die er hierbei rekurriert, waren nicht etwa als Definitionen gemeint. Ich habe nicht gesagt, daß Kunst nur inhaltliche Vergegenwärtigung der Entfremdung sei, sondern ich habe ein Moment hervorgehoben, das mir allerdings in der traditionellen Kunsttheorie verkümmert erscheint und das ich deshalb glaubte, besonders hervorheben zu sollen, um so mehr, als es für unsere eigene Kunst wohl entscheidend ist, eben diesen Charakter der Entfremdung selber auszudrücken und ihn durch seinen Ausdruck zu überwinden. Aber natürlich ist das nicht das Ganze. Ich hatte versucht, Ihnen darüber hinaus immer von einem anderen, sehr schwer faßbaren Moment, nämlich dem utopischen Moment in der Kunst zu reden. Ich habe immer wieder Ihnen gesagt, daß gerade dadurch, daß die Elemente 130
des Entfremdeten in einen Sinnzusammenhang gerückt werden, sie zwar als entfremdete durchsichtig und gestaltet sind, zugleich aber diesen Zustand auch in einer gewissen Weise transzendieren. Und ich glaube, es wäre nicht gut und es würde überhaupt den Ansatz dessen, was ich Ihnen zu sagen trachte, verfehlen, wenn Sie nun glaubten, die Kunst auf eine derartige Bestimmung festlegen zu sollen, und daran nun so eine Art von Maßstab in der Hand zu haben, den Sie aufjedes Kunstwerk beliebig draufklatschen können und an dem Sie die Qualität eines Kunstwerks beliebig ablesen können. Ich würde allerdings sagen, daß die Stellung der Kategorien zueinander, die den Gehalt eines Kunstwerks eigentlich ausmachen, auch wesentlich variiert; daß allerdings geschichtsphilosophisch vorgezeichnet ist, welche dieser Kategorien etwa im Vordergrund steht, aber daß man nun nicht etwa ein Kunstwerk an einer solchen abstrakten Forderung messen kann. Sonst würde man ja wirklich gewissermaßen zurückfallen etwa auf den Stand der Gottschedschen Ästhetik 474 des 18. Jahrhunderts, die der gute Lessing mit fürchterlicher Anstrengung entthront hat, 475 oder würde etwa zu solchen B e stimmungen kommen wie der berüchtigten Aristotelischen, daß die Tragödie »Furcht und Mitleid« zu erwecken habe,476 während gerade dieses von außen an das Kunstwerk mit derartigen Normen Herankommen eigentlich das ist, worüber ich Sie durch unsere Betrachtungsweise hinausführen möchte. Der Sinn dessen, was ich Ihnen sage, ist unter diesem Gesichtspunkt eigentlich der, daß ich versuche, zwar die Idee der Objektivität der künstlerischen Qualität festzuhalten, also die Betrachtung von Kunst dem Allerweltsrelativismus zu entreißen, der da immer noch sich darauf zurückzieht, daß Kunst Geschmacksache sei, daß ich aber gleichzeitig versuche, es nicht dadurch zu tun, daß ich irgendwelche fixen Maßstäbe von außen her an die Kunst heranbringe und appliziere, sondern versuche, gerade diese Objektivität aus der Sache selber, und zwar aus der bestimmten und einmaligen Sache heraus, zu entwickeln. Und wenn Sie aus den Anregungen, die ich 233
Ihnen hier gebe, etwas für Ihr eigenes Verhältnis zur Kunst und für Ihr Verständnis von Kunst lernen, dann würde ich hoffen, daß es genau eben darin besteht, daß Sie diese eigentümliche Bewegung des Gedankens mitvollziehen, aber nicht etwa einzelnen Bestimmungen, die ich Ihnen vortrage, nun die Autorität eines statischen Maßstabes zuerkennen, den es in dieser Form eben nicht gibt, den jedes Kunstwerk bloß in sich selbst und in seiner eigenen Bewegung hat. Im übrigen darf ich vielleicht auch noch ein kleines Mißverständnis korrigieren. Es ist immer gut, wenn solche Interventionen Anlaß geben, zu überprüfen, was von dem, was man bei etwas schwierigeren Überlegungen sagt, verstanden wird, um das unter Umständen zu erläutern. Ich hatte nicht etwa gesagt, daß durch die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Naturbeherrschung die Entfremdung aufgehoben wäre. Man müßte im Gegenteil wohl sagen, daß eben durch die Naturbeherrschung und überhaupt durch die damit zusammenhängenden Herrschaftsformen der Gesellschaft die Entfremdung der Menschen voneinander und die Entfremdung der Menschen von der Natur sich gerade verstärkt haben und daß die Kunst es auf allen ihren Stufen zur Aufgabe hat, gleichsam diesen Prozeß wieder zu revozieren. Aber zunächst möchte ich betonen, daß das andere Moment, nämlich die Herstellung eben eines Sinnzusammenhangs — in dem in den letzten Stunden, wie ich hoffe, sehr genau erläuterten Sinn — mindestens so sehr oder unabdingbar dasselbe als Intention der Kunstwerke ist wie jenes andere Moment, von dem wir gesprochen haben, nämlich eben die Beziehung zu dem Entfremdeten. Nun fährt der Interpellant fort: Wenn also diese Voraussetzung gelte, die er unterstellt hat und von der ich eben versucht habe, Ihnen zu zeigen, daß sie als eine solche Voraussetzung, wie er sie interpretiert hat, nicht unterstellt werden kann, - »würde dann nicht zu den Voraussetzungen der Möglichkeit dieser Individuation der verbindliche B e stand einer für die Erfahrung identischen sinnlichen Gegenständlichkeit gehören, die der Identität des Individuums ent130
spräche ?« Wenn man diese Formulierungen ebenso wie meine eigenen ein bißchen down to earth477 bringt, also ein wenig ihres sehr verschlüsselten terminologischen Charakters entkleidet, dessen ich mich ursprünglich schuldig gemacht habe und zu dem dann durch mich der Interpellant ganz gewiß sich hat verführen lassen, dann ist ja dabei sicherlich das Folgende gemeint: daß also jenes Moment des Ausdrucks der Entfremdung — oder das Moment des im Kunstwerk gesetzten Widerstands gegen die Entfremdung — eigentlich eins sei mit einem gesellschaftlichen Widerstand, den das Kunstwerk auszudrükken hat und zu dessen wesentlichen Bedingungen eben gehört, daß es die empirische Realität mehr oder minder ebenso unmittelbar in sich enthalte, wie das einzelne Individuum es tut. Es steht also dahinter eigentlich, wenn ich mir diese Interpretation gestatten darf, doch so etwas wie die Frage nach dem Engagement des Kunstwerks, die aus jener Theorie von dem Widerstand gegen die Entfremdung herausgelesen worden ist. Und ganz folgerecht wird dann eigentlich dabei angesetzt: Ja, wenn das Kunstwerk also in einer solchen polemischen Beziehung notwendig zu der empirischen Realität steht, müßte dann im Sinn dessen, was du uns hier vorgetragen hast, nicht diese empirische Realität selbst in dem Kunstwerk so vorkommen, wie sie im allgemeinen der nichtkünstlerischen Erfahrung des einzelnen Menschen offen ist? So glaube ich jedenfalls das verstehen zu dürfen, was gesagt worden ist. Nun glaube ich, daß das wirklich ein gewisser Irrtum ist, der dabei zugrundeliegt. Denn dieses Hereinnehmen der unmittelbaren sinnlichen Gegenständlichkeit, wie sie von uns im täglichen Leben erfahren wird, hat zwei Momente, die eigentlich beide nicht mit dem vereinbar sind, was wir in den Überlegungen, die wir bis jetzt angestellt haben, als wesentlich betrachtet haben. Sie würden nämlich, wenn sie wirklich den Anspruch erheben wollten, daß sie dem ästhetischen Subjekt kommensurabel sind, daß sie also wirklich fähig sind, die Erfahrungen zu tragen im Kunstwerk selbst, die das Kunstwerk ihnen zumutet, ja gerade nicht entfremdet sein; 235
während der Sachverhalt ja der ist, daß die empirische Realität selbst uns als eine entfremdete gegenübersteht. Ich möchte hier an die sehr hübsche Formulierung von Helmuth Plessner erinnern, der einmal gesagt hat, daß auf die Entfremdung der Welt die Verfremdung des Kunstwerks antworte. 478 Nur dadurch, daß die entfremdete Gestalt, in der die sogenannte natürliche Welt uns entgegentritt, von dem Kunstwerk selber aufgehoben und in eine andere versetzt wird, wird sie ebenso als eine entfremdete durch das Kunstwerk bestimmt, das dadurch uns gewissermaßen mit fremden Augen in die Welt zurückschauen lehrt, die uns bereits mit fremden Augen zwingt, sie anzusehen. Und nur dadurch zugleich, durch diese Ubersetzung, wird tendenziell dem vorgearbeitet, daß das Entfremdete doch noch von uns erfahren werden kann. Es ist aber nun so, daß aufgrund dieser Erfahrung der Entfremdung gerade die empirischen Elemente der Realität, die uns gegenüberstehen, heteronom sind gegenüber dem Formgesetz, und daß heute — gerade weil sie entfremdet sind, weil sie unsere Erfahrung in gewisser Weise gar nicht mehr erreichen — sie so, wie sie sind, in ihrer Unmittelbarkeit also, in das Formgesetz eigentlich gar nicht mehr eingehen, gar nicht mehr zu bewältigen sind. [Denn] das Formgesetz fordert, alle Fassaden, alle Oberflächenzusammenhänge, die in der Erfahrung scheinbar als geschlossene uns entgegentreten, aufzulösen und durch eine Konfiguration zu ersetzen, die beides ist: ebenso Kritik an dieser entfremdeten Oberflächengestalt wie auch der Versuch, eine nichtentfremdete Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, in der wir kritisch uns selbst wiederfinden, aus den Elementen eben jener Wirklichkeit aufzubauen. Wenn man den Prozeß der Geschichte der bildenden Kunst während der letzten Jahrhunderte insgesamt als einen Prozeß fortschreitender Subjektivierung mit Recht hat beschreiben können, dann bedeutet dieser Prozeß der Subjektivierung heute - der sich ja nicht einfach durch Reflexionen auf Kollektive oder auf Objektivitäten abstoppen, der sich nicht durch einen Akt der Willkür nun in eine Art neue Objektivi130
tät aufheben läßt - , dann bedeutet dieser Prozeß, daß nicht nur das Wie, in dem die Dinge und die Gegenstände in der Kunst angeschaut werden, sich verändert, subjektiv geprägt wird, sondern der entscheidende Bruch, der sich da vollzogen hat, ist, daß das Essentielle, die Sache selbst, in der Kunst eigentlich nur dann noch die Sache selbst ist, wenn sie vermittelt ist, wenn sie uns also nicht mehr als eine irgend zunächst für sich bestimmte gegenübersteht, sondern ihre Bestimmungen alle enthält durch das hindurch, was wir mit ihr tun. Jede Art, die dieser Vermittlung durch das Subjekt in der Kunst ausweicht und so tut, als ob das Kunstwerk gewissermaßen noch unmittelbar von der Realität etwas wüßte, - eine jede derartige Verhaltensweise der Kunst ist, mag sie immer politisch noch so fortschrittlich sich selbst dünken, in bezug auf den immanenten Entwicklungsprozeß der künstlerischen Produktivkräfte eigentlich reaktionär und ist deshalb nicht möglich. Die Kunst verhält sich nicht unmittelbar mehr zur Realität, sondern nur noch so, wie sie, die Kunst, gefüllt wird durch die subjektive Erfahrung, und so, wie ihre Elemente eben dann zu Formen und zu Formkonstellationen zusammenschießen. Und eben das ist es, das dazu führt, daß ein Bewußtsein, welches sich als das gesellschaftlich richtige verkennt, indem es glaubt, in die Kunstwerke unvermittelt gesellschaftliche Momente aus der Realität hereinziehen zu können, zugleich gerade das gesellschaftlich falsche Bewußtsein ist, indem es eben jenen dialektischen Prozeß unterschlägt, nicht geschehen macht, der in dem gesellschaftlichen Verhältnis der Entfremdung von Subjekt und Objekt selber steckt. Nun fährt der Interpellant, [bei] dessen Interpellation es sich im wesendichen um die Frage der sogenannten abstrakten Malerei< handelt, folgendermaßen fort. Ich möchte übrigens die Gelegenheit ergreifen, zu sagen, daß der Ausdruck >abstrakte Malerei< ein ganz besonders törichter Ausdruck ist, einfach deshalb, weil ein Kunstwerk, wenn es Kunstwerk ist, konkret ist: Das Bild, mit dem ich es zu tun habe, ist in einem höchsten Sinn konkret, und wenn es abstrakt ist, dann ist es 237
ein schlechtes Bild. Man darf die Frage der Konkretion eines Kunstwerks, die schließlich eine der ersten Forderungen ist, die an das Kunstwerk erhoben werden, nicht verwechseln mit der Frage, wieweit das Kunstwerk mit einer ihm gegenüberstehenden Gegenständlichkeit identisch ist oder wieweit es von dieser Gegenständlichkeit abstrahiert. Ich glaube, dieser Ausdruck hat unendlich viel zur Konfusion beigetragen, beinahe soviel wie das Wort >atonaldie Mutter von uns allem sei und daß aus Cezanne all dies eigentlich hervorgetreten sei.479 Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen hier im einzelnen den geschichtlichen Prozeß zu schildern, der vom Impressionismus über den Pointiiiismus einerseits und über Cezanne andererseits zum Kubismus und schließlich zur abstrakten Malerei geführt hat; das werden Kompetentere besser tun können als ich. Ich möchte mich nur darauf beschränken, zu sagen, daß dieser geschichtliche Prozeß nichts den Kunstwerken Äußerliches ist, sondern daß alles, was in diesen Kunstwerken geschieht, eigentlich Zeugnis, Spur, Denkmal dieses geschichtlichen Prozesses ist, und ich möchte mich beinahe zu der Spekulation versteigen, die nicht abwegig ist gegenüber dem, was ich Ihnen in anderen Zusammenhängen über diese Fragen zu sagen vorhabe: daß die Kraft, die Substantialität von moderner Kunst sehr wesentlich eigentlich daran haftet, wie weit sie in sich selbst diese geschichtliche Erfahrung durch ihre Formen verkörpert, wie weit also die Formen, die 130 240
sie benutzt, noch indem sie objektiviert werden, diesen geschichtlichen Zug ausdrücken; während die Phänomene von Spannungsverlust, die uns alle beschäftigen und die auch den Interpellanten beunruhigen, offenbar sehr stark zusammenhängen mit dem Augenblick, in dem die Materialien und Formen derartig verselbständigt werden, daß eben jene geschichtlichen Erfahrungen, für die sie eigendich zeugen, nicht mehr gefühlt werden können, sondern aus ihnen verschwinden. Aber ich glaube, Sie brauchen sich nur etwa einmal Bilder aus der sogenannten abstrakten Periode von Max Ernst anzusehen - ich nenne Ihnen einen Surrealisten, weil er mir in diesem Zusammenhang gerade einfällt und Sie werden sehen, in welchem eminenten Maß bei ihm etwa die sogenannten abstrakten Formen allesamt dirigiert sind aus dem Jugendstilornament, wobei ich Ihnen hier nur andeuten kann, daß überhaupt die Bedeutung des Formenschatzes des Jugendstils für die gesamte moderne Kunst unvergleichlich viel größer ist, als wir zugeben. Der Jugendstil gehört ja auch zu den Phänomenen, die so einer Art von Verdrängungsprozeß unterliegen. Man glaubt, mit diesem höchst merkwürdigen, traumatischen Phänomen [dadurch] fertig zu werden, daß man lächelt, während in Wirklichkeit das Lächeln gerade anzeigt, daß man nicht damit fertig geworden ist.480 Es gibt eigentlich — und ich ergreife die Gelegenheit, wenn Sie es mir erlauben, das so dogmatisch, so kraß zu formulieren, wie ich es nur kann — überhaupt in der Kunst keine sogenannten formalen Momente, die nicht ihrerseits sedimentierter Inhalt wären, die also nicht selbst einmal ihrerseits inhaltlich gewesen wären, so wie man nachgewiesen hat, daß an den Gebrauchsdingen, mit denen wir zu tun haben, ihre Ornamentierungen im allgemeinen Rudimente oder Residuen von Notwendigkeiten älterer Produktionsphasen sind, die übriggeblieben sind. Das Ornament ist sozusagen die Narbe, die an einer Vase da entstanden ist, wo man nicht anders als mit einer solchen Unterbrechung den Topf hat auf dem Töpfergerät herstellen können. Und so, nach diesem
Gleichnis, dürfte es sich überhaupt für alle sogenannten künstlerischen Formen verhalten, daß sie irgendwann einmal Inhalt gewesen sind und dann durch einen Prozeß der Sublimierung, der Vergeistigung, der ja überhaupt der Prozeß der künstlerischen Entwicklung schlechtweg ist, jene eigentümliche Selbständigkeit angenommen haben. Und ich würde nun sagen, es ist geradezu das Kriterium einer jeden nicht gegenständlichen oder einer jeglichen mit der Harmonie der Oberfläche brechenden Kunst, daß sie, indem sie diesen Prozeß vollzieht — diesen Prozeß der Sedimentierung des Inhalts, oder der Sublimierung des Inhalts zur Form —, trotzdem in der Form selbst noch etwas von der Gewalt jenes Inhalts spürt. Wenn wir Artisten von Formsinn, von Formgefühl sprechen, dann meinen wir eigentlich genau das damit, dann wollen wir damit eigentlich das ausdrücken, daß in dem Gebrauch von formalen Mitteln der Kunst noch von uns das registriert, realisiert, berücksichtigt wird, was an inhaltlichen Impulsen einmal darin gelebt hat. Und höhere Kritik, also die Kritik an Kunstwerken, die nicht nach abstrakten Regeln sich richten, sondern nur nach ihrer immanenten Notwendigkeit, läuft eigentlich immer hinaus auf die Frage nach der verborgenen inhaltlichen Rechtfertigung dessen, was scheinbar daran ein bloß Formales ist.481 Ich möchte damit sagen, der Interpellant hat ganz sicherlich eine Gefahr hier bezeichnet, die ich Ihnen ja auch nicht verschwiegen habe: nämlich die Gefahr des Spannungsverlustes, die überall dort eintritt, wo die Momente, die ich Ihnen eben zu bezeichnen versucht habe, nun wirklich vergessen sind, sich nicht mehr geltend machen, oder, wie man das nach populärer Redeweise wohl ausdrücken mag, wo die Kunst in Kunstgewerbe übergeht oder wo das statthat, was ich die »Gefahr des Gefahrlosen« 482 genannt habe, wo also in der Tat die Entfremdung von der gegenständlichen Welt übergeht in das Tapetenmuster. Aber ich glaube, wir sollten uns doch darüber klar sein, daß es sich bei all dem nicht um etwas handelt, was dem Abstraktionsvorgang als solchem nun einfach zugeschrieben werden kann und was gar beseitigt werden 130
könnte, wie es die Sedlmayrs 483 und die totalitären Kulturvögte 484 möchten, [indem] wir zur >Mitte< oder zum Gegenstand oder zu irgendwelchen ähnlichen Dingen zurückkehren. Denn es handelt sich hier in Wirklichkeit vielmehr um Momente innerhalb der sogenannten abstrakten Kunstwerke, die sich sehr wohl von der Kritik angeben lassen, vor allem also [um] einen gewissen Mangel an Kraft, die Relation der Elemente in einen wirklichen Sinnzusammenhang zu rücken, statt bloß mechanisch und äußerlich Konstruktionsprinzipien anzuwenden. Hier ist nun der Punkt allerdings erreicht, an dem ich meine technische Inkompetenz in Sachen der Malerei bekennen muß. Ich kann nichts anderes tun, als Ihnen hier sagen, daß ich dort, wo ich mich handwerklich am meisten zu Hause fühle, nämlich in der Musik, sehr genau diese Momente, wo die Konstruktion von außen draufgeklatscht ist, anstatt aus der Sache selbst entwickelt zu sein, bezeichnen kann, und daß genau die Gebilde, an denen sich das zeigt, dann allerdings auch jene sind, die dann als solche wirken, die keine Spannung haben. Dazu kommt dann weiter noch das Moment, daß diejenigen sogenannten abstrakten Gebilde, an denen wir Spannungsverlust bemerken, im allgemeinen diejenigen sind, die aus dem dialektischen Verhältnis zur Tradition gelöst sind. Ich kann das heute eigentlich nur andeuten. Die großen Produkte der neuen Kunst scheinen mir eigentlich fast immer die gewesen zu sein, die noch die Tradition wesentlich als eine Kraft in sich selbst gehabt haben und sie dann negiert haben gewissermaßen aus ihrer eigenen Kraft heraus. Die revolutionären großen Künsder der Epoche — eben wie Picasso, wie Braque, 485 wie Schönberg et cetera - sind alle in der Tradition gewesen und haben, indem sie ihre Kräfte an ihr gemessen haben, eigentlich so etwas wie eine Induktion der Spannung herbeigeführt. Der Spannungsverlust und die Probleme, von denen wir hier reden - und das hängt nun sehr eng mit dem Mangel an historischer Erfahrung in den Sachen selbst, in den Formen, zusammen - , treten überall dort ein, wo dieser Wi243
derstand eigendich nicht mehr ausgetragen ist, sondern wo man nun wirklich in »leerer, fröhlicher Fahrt«, wie es bei Kafka heißt,486 über das verfügen kann, was eigentlich seinen Sinn nur innerhalb eben der Spannung, innerhalb des Abstoßens von der Tradition hat. Wo es keine Tradition mehr als ein wie immer auch sublimiertes Moment gibt, gibt es eigentlich auch nicht die Kraft der wirklichen revolutionären Kunst. Aber ich kann das nur andeuten. Ich möchte nur en passant noch darauf hinweisen, ohne daß ich daraus hochtönende Konsequenzen ziehen möchte, daß es immerhin zu denken gibt — ich möchte sehr vorsichtig sein —, daß gerade die allerbedeutendsten unter den modernen Malern vor der vollkommenen Abstraktion, also vor der Durchstreichung einer jeden Beziehung auf die Gegenständlichkeit, gezögert haben, Klee sowohl wie Picasso; und es will mir allerdings scheinen, als ob in der Spätphase von Klee, wo das ja nachgelassen hat, vor allem aber auch in der Entwicklung von Kandinsky, diese Entwicklung nicht unbedingt zum Segen gewesen wäre. Dieses Zögern ist nicht, wie es manche etwa meiner Darmstädter Freunde mir gelegentlich vorhalten, ein Zögern aus Feigheit oder Schwäche oder Inkonsequenz gewesen, sondern es hat darin offenbar doch diese großen Künstler das Wissen davon bewegt, daß es gewissermaßen eines Widerstandes am Heteronomen bedarf, um überhaupt den Begriff der Autonomie erst sinnvoll zu machen. Das heißt, daß die Autonomie der Gestaltung in dem Augenblick, in dem sie sich verabsolutiert und gewissermaßen leerläuft, sich selbst aufhebt, [also] gar nicht mehr zu einer Freiheit wird, wenn diese Freiheit nicht an einem Etwas, von dem sie verschieden wäre, sich betätigen könnte. Es wird dann schließlich, sehr mit Recht, glaube ich, in der Interpellation hervorgehoben — und darin kommt nun wohl das heraus, was der Interpellant eigentlich meint: »Es scheint mir heute eine Bemühung der bildenden Kunst, den Anspruch spezifischer Gegenständlichkeit auf welche Weise auch immer zu vertreten, gleichbedeutend zu sein mit dem 130
Umschwung der dem Bereich der Kunst doch eigenen Intention auf Zukünftiges, utopisch Mögliches, in Erinnerung an historisch vergangene Erfahrungen.« Ich glaube, daß die Antinomie, die er in seiner Interpellation bezeichnet hat, sich eben doch auflösen läßt in dem Sinn, in dem ich es versucht habe Ihnen in dieser Stunde zu entwickeln, und daß dann eben doch diese utopische Intention, und damit die positive Stellung zu einer radikal avancierten Kunst, sich rechtfertigt. Und schließlich fragt er noch, ob ohne den Beistand des B e trachters die Wahrheit abstrakter Kunstwerke oder radikal konstruktivistischer Kunstwerke möglich sei. Diese Frage ist außerordentlich schwer zu beantworten, eben deshalb, weil sie ja nun wirklich von der technischen Zuständigkeit abhängt. In Wahrheit, möchte ich aber doch sagen, wird in einem gewissen Sinn der Beistand theoretischer Erkenntnis von aller Kunst überhaupt erheischt. Nur ist auch hier wieder der Unterschied, auf den ich Sie so oft hingewiesen habe, der, daß in der modernen Kunst etwas explizit wird, was in der traditionellen verborgen bleibt. Es gehört zu den Superstitionen der üblichen Kunstanschauung, die ja die Kunst zu einer reinen Anschauung und der Natur unmittelbar macht, daß das Kunstwerk voraussetzungslos rein aus sich selbst heraus wirkt. Diese Voraussetzung ist ganz sicher nicht zu halten. Es gibt wohl überhaupt gar kein Kunstwerk, das nicht spezifische Voraussetzungen in sich hätte, angefangen von den Voraussetzungen des sogenannten Kulturkreises, wenn man dieses Wort einmal passieren läßt, innerhalb dessen ein Kunstwerk steht — es ist zum Beispiel für uns wohl schon kaum mehr auch nur möglich, chinesische Musik in einem irgend adäquaten Sinn zu hören, zu verstehen oder zu realisieren —, dann aber auch in dem Sinn, daß wir, um ein Kunstwerk überhaupt zu verstehen, sein Idiom, seine Sprache sprechen müssen. Wenn wir das nicht tun, dann gleitet es einfach von uns ab. Und schließlich müssen wir, damit wir ein Kunstwerk verstehen können, auch bereits in einem gewissen Sinn wissen, wo es lokalisiert ist. Benjamin hat das einmal sehr provokativ in der 245
Form ausgesprochen, daß er gesagt hat, er könne eigentlich nur dann ein Bild beurteilen, wenn er wisse, von wem es sei;487 eine Formulierung, die natürlich der üblichen Vorstellung, daß die Qualität rein aus sich heraus wirke, ins Gesicht schlägt, die aber genau das bezeichnet, worum es hier geht, nämlich daß eine Unmenge von theoretischen Voraussetzungen der verschiedensten Art — ich meine nicht historischer, sondern wirklich theoretischer Voraussetzungen - in die Erfahrung eines jeglichen Kunstwerks notwendig eingehen, damit wir dieses Kunstwerk überhaupt verstehen können. Wenn wir nicht irgendwie, und sei's auch noch so abgeleitet, etwas von dem Begriff des Menschen, dem Begriff der Humanität, dem Begriff der Autonomie und der Freiheit und solchen Kategorien wissen, dann können wir zwar an Beethoven alle möglichen sensuellen Dinge registrieren, aber daß wir dann ein Stück von Beethoven verstehen können, ist vollkommen ausgeschlossen. Und genau so, wie von dieser nun doch in dem Pantheon als besonders anschaulich registrierten Kunst gesagt werden muß, daß sie implizite theoretische Voraussetzungen hat, so gilt das für jede Kunst überhaupt. Auch darin packt nur die moderne Kunst den Stier bei den Hörnern — oder bekennt sich zu einer sonst ideologisch verdeckten Situation —, daß sie eben doch nicht rein anschaulich ist, sondern daß sie als ein Geistiges auch geistige Voraussetzungen hat. Infolgedessen würde ich also sagen: Daß man zum Verständnis moderner Kunst mehr braucht als bloß seine A u gen und seine Ohren, braucht uns deshalb nicht zu schrecken, weil wir überhaupt Kunst nicht nur mit unseren Augen oder unseren Ohren verstehen können.
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16. VORLESUNG 22. 1. 1 9 5 9
[.. .]488 Faden wieder aufzunehmen, nachdem wir zwei längere Interpellationen gemacht hatten. Lassen Sie uns aber zugleich auch dabei versuchen — wenn ich das kühne Bild gebrauchen d a r f - , von diesen Interpellationen den R a h m abzuschöpfen, das heißt also, die Dinge, die wir dabei erarbeitet haben, auch unserer eigentlichen Hauptbetrachtung nutzbar zu machen. Der große Gang der Untersuchung war ja der, daß ich versucht hatte, Ihnen die Dialektik des Begriffs der Schönheit zu entwickeln, die in einer Ästhetik im Mittelpunkt zu stehen hat, und ich hatte dabei zunächst Ihnen die Schwierigkeiten gezeigt, auf die der Begriff der Schönheit, wenn er als ein positiver, als ein gewissermaßen dogmatischer Begriff eingeführt wird, notwendig führt. Ich hatte dabei, und das wird für unsere Methode nicht unwichtig sein, mich wesentlich auf die ästhetische Erfahrung bezogen, auf deren Begriff wir dann unter einem sehr veränderten Aspekt werden zurückkommen müssen. Wir waren dann dazu übergegangen, uns zu überlegen, was Ästhetik ohne einen Begriff von Schönheit heißt, und dann hatten wir in der letzten Stunde ziemlich eingehend den Einwand oder die Problemstellung der Beziehung auf das Objekt in der bildenden Kunst behandelt. Sie werden dann, so hoffe ich, sehen, daß diese Betrachtungen unmittelbar zu der Sache gehören, mit der wir uns jetzt abzugeben haben, nämlich mit der Frage, ob und in welcher Weise überhaupt ästhetische Betrachtungen sinnvoll durchgeführt werden können, in denen der Begriff der Schönheit nicht seinen Ort hat. Es könnte daraufja zunächst einmal geantwortet werden: Wenn ein Kunstwerk nicht schön ist, also wenn es nicht in irgendeiner Weise sich doch auch einem wie immer idealen Betrachter, Hörer, Leser gegenüber legitimiert, wozu ist dann das Ganze eigentlich da? Wenn es also kein Maß gibt, an dem ästhetische Erfahrung überhaupt gemessen werden kann, wozu soll dann das Ganze eigentlich 247
gut sein ? Hat dann Kunst überhaupt so etwas wie eine raison d'etre? Ich glaube, daß dieser Einwand nicht durchschlägt, weil er eben doch — wie ich in seiner Formulierung anzudeuten nicht umhin konnte, weil die Sache mich dazu nötigte so etwas voraussetzt wie einen Betrachter, der also doch in irgendeiner Weise etwas davon haben müßte, dem, wie man so schön sagt, das Kunstwerk etwas >gibtgeberichtig< zu sein. 502 Eine solche Aussage ist auf der einen Seite eine Selbstverständlichkeit und auf der anderen Seite ist sie falsch. Eine Selbstverständlichkeit ist sie insofern, als, wenn ein Kunstwerk nicht in sich selbst stimmig, also in sich selbst konsequent durchorganisiert ist, dann das Kunstwerk natürlich irgendwelche Objektivität nicht haben kann; wo ein Kunstwerk als ein in sich Brüchiges, Inkonsequentes, ästhetisch Illogisches sich qualifiziert, zählt es nicht. Auf der andern Seite aber ist die Richtigkeit eines Kunstwerks im Sinn einer Mathematikaufgabe, also daß etwa alle konstruktiven Momente auf einen Grundvorgang zurückzuführen sind, an sich noch gar keine Bürgschaft, daß es überhaupt ein
Kunstwerk sei. Es kann ein Kunstwerk im Sinn etwa eines ihm zugrundeliegenden mathematischen Kalküls, der ihm zugrundeliegenden Manipulation der darin verwandten Materie, vollkommen richtig, stimmig sein, und kann doch als ein Kunstwerk einen greulichen Galimathias503 darstellen oder kann überhaupt gar nichts darstellen und ein völliger Unsinn sein. Also auch damit ist es nicht getan. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch; ich möchte den B e griff der Wahrheit, den ich hier zunächst - als ein Vorästhetisches - einmal kritisiert habe, damit gar nicht erledigen, »fertigmachen^ wie man so schön sagt. Es gibt sicher immer wieder ästhetische Situationen, in denen vor allem als Polemik gegen irgendwelche erstarrten Konventionen dieser B e griff der Wahrheit notwendig ist. Nämlich einfach dort, wo ein Ausdrucksbedürfnis stärker ist als die ästhetischen Ubereinkünfte, die es hemmen, wird man sich immer wieder mit Recht darauf berufen dürfen, daß das Kunstwerk seinem inneren Gesetz und nicht diesen Konventionen zu folgen habe, und das wird unter der Form der Wahrheit erscheinen. Aber dieser polemische Sinn, der in dem Begriff der Wahrheit des Kunstwerks liegt, darf nicht so aufgefaßt werden, als ob Kunstwerke als eine unmittelbare Ubereinstimmung des Kunstwerks mit einem von ihm Gemeinten oder einem von ihm Abgebildeten nun unmittelbar wahr zu sein haben. Trotzdem wohnt dem Begriff der Wahrheit in der Kunst auch ein Sinn, und ein sehr guter Sinn, inne. Man kann ihn nur nicht isolieren. Man kann ihn nicht so auffassen, als wäre die ästhetische Wahrheit ein Gegenständliches, das gewissermaßen nicht unter das ästhetische Formgesetz selber fiele und an dem man nun die formale Konstitution des Kunstwerks eigentlich messen könnte. Diese Wahrheit — also das, wodurch ein Kunstwerk überhaupt sich manifestiert als wahr in dem einzigen Sinn, den ich einem Kunstwerk zu geben vermag, nämlich als die bewußtlose und gleichsam blinde Geschichtsschreibung, die eine jede Epoche in sich vollzieht —, diesen Begriff der Wahrheit kann das Kunstwerk nicht durch eine unmittelbare
Angleichung an irgend etwas Inneres oder Äußeres und auch nicht durch seine bloße Richtigkeit erreichen, sondern nur vermittelt durch sein Formgesetz hindurch, also dadurch, daß alle seine Momente in einer sinnvollen Beziehung zueinander stehen; und eine jede Wahrheit von der Kunst zu postulieren, die dahinter zurückbleibt, würde eben doch schließlich hinauslaufen auf eine falsche Annäherung der Kunst an die Wissenschaft. Es wäre für die Kunst besser, wenn sie verstummen würde und wenn auf Kunst überhaupt verzichtet würde in einer Situation, in der der Primat der Wissenschaft als überstark empfunden wird, als wenn die Kunst nun versuchte, durch eine Art von eifrigem hinter der Wissenschaft Herlaufen sich nun noch ein kümmerliches Daseinsrecht in der entzauberten Welt zu sichern. Ich glaube, wenn sie das versucht, wird sie nur mit desto größerer Gewißheit sich selbst auflösen und wird in bloße Stofflichkeit übergehen. Nun, und das scheint mir nun allerdings das Entscheidende zu sein: Dieser Begriff der Wahrheit, den man dem Kunstwerk zumessen kann und der besteht in dem, was ich in einer der letzten Stunden sowohl als den Prozeß des Kunstwerks wie als dessen Resultat versucht habe zu charakterisieren, dieser Begriff von Wahrheit des Kunstwerks käme aber mit dem Begriffseiner Schönheit überein. Diese Art von Wahrheit, die darin beruht, daß in allen seinen Momenten das Kunstwerk noch in seiner Widersprüchlichkeit als so notwendig sich ausweist, daß diese Notwendigkeit als ein Zwang von Wahrheit erfahren wird, ist zugleich auch eben der Zusammenhang, der unter dem Begriff des Schönen eigentlich gedacht werden kann. Wahr ist an der Kunst ihr Gehalt und nicht etwa ihre bloße Stofflichkeit und nicht irgendein partikulares Moment an ihm, und dieser Gehalt kristallisiert sich eben allein unter ihrem Formgesetz. Das heißt: Die Wahrheit des Kunstwerks, um es etwas differenzierter zu sagen, ist vielleicht nicht unmittelbar eins mit seiner Schönheit, vielleicht war das vorschnell geredet; aber jedenfalls ist die Wahrheit des Kunstwerks als an ihre Bedingung gebunden daran, daß es schön [ist], das heißt, daß es in sich eben
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einen solchen sinnvollen Zusammenhang bildet, wie ich versucht habe, es Ihnen zu erklären. Wir stehen also nun in einer einigermaßen paradoxen und schwierigen Situation: Auf der einen Seite hatte ich Ihnen gezeigt, daß alle endlichen, beschränkten, sogenannten positiven Maßstäbe der Schönheit dem Kunstwerk gegenüber versagen, daß sie das Kunstwerk hedonistisch verengen, zu einem bloßen Genußmittel herabsetzen, und daß eben durch dieses Insistieren auf die Schönheit etwas Kunstfremdes in die Kunst gerät, auf dessen Auflösung hingearbeitet wird. Auf der andern Seite hoffe ich, Ihnen mit einiger Stringenz gezeigt zu haben, daß ohne die Idee der Schönheit ein Kunstwerk überhaupt nicht gedacht werden kann, sei es, daß es sonst in der Tat einfach in das Chaotische zurückfällt, oder sei es, daß es in einer falschen, vorschnellen, primitiven Weise zur Wissenschaft tendiert. Die Folgerung, die wir daraus zu ziehen hätten, wäre wohl die, daß die Idee des Schönen festzuhalten ist, aber nicht als eine ontologische Kategorie, nicht als eine bestimmte Art von Sein, welches eigentümlich im Kunstwerk hervorträte und zu sich selber käme, sondern überhaupt nur als ein Dynamisches, als ein Werdendes und jeweils auch als ein in sich Bewegtes. 504 Ich darf Sie hier daran erinnern — und ich tue das in ausdrücklicher Polemik gegen einen Aufsatz wider die moderne Musik, den Herr Wellek in Mainz 505 jüngst zu publizieren für gut befunden hat —, ich darf Sie ausdrücklich darauf hinweisen, daß dieser Begriff der übergreifenden Totalität des Schönen gegenüber dem partikular Schönen nicht etwa mit dem gleichgesetzt werden darf, was man psychologisierenderweise und gleichzeitig mit einem Prestigewort mit >ganzheitlicher Betrachtung< zu bezeichnen pflegt. Es ist uns nicht vorgegeben, daß die Widersprüche im Kunstwerk in einer Ganzheit zur R u h e kommen. Ich hatte Ihnen ja in einer der letzten Stunden gesagt, daß die ästhetische Einheit oder das ästhetische Phänomen nicht mit der sogenannten >guten< oder der geschlossenen Gestalt gleichgesetzt werden kann, sondern daß es durchaus möglich ist,
daß es darüber hinaustreibt, weil eben alle diese Begriffe gegenüber dem Wesen des Kunstwerks noch zu einfach und vor allem noch viel zu statisch sind. Ich will damit nichts anderes sagen, als daß das Kunstwerk, wie es mir jedenfalls unserer Erfahrung heute allein noch offen zu sein scheint, stets ein in sich Widerspruchsvolles sei.506 Nun kann ich nicht umhin, in diesem Zusammenhang mit Ihnen über eine Konzeption zu reden, die von einem sehr bedeutenden Künstler unserer Epoche stammt, nämlich von Arnold Schönberg in einem seiner späten Werke, die hinausläuft auf etwas, was nun doch aussieht wie ein positiver Begriff von Schönheit für die moderne Kunst. Diesen Schönheitsbegriff möchte ich mit einem Ausdruck, den Schönberg nicht verwandt hat, der aber, wie mir scheint, den Sinn seiner Theorie fair wiedergibt, als die Idee der >Homöostase< bezeichnen. 507 Gedacht ist dabei an folgendes — und gestatten Sie, daß ich dabei mich nun auf Musikalisches beziehe, einfach deshalb, weil ich mich da doch sicherer bewege als im Bereich der bildenden Kunst: Schönberg meint - und das ist zunächst einmal durchaus im Sinn einer dialektischen Theorie —, ein Kunstwerk, also hier eine Komposition, geht gewissermaßen mit ihrem ersten Takt, mit ihren ersten Noten, eine Art von Verpflichtung ein. 508 Diese Noten stellen eine Art von Spannungsverhältnis dar. Damit, daß überhaupt irgend etwas am Anfang eines Kunstwerks - und nehmen Sie hier einmal ruhig das musikalische Kunstwerk — gesetzt wird, übernehme ich die Verpflichtung, sowohl dem nachzugehen, was hier gesetzt wird, wie auch die in dieser Setzung zugleich enthaltenen Widersprüche oder Spannungen dann weiter zu verfolgen. 509 Die Idee, die Schönberg formuliert hat — und das ist die letzte große Theorie eigentlich der traditionellen Ästhetik, die mir überhaupt bekannt geworden ist und die wirklich zugleich ganz aus dem Material heraus geschöpft ist —, die Theorie von Schönberg ist nun die: Indem das Kunstwerk mit dem ersten Takt eine Art Verpflichtung eingeht, entfaltet es sich - sehr tief bürgerlich gedacht - in einem ununterbro-
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chenen Verhältnis von give and take, von Geben und Nehmen. Eine Verpflichtung wird abgegolten, es schließt eine andere daran sich an; das Kunstwerk ist gewissermaßen ein unendliches Tauschverhältnis. Und im letzten Augenblick gewissermaßen stellt sich dann erst her, daß, wenn man so sagen darf, die Rechnung aufgeht, daß alles ausgeglichen ist. Das Schöne bestünde dann dieser Theorie zufolge darin, daß auf der einen Seite diese Spannungen eben als Moment der künstlerischen Wahrheit, wenn ich diesen Begriff wieder einführen darf, bezeichnet, gestaltet werden, daß aber zugleich das Kunstwerk dadurch über den unaufgelösten Zustand hinausgeht, daß es eine Art Versöhnung dieser Spannungen herstellt — aber nun nicht eine bloß äußerliche Versöhnung, dies ist das Neue daran, nicht so, wie es in den üblichen Theorien dargestellt wird, daß am Ende des Kunstwerks die versöhnende Idee hervortritt, sondern daß der immanente Prozeß des Kunstwerks selbst so dessen eigene Spannungen auflöst, das dann die Totalität als ein Versöhntes, als ein Gerechtes, als ein Befriedetes gewissermaßen erscheinen läßt. Es ist sehr interessant — ich kann es mir nicht versagen, Sie darauf aufmerksam zu machen —, daß gerade Schönberg, der vielen von Ihnen ja doch als der vielleicht zunächst einmal bekannt ist, der in der Musik die Allherrschaft der Dissonanz begründet und die herkömmlichen Konsonanzen aus der Musik verjagt hat, daß der in der Theorie auf eine höchst merkwürdige Weise den Begriff der Harmonie oder der Konsonanz doch rettet. Nur daß nun nicht mehr irgendein einzelnes Moment harmonisch, versöhnt, in sich befriedet ist, sondern alles Einzelne in dem Kunstwerk ist eigentlich Spannung; aber durch die Konfigurationen, in die diese einzelnen Momente zueinander treten, soll dann doch eben das Resultat des Ganzen harmonisch, Ausgleich, Spannungslosigkeit, eben Homöostase sein, 510 ganz ähnlich — und deshalb habe ich den Ausdruck >Homöostase< dafür gewählt - wie in der triebdynamischen Theorie der modernen Tiefenpsychologie eben behauptet wird, daß ein bestimmter Zustand des Ausgleichs der libidi-
Ich möchte hier nur ein Problem Ihnen andeuten, ohne daß ich mir zutrauen darf, dieses Problem zu lösen. Nämlich, es ist mit dieser Theorie sehr merkwürdig: Ein Kunstwerk, das nicht etwas von diesem Moment der Homöostase, also der Herstellung eines Gleichgewichts aufgrund des in ihm selbst angestrengten Prozesses herbeiführt, ist in der Tat stets auf dem Sprung, sinnlos zu werden. Und wenn Schönberg dann etwa von gewissen auf ihn folgenden Kompositionen gefragt hat: Ja, ist denn das überhaupt Musik? - so hat er dabei genau dieses Moment gemeint, daß in einem Kunstwerk, dem es nicht gelingt, diesen Zustand der Homöostase herbeizuführen, der Begriff des Sinnzusammenhangs, den ich eben entwickelt habe, eigentlich selber problematisch wird, weil nur eigentlich an dem Herstellen dieser Homöostase, an dieser Balance der Kräfte, so etwas wie ein Sinnvolles sich überhaupt konstruieren läßt. Auf der anderen Seite ist es dann doch wieder so, daß durch diese Forderung der Homöostase schließlich selbst in der dissonanten, selbst in der kritischen radikalen modernen Kunst dann wieder ein, wenn Sie so wollen, harmonistisches, affirmatives Moment in die Kunst hereingebracht wird. Ob dieses Moment nun unabdingbar zu dem Utopischen, zu dem Moment der Versöhnung gehört, das mit jeder Kunst gemeint ist, oder ob darin in der Tat eine Anpas-
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nösen, der Instinktkräfte, eine Art Gleichgewicht, etwas sei, was der Organismus anstrebe und wodurch er sich erfülle. 511 Es ist nicht uninteressant, daß von einer ganz anderen Seite her, die der radikalen neuen Musik denkbar fern steht, nämlich von dem Musikhistoriker Georgiades, in seiner sehr interessanten Analyse des letzten Satzes der Jupitersymphonie von Mozart, 512 ein ganz ähnlicher Gedanke — und sicherlich ohne Kenntnis der Schönbergschen Theorie - durchgeführt worden ist, worin nämlich Georgiades zeigt, daß eigentlich dieser letzte Satz, der ja bekanntlich in sich ein außerordentlich kompliziertes fugales Gebilde enthält, vom ersten Takt an eine Art von Spannung oder Forderung in sich enthält, die dann erst mit dem letzten Takt wirklich ganz aufgelöst wird.
sung an herrschende Vorstellungen steckt, und ob nicht an dieser Stelle Schönberg wirklich ähnlich traditionalistisch war, wie etwa Einstein, wie man mir sagt, schließlich doch noch der klassischen Physik angehört, das ist eine Frage, die ich hier nicht zu entscheiden wage, die ich aber als - ich möchte doch sagen — die eigendich zentrale und allerschwierigste Frage der modernen Kunst an dieser Stelle anmelden möchte. 513 Die Kontroverse in der Malerei, die zwischen einem konsequenten Konstruktivismus und dem Surrealismus waltet, scheint mir im übrigen genau auf diese Frage hinauszulaufen; denn alle surrealistische Kunst scheint mir nun wesentlich die Kunst zu sein, die sogar noch den Begriff der H o möostase kündigt.
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17. V O R L E S U N G 2 7 . 1. 1 9 5 9
Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß wir bei dem Versuch, die Dialektik im Begriff des Schönen als eines zugleich Problematischen und doch Unentbehrlichen zu entwickeln, rekurriert sind auf den Begriff der ästhetischen Erfahrung. Nun habe ich bei der Behandlung der ästhetischen Erfahrung stillschweigend etwas vorausgesetzt — als Kriterium bei der Analyse dieser ästhetischen Erfahrung —, was man, wenn man darüber reflektiert, wohl zu bezeichnen hätte als die Angemessenheit dieser Erfahrung an den ästhetischen Gegenstand. Darin liegt nun etwas, was zunächst, wenn Sie das so hören, Ihnen wahrscheinlich ganz plausibel klingt, was aber dennoch in einem recht pointierten Gegensatz steht zu dem, was die offizielle ästhetische Tradition — den einen Hegel etwa und einige phänomenologische Ästhetiker ausgenommen — seit nun bald zweihundert Jahren für selbstverständlich hält, nämlich daß der Begriff des Schönen subjektiv zu begründen sei und daß ästhetische Erfahrung, wenn ich so sagen darf, die Rechtsquelle bilde für den Begriff des Schönen und nicht, wie ich es in jener Betrachtung zunächst dogmatisch getan habe, das Umgekehrte. 514 Ich habe mich also damit in einen deutlichen Gegensatz zu der anerkannten Ästhetik gesetzt und habe damit das eingeführt, was nun in einem gewissen Sinn in der Hegeischen Ästhetik das Zentralstück bildet, nämlich ihre durchaus objektive, am Wesen des Kunstwerks und seiner eigenen Gesetzlichkeit, seiner eigenen Problematik orientierte Betrachtung — im Gegensatz zu einer Betrachtung, die alle diese Dinge aus dem Subjekt glaubt herausspinnen zu dürfen. Daß dabei schließlich diese objektive Richtung der Ästhetik bei Hegel doch in einem höchsten Sinn subjektiv bleibt, daß also bei Hegel doch dabei schließlich das Kantische Transzendentalsubjekt in einer letzten Instanz der Träger auch der Kategorie des Schönen bleibt, das kann bei dem, worüber wir hier zu reden haben, außer B e 263
tracht bleiben. Denn wir haben es ja hier bereits, möchte ich sagen, mit der konstituierten Sphäre des Ästhetischen, der Kunst, zu tun und nicht mit den allgemeinsten Fragen der Konstitution überhaupt. Und im Rahmen eines solchen Konstituierten ist die Hegeische Betrachtung, der ich an dieser Stelle zentral mich verpflichtet weiß, durchaus objektiv gerichtet. Ich bin also verpflichtet - wenn wir nun im Ernst über die bloß rhapsodistische, also im Grunde in ihren letzten Bezügen undurchsichtige Behandlung ästhetischer Gegenstände zu so etwas wie theoretischer Verbindlichkeit kommen wollen - , Ihnen auseinanderzusetzen, was mich zu dieser Haltung bewegt, und zugleich etwas zu sagen über die gesamte Kontroverse zwischen subjektiver und objektiver Ästhetik. Der ästhetische Subjektivismus in einem allerweitesten Sinn empfiehlt sich der traditionellen Philosophie dadurch, daß er so etwas zu geben verspricht wie einen einheitlichen Begründungszusammenhang, so wie es in der Kantischen »Kritik der Urteilskraft« zum ersten Mal durchgeführt ist. Das heißt: Es wird dabei das Schöne abgeleitet aus gewissen Bedingungen, die als Bedingungen eines Bewußtseins überhaupt, eines Subjekts überhaupt, schlechterdings verbindlich sein sollen und die das Kunstwerk dem Ephemeren entheben sollen, die also unter anderem auch so etwas wie apriorische Maßstäbe — wenn nicht für das Urteilen selbst, so doch jedenfalls regulative Prinzipien — geben sollen, nach denen über Kunstwerke überhaupt sich urteilen läßt. Eine solche Begründung der Ästhetik in Subjektivität in einem allerweitesten Sinn beansprucht also, von der vermeintlichen Zufälligkeit des Objekts weithin unabhängig zu sein und auf etwas Festes und Verbindliches, nämlich Unveränderliches, auf die sich selbst gleichende Struktur eines solchen Bewußtseins überhaupt zurückgreifen zu können. Und es ist ja das überhaupt der traditionelle Begriff der Theorie, der da glaubt, wenn man irgendwelche festen, unveränderlichen, regelhaften Prinzipien angeben kann, aus denen dann das andere folge, daß man dann eigentlich nur das Desiderat einer verbindlichen Theo-
rie erfüllt habe, während alles, was anders ist, eben diesem B e griff der Theorie nicht entspreche. — Man kann in einer Vorlesung unmöglich alles behandeln, was notwendig wäre, um sie bis in ihre letzten Spalten hinein zu durchleuchten; auch wenn dabei gewisse Dinge nicht ausgesprochen werden können, die eigentlich ausgesprochen werden müßten. Ich muß Sie also, soweit es sich um die Begründung des Gegensatzes zu dieser traditionellen Vorstellung einer Theorie, auch einer ästhetischen Theorie, handelt, aus der dann in einem geschlossenen Deduktionszusammenhang alle einzelnen B e stimmungen herausgeholt werden könnten, verweisen auf die grundsätzlichen Dinge und die allerdings in einem sehr entschiedenen Sinn zu der gesamten Tradition im Gegensatz befindlichen Dinge, die ich über diese Fragen gesagt habe, vor allem also auf die Einleitung der »Metakritik der Erkenntnistheorie« 515 und auf die Arbeit über den »Essay als Form«, 516 die die Problematik jener Einleitung im spezifisch ästhetischen Sinn weiterführt. Ich möchte dazu nur das eine zunächst noch sagen, daß - wie es ja im Begriff der Urteilskraft selber als des Verbindenden zwischen den allgemeinsten kategorialen Formen und der Erscheinung bei Kant bereits gelegen ist — selbst der Kantischen Theorie zufolge von einer solchen deduktiven Theorie insofern kaum die R e d e sein kann, als eigentlich das der Kunst zugeordnete Subjekt, auf das man im Sinn der traditionellen Theorie sich zu verlassen pflegt, eben keineswegs das transzendentale Subjekt ist, sondern das volle, konkrete, mit all seinen Bestimmungen versehene Subjekt, und daß das reine Kantische »Ich denke« 517 von vornherein dem Kunstwerk gegenüber ganz inadäquat wäre, so daß also notwendig eine solche Begründung gewissermaßen den Grund selber, auf den sie sich verläßt, eigendich gar nicht hat. Das möchte ich Ihnen dabei nur eben andeuten. Sonst aber möchte ich hier nun einen anderen Weg gehen als den einer solchen umfassenden philosophischen, theoretischen Kritik, auf den ich hier verzichten muß, und möchte stattdessen versuchen, umgekehrt Ihnen zu zeigen, daß gegenüber dem
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Kunstwerk selbst die Begründung in Subjektivität unzulänglich ist. Ich möchte also nicht von einer Kritik des Subjektivitätsbegriffs dabei ausgehen, von dessen gesamter Problematik, sondern ich möchte Ihnen einfach zeigen, daß und in welchem Sinn der Versuch eines solchen Rekurses auf Subjektivität dem Kunstwerk gegenüber aufgrund von dessen eigentümlicher Bestimmung zum Scheitern verurteilt ist. Das Moment, mit dem wir uns dabei zunächst abzugeben haben, ist die Frage der Zufälligkeit der Reaktion des Subjekts auf das Kunstwerk überhaupt; denn im allgemeinen verfahren ja die subjektivistischen Ästhetiken so, daß sie aus den Reaktionen des Betrachters, also aus den Gefühlen, die angeblich ein Kunstwerk in dem Betrachter hervorruft, etwas über das Wesen des Kunstwerks selbst ausmachen wollen, mit dem bequemen Argument, daß wir von dem Kunstwerk an sich, unabhängig von diesen subjektiven Reaktionen, ja gar nichts wüßten, sondern, um überhaupt an [das Kunstwerk] heranzukommen, genau denselben Schritt der subjektiven R e f l e xion tun müßten, wie er bei der szientifischen Erkenntnis eben auch gefordert ist. Man kann sagen, daß diese gesamte Betrachtungsweise, die versucht, den Sinn des Schönen und der Kunst aus der subjektiven Reaktion herauszuspinnen, unter einer obersten Kategorie steht, auf die sich denn auch die ganze Kontroverse darüber eben konzentriert. Das ist die Kategorie, die auch bei Kant eine entsprechende Rolle spielt: die Kategorie des Geschmacks und des Geschmacksurteils. Auf den Betrachter als eine letzte Instanz über Wesen und Qualität des Kunstwerks zu rekurrieren, heißt immer so viel, wie den Geschmack zum Richter über das Wesen des Kunstwerks machen. Ich möchte darum heute Ihnen einiges über den Begriff des Geschmacks sagen, und zwar möchte ich dabei, wie es nun einmal in dieser Vorlesung meine Art ist, versuchen, gleichzeitig diese Kritik oder diese Dialektik des Geschmacks als ein Vehikel zu benutzen, um Sie in der bei Ihnen allen wahrscheinlich potentiell vorhandenen subjektivistischen Ansicht von der Kunst zu er254 266
schüttern, andererseits aber auch, um Ihnen dabei etwas über eine so wesentliche ästhetische Kategorie, wie es die des Geschmacks nun einmal ist, sachlich zu sagen. Ich möchte mich nun dabei auf einen Text von Hegel beziehen und dabei zum ersten Mal ein Geringes von der Dankesschuld abtragen, die ich Hegel gegenüber fühle, aber nicht einfach, um Ihnen nun diese Hegel-Stelle zu verlesen und einige Betrachtungen daran anzuknüpfen, sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß ich Sie — mir dessen wohl bewußt, wie sehr ich hier nur Anregungen und einzelne Momente bezeichnen kann und wie wenig es in einer solchen Vorlesung möglich ist, das Ganze, wäre es auch in fragmentarischer Weise, zu durchdringen —, daß ich Sie dazu anregen möchte, doch das Buch zu lesen, das vor allem in seinen prinzipiellen Teilen mir das wichtigste und bedeutendste scheint, was die Tradition der ästhetischen Schriftstellerei überhaupt hervorgebracht hat, nämlich eben die Hegeische »Ästhetik«, die Ihnen unendlich viele Dinge entfalten wird, die ich hier vorausgesetzt habe oder jedenfalls nicht wirklich habe entfalten können, und bei der Sie andererseits auch an einer Reihe von Dingen sich stoßen und produktives Ärgernis nehmen können, gerade auch an solchen Dingen, die zu Theoremen, wie ich sie Ihnen gesagt habe, im Widerspruch stehen. Die betreffende Stelle, um die es sich hier handelt und die eine Kritik des Geschmacks darstellt, findet sich in der Einleitung zur Hegeischen Ästhetik, wobei er eine Reihe von — man würde wohl heute sagen: rokokohaften — Schriften über die Bildung des Geschmacks, wie Homes »Elements of Criticism«, die Schriften von Batteux und die »Einleitung in die Schönen Wissenschaften« von Ramler nennt 518 : »Geschmack in diesem Sinne betrifft die Anordnung und Behandlung, das Schickliche und Ausgebildete dessen, was zur äußeren Erscheinung eines Kunstwerks gehört. Ferner wurden zu den Grundsätzen des Geschmacks noch Ansichten hinzugezogen, wie sie der vormaligen Psychologie angehörten, und den empirischen Beobachtungen der Seelenfähigkeiten und Tätigkeiten, der Leidenschaften
und ihrer wahrscheinlichen Steigerung, Folge usf. abgemerkt worden waren.« Ich schiebe ein, daß die berühmte Bestimmung des Dramas aus der »Poetik« von Aristoteles, von der Sie alle als Germanisten ja durch Lessing gehört haben, nämlich: daß es der Zweck des Trauerspiels sei, Furcht und Mitleid zu erregen, 519 das erste Dokument einer solchen subjektiv gerichteten Ästhetik gewesen ist. Und Sie werden sich vielleicht in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß die Emanzipation auch gerade der deutschen Dichtung von einer bestimmten Art des unmündigen Formalismus ja genau mit der Kritik an eben jener aristotelischen Poetik zusammengegangen ist. Hegel fährt fort: »Nun bleibt es aber ewig der Fall, daß jeder Mensch Kunstwerke oder Charaktere, Handlungen und Begebenheiten, nach dem Maße seiner Einsichten und seines Gemüts auffaßt, und da jene Geschmacksbildung nur auf das Äußere und Dürftige ging und außerdem ihre Vorschriften gleichfalls nur aus einem engen Kreise von Kunstwerken und aus beschränkter Bildung des Verstandes und Gemütes hernahm, so war ihre Sphäre ungenügend und unfähig, das Innere und Wahre zu ergreifen, und den Blick für das Auffassen desselben zu schärfen.« Ich merke nur en passant, ehe ich auf die Stelle eingehe, hier schon an, daß Hegel, wie er es oft zu tun pflegt, den Spieß umdreht; daß er also nicht etwa sagt: Ich weiß von dem Kunstwerk nur vermittelt durch die Empfindungen, die es in mir auslöst, nicht unmittelbar; das Kunstwerk an sich ist ein Unbekanntes, und deshalb muß ich mich an das Subjekt halten. Sondern er sagt demgegenüber hier: Gerade das dem Kunstwerk gegenüber Zufällige ist die subjektive Reaktion darauf, und davon werden wir dann weiter hören. An die Betrachtung schließt er an: »Im Allgemeinen verfahren solche Theorien in der Art der übrigen nicht-philosophischen Wissenschaften. Der Inhalt, den sie der Betrachtung unterwerfen, wird aus unserer Vorstellung als ein Vorhandenes aufgenommen; jetzt wird weiter nach der Beschaffenheit dieser Vorstellung gefragt, indem sich das Bedürfnis näherer Bestimmungen hervortut, welche
gleichfalls in unserer Vorstellung angetroffen und aus ihr heraus in Definitionen festgestellt werden.« 520 Und nun können Sie sehen, wie nah das, was ich Ihnen bis jetzt entfaltet habe, dem Geist dieser Hegeischen Ästhetik ist. »Damit befinden wir uns aber sogleich auf einem unsicheren, dem Streit unterworfenen Boden. Denn zunächst könnte es zwar scheinen, als sei das Schöne eine ganz einfache Vorstellung. Doch ergibt es sich bald, daß in ihr sich mehrfache Seiten auffinden lassen, und so hebt denn der eine diese, der andere eine andere heraus, oder wenn auch die gleichen Gesichtspunkte berücksichtigt sind, entsteht ein Kampf um die Frage, welche Seite nun als die wesentliche zu betrachten sei.«521 Lassen Sie mich dieser Hegel-Stelle einiges hinzufügen. Zunächst ist also von dem die Rede, was ich bereits versucht habe, Ihnen zu bezeichnen, nämlich davon, daß das, wovon die subjektivistische Ästhetik als dem sichersten ausgeht, wobei sie festen B o den unter den Füßen zu haben glaubt, nämlich die subjektive Reaktion auf die Kunstwerke, ein Zufälliges sei. Wir werden dann später, wenn wir die Behandlung des Begriffs des Geschmacks ein bißchen weiter getrieben haben, uns noch des näheren darüber zu unterhalten haben, worin diese Zufälligkeit zu suchen ist. Ich füge ein, daß es gar keine so ganz zufällige Zufälligkeit ist, sondern daß in der Diskrepanz zwischen dem Betrachter oder dem Auffassenden des Kunstwerks und dem Wesen des Kunstwerks selber wieder bestimmte Mechanismen, bestimmte Notwendigkeiten sich durchsetzen, die fast notwendig das Bewußtsein des unreflektiert ans Kunstwerk Herangelangenden eben verzerren. Für wichtiger aber als das halte ich den Satz, in dem Hegel sagt, daß die Geschmacksbildung nur auf das Äußere und Dürftige geht. Ich glaube, hier sind Sie wirklich bei einem sehr zentralen Tatbestand der Ästhetik angelangt. Das Kunstwerk kehrt ja dem Betrachter zunächst seine Außenseite zu, und die Reaktionen des Geschmacks, mit denen wir es zunächst zu tun haben, sind eben jene, die sich auf diese Außenseite wesentlich beziehen; während im Augenblick, wo Sie also nun das Kunst-
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werk als ein in sich Lebendiges erfahren, wo Sie bemerken, daß diese Außenseite nur ein Moment ist, das sie durchdringen müssen, um überhaupt an das Kunstwerk heranzukommen, die Sicherheit dieses sogenannten Geschmacks problematisch wird. Der Mensch — wenn ich diesen Hegeischen Gedanken ein bißchen geschichtsphilosophisch variieren und mehr auf unsere eigene Situation beziehen darf—, der Mensch, für den heute in der Welt, in der wir existieren, in ästhetischen Dingen der Begriff des Geschmacks im Vordergrund steht, ist das, was ich in einem depravierenden Sinn mit >feinsinnig< bezeichnen möchte, in einem Sinn, wie Sie ihn etwa durch einen bestimmten Typus des Büchersammlers demonstriert finden mögen. Es sind das im allgemeinen solche Menschen, die die Bildung — das, was man so Bildung nennt — eigentlich erfahren unter Besitzkategorien, für die Bildung soviel ist wie ein Anhörten von Gütern, für die gleichsam der bürgerliche Begriff des Besitzes noch in die geistigen Dinge hinein sich fortsetzt, und die denn auch das Bereich des Schönen so durchmustern wie etwa eine bürgerliche Wohnung vom Salon bis zur Küche nach allem möglichen, was sich darin aufgestapelt findet und was man dann irgendwie so sich zu Gemüte führen kann. Wenn Sie etwa die Kunstpsychologie oder Ästhetik, ich weiß jetzt gar nicht einmal mehr, wie es heißt, des österreichischen Ästhetikers Othmar Sterzinger 522 — ich weiß nicht, ob es ihn heute noch gibt — sich ansehen, dann werden Sie diesen Begriff des Feinsinnigen unfreiwillig in seiner unbeschreiblichen Lächerlichkeit sofort exponiert finden. Wenn wir heute den Begriff des >Ästheten< in einem abschätzigen Sinn gebrauchen, so müssen wir uns ja davor hüten, daß man dabei nicht diese Geringschätzung in einem blockflötenhaften Sinn vornimmt und glaubt, in der Verfeinerung des ästhetischen Sensoriums bereits einen moralischen Einwand gegen jenen erblicken zu können, über den das Schicksal eine solche Verfeinerung verhängt hat. Gegen diese Sphäre also der Kraftvolkskunst, die man dem sogenannten Ästhetentum entgegenhält, ist selbst der Kitsch des guten alten Oscar 254
Wilde 523 immer noch gut genug. Aber trotzdem ist es so, daß in einem sehr viel ernsthafteren Sinn gegen den Begriff des Ästheten etwas zu sagen ist, nämlich in dem Sinn, daß er derjenige ist, der wirklich das Kunstwerk reduziert auf die M o mente an ihm, die sensuelle Reize sind, also die Momente, die an seiner Außenfläche die unmittelbar erscheinenden sind; während diese sensuellen Reize zwar immer bei bedeutenden Kunstwerken ihr Recht und ihre Legitimation haben aus der Sache heraus — keine Dissonanz, keine Farbe, die reizvoll ist, ist reizvoll, wenn sie nicht aus der Sache heraus eine solche Rechtfertigung empfängt —, aber mit der eigentlichen künstlerischen Erfahrung wenig zu tun haben. Ich glaube, ich darf Ihnen verraten, daß unter den wirklichen Künstlern, mit denen ich in meinem Leben etwas zu tun gehabt habe, eigentlich kaum j e - muß ich schon sagen - sogenannte Ästheten gewesen sind. Die Haltung des sogenannten Ästheten, wenn man ihr nachgeht, ist eigentlich die: Es ist der Mensch, der an das Kunstwerk herangeht unter dem Gesichtspunkt, daß er von nichts daran verletzt werden will. Und ich würde sagen, daß der Gedanke von der Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit des Geschmacks, wie ich ihn Ihnen aus Hegel vorgelesen habe, eigentlich zum Zentrum das hat, daß das Kunstwerk eben dadurch, daß es jene zugleich kritische und utopische Intention hat, von der ich Ihnen gesprochen habe, schlechterdings und stets ein Verletzendes ist, und daß es dort, wo es nicht mehr verletzt, sondern wo es ganz und gar in die geschlossene Oberfläche der Erfahrung sich einfügt, eigentlich aufgehört hat, überhaupt ein lebendiges Kunstwerk zu sein. Wie denn jener Typus des Ästheten, also des Menschen, der von der Kategorie des Geschmacks beherrscht wird, im allgemeinen überhaupt der Typus eines ängstlichen, auf übermäßigen Reizschutz bedachten Menschen ist, der sich zunächst einmal in die Sphäre der Kunst begibt, nicht um in ihr das Leben ein zweites Mal zu haben, weil ihm das armselige Leben draußen nicht genug ist, sondern um vor dem Leben sich zu verschließen, und der dann womöglich auch dieses 271
zweite Leben kastriert, indem er alles Verletzende, alles - um den Hegeischen Satz zu zitieren — nicht »Schickliche«, alles Anstößige, alles Skandalon daraus entfernt. Die ganze Gattung von Kunst, die dieser Kategorie des Geschmacks untersteht, läßt sich in heutigen Begriffen wohl als >Kunstgewerbe< bezeichnen. Der Begriff des Kunstgewerbes reicht längst hinaus über die im engeren Sinn kunstgewerblichen Produktionen und umfaßt unter sich auch zahllose Gebilde, die rein ihrer Gattung nach nicht irgendwelche gewerblichen Funktionen im Leben erfüllen, sondern die so tun, als ob sie ästhetische Gebilde für sich selber wären, die aber ihrer inneren Zusammensetzung nach gleichwohl den Gesetzen des Kunstgewerbes gehorchen. Sie können die Nichtigkeit des Geschmacks in dieser Sphäre am genauesten erkennen, wenn ich Sie hier auf gewisse, für die Sphäre des Geschmacks eigentlich charakteristische Kontroversen aufmerksam mache, wie etwa die, ob eine Krawatte geschmackvoll sei, oder die, ob der Anstrich eines getönten Zimmers geschmackvoll sei. Ich will gar nicht leugnen, daß es da gewisse Grenzwerte gibt, und daß es wirklich grauenhafte Krawatten und auch sehr hübsche Krawatten gibt. Aber es ist zugleich doch wohl so, daß erstens diese Fragen gegenüber der Erfahrung des Schönen höchst sekundärer Art sind, [und zweitens] wird es ungezählte Krawatten geben, bei denen es völlig gleichgültig ist, ob man sie geschmackvoll nennt oder nicht; und was nun die berühmten Tönungen womöglich mit der Hand gestrichener Zimmer anlangt, so gerät da wirklich das Geschmacksurteil offensichtlich in die absolute kunstgewerbliche Zufälligkeit hinein, weil eben die erscheinenden Momente hier jede Beziehung auf das Leben der Sache verloren haben. Man kann unter diesem Aspekt wohl fast sagen, daß die bedeutenden Kunstwerke immer die sind, die die Kategorie des Geschmacks transzendieren, die also nach Maßstäben des Geschmacks eigentlich gar nicht recht sich beurteilen lassen, die zwar, darauf werden wir noch kommen, keineswegs ignorant oder gleichgültig dem Geschmack gegenüberstehen, die aber immer in sich etwas 254 272
haben, wodurch diese Geschmacksmomente überflogen werden. Dann spricht Hegel von der abstrakten Einseitigkeit der Geschmacksbildung. Und die Stelle, um die es sich hier handelt, ist die, auf die ich Sie besonders hinweisen möchte, denn Sie finden bereits hier die entscheidende Differenz der Hegelschen Position und — wenn ich das, ohne unbescheiden zu sein, sagen darf - auch der Gedanken, die ich Ihnen zu entwickeln versuche, von dem ästhetischen Subjektivismus. Das Schöne ist im Sinne der Betrachtungen, um die es sich hier handelt, genau das nicht, was die subjektive Ästhetik lockt, nämlich keine - nach Hegels Worten - »einfache Vorstellung«.524 Sondern sie ist komplex. Hier darf ich vielleicht wieder in unsere Vorratskammer zurückgreifen; diesen Gedanken, den Sie hier bei Hegel finden, hatte ich in ganz anderen Zusammenhängen ja Ihnen bis ins einzelne entwickelt, als ich versucht habe, Ihnen zu zeigen, daß das Kunstwerk eben wesentlich ein Kraftfeld sei. 525 Wenn das aber so ist, wenn also jedes Kunstwerk in sich selbst ein Prozeß ist, dann liegt darin doch das, was ich auch versucht habe, hervorzuheben: daß die Idee des Kunstwerks nicht - mit Hegels ironischem Ausdruck - sich auf einen >Spruch< reduzieren, daß also der B e griff des Schönen, wie Hegel es hier mit Recht unter Ironie setzt, sich nicht definieren läßt; sondern daß die Bestimmung des Schönen eben selbst in nichts anderem bestehen kann als in der Entfaltung dieser Momente, und zwar, möchte ich hier hinzufügen, eigentlich dieser Momente nur so, wie sie im immanenten Leben der Kunstwerke und dem Leben ihres Verhältnisses zueinander eigentlich sich konstituieren. Ästhetik hat also diesen Prozeß zu begreifen, diesen Prozeß aus dem Kunstwerk heraus zu entwickeln, nicht aber das Schöne auf einen einfachen Begriff zu bringen. Und damit ist die Absicht der Ästhetik, also das, was die Ästhetik überhaupt leisten soll — gegenüber dem Motiv, das der subjektiven Ästhetik zugrundeliegt, nämlich das Schöne auf möglichst einfache, spruchhafte, abschlußhafte Setzungen zu bringen - verlassen, und es ist [an deren Stelle] eine dieser Intention genau entge-
gengesetzte Intention getreten, und das ist eigentlich die Intention, die ich Ihnen im Verlauf dieser Betrachtung ein bißchen näher bringen und zu der ich Sie gerne, wenn ich so sagen darf, bekehren möchte. 526 Nun werden Sie aber an dieser Stelle, und zwar mit Recht, alle doch eine Frage auf dem Herzen haben; nämlich Sie werden sagen: >Ja, um Gottes willen, willst du denn aus der Kunst den Geschmack abschaffen? Da fährst du nach Paris und schreibst sogar Aufsätze über Pariser Malerei, 527 über die doch ein anständiger Mensch sozusagen den Mund nicht aufmachen darf, wenn er von Geschmack nichts versteht, und dann willst du uns hier den Geschmack abgewöhnen und willst das sozusagen, wodurch man sich als ein kultivierter Mensch in Dingen der Kunst überhaupt qualifiziert, uns aus der Hand nehmen. Das ist ja wieder mal ein richtiges Räuberstückchen !< — Ich glaube, indem ich Ihnen das so darstelle, bin ich bereits vor dem Verdacht gesichert, daß ich das meine. Und ich habe nicht umsonst meine Worte vorsichtig genug gewählt, um Ihnen zu sagen, daß die bedeutenden Kunstwerke den Geschmack transzendieren, aber - möchte ich hinzufügen — nicht etwa, daß sie ihn ignorieren. Das, was vom Kunstwerk zu verlangen ist, ist, daß es über dem Geschmack sei, und nicht etwa, daß es unter dem Geschmack ist, oder gar, daß es dagegen ist. Ich sagte Ihnen schon, Geschmack, goüt, ist gerade in dem ganzen französischen Kunstbereich überhaupt eine konstitutive Kategorie, über die nun einfach sich hinwegzusetzen nicht anstünde. Aber da möchte ich nun doch sagen: Wenn man versucht, einem solchen Begriff wie dem des Geschmacks Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dann muß man ihn sich sehr genau ansehen. Es fehlt zum Beispiel bis heute ganz sicher an einer genauen Vorstellung, an einer genauen theoretischen Durchdringung jener höchst eigentümlichen Qualität, die man an französischer Malerei oder auch an französischer Musik, die zählt, als Geschmack empfindet und die [zu tun hat] mit jenem Gefühl des Angenehmen und Schicklichen oder, wie es in der Hegel-Stelle 274
heißt, des »Schicklichefn] und Ausgebildete[n] dessen, was zur äußeren Erscheinung eines Kunstwerks gehört«. 528 Man müßte hier wirklich überhaupt erst einmal eine konkrete Phänomenologie dieses goüt haben, und dann würde man sehen, daß er mit gewissen allgemeinen subjektiven Grundsätzen, wie man der Kunst gegenüber anschauend sich zu verhalten oder wie man Kunstwerke schicklich zu gestalten habe, doch eigentlich nur recht wenig zu tun hat. 529 Ich möchte Ihnen wenigstens, so wie ich Ihnen negativ einiges zur Phänomenologie des Geschmacks gesagt habe, doch auch positiv ein paar Sätze darüber sagen. Zunächst nämlich scheint es mir so zu sein, daß dieser Begriff des Geschmacks, dessen man bedarf, ohne daß man ihn fetischisieren, ohne daß man ihn stillstellen darf, wenn er etwas Substantielles meint, eigentlich der Inbegriff der akkumulierten Erfahrung ist, die in der Kunst überhaupt sich aufgespeichert hat; also gewissermaßen das Potential der Tradition, die auch als negierte, auch wo sie gar nicht unmittelbar in Erscheinung tritt, hinter j e dem Kunstwerk eigentlich steht und die jedem Kunstwerk —ja, man könnte beinahe sagen — seine >ManierenKultur< sich ausgebildet hat - und ich glaube, man darf wohl sagen, daß eigentlich der Kulturbegriff überhaupt zu seinem Modell die Kunst hat —, dann wird man sagen müssen, daß Geschmack alle jene Momente an den Kunstwerken sind, durch die sie sich als Kultur gewissermaßen legitimieren, durch die sie zeigen, daß sie in der Geschichte ihre Manieren gelernt haben, oder daß sie durch den Geschmack zeigen, daß sie das Idiom sprechen, die Sprache sprechen, die die Geschichte ihnen 254 274
vermittelt hat. Man könnte beinahe sagen, daß in diesem Sinn der Akkumulation des Geschichdichen der Begriff des Geschmacks mit dem Begriff des Stils außerordentlich verwandt sei - wie man denn in der Tat von einem in diesem Sinn geschmackvollen Kunstwerk immer sagen wird, daß es zugleich ein stilvolles Kunstwerk sei —, wobei der Begriff des Geschmacks der historischen Erfahrung durchaus in seiner sedimentierten, in seiner selbstverständlichen Gestalt gemeint wird. Die abstrakte Bildung demgegenüber, die auf Tradition eigens rekurriert oder die glaubt, aus vergangenen Epochen sich modellhaft etwas Derartiges herholen zu können, die ist es gerade, die stets und notwendig durch Abwesenheit von Geschmack glänzt, während man von Geschmack gerade nur dort reden kann, wo substantiell unbefragt dieses traditionale Moment im Kunstwerk enthalten ist und — möchte ich hinzufügen — wo es gerade um dieser Selbstverständlichkeit willen dann auch wieder nicht unbedingt respektiert, sondern in sehr vielen Momenten angegriffen und abgeändert wird. Darüber hinaus aber ist über diesen Begriff des Geschmacks noch etwas anderes zu sagen. Man kann schon von einem Kunstwerk mit Grund sagen, ob es geschmackvoll sei oder nicht, und zwar in dem Sinn, ob es den jeweils geschichtlich erreichten Standard der Mittel — also die je fortgeschrittenste Sprache, die innerhalb des betreffenden künstlerischen M e diums gesprochen werden kann — in sich aufgespeichert hat oder ob es den nicht in sich aufgespeichert hat. In diesem Sinn ist Picasso ein geschmackvoller Maler und Hans Thoma 5 3 0 ein geschmackloser. Gerade das Ephemere, das dem Geschmack innewohnt, also gerade dieses eigentlich nicht Verpflichtende, nicht an ein Objektives Gebundene, von dem ich Ihnen geredet habe, gerade jene Negativität des Geschmacks, sein Mangel, qualifiziert ihn — und das ist die Tugend seines Lasters — dann wieder in besonderem Maß dazu, daß er diese Innervationen hat für den jeweils erreichten fortgeschrittensten Standard, den die Technik und die künstlerische Sprache einer Zeit überhaupt hat. Z u m Geschmack gehört notwendig 254 276
dazu, daß man so gute Manieren hat als Künstler, daß man sich dagegen sträubt, das zu tun, was demode, was außer Kurs ist. Wir werden ja in Deutschland im allgemeinen gelehrt, den Begriff der Mode dem Begriff der Kunst einfach entgegenzusetzen. Ich glaube, daß das eine zu primitive und eine zu undialektische Ansicht ist. Ich glaube schon, daß in modischen Innervationen, also in dem, was modern und nicht modern ist, eben unter der Kategorie des Geschmacks genau das sich durchsetzt, daß man als ein Künstler jeweils nur dann überhaupt etwas Substantielles sagen kann, wenn man über die fortgeschrittensten Mittel der eigenen Periode verfügt; während man, wenn man glaubt, etwas Substantielleres, Echteres, Wurzelhafteres mit älteren und zurückgebliebenen Mitteln sagen zu können, regelmäßig der vollkommenen Ohnmacht und der untriftigen Romantik verfällt. Die absolute, individuelle Ursprünglichkeit des Kunstwerks ist bloßer Schein und ist ein Rückstand, während das Ursprüngliche im Kunstwerk allemal allein das als Neues aus einem schon Gewesenen Entspringende ist, und darüber wacht der Geschmack; genau das eben wird vom Geschmack registriert. 531
In der letzten Stunde hatte ich, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, eine Analyse derjenigen subjektiven Kategorie versucht, an die im allgemeinen die Ästhetik, soweit sie subjektiv gerichtet ist, sich anzuschließen pflegt, und ich hatte dabei versucht, sowohl die herrschende Vorstellung des B e griffs vom Geschmack zu kritisieren, wie auf der anderen Seite die Wahrheitsmomente, die diesem Begriff innewohnen, herauszuholen. Meine Absicht heute geht nun darüber erheblich hinaus. Das, was ich Ihnen über Geschmack gesagt habe, war wirklich mehr präludierenderweise zu verstehen und im Sinn einer Phänomenologie dieser Kategorie, als daß ich mir anmaßen würde, damit etwas wirklich Radikales und Entscheidendes über dieses Problem beigetragen zu haben, das ja wahrscheinlich doch im Bewußtsein sehr vieler von Ihnen maßgebend ist für ihre eigene Stellung zu dem Problem einer Ästhetik überhaupt. Ich möchte also nun versuchen, den Stier, wenn ich so sagen darf, bei den Hörnern zu packen und Ihnen etwas Grundsätzliches zu sagen, warum mir der ästhetische Subjektivismus in einem allerweitesten Sinn unzulänglich erscheint. Ich glaube, ich muß mich nicht eigens vor dem Mißverständnis schützen, daß Sie denken könnten, ich begriffe unter ästhetischem Subjektivismus das sogenannte subjektive Kunstwerk, also ein Kunstwerk, das gegenüber — sagen wir — klassizistischen Richtungen sehr stark subjektiv gerichtet ist, also als ob ich hier eine Philippika gegen Jens Peter Jacobsen 532 oder Peter Altenberg 533 reiten möchte. Das liegt mir gänzlich fern. Im Gegenteil: Ich glaube, daß, wenn Sie dem Tenor dieser Vorlesung gefolgt sind, Sie gemerkt haben werden, daß gerade die Vorstellung einer unvermittelten, nicht durchs Subjekt hindurchgegangenen Objektivität der Kunst mir ganz fern liegt. Das, worum es sich hier handelt, ist also, damit kein Mißverständnis aufkommen kann, der Versuch, Ästhetik und Maßstäbe der Kunst in den Reaktionswei-
sen des Subjekts zu begründen. 534 Dabei wird nun herkömmlicherweise im allgemeinen - im Sinne einer Analyse der ästhetischen Erfahrung, die etwa dem Fortgang der Erfahrung der Erkenntnis, der nichtästhetischen Erkenntnis gleichgesetzt wird — ausgegangen von der Analyse des Empfangenden, dessen, der Kunst wahrnimmt, also [von] dem, was man so mit dem >Erlebnis der Kunst< bezeichnet. Meine These ist nun, daß dieser Empfangende - sei es als Individueller, sei es auch als ein Abstrahierter - keine prinzipielle Begründungstheorie abgeben kann. Ich erinnere Sie an meine Absicht, die Kritik des ästhetischen Subjektivismus ja dadurch zu leisten, daß ich Ihnen zeigen wollte, aufweiche Unstimmigkeiten [sein] eigener Begriff notwendig führt. 535 Daß ein Rekurs auf ein wie immer geartetes allgemeines ästhetisches Subjekt dabei nicht möglich ist, hatte ich Ihnen bereits angedeutet darin, daß das Subjekt, das einzig fähig ist, ästhetische Erfahrungen zu machen, ja eben nicht ein logisches Subjekt ist, sondern das volle, das also den Inbegriff seiner ganzen konkreten inhaltlichen Erfahrung umfassende Subjekt. Mit dem individuellen Subjekt aber ist es nicht anders bestellt. Sie haben bereits in der letzten Stunde den Einwand von Hegel dabei gehört, daß dessen Reaktionen auf das Kunstwerk zufällig seien, aber es ist auch bei diesem Satz wie mit allen derartigen Sätzen: Er bleibt sehr leicht so ein bißchen im Abstrakten stehen. Und ich glaube, man muß, damit ein solcher Satz wirklich etwas wie das Gewicht einer Einsicht gewinnt, schon da einmal näher zuschauen. Wenn Sie in der Analyse der künstlerischen Erfahrung vollkommen abstrahieren von der Analyse des Kunstwerks selbst, dann reduziert sich das Kunstwerk auf das, was man in der Sprache der Psychologie mit einem >Stimulus< zu bezeichnen pflegt. Das Kunstwerk ist dann also eine Art von Reiz, der auf die Sinnesorgane und darüber hinaus auf die Psyche des Empfangenden ausgeübt wird. Und die Ästhetik hätte dann tatsächlich auszugehen lediglich von den Reaktionen, die dabei sich vorfinden, ohne daß sie über das Wesen dieses Stimulus selber etwas präjudizieren dürfte, 536
254
279
I8. VORLESUNG 29. 1.
1959
denn die Absicht ist ja gerade die Begründung in Subjektivität anstatt einer Begründung in Objektivität. Nun ist es aber so und das scheint mir hier wirklich das zunächst einmal plausible und maßgebende Argument dieser Kontroverse zu sein daß eine direkte Relation zwischen dem ästhetischen Gegenstand, also der zu erfahrenden Sache, und den Reaktionsweisen, die an diese Sache sich anschließen, nicht herrscht. 537 Ich will dabei gar nicht ausschließen, daß beide etwas miteinander zu tun haben; sie haben sicher etwas miteinander zu tun. Und es wäre eine Aufgabe, die man sowohl in der Psychologie wie auch in der Ästhetik und in der Soziologie einmal zu erforschen hätte, wie dieses Verhältnis von Stimulus und R e aktion in der Kunst eigentlich aussieht — allerdings nun wieder eine Frage, die ohne die Analyse des sogenannten Stimulus gar nicht durchzuführen wäre. Ich möchte Sie nur en passant daraufhinweisen, daß die in dieser Betrachtung stillschweigend vollzogene Verwandlung eines Kunstwerks in einen Stimulus offenbar selber ja bereits etwas Sinnloses hat, eben deshalb, weil das Kunstwerk ja nicht vergleichbar ist irgendeinem aufflammenden Licht in einem psychologischen Laboratorium, auf das dann diese oder jene Reaktionen erfolgen, sondern weil es seinem eigenen Anspruch, dem Sinn nach, mit dem es erfahren wird, eigentlich bereits etwas anderes als einen solchen Stimulus bedeutet; daß es eigentlich überhaupt, wie ich versucht habe, Ihnen zu entwickeln, anders denn als ein Sinnzusammenhang überhaupt gar nicht begriffen werden kann und daß diesem Moment seiner Sinnhaftigkeit gegenüber die Reduktion auf einen solchen Stimulus - also auf ein bloßes Mittel zum Zweck, auf einen abstrakten Anstoß für subjektive Erlebnisse — bereits die Sache selbst, die ja hier erklärt werden soll, so sehr reduziert, daß dann aus diesen Reaktionen die Sache selbst gar nicht rekonstruiert werden kann, weil der sogenannte Stimulus, soweit er R e a k tionen auslöst, bereits etwas ganz anderes als das Kunstwerk selber ist. Wenn ich stimuliert werde in irgendeiner bestimmten Weise, durch eine Farbe, die ich sehe, oder durch einen 254
Klang, den ich höre, dann ist ein solches Stimuliertwerden von einem solchen Moment natürlich nur ein ganz armseliges Residuum dessen, was ein Kunstwerk als Totalität eigentlich darstellt. Das wäre grundsätzlich schon einmal zu der Stimulustheorie zu sagen. Aber ich will mich dabei jetzt gar nicht aufhalten, um nicht gewissermaßen durch eine zu radikal, zu früh ansetzende B e trachtung uns nun doch wieder um jene Konkretion der Analyse zu bringen, die ich Ihnen versprochen habe. U m sich darüber klar zu werden, wie wenig der Schluß von der Reaktion auf den Stimulus — und darum würde es sich ja bei der subjektiven Begründung der Ästhetik handeln - schlüssig ist, möchte ich Sie, und besonders die Psychologen unter Ihnen, erinnern an den Satz von den spezifischen Sinnesenergien, der da besagt, daß alle sogenannten Reize, die wir überhaupt empfangen, verarbeitet werden nach dem Maß der Sinnesorgane, denen sie zuteil werden. 538 Also zum Beispiel: Wenn man einem Menschen einen ordentlichen Faustschlag auf sein geschlossenes Auge versetzt, dann pflegen sich Lichtempfmdungen einzustellen; eine Tatsache, die ja in zahlreichen Sprichwörtern im übrigen auch belegt ist. Wir sind uns darüber klar, daß Kunstwerke keine bloßen sinnlichen Gebilde, sondern etwas Geistiges sind, und daß deshalb der Satz von den spezifischen Sinnesenergien - also von der kategorialen Differenz zwischen Reaktion und Stimulus, die dadurch gesetzt ist - sich nicht einfach wörtlich, ungebrochen auf das Kunstwerk übertragen läßt. Ich habe sie auch nur als eine Analogie angeführt, um Ihnen damit zu erläutern, daß es hier auch etwas Geistiges gibt, das dem, was ich Ihnen hier übermitteln möchte, doch wohl recht genau entspricht. Nämlich die subjektive Determiniertheit der ästhetischen Erfahrung, die wir machen, die kann vollkommen quer zu der erfahrenen Sache stehen und kann sogar diese Sache vollkommen und radikal verändern. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben: Es gibt zahlreiche Menschen, die einen bestimmten Sinn haben - ich glaube, die Tiefenpsychologie hat sich damit gar 281
nicht so abgegeben, wie es sich gebühren würde - für das Grandiose, für das Pompöse. Das sind im allgemeinen Menschen - wenn ich einmal eine Sekunde psychologisch reden soll - , bei denen wahrscheinlich sehr starke Machtvorstellungen und Machtbedürfnisse vorliegen, die irgendwie verdrängt worden sind, die bei ihnen nicht richtig zutage kommen, die dann aber in einem Bereich, in dem man glaubt, das einigermaßen ungestört tun zu können, nämlich in dem künstlerischen Bereich, sich schadlos halten und sich an Größenphantasien berauschen in einem Sinn, wie er etwa dann in der Psychiatrie nicht sublimiert, sondern ins Pathische verzerrt unter dem Begriff des Größenwahns uns gegenwärtig ist. In einer harmloseren Gestalt könnte man hier wohl von einem >Nero-Komplexreinen Gefühlreinen AnschauungIch will es so, und nicht anders soll es seinAesthetik< w u r d e zuerst v o n Alexander G o t t lieb Baumgarten ( 1 7 1 4 - 1 7 6 2 ) geprägt in seiner Hallenser Magisterdissertation »Meditationes philosophicae de nonnullis ad p o e m a pertinentibus« ( 1 7 3 5 ) und systematisch entfaltet in seinem unvollendet gebliebenen Hauptwerk »Aesthetica« (2 Teile, Frankfurt an der O d e r
57. W i l h e l m Dilthey ( 1 8 3 3 - 1 9 1 1 ) , Professor für Philosophie zu-
1 7 5 0 / 1 7 5 8 ) . Populär wurde der B e g r i f f >Asthetik< insbesondere
nächst in Basel (1867), K i e l (1868) und Breslau ( 1 8 7 1 ) , schließlich in
durch die »Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften« (3 Teile,
Berlin (1883-1908); B e g r ü n d e r der Erkenntnistheorie der Geistes-
Halle 1 7 4 8 - 1 7 5 0 ) von Baumgartens Schüler G e o r g Friedrich M e i e r
wissenschaften und einer der Hauptvertreter der historischen S c h u -
( 1 7 1 9 - 1 7 7 7 ) ; vgl. auch J o h a n n Gotthelf Lindner, Kurzer Inbegriff
le< der hermeneutischen Wissenschaften. N e b e n dem i m folgenden
der Aesthetik, R e d e k u n s t und Dichtkunst, 2 Bde., Königsberg/
genannten B u c h »Das Erlebnis und die Dichtung« (1906) dürfte
Leipzig 1 7 7 1 - 1 7 7 2 .
A d o r n o auch die 193 3 unter dem Titel »Von deutscher Dichtung und Musik« (hrsg. von H e r m a n n N o h l und G e o r g Misch) erschienene Auswahl aus Diltheys »Studien zur Geschichte des deutschen Geistes« vor A u g e n gehabt haben, die 1958 in zweiter Auflage erneut publiziert wurde.
65. In Kants »Kritik der reinen Vernunft« [s. A n m . 9]. 66. Von »Es gilt auch fur den B e g r i f f der Ä s t h e t i k . . . « b i s » . . . Verbaldefinition« von A d o r n o angestrichen.
58. D i e Stelle, an die A d o r n o hier denkt, findet sich in Diltheys Interpretation des »Empedokles«; sie lautet: »Die Gestalten schreiten und sprechen in feierlicher Erhabenheit, w i e von den G e w ä n d e r n archaistischer griechischer Statuen umflossen.« (Wilhelm Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung [1906], Göttingen
I5
I 9 7 0 , S. 300).
67. Von »die absolute Gültigkeit ...« bis »... handelt« von A d o r n o doppelt angestrichen. Diese Kritik findet sich in der Ästhetischen
Theorie, GS 7, S. 145 f. 68. Von »Wenn ich mich weiter halte ...« bis »... verschoben hat« von A d o r n o doppelt angestrichen. A m K o p f der Typoskriptseite
59. Von »nämlich die Erfahrung . . . « bis » . . . dieses Kunstwerks« von
handschrifdiche Annotation: Naturschönes. D i e Ästhetische
A d o r n o angestrichen. A m K o p f der Typoskriptseite findet sich die
beschäftigt sich ausfuhrlich mit dem Naturschönen, vgl. GS 7, S. 97
handschriftliche und unterstrichene Annotation Adornos: Zum Pro-
bis 1 2 1 .
blem des Verstehens — sehr wichtig.
Theorie
69. Vgl. etwa Kritik der Urteilskraft [s. A n m . 3], B 1 6 6 ; 1 7 1 ; 180. 60. Von »aus dem Bannkreis . . . « bis »... verschließen« von A d o r n o angestrichen.
70. V g l . ebd., B 76. - Von »daß sie gewonnen sind . . . « bis » . . . erhaben sein kann« von A d o r n o angestrichen.
6 1 . Von »dann liegt die . . . « b i s » . . . was sagt das?« v o n A d o r n o angestrichen.
7 1 . In der Einleitung zu seinen »Vorlesungen über die Ästhetik« ar-
62. Von »dieser Zustand der Erfahrung . . . « bis » . . . problematisch
nen KunstPhilosophie der schö-
Bestimmung erscheinen, w i e denn j e d e Wissenschaft sich ihren U m 63. Von »bedürfen a l l e r d i n g s . . . « b i s » . . . enden müssen« von A d o r n o angestrichen.
fang beliebig abzumarken die Befugnis habe. In diesem Sinn aber dürfen w i r die Beschränkung der Ästhetik auf das Schöne der Kunst nicht nehmen. Im gewöhnlichen Leben zwar ist man gewohnt, von
394
405
schöner Farbe, einem schönen H i m m e l , schönem Strome, ohnehin von
79. D i e Opposition zwischen >formal< und >inhaldich< orientierten
schönen B l u m e n , schönen Tieren und noch mehr von schönen M e n -
Ansätzen in der (nun als >Philosophie des Schönen< verstandenen)
schen zu sprechen, doch läßt sich, obschon w i r uns hier nicht in den
Ästhetik, die A d o r n o hier auf die Abgrenzung Hegels von der älteren
Streit einlassen wollen, inwiefern solchen Gegenständen mit R e c h t
Baumgartenschen Ästhetik rückprojiziert, kam erst i m späteren
die Qualität Schönheit beigelegt und so überhaupt das Naturschöne
19. Jahrhundert auf und polarisierte die Kunst- und Literaturdiskus-
neben das Kunstschöne gestellt werden dürfe, hiergegen zunächst
sionen i m 20. Jahrhundert ( N e w Criticism; Formalismusstreit [s.
schon behaupten, daß das Kunstschöne höher stehe als die Natur.
A n m . 54]). In diesem Zusammenhang muß auch die v o n A d o r n o
D e n n die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiederge-
hier etwas irreführend mit dem N a m e n Baumgartens in Verbindung
borene Schönheit, und u m soviel der Geist und seine Produktionen
gebrachte Denkmöglichkeit einer »aesthetica formalis« gesehen w e r -
höher steht als die N a t u r und ihre Erscheinungen, u m soviel auch ist
den. R i c h t i g ist, daß A . G . Baumgarten mit seiner Ästhetik die ratio-
das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur.« (Werke, a. a. O.
nalistische Philosophie der Leibniz-Wolffschen Schule zu ergänzen
[s. A n m . 5], B d . 1 3 , S. 13 f.).
suchte. A b e r die Stoßrichtung seines Projekts ist bei A d o r n o — der darin Hegel folgt - verzerrt wiedergegeben. Baumgarten ging es
72. Von »Gleichzeitig...« b i s » . . . gelöst worden ist« von A d o r n o angestrichen.
nicht darum, den Rationalismus auch auf dem Gebiet des G e schmacks und der Gestaltungsformen durchzusetzen i m Sinne einer >formalistischen< »Ästhetik abstrakter Verständigkeit«, w i e etwa J o -
73. Diese A n k ü n d i g u n g hat A d o r n o dreifach angestrichen.
hann Christoph Gottsched es auf dem Gebiet der Poetik versucht hat mit seinem »Versuch einer critischen Dichtkunst v o r die Deutschen«
74. Hegel, Werke, a. a. O. [s. A n m . 5], B d . 1 3 , S. 167. Dieses und die
(Leipzig 1 7 3 0 ) [s. dazu auch u. A n m . 474]. Baumgartens Ästhetik
folgenden Hegel-Zitate sind i m Typoskript angestrichen.
zielte vielmehr auf die Kultivierung des in der rationalistischen S c h u le vernachlässigten Sinns für den Gehalt sinnlicher Erkenntnisse und
75. D i e erwähnte Tagung der Deutschen Hegel-Gesellschaft fand am 25. 10. 1958 in Frankfurt a . M . statt.
Vorstellungen sowie für die Möglichkeiten der Darstellung und M i t -
76. Hegel, Werke, B d . 1 3 , S. 167.
Bde., lat.-deutsch, H a m b u r g 2007, Teil I, S. X V - L X X X ) . D e r B e g r i f T
77. Ebd., S. 179.
nicht vor, und es gäbe i m R a h m e n der Baumgartenschen Ästhetik
teilung nicht-begrifflicher Vorstellungen (vgl. dazu inzwischen die Einfuhrung von Dagmar Mirbach in: A . G. Baumgarten, Ästhetik, 2 einer >aesthetica formalis< k o m m t in den Schriften Baumgartens auch keinen systematischen O r t dafür.
78. Von A d o r n o verkürzt wiedergegeben. D e r zitierte Satz lautet i m Zusammenhang:
»Die Regelmäßigkeit als solche ist überhaupt
80. Hegel, Werke, B d . 1 3 , S. 190.
Gleichheit am Äußerlichen und näher die gleiche Wiederholung ein und derselben bestimmten Gestalt, welche die bestimmende Einheit
8 1 . D i e hier in Parenthesen gesetzte B e m e r k u n g , mit der A d o r n o
für die F o r m der Gegenstände abgibt. Ihrer ersten Abstraktion w e -
sich in der Lektüre des Hegel-Zitats unterbricht, ist i m Typoskript
gen ist eine solche Einheit am weitesten v o n der vernünftigen Totali-
dreifach angestrichen; am R a n d vermerkte A d o r n o : Dazu:
tät des konkreten Begriffs entfernt, wodurch ihre Schönheit eine
Kunstschöne will was die Natur verspricht - um welchen Preis. Vgl. GS
Schönheit abstrakter Verständigkeit wird; denn der Verstand hat zu
7, S.99; 1 1 5 f.
seinem Prinzip die abstrakte, nicht in sich selbst bestimmte Gleichheit und Identität.« (Ebd., S. 180)
394
82. Hegel, Werke, B d . 1 3 , S. 202.
407
das
83. V o n »Das ist etwa . . . « bis » . . . nicht verfuge« v o n A d o r n o a n g e strichen.
schönen« a m A n f a n g der Einleitung in Hegels >Ästhetik< (vgl. ebd., S. 1 3 f. [s. A n m . 7 1 ] ) .
84. V o n » A u f der anderen Seite« bis » . . . Unerledigtes steckt« v o n A d o r n o dreifach angestrichen.
3. VORLESUNG
85. V o n »in j e n e m . . . « b i s » . . . herabgesetzt wird« v o n A d o r n o drei-
86. V o n »daß es mit diesem N a t u r s c h ö n e n . . . « bis » . . . entzogen
f a c h angestrichen. V g l . GS 7, S . 9 8 . Z u m B e g r i f f der >Würde< bei
w o r d e n ist« v o n A d o r n o angestrichen.
K a n t vgl. G r u n d l e g u n g zur Metaphysik der Sitten [ 1 7 8 5 ] , hrsg. v. Paul M e n z e r , in: Kant's gesammelte Schriften, A k a d e m i e - A u s g a b e , B d . IV, B e r l i n 2 T 9 i i , S . 4 3 4 f . ( = A / B 7 7 f f . ) ; bei Schiller vgl. » Ü b e r
87. V o n »daß dabei ein M o t i v a m Werk ist . . . « bis » . . . w e n i g gilt« v o n A d o r n o doppelt angestrichen.
A n m u t u n d W ü r d e « ( 1 7 9 3 ) , in: Sämtliche Werke, a . a . O . [s. A n m . 42], B d . 5, S. 4 3 3 - 4 8 8 , s o w i e » Ü b e r die ästhetische E r z i e h u n g des M e n s c h e n « ( 1 7 9 5 ) , insbesondere den 1 5 . B r i e f , ebd., S . 6 1 4 - 6 1 9 , hier: 6 1 6 . - B e i H e g e l läßt sich die v o n A d o r n o hier als G r u n d f ü r die m o n i e r t e Unzulänglichkeit der idealistischen Ästhetik g e g e n ü b e r d e m N a t u r s c h ö n e n angegebene Ü b e r n a h m e des Kantischen oder Schillerschen B e g r i f f s der >Würde< nicht ohne weiteres nachvollziehen. D i e einzige Stelle in Hegels »Vorlesungen über die Ästhetik«, w o der B e g r i f f der >Würde< v e r w e n d e t wird, zeugt eher v o n einer kritischen R e f l e x i o n bereits Hegels auf die Opposition v o n >Natur< u n d >GeistWürde< des Geistes ein bloßes Gewaltverhältnis des m o d e r n e n Subjekts zu den verfugbar gemachten Naturmaterialien etabliere: »Denn einerseits sehen w i r den M e n s c h e n in der g e m e i n e n Wirklichkeit u n d irdischen Zeitlichkeit b e f a n g e n , v o n d e m Bedürfnis u n d der N o t b e drückt, v o n der N a t u r bedrängt, in die Materie, sinnlichen Z w e c k e und deren G e n u ß verstrickt, v o n N a t u r t r i e b e n u n d Leidenschaften beherrscht u n d fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu e w i g e n Ideen, zu e i n e m R e i c h e des Gedankens u n d der Freiheit, gibt sich als W i l l e allgemeine Gesetze u n d B e s t i m m u n g e n , entkleidet die Welt v o n ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, i n d e m der Geist sein R e c h t u n d seine W ü r d e nun allein in der Rechtlosigkeit u n d M i ß h a n d l u n g der N a t u r behauptet, der er die N o t u n d G e w a l t h e i m g i b t , w e l c h e er v o n ihr erfahren hat.« ( H e gel, Werke, B d . 1 3 , S. I 0 5 f . ) . A d o r n o dürfte w e n i g e r an diese Stelle gedacht haben, die seinem A r g u m e n t aus der Dialektik
der
Aufklärung
bereits sehr weit e n t g e g e n k o m m t , als vielmehr an die A r g u m e n t e f ü r den Ausschluß des N a t u r s c h ö n e n aus der »Wissenschaft des K u n s t -
394
88. I m S o m m e r s e m e s t e r 1 9 5 8 hatte A d o r n o eine Vorlesung zur Einführung in die Dialektik
gehalten.
89. V o n »daß aber auf der anderen Seite . . . « bis » . . . nicht ganz zu Greifenden« v o n A d o r n o angestrichen. 90. V o n » N u n ist es a b e r . . . « bis » . . . Lebenselement hat« v o n A d o r n o vierfach angestrichen; am R a n d vermerkt: sehr wichtig u n d (ebenfalls v o n A d o r n o s H a n d , aber mit anderer Tinte) dazu Valery. 9 1 . V o n »daß das N a t u r s c h ö n e . . . « bis » . . . einzusetzen hätte« v o n A d o r n o dreifach angestrichen u n d mit der handschrifdichen R a n d notiz sehr wichtig versehen. V g l . GS 7, S. 1 1 9 : Indem er [Hegel] das
Flüchtige des Naturschönen, wie tendenziell alles Unbegriffliche, verwirft, macht er sich borniert gleichgültig gegen das zentrale Motiv von Kunst, nach ihrer Wahrheit beim Entgleitenden, Hinfälligen zu tasten. 92. V o n »Ich m ö c h t e m i c h . . . « bis » . . . verwachsen ist« v o n A d o r n o , teilweise doppelt, angestrichen. 93. A d o r n o hielt i m Wintersemester 1 9 5 8 / 5 9 ein Seminar über »Kunstsoziologie«, in d e m R o l f T i e d e m a n n über die Kunstsoziologie Walter B e n j a m i n s referierte. 94. V g l . Walter B e n j a m i n , Gesammelte Schriften. U n t e r M i t w i r k u n g v o n T h e o d o r W A d o r n o u n d G e r s h o m S c h o l e m , hrsg. v o n R o l f T i e d e m a n n und H e r m a n n Schweppenhäuser, B a n d 1-2, F r a n k furt a . M . 1 9 7 4 , S . 4 7 1 - 5 0 8 , bes. S . 4 7 7 f . - D i e 1 9 3 6 erstellte dritte
409
Fassung des Reproduktions-Aufsatzes w a r 1958 die einzig bekannte,
ständnis der von ihm Hegel zugeschriebenen Idee einer Freiheit zum
dank ihrer Publikation in der v o n A d o r n o besorgten zweibändigen
Objekt geht über die Entgegensetzung eines >positiven< (oder, w i e
Ausgabe der »Schriften« Benjamins (Frankfurt a . M . 1 9 5 5 , B d . I,
Hegel eher sagt, >affirmativenAura< b e -
heit zu etwas, und des klassisch liberalen >negativen< Freiheitsver-
reits in: Kleine Geschichte der Photographie (1932), jetzt in: Gesam-
ständnisses i m Sinn einer Freiheit von bestimmten Einschränkungen
melte Schriften, B d . II-2., Frankfurt a. M . 1 9 7 7 , S. 368-385; hier: 378.
hinaus; zu dieser Entgegensetzung vgl. die O x f o r d e r Antrittsvorlesung von Isaiah Berlin v o m 3 0 . 1 0 . 1 9 5 8 : T w o Concepts of Liberty,
95. Von »Das Kunstwerk i m Zeitalter . . . « bis » . . . aufgeht« von A d o r n o angestrichen.
O x f o r d 1958 (deutsch in: Isaiah Berlin, Freiheit. V i e r Versuche, Frankfurt a . M . 1995, S. 197-256). - D i e Freiheit zum Objekt ist fur A d o r n o die des Gedankens dazu, in der Sache sich selbst zu vergessen
96. Benjamin, Gesammelte Schriften, B d . 1-2, a . a . O . , S.479.
und sich zu verändern (GS 10-2, S. 579). Ihr Paradigma ist das ästhetische Verhalten, vgl. GS 7, S. 33: Bis zur Phase totaler Verwaltung sollte
97. Von »Dieser Charakter . . . « bis » . . . übereinzustimmen« von A d o r n o angestrichen.
das Subjekt,
das ein Gebilde betrachtete, hörte, las, sich vergessen, sich
gleichgültig werden, darin erlöschen. Die Identifikation, die es vollzog, war dem Ideal nach nicht die, daß es das Kunstwerk
98. Von »daß einem in dem Kunstwerk . . . « bis » . . . schlägt dann die A u g e n auf« von A d o r n o angestrichen. Vgl. Benjamin, »Uber einige Motive bei Baudelaire« (1939), Gesammelte Schriften, B d . 1-2, a. a. O., S. 646.
sich, sondern daß es
sich dem Kunstwerk gleichmachte. Darin bestand ästhetische Sublimierung; Hegel nannte solche Verhaltensweise generell die Freiheit zum
Objekt.
Damit gerade erwies er dem Subjekt Ehre, das in geistiger Erfahrung Subjekt wird durch seine Entäußerung,
dem Gegenteil des spießbürgerlichen
Verlangens, daß das Kunstwerk ihm etwas gebe. 99. Von »die Schwelle . . . « bis » . . . betrachtet« von A d o r n o angestrichen.
1 0 3 . Von »die barbarischen ...« bis » . . . erstreckt« von A d o r n o angestrichen. Vgl. hierzu GS 7, S. 3 9 4 f f . , sowie die Einleitung zum »Positi-
100. Dieser Satz ist von A d o r n o dreifach angestrichen. Hierzu in der
vismusstreit in der deutschen Soziologie« (1969), jetzt in: GS 8, S. 330,
Ästhetischen Theorie: Der Schmerz im Angesicht des Schönen, nirgends
Fußnote 52.
leibhafter als in der Erfahrung von Natur, ist ebenso die Sehnsucht nach dem, was es verheißt, ohne daß es darin sich entschleierte, wie das Leiden
104. M a x Kommereil (1902-1944), seit 1 9 4 1 Ordinarius für deut-
an der Unzulänglichkeit
sche Philologie in Marburg, schrieb u. a. die in der Nachkriegsger-
der Erscheinung, die es versagt, indem sie ihm
gleichen möchte. Das setzt im Verhältnis zu den Kunstwerken
sich fort.
(GS 7, S. 1 1 4 )
manistik wirkmächtigen B ü c h e r über »Lessing und Aristoteles« sow i e »Geist und Buchstabe der Dichtung« (1940), w o r i n er die M e t h o d e der >reinen< Interpretation exemplarisch vorführte und
1 0 1 . Von »Ich glaube, . . . « bis »... schwermütig ist« von A d o r n o dreifach angestrichen.
theoretisch zu begründen suchte; eine Sammlung seiner Essays erschien posthum 1 9 5 2 unter dem Titel »Dichterische Welterfahrung«. In seinem frühen, dem George-Kreis entstammenden B u c h »Der
102. D e r B e g r i f f einer »Freiheit zum Objekt«, den A d o r n o des öfte-
Dichter als Führer in der deutschen Klassik« (1928) - über das Walter
ren als Hegelsches Konzept zitiert (vgl. u. S. 50; 109, s. auch GS 6,
Benjamin 1 9 3 0 urteilte: »Gäbe es einen deutschen Konservativismus,
S . 3 8 , 5 8 ; G S 7 , S . 409), ist bei Hegel so nicht zu finden; vgl. dazu auch
der auf sich hält, in diesem B u c h e müßte er seine magna charta erblik-
die A n m e r k u n g des Herausgebers in: Nachgelassene
Schriften
ken.« (Benjamin, Gesammelte Schriften, a. a. O. [s. A n m . 94], B d . III,
[NaS], B d . IV-i6: Vorlesung über Negative Dialektik, hrsg. v. R o l f
hrsg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M . 1 9 7 2 , S. 252) - hat-
Tiedemann, Frankfurt a . M . 2003, S. 302, A n m . 148. Adornos Ver-
te K o m m e r e i l über Klopstock geschrieben: » Z u m erstenmal im neu-
394
411
eren Deutschland wird der Gehalt eines
Glaubensbekenntnisses
>natürliche< oder rein konventionelle Fundierung der Wortbedeu-
durch die Sprache Stimmung und gehört so zum Erbe der Seele über
tung, in der sie von Piaton i m »Kratylos« (383 äff.), bzw. zuvor bereits
D a u e r und Grenze dieses Bekenntnisses.« (3. Aufl., Frankfurt a . M .
in der sophistischen Aufklärung eingeführt wurde (vgl. E u g e n i o
1982, S. 36). In einer B e t r a c h t u n g über Heinrich von Kleist< unter
Coseriu, D e r Physei-Thesei-Streit: Sechs Beiträge zur Geschichte
dem Titel »Die Sprache und das Unaussprechliche« kommentiert
der Sprachphilosophie, hrsg. von R e i n h a r d Meisterfeld, T ü b i n g e n
Kommereil den ersten M o n o l o g des Prinzen von H o m b u r g in Kleists
2004), sondern in weiterer kulturphilosophischer Perspektive; vgl.
gleichnamigem Schauspiel: »Seine Stimmung ist wichtiger als sein
z . B . Der Essay als Form (1958), jetzt in: GS n , S. 19: Der Essay kündigt
Inhalt.« (M. Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt a . M . 6 i 9 9 i , S.287)
wortlos die Illusion, der Gedanke vermöchte aus dem, was thesei, Kultur ist, ausbrechen in das, was physei, von Natur sei.
105. Von »philosophischen N e u a u f w ä r m u n g . . . « bis »... untrennbar
1 1 1 . Dieser Satz ist von A d o r n o angestrichen.
wäre« von A d o r n o angestrichen. A m K o p f der Typoskriptseite eine von A d o r n o selbst später durchgestrichene B e m e r k u n g : Raunst) +
1 1 2 . Von »Das heißt also ...« bis »... w a h r g e n o m m e n hat« von
Nfatur] nicht absolute Gegensätze sondern auch vermittelt. Zunächst an
A d o r n o angestrichen.
N.; spätere Annotation (mit anderer Tinte): zentral. 1 1 3 . S. u. S. 50-54. 106. Von »Die unreflektierte A n s i c h t . . . « bis » . . . einander entgegen« von A d o r n o angestrichen. D i e Antithesis von Natur und Geschichte
1 1 4 . Paul Verlaine (1844-1896), Lyriker des französischen Symbolis-
kritisierte A d o r n o bereits in seinem Vortrag Die Idee der Naturge-
mus; der zitierte Gedichtanfang aus der Sammlung »Sagesse« III,
schichte (1932), vgl. GS 1 , S. 3 4 5 - 3 6 5 .
N o . 1 5 (1880) findet sich in der Pleiade-Ausgabe von Verlaines
107. Vgl. Adornos Kritik an Benjamins Aufsatz über »Das Kunst-
Dantec. Edition revisee complete et presentee par Jacques Borel, Pa-
werk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« in seinem
ris 1962, S. 285; vgl. dazu auch GS 7, 1 0 3 .
CEuvres poetiques completes. Texte etabli et annote par Y . - G . Le
B r i e f v o m 18. März 193 6, in: T h e o d o r W. Adorno, B r i e f e und B r i e f wechsel, hrsg. v. T h e o d o r W A d o r n o Archiv, B d . 1: T h e o d o r W
1 1 5 . Von »Ein Satz w i e der von Verlaine . . . « bis » . . . besitzt« von
A d o r n o - Walter Benjamin, B r i e f w e c h s e l 1 9 2 8 - 1 9 4 0 , hrsg. v. H e n r i
A d o r n o angestrichen.
Lonitz, Frankfurt a . M . 1994, S. 1 6 8 - 1 7 5 . 1 1 6 . Von »Freiheit zum Objekt . . . « bis »... eingegangen sind« von 108. Von »Ich möchte hier . . . « bis » . . . aufzulösen wäre« von A d o r n o dreifach angestrichen.
A d o r n o angestrichen.
109. Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels
der »Entwicklung des Ideals zu den besonderen F o r m e n des Kunst-
(1928), in: ders., Gesammelte Schriften, B d . I-i, a. a. O. [s. A n m . 94],
schönen«, dem zweiten Teil seiner »Vorlesungen über die Ästhetik«,
S. 3 5 3: »Auf dem Anditz der Natur steht >Geschichte< in der Z e i c h e n -
die Aufgaben der moderen Kunst durch den idealtypischen E n t w u r f
1 1 7 . Hegel bestimmt in seinem geschichtsphilosophischen E n t w u r f
schrift der Vergängnis. D i e allegorische Physiognomie der N a t u r -
der »romantischen Kunstform«, die er von der »symbolischen Kunst-
Geschichte, die auf der B ü h n e durch das Trauerspiel gestellt wird, ist
form« der archaischen und primitiven Gesellschaften und von der am
wirklich gegenwärtig als R u i n e . «
Vorbild der griechischen Antike veranschaulichten
»klassischen
Kunstform« unterscheidet: »Auf der Stufe der romantischen Kunst u o . A d o r n o versteht die Opposition von (piiOEl und GEOEI nicht
weiß der Geist, daß seine Wahrheit nicht darin besteht, sich in die
nur im Hinblick auf die sprachphilosophische Kontroverse u m die
Leiblichkeit zu versenken; im Gegenteil, er wird sich seiner Wahrheit
394 412
nur dadurch g e w i ß , daß er sich aus d e m Ä u ß e r e n in seine Innigkeit
dros« 250 d. Zum Kräftespiel zwischen dem Begehren und dem Verbot des
mit sich zurückfuhrt u n d die äußere Realität als ein i h m nicht ad-
Begehrens, das Piaton in seiner D e u t u n g der E r f a h r u n g des S c h ö n e n
äquates Dasein setzt. W e n n daher auch dieser n e u e Gehalt die A u f -
in psychologisch eindringlichen B i l d e r n artikuliert, vgl. bes. die 10.
gabe in sich faßt, sich schön zu machen, so bleibt i h m d e n n o c h
Vorlesung, u. S. 1 5 7 f .
die Schönheit in d e m bisherigen Sinne etwas Untergeordnetes und w i r d zur geistigen Schönheit des an u n d f ü r sich Inneren als der in sich
127. Auf das Sprichwort, daß die Natur immer wiederkehrt, und wenn
unendlichen geistigen Subjektivität.« (Hegel, Werke, a. a. O. [s. A n m .
man sie mit der Forke austreibt, rekurriert A d o r n o wiederholt, so in
5], B d . 14: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 1 2 7 f . )
der 4. Vorlesung (s. u. S. 5 9 f . ) ; vgl. auch GS 2, S. 1 7 3 f. Das i m D e u t -
1 1 8 . V o n »daß hier nun i m N a m e n des N a t u r s c h ö n e n . . . « bis » . . .
bräuchlicheren Aussprache »Forke«) verweist auf die lateinische
schen etwas u n g e w ö h n l i c h klingende Wort »Furke« (anstelle der g e h i n e i n g e k o m m e n ist« v o n A d o r n o angestrichen.
Quelle: »Naturam expellas furca, tarnen usque recurret.« (Horaz, Epistulae 1 , 1 0 , 24)
1 1 9 . Kant, K r i t i k der Urteilskraft [s. A n m . 3], B 1 0 4 . 1 2 0 . V o n »Der Tatbestand . . . « bis » . . . charakteristisch sind« v o n
4. V O R L E S U N G
A d o r n o angestrichen. 1 2 8 . V g l . D o n a l d B r i n k m a n n , N a t u r und Kunst. Z u r P h ä n o m e n o 1 2 1 . M a r t i n Luther, »Ein feste B u r g ist unser Gott« ( 1 5 2 8 ) . 1 2 2 . K a n t , Kritik der Urteilskraft, B 1 0 5 .
logie des ästhetischen Gegenstandes, Z ü r i c h u. Leipzig 1 9 3 8 . 1 2 9 . D e r B e g r i f f d e s ästhetischen Scheins w u r d e eingeführt v o n F r i e d rich Schiller, Ü b e r die ästhetische E r z i e h u n g des M e n s c h e n , in einer
1 2 3 . V o n »Es s t e c k t . . . « bis » . . . bezwang« v o n A d o r n o angestrichen.
R e i h e v o n B r i e f e n ( 1 7 9 5 ) , 26. B r i e f : »Es versteht sich w o h l v o n selbst, daß hier nur v o n d e m ästhetischen Schein die R e d e ist, den
1 2 4 . V g l . Kant, Kritik der Urteilskraft, B 98: »Das G e m ü t fühlt sich
m a n v o n der Wirklichkeit u n d Wahrheit unterscheidet, nicht v o n
in der Vorstellung des E r h a b e n e n in der N a t u r bewegt: da es in d e m
d e m logischen, den m a n mit derselben verwechselt — den m a n f o l g -
ästhetischen Urteile über das S c h ö n e in derselben in ruhiger K o n -
lich liebt, w e i l er Schein ist, u n d nicht, w e i l m a n ihn für etwas B e s s e -
templation ist. Diese B e w e g u n g kann (vornehmlich in ihrem A n f a n -
res hält.« (in: ders., Sämtliche Werke, a . a . O . [s. A n m . 4 2 ] , B d . 5,
ge) mit einer Erschütterung verglichen w e r d e n , d . i . mit e i n e m
S . 6 5 6 f . ) . Z u r weiteren V e r w e n d u n g dieses G r u n d b e g r i f f s der m o -
schnellwechselnden Abstoßen u n d A n z i e h e n eben desselben O b -
d e r n e n Ästhetik vgl. auch Peter B ü r g e r , Z u m P r o b l e m des ästheti-
j e k t s . « - A d o r n o k o m m t in der Ästhetischen Theorie auf diese Stelle z u -
schen Scheins in der idealistischen Ästhetik, in: Willi O e l m ü l l e r
rück, vgl. GS 7, S. 1 7 2 .
(Hrsg.), K o l l o q u i u m Kunst u n d Philosophie, B d . 2: Ästhetischer Schein, Paderborn 1 9 8 2 , S. 3 4 - 5 0 .
1 2 5 . V g l . S i g m u n d Freud, »Das U n h e i m l i c h e « ( 1 9 1 9 ) , in: ders., G e sammelte Werke. U n t e r M i t w i r k u n g v o n M . B o n a p a r t e hrsg. v o n A .
1 3 0 . V o n » . . . es gibt keine E m p f i n d u n g . . . « bis » . . . Scheines b e -
Freud, E . B i b r i n g , W. H o f f e r , E . Kris, O. Isakower, B d . 1 2 , L o n d o n
denkt« v o n A d o r n o angestrichen; s. dazu auch A n m . 100.
1940, S . 2 2 7 - 2 6 8 ; hier: 2 3 5 f r 1 3 1 . V g l . z . B . S i g m u n d Freud über »Eine Kindheitserinnerung des 1 2 6 . A u f P l a t o n s »Phaidros« k o m m t A d o r n o in der 9. u n d 10. V o r l e -
L e o n a r d o da Vinci« ( 1 9 1 0 ) , in: ders., Gesammelte Werke, B d . 8, L o n -
sung ausführlich zu sprechen, s. u. S. 1 3 9 - 1 6 9 ; die Definition des S c h ö -
d o n 1 9 4 5 , S. 1 2 7 - 2 1 1 ; zu A d o r n o s K r i t i k an der psychoanalytischen
nen als e x c p a v e o T d T o v x a i e g a o n i r o x a t o v findet sich i m »Phai-
Kunsttheorie vgl. auch GS 7, S. 1 9 - 2 5 .
394
415
1 3 2 . V g l . Kritik der Urteilskraft B I 0 4 f . , s. o. S. 51 [bei A n m . 1 1 9 ] .
1 4 2 . D i e gotische Kathedrale v o n R e i m s , Krönungsstätte der K ö n i ge von Frankreich, war i m Ersten Weltkrieg 1 9 1 4 durch deutsche A r -
1 3 3 . Von »Man kann vielleicht sagen« b i s » . . . eigentlich zu konstituieren« von A d o r n o angestrichen.
tillerie schwer beschädigt worden. In R e a k t i o n darauf w u r d e noch während des Krieges 1 9 1 5 eine Konferenz z u m Kunstschutz in Kriegszeiten in Brüssel einberufen und eine Konvention zum Schutz
1 3 4 . Freud verwendet den B e g r i f f »Sublimierung« in seinen »Drei
von Kunstdenkmälern vor Kriegszerstörungen verabschiedet. D e r
Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905), in: ders., Gesammelte
Beschuß der Kathedrale wurde von deutscher Seite unter anderem
Werke, B d . 5, L o n d o n 1 9 4 2 , S. 79, i 4 o f . ; vgl. auch »Triebe und
damit verteidigt, daß die französische A r m e e eine Batterie direkt vor
Triebschicksale« ( 1 9 1 5 ) , in: ders., Gesammelte Werke, B d . 10, L o n -
der Kathedrale postiert und den T u r m als Beobachtungsposten g e -
don 1946, S . 2 1 0 - 2 3 2 , hier: 2 1 9 .
nutzt habe. - A n welche Intervention, die direkt das Leben gefährdeter Soldaten gegen den Erhalt der Kathedrale aufrechnete, A d o r n o an
1 3 5 . Siehe oben, S. 1 2 f. u. A n m . 8.
dieser Stelle im einzelnen dachte, wurde nicht ermittelt.
1 3 6 . Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder - Oder. Erster Teil, übers, v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1 9 5 7 , S.65.
nen« von A d o r n o angestrichen.
1 3 7 . Welche T h e o r i e n i m einzelnen A d o r n o unter die ȟblichen
144. In Adornos Aufsatz über Aldous Huxley
Ästhetiken« zählte, von denen er sich abzugrenzen suchte, ist nicht i m m e r leicht zu rekonstruieren; einige der gemeinten dürften die folgenden gewesen sein: Eduard von Hartmann, Aesthetik (1886/ 87), Berlin 2 i 9 2 4 ; T h e o d o r Lipps, Ästhetik. Psychologie des S c h ö -
1 4 3 . Von »Und da zeigt sich . . . « bis »... Ausschluß beziehen k ö n -
und die Utopie ( 1 9 4 2 /
1951) heißt es: Noch die selbstvergessene Leidenschaft von Romeo und fulia ... ist kein autarkisches Ansich, sondern wird geistig, mehr als bloßes Schauspiel der Seele, indem sie über den Geist hinausweist auf die körperliche Vereinigung. (GS io-i, S. 1 1 1 )
nen und der Kunst (1903/06), Leipzig 1 9 2 3 ; Johannes Volkelt, System der Ästhetik [s. A n m . 18]; Benedetto Croce, Aesthetik als
1 4 5 . I m Kalten K r i e g üblicher B e g r i f f zur abwertenden B e z e i c h -
Wissenschaft v o m Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft.
nung v o n F o r m e n eines politisch engagierten Theaters, denen nach-
Übertragen von H . Feist und R . Peters, T ü b i n g e n 1930; M o r i t z G e i -
gesagt wurde, daß sie lediglich aufgrund der Z u s t i m m u n g zu den
ger, Z u g ä n g e zur Ästhetik [s. A n m . 17]; Nikolai Hartmann, Ästhetik,
darin vertretenen politisch-ideologischen Anliegen, nicht j e d o c h
Berlin 1 9 5 3 .
aufgrund eines ihnen eigenen künstlerischen Wertes das Interesse ihres Publikums an sich zu binden vermochten.
1 3 8 . Von »Es ist also hier nichts Festes da . . . « bis » . . . zu tun hat« von A d o r n o angestrichen. 1 3 9 . S. A n m . 1 2 7 .
146. Lücke im Text bedingt durch Tonbandwechsel. 147. Shakespeare, » R o m e o und Julia«, III. A u f z u g , 5. Szene: [Julia] »Willst du schon gehn? D e r Tag ist j a noch fern. Es war die Nachti-
140. Zur Urgeschichte der Kunst vgl. GS 7, S. 214: Im Mythos vom Prokrustes wird etwas von der philosophischen Urgeschichte der Kunst erzählt. 1 4 1 . Von »Sublimierung...« bis » . . . nichts mehr verrät« von A d o r n o angestrichen.
gall, und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges O h r durchdrang; ...«. (Übers, v. Schlegel u n d T i e c k ) . V g l . auch GS i o - i , S. I i i . 148. Tagelied (v. mhd. tageliet): Liedgattung der mittelalterlichen Lyrik, in der der Abschied der Liebenden am M o r g e n nach gemeinsam verbrachter Nacht gestaltet wird.
394
417
149- »Die Kunst u m der Kunst willen«: Schlagwort der Lehre, daß
1 5 5 . D e r Schriftsteller Klaus M a n n (1906-1949), S o h n v o n T h o m a s
Kunst völlig zweckfrei zu sein habe, jedes gesellschaftliche oder poli-
M a n n , war 1 9 3 3 zunächst nach Paris emigriert, dann nach Amster-
tische Engagement meiden müsse und allein in der Perfektion ihrer
dam, w o er u.a. die Exilzeitschrift »Die Sammlung« i m Q u e r i d o -
Produkte einen Sinn finde. A d o r n o hält Baudelaire für den Urheber
Verlag herausgab, lebte seit 1936 hauptsächlich in den USA und starb
des Konzepts (vgl. GS 1 1 , S. 422 und GS 7, S. 3 3 2, 475). In der neue-
am 2 1 . 5 . 1949 in Cannes an einer Überdosis Schlaftabletten.
ren Forschung wird zumeist Theophile Gauthier, der die Parole programmatisch i m Vorwort zu seinem B r i e f r o m a n »Mademoiselle
156. V g l . Klaus M a n n , D i e Heimsuchung des europäischen Geistes;
Maupin« (1835) einführte, als ihr Urheber angesehen; vgl. Michael
zuerst englisch unter dem Titel »Europe's Search for a N e w Credo«
Einfalt, »Autonomie« (IV-VI), in: Karlheinz Barck u.a.
in: Tomorrow, N e w York, Juni 1949; deutsch in: N e u e Schweizer
(Hrsg.),
Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben B ä n -
R u n d s c h a u , Juli 1949 (übers, v. Erika Mann); jetzt in: Klaus M a n n ,
den, B d . 1 , Stuttgart/Weimar 2000, S . 4 ö o f .
A u f verlorenem Posten. Aufsätze, R e d e n , Kritiken. 1 9 4 2 - 1 9 4 9 , hrsg. von U w e N a u m a n n und Michael Töteberg, R e i n b e k bei H a m b u r g
150. Vgl. GS 7, S . 3 3 7 ; 3 5 1 f.; vgl.auch Der Artist als Statthalter, ur-
1994, S. 5 2 3 - 5 4 2 .
sprünglich ein Vortrag fur den Bayerischen R u n d f u n k , erschienen 1953 i m »Merkur«, jetzt in: GS 1 1 , S. 1 1 4 - 1 2 6 .
1 5 7 . V g l . Klaus M a n n , Symphonie Pathetique. E i n TschaikowskiR o m a n [1935], M ü n c h e n 1970.
1 5 1 . Von »Und ich würde sagen . . . « bis »... großes R e c h t gehabt hat« v o n A d o r n o angestrichen.
1 5 8 . R i c h a r d Wagner, D i e Meistersinger von N ü r n b e r g (UA 1868 in München), 2. A u f z u g , 3. Szene, V. - Vgl. dazu Versuch über Wagner
1 5 2 . Von »Allerdings . . . « bis »... vice versa« von A d o r n o angestrichen.
( 1 9 3 9 / 1 9 5 2 ) , jetzt in: GS 1 3 , S. 64: Der charakteristische Akkord
etwa,
dessen allegorische Beschriftung die Worte: »Lenzes Gebot, die süße Not« bringt und der in den Meistersingern das Moment des erotischen Dranges
1 5 3 . Edouard Manet ( 1 8 3 2 - 1 8 8 3 ) , frz. Maler und Grafiker; zu seiner
und damit das Agens schlechthin repräsentiert, kündet vom Leiden an der
B e d e u t u n g für die E n t w i c k l u n g der modernen Kunst vgl. u. a. Julius
Unerfülltheit ebenso wie von der Lust, die in der Spannung, dem Unerfüll-
M e i e r - G r a e f e , Manet, M ü n c h e n 1 9 1 2 ; Paul Valery, Triomphe de
ten selber liegt: er ist süß und Not zugleich.
Manet, Paris 1932; s. auch S . 2 i 2 f . u. 3 2 4 f . 159. Von »Jede Dissonanz ist ...« bis »... mitversteht« von A d o r n o 1 5 4 . V g l . Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: Noten
angestrichen.
zur Literatur, GS 1 1 , S. 4 5 f . : Zu den Extremen, an denen mehr über den gegenwärtigen Roman sich lernen läßt als an irgendeinem sogenannten »ty-
160. V g l . GS 3, S. 3 4 f r
pischen« mittleren Sachverhalt, rechnet das Verfahren Kajkas, die Distanz vollends einzuziehen.
Durch Schocks zerschlägt er dem Leser die kontem-
plative Geborgenheit vorm Gelesenen.
Seine Romane,
wenn anders sie
unter den Begriff überhaupt noch fallen, sind die vorwegnehmende
Antwort
auf eine Verfassung der Welt, in der die kontemplative Haltung zum blu-
1 6 1 . Dieser Satz ist von A d o r n o angestrichen. V g l . GS 7, S. 86: Die Sentimentalität und Schwächlichkeit fast der gesamten Tradition ästhetischer Besinnung rührt daher, daß sie die der Kunst immanente Dialektik Rationalität und Mimesis unterschlagen hat.
tigen Hohn ward, weil die permanente Drohung der Katastrophe keinem Menschen mehr das unbeteiligte Zuschauen und nicht einmal dessen ästhetisches Nachbild mehr erlaubt.
162. V g l . GS 3, S. I 9 f f . 1 6 3 . Vgl. GS 3, S . 6 1 - 9 9 .
394
419
von
164. S. o b e n S. 57 u n d bereits in der dritten Vorlesung, S . 4 4 ; vgl.
Schauspieler verurteilte Verbrecher waren, die eigens dazu unter-
auch Minima Moralia, GS 4, S . 9 9 u. 1 4 2 f.
richtet u n d eingeübt w u r d e n , daß sie T o d u n d M a r t e r n nicht f i n g i e r ten, sondern w i r k l i c h erlitten. [ . . . ] In der ganzen römischen Litera-
1 6 5 . D i e s e r Satz ist v o n A d o r n o angestrichen.
tur b e g e g n e n w i r k a u m einer Ä u ß e r u n g des Abscheus, den die heutige Welt g e g e n diese unmenschlichen Lustbarkeiten empfindet.
166. V g l . G i o r g i o Vasari, L e b e n der ausgezeichnetsten Maler, B i l d -
[ . . . ] O v i d f a n d nichts Arges darin, das Schauspiel, in d e m man sich
hauer u n d Baumeister v o n C i m a b u e bis z u m Jahre 1 5 6 7 . A u s d e m
am A n b l i c k des M o r d s ergötzte, zur F ö r d e r u n g v o n Liebesverhältnis-
Italienischen v o n L u d w i g S c h o r n , 6 B d e . (Stuttgart u n d T ü b i n g e n
sen besonders zu empfehlen.«
1 8 3 2 - 1 8 4 9 ) , N a c h d r u c k W o r m s 1 9 8 3 . A u f die L e h r e v o n der N a c h a h m u n g der N a t u r - u n d auf die daraus sich ergebende N o t w e n d i g -
1 7 1 . E m i l L u d w i g , eigendich E m i l C o h n ( 1 8 8 1 - 1 9 4 8 ) , deutscher
keit des intensiven Naturstudiums zur Verbesserung der bildenden
Schriftsteller jüdischer A b s t a m m u n g , der mit seinen psychologisch
Künste - k o m m t Vasari insbesondere in den Einleitungen z u m er-
deutenden B i o g r a p h i e n historischer Persönlichkeiten sehr erfolg-
sten, zweiten u n d dritten B a n d zu sprechen.
reich war; Werke u.a.: »Bismarck. E i n psychologischer Versuch« (Berlin 1 9 1 1 ) , »Goethe« (Stuttgart 1920); »Rembrandts Schicksal«
1 6 7 . V o n »Ich w ü r d e sagen . . . « bis » . . . heute vorliegt« v o n A d o r n o
(Berlin 1 9 2 3 ) ; »Napoleon« (Berlin 1925); »Wilhelm der Zweite«
angestrichen. V g l . GS 7, S. 4 2 4 f . ; dazu auch Walter B e n j a m i n , Lehre
(Berlin 1 9 2 5 ) ; »Hindenburg u n d die Sage v o n der deutschen R e p u -
v o m A h n l i c h e n , in: ders., G e s a m m e l t e Schriften, B d . I i i , a . a . O . [s.
blik« (Amsterdam 1 9 3 5 ) ; »Barbares et musiciens: Les Allemands tels
A n m . 94], S. 2 0 4 - 2 1 0 .
qu'ils sont« (Paris 1940); »The Germans«, L o n d o n 1 9 4 2 .
168. A r n o l d S c h ö n b e r g schrieb i m V o r w o r t zur Publikation v o n
1 7 2 . H e r b e r t E u l e n b e r g ( 1 8 7 6 - 1 9 4 9 ) gehörte in den zwanziger J a h -
Weberns »Sechs Bagatellen f ü r Streichquartett op. 9« in der U n i v e r -
ren zu den meistaufgefuhrten A u t o r e n auf deutschen B ü h n e n ; er
sal-Edition (Wien 1924): »Diese Stücke w i r d nur verstehen, w e r d e m
schrieb u . a . die R o m a n b i o g r a p h i e n »Anna B o l e y n « (Berlin 1920)
G l a u b e n angehört, daß sich durch T ö n e etwas nur durch T ö n e
u n d »Heinrich Heine« (Berlin 1947).
Sagbares ausdrücken läßt.« (Zit. nach: S c h o e n b e r g / B e r g / W e b e r n , D i e Streichquartette. E i n e D o k u m e n t a t i o n , hrsg. v o n Ursula v o n
1 7 3 . D e r österreichische Schriftsteller Stefan Z w e i g
R a u c h h a u p t , H a m b u r g 1 9 7 2 , S. 1 2 7 )
schrieb u. a.: »Sternstunden der Menschheit. F ü n f historische M i n i a -
(1881-1942)
turen« (Leipzig 1927); »Schachnovelle« (Buenos Aires 1942); sowie die R o m a n b i o g r a p h i e n : »Joseph Fouche. Bildnis eines politischen 5. VORLESUNG
Menschen« (Leipzig 1929); »Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters« (Leipzig 1 9 3 2 ) ; »Triumph und Tragik des Erasmus
169. V g l . Friedrich Schiller, U e b e r naive u n d
sentimentalische
D i c h t u n g , in: ders., Sämtliche Werke, a . a . O . [s. A n m . 4 2 ] , B d . 5,
v o n R o t t e r d a m « (Wien 1 9 3 4 ) ; »Maria Stuart« (Wien 1 9 3 5 ) ; »Magellan. D e r M a n n u n d seine Tat« (Wien 1938).
S. 7 5 2 (Fn.): »das Ideal, in w e l c h e m die vollendete K u n s t zur N a t u r zurückkehrt«.
1 7 4 . D e r v o n der S o w j e t u n i o n a m 4. O k t o b e r 1 9 5 7 in eine U m l a u f bahn u m die E r d e geschossene Sputnik 1 war der erste künstliche
1 7 0 . V g l . L u d w i g Friedländer, Darstellungen aus der Sittenge-
Erdsatellit; weitere folgten in den nächsten M o n a t e n . In der propa-
schichte R o m s in der Z e i t v o n Augustus bis z u m A u s g a n g der A n t o -
gandistisch aufgeheizten Atmosphäre des Kalten K r i e g e s w u r d e n die
nine, 10. A u f l . besorgt v o n G e o r g Wissowa, 4 B d e . , Leipzig 1 9 2 2 . In
Sputniks als Demonstration einer technischen Ü b e r l e g e n h e i t der so-
B d . 2, S. 90-95, heißt es: »Auch eigentlich theatralische, besonders
wjetischen Seite w a h r g e n o m m e n u n d lösten i m Westen ein starkes
pantomimische Vorstellungen fanden in der A r e n a statt, nur daß die
G e f ü h l der B e d r o h u n g aus (»Sputnikschock«).
394 420
175- D e r Philosoph und Psychologe Karl Groos ( 1 8 6 1 - 1 9 4 6 ) , A u t o r
dolf Lehmann, Mana. D e r B e g r i f f des außerordentlich Wirkungs-
unter anderem einer »Einleitung in die Ästhetik« (Gießen 1892) und
vollem bei den Südseevölkern, Leipzig 1 9 2 2 .
eines viel gelesenen Werkes über »Das Seelenleben des Kindes« (Berlin
6
I 9 2 3 ) , vertrat eine entwicklungspsychologische T h e o r i e des
179. Dieser Satz ist von A d o r n o angestrichen.
Spiels, die einerseits die G r u n d f o r m e n spielerischer Aktivitäten bis in bestimmte Verhaltensweisen der Tiere zurückverfolgte, andererseits
180. D e r Satz »Musik ist die Welt noch einmal«, der verschiedentlich
dem Spiel eine entscheidende R o l l e in der Anthropogenese zu-
als Schopenhauer-Zitat genannt wird, ist in den Schriften des Philoso-
schrieb und die Funktion der Spiele für die E n t w i c k l u n g lebens-
phen nicht nachweisbar. Sinngemäß findet sich die These z. B . in § 52
wichtiger Fähigkeiten des Menschen betonte; vgl. »Die Spiele der
seines Hauptwerks: »Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare O b j e k -
Tiere« (Jena 1896; 3. Aufl. 1930); »Die Spiele der Menschen« (Jena
tivation und Abbild des ganzen Willens, w i e die Welt selbst es ist, j a w i e
1899), sowie »Das Spiel« (Jena 1922).
die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen D i n g e ausmacht.« (Die Welt als Wille und Vorstellung, a. a. O.
176. Von »daß die K u n s t . . . « bis » . . . Realität« von A d o r n o angestri-
[s. A n m . 7], B d . 1 , S. 359). Adorno, der sich mehrfach auf das angeb-
chen. Z u r Polarität von Schein und Spiel in der Mimesis vgl. Walter
liche Schopenhauer-Diktum bezieht (vgl. u.a. GS 7, S.208; 499; GS
Benjamin, »Das Kunstwerk i m Zeitalter seiner technischen R e p r o -
1 3 , S. 230), folgt offenbar einer seit dem späten 19. Jahrhundert ver-
duzierbarkeit« (Zweite Fassung), in: ders., Gesammelte Schriften,
breiteten Rezeptionstradition. So zitieren vor ihm u. a. Fritz M a u t h -
a . a . O . [s. A n m . 94], B d . VII-1, Frankfurt a . M . 1989, S . 3 6 8 f . , F n . 10;
ner (Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1 . Bd.: Wesen der Sprache,
dazu auch Adornos B r i e f an Benjamin v o m 18. März 1936, in: A d o r -
S t u t t g a r t - B e r l i n 1906, S. 103; dass., 3. Bd.: Sprache und Grammatik,
no - Benjamin Briefwechsel, a. a. O. [s. A n m . 107], S. 170, sowie GS 7,
S t u t t g a r t - B e r l i n 1 9 1 3 , S. 183) und Gustav Landauer (Durch A b s o n -
S. 154: Gegen den Schein wird aber nicht, wie Benjamin denken mochte, zugunsten des Spiels rebelliert, obwohl der Spielcharakter etwa von Permutationen anstellefiktiver Entwicklungen nicht sich verkennen läßt. Insgesamt dürfte die Krise des Scheins das Spiel in sich hineinreißen: was der Harmonie recht ist, die der Schein stiftet, ist der Harmlosigkeit des Spiels billig. 177. Vgl. den Exkurs Theorien über den Ursprung der Kunst in der
derung zur Gemeinschaft [1900], in: ders., D i e Botschaft der Titanic. Ausgewählte Essays, hrsg. von Walter Fähnders und Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Berlin 1994) diese Bestimmung der Musik als Schopenhauer-Wort, doch jeweils ohne Nachweis einer Quelle.
181. Vgl. GS 4, S. 252: Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.
Ästhetischen Theorie, GS 7, S. 480-490. 182. D e r gesamte Abschnitt von »Ich glaube, man kann sagen . . . « bis 178. »Mana« bedeutet in den polynesischen, melanesischen und m i -
»... nimmt sie in gewisser Weise das Interesse der Natur wahr« ist am
kronesischen und anderen ozeanischen Sprachen »Macht« bzw.
linken R a n d angestrichen; die Hegel-Paraphrase »es sei die Kunst
»Wirksamkeit« und w u r d e insbesondere übernatürlichen Mächten
weder ein angenehmes noch ein nützliches Spielwerk, sondern selbst
zugeschrieben. D e r B e g r i f f wurde in die ethnologische und reli-
eben eine Entfaltung der Wahrheit« zudem im Text unterstrichen
gionswissenschafdiche Diskussion eingeführt durch R . H . C o d r i n g -
(zur Hegel-Stelle s. o. A n m . 33).
ton ( 1 8 3 0 - 1 9 2 2 ) , T h e Melanesians: Studies in T h e i r Anthropology and Folk-Lore ( 1 8 9 1 ) , N e w Haven 1957. A d o r n o und H o r k h e i m e r verwenden ihn in der Dialektik
1 8 3 . V g l . GS 3, S . 2 5 f f .
der Aufklärung (vgl. GS 3, S. 3 1 ) mit
Verweis u. a. auf H . Hubert et M . Mauss, T h e o r i e generale de la M a -
184. Aristoteles, Metaphysik III, 4, 1 0 0 0 b 6, schreibt die Lehre, daß
gie, in: L'Annee Sociologique (1902-03), S. 100; vgl. auch Marcel
nur Gleiches geeignet sei, seinesgleichen zu erkennen, dem E m p e -
Mauss, Essai sur le don, Paris 1924, sowie Emile D ü r k h e i m , Les for-
dokles zu; vgl. auch Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos, VII,
mes elementaires de la vie religieuse, Paris 1 9 1 2 , und Friedrich R u -
1 2 1 : f) yvcboig TOÜ 6|XOiOV TW Öjxokp Die Lehre ist freilich älter;
394
423
schon Pythagoras soll sie vertreten haben (vgl. Sext. Empir., adv.
194. Pablo Picasso ( 1 8 8 1 - 1 9 7 3 ) war in den 50er Jahren zweifellos
Math. VII, 92), und sie findet sich bereits in den Upanishaden (vgl.
der berühmteste zeitgenössische Künstler, doch schieden sich an
R u d o l f Eisler, Wörterbuch der philosophischen B e g r i f f e , B d . 1 , B e r -
i h m durchaus noch die Geister. D i e A n f u h r u n g seines Namens als
lin 2 I 9 0 4 , S . 2 8 5 , s.v. »Erkenntnis«).
eines »großen Malers« mußte und sollte als demonstrative Parteinahme im Streit u m die moderne Kunst verstanden werden. Welche B i l -
1 8 5 . In der griechischen Philosophie ist der Gedanke, daß Erkennt-
der A d o r n o i m einzelnen vor A u g e n gehabt haben mag, läßt sich
nis durch die Konfrontation mit etwas als verschieden Auffallendem
nicht mehr rekonstruieren. D i e »letzten Produktionen« Picassos hat
in G a n g k o m m e n kann, zuerst f ü r Anaxagoras bezeugt, vgl. T h e o -
A d o r n o vermudich im Frühjahr 1 9 5 7 in der Galerie Leiris in Paris
phrast, de sensibus, 27.
gesehen, w o Werke aus den Jahren 1 9 5 5 - 5 6 ausgestellt waren; zudem gab es 1 9 5 5 / 5 6 vielbeachtete Picasso-Ausstellungen in M ü n c h e n ,
186. Dieser Satz — von »Die K u n s t . . . « bis »... zerstört wird« - ist am linken R a n d angestrichen; vgl. auch GS 7, S. 1 0 2 - 1 1 1 .
K ö l n und Hamburg.
187. V g l . Walter Benjamin, »Über den B e g r i f f der Geschichte«,
R a n d angestrichen.
195. Von »Sie dürfen also . . . « bis » . . . etwas Prekäres ist« am linken These VII, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, B d . 1-2, a . a . O . [Anm. 94], S. 696 f. - Das Bild des »gegen den Strich Bürstens« wurde
196. Siehe oben S. 55.
populär durch Joris Karl Huysmans, A R e b o u r s (Paris 1884); vgl. dazu auch GS 1 1 , S. 2 1 1 .
197. >Spiel< und >Scheinsynthetisch< orientierten Phase ab 1 9 1 2 verstärkt dem re-
N a c h dem E n d e seines Schuldienstes begann er, literarische Prosa
konstruktiven >AufbauWiedergewinnung< des Gegenstandes
und konkrete Poesie zu veröffendichen. 1996 erschien der Schlüssel-
zu. D i e Bildkomposition wird aus wenigen größeren Flächen aufge-
roman »Der Urfreund« (Paderborn) über die Karriere des G e r m a n i -
baut, mit strengen klaren Umrissen und kräftigeren Farben, teils u n -
sten W i l h e l m E m r i c h in den Jahren 1933 bis 1950, in dem auch
ter Einsatz von collagierten Materialien, die aber nun der zu gestal-
A d o r n o unter dem N a m e n Amorelli als »linker Assistent« und j u n g e r
tenden F o r m untergeordnet erscheinen, nicht mehr als Fragmente
Frankfurter Privatdozent in den frühen 1930er Jahren dargestellt
des zerlegten Gegenstandes oder zur Sprengung des Bildkontinuums
wird.
eingesetzt werden. D u r c h Überschneidung der Flächen und durch knappe Schattenmarkierungen wird Körperlichkeit angezeigt, ohne die Gebundenheit der Gegenstände an die Zweidimensionalität der Bildfläche zu leugnen. Juan Gris legte sein Verständnis des synthetischen Kubismus in einem 1 9 2 1 erschienenen Aufsatz dar: »Ich arbeite mit den Elementen des Geistes, mit der Einbildungskraft; ich versuche, das Abstrakte konkret zu machen; ich gehe v o m Allgemeinen zum Besonderen, d. h. ich gehe von einer Abstraktion aus, u m zu einer konkreten Wirklichkeit zu gelangen; meine Kunst ist eine Kunst der Synthese, eine deduktive Kunst. Ich will dazu gelangen, neue Einzeldinge herzustellen, indem ich von allgemeinen G r u n d f o r m e n ausgehe.« (Zit. nach: Walter Hess, D o k u m e n t e zum Verständnis der modernen Malerei, R e i n b e k bei H a m b u r g 1956, S. 60) Z u m Ü b e r gang Picassos zum synthetischen Kubismus vgl. auch GS 7, S. 3 2 1 .
228. In seinem 1 9 3 9 / 4 0 geschriebenen und 1 9 5 5 in den Prismen p u blizierten Aufsatz George und Hofmannsthal hatte A d o r n o das Gedicht »Voyelles« ( 1 8 7 1 ) von Arthur R i m b a u d ( 1 8 5 4 - 1 8 9 1 ) als Ausgangspunkt j e n e r »Farbenlehre der Worte« ausgemacht, die H u g o von Hofmannsthal beschäftigte, vgl. GS i o - i , S. 1 9 6 f . : Die Belehnung von
Lauten mit Farben, die mit ihnen in keinem Zusammenhang ah dem der bedeutungsfernen Gravitation der Sprache stehen, emanzipiert das Gedicht vom Begriff. 229. Vgl. Hegel, Werke, a . a . O . [s. A n m . 5], B d . 1 3 , S. 1 2 4 , und B d . 1 4 , S. 1 2 7 , 242. 230. Hegel bestimmt im dritten Teil seiner Vorlesungen über die Ästhetik, in dem er ein »System der einzelnen Künste« entwirft, zu-
225. Vgl. Philosophie der Neuen Musik, GS 1 2 , S. 4 6 - 5 1 .
nächst die Skulptur als »Kunst des klassischen Ideals« (Hegel, Werke, B d . 1 4 , S. 372) und sieht die zentrale A u f g a b e der plastischen Kunst in
226. Z u r Einsamkeit als Signatur der mißlungenen M o d e r n e vgl.
der Darstellung der menschlichen Gestalt als Verkörperung der »sub-
Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, GS 2, bes. S. 81 u. 88; zum Jugendstil als der paradoxen Allgemeinheit eines Stils der Einsamkeit vgl.
stantiellen Individualität«: »So besteht denn also die A u f g a b e der
GS 7, S. 469.
ge in seiner noch nicht in sich partikularisierten Individualität in eine
227. Vgl. K u r t Mautz, »Die Farbensprache der expressionistischen
Einklang setzt, an welchem nun auch nur das Allgemeine und B l e i -
Lyrik«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und
bende der dem Geistigen entsprechenden K ö r p e r f o r m e n herausge-
Skulpturgestalt im wesentlichen darin, daß sie das substantiell Geistimenschliche Gestalt einsenkt und mit derselben in einen solchen
Geistesgeschichte 3 1 (1957), S. 198-240. A d o r n o variiert hier einen
hoben, das Zufällige aber und Wechselnde abgestreift erscheint, o b -
Gedanken, den er 1 9 5 7 in seiner Kranichsteiner Vorlesung Kriterien
schon es auch der Gestalt an Individualität nicht fehlen darf.« (Ebd.)
der neuen Musik vorgetragen hatte, vgl. GS 16, S . 2 0 6 f . ; auch in der
Hegels »System der einzelnen Künste« schließt mit dem Kapitel zur
Ästhetischen Theorie greift er ihn wieder auf, vgl. GS 7, S. 308. - Kurt
dramatischen Poesie, und auch hier k o m m t die Forderung nach der
A d o l f Mautz ( 1 9 1 1 - 2 0 0 0 ) , einer der ältesten Schüler Adornos, war
Vergegenwärtigung »substantiell-menschlicher Interessen« zum Tra-
von 1950 bis zu seiner Pensionierung 1 9 7 2 Gymnasiallehrer in
gen: »Im allgemeinen läßt sich daher behaupten, daß ein dramati-
Mainz. N e b e n anderen literaturhistorischen Arbeiten publizierte er
sches Werk, j e mehr es, statt substantiell-menschliche Interessen zu
394
431
behandeln, sich ganz spezifische Charaktere u n d Leidenschaften, w i e
238. D i e ganze Seite v o n »Ich hatte dabei bereits d a r a u f h i n g e w i e -
sie nur durch bestimmte nationale Z e i t r i c h t u n g e n bedingt sind, z u m
sen, . . . « [S. i n ] bis » . . . in der Ausdrucksfeindschaft wesentlich ent-
Inhalt erwählt, bei aller sonstigen Vortrefflichkeit u m desto v e r g ä n g -
halten« a m linken R a n d angestrichen.
licher sein werde.« (Werke, B d . 1 5 , S. 499) 2 3 1 . V g l . Martin H e i d e g g e r ,
Sein u n d Z e i t , T ü b i n g e n
6
239. V g l . GS 3, S. 35 ff1949,
S. 1 9 f r . ; dazu auch GS 5, S . 2 3 ; GS 6, S. i i y f .
240. V g l . A l m a Mahler, Gustav M a h l e r - E r i n n e r u n g e n u n d B r i e f e , A m s t e r d a m 1940, S. 1 7 8 .
7. VORLESUNG
2 4 1 . V o n »Ich w ü r d e . . . « bis » . . . nicht m e h r sich beugen« v o n A d o r no angestrichen. V g l . GS 7, S. 1 7 8 f.
2 3 2 . A b hier ist der Text über die nächsten beiden Seiten - bis z u m Absatz » . . . daß er also gewissermaßen ganz u n d gar sich z u m Voll-
242. V g l . Anatole France, Les O p i n i o n s de J e r o m e C o i g n a r d [1893],
zugsorgan dessen macht, was in j e d e m einzelnen seiner M o m e n t e das
in: ders., CEuvres. E d i t i o n etablie, presentee et annotee par M a r i e -
Material v o n ihm will« - am linken R a n d angestrichen.
Claire Banquart, B i b l i o t h e q u e de la Pleiade, B d . II, Paris 1 9 8 7 , S. 302: »L'histoire des h o m m e s [ . . . ] : Iis naquirent, ils souffrirent, ils m o u -
2 3 3 . B e t o n u n g i m Vortrag, i m T S durch Unterstreichung v o n der
rurent.«
Sekretärin h e r v o r g e h o b e n . 243. V o n »Wenn m a n schon diesem sich ausdrückenden Subjekt 2 3 4 . D e r Aufsatz v o n Gustav R e n e H o c k e , » H o m e r u n d R a f f a e l .
v o r w i r f t , . . . « bis » . . . verlieren müßte« am linken R a n d angestrichen.
Z u r Physiognomie des Klassischen« erschien in: Akzente, H e f t 6 (1958), S. 496-506. A d o r n o dachte an die Stelle: » R a f f a e l w i r d w i e d e r
244. A n w e l c h e Theaterstücke A d o r n o hier i m einzelnen dachte, ist
b e g r i f f e n als einer der großartigsten B e z w i n g e r der Fläche, als ein
nicht zu rekonstruieren. Z u den erfolgreichsten Stücken der N a c h -
M a l e r kombinatorischer R a u m - u n d Farbenlogik. R a u m - u n d Far-
kriegszeit auf westdeutschen B ü h n e n gehören »Des Teufels General«
b e n s y m m e t r i e n s c h w i n g e n auf der Bildfläche w i e F u g e n . Es scheint,
v o n C a r l Z u c k m a y e r (UA 1 9 4 6 a m Schauspielhaus Z ü r i c h ) u n d
als flüstere uns R a f f a e l heute zu [ . . . ] , der >Inhalt< sei nicht das E n t -
W o l f g a n g Borcherts Heimkehrerdrama »Draußen v o r der T ü r « (UA
scheidende. R a f f a e l selbst liebte v o r allem die beherrschte E r o b e r u n g
1946 an den H a m b u r g i s c h e n Kammerspielen). In H a n s j ö r g Schmitt-
der Fläche, die H a r m o n i e der Farbtöne, den rhythmischen, geradezu
henners »Ein j e d e r v o n uns« (UA 1 9 4 7 a m Deutschen T h e a t e r Berlin)
metrischen Ausgleich der S p a n n u n g e n [ . . . ] E r w a r >objektivKunstWeltanschauung< re-
ist dessen Geist und am letzten die von ihm angeblich verkörperte oder
klamiert wurde, entgegengesetzte.
symbolisierte Idee; er ist nicht in unmittelbarer Identität mit seiner Erschei-
255. Von »Demgegenüber hat sich . . . « bis » . . . zu Sinnvollem w e r -
oberhalb der Erscheinung;
den« am linken R a n d angestrichen; die Frage hatte A d o r n o sich be-
Sein Ort ist die Konfiguration von Erscheinendem. Er formt die Erschei-
reits in seinen Stichworten f ü r diese Vorlesung notiert; siehe oben
nung wie diese ihn; Lichtquelle, durch welche das Phänomen erglüht, Phä-
S.361.
nomen im prägnanten Sinn überhaupt wird.
256. Vgl. Hegel, Werke, a. a. O. [s. A n m . 5], B d . 1 3 , S. 100: »Es ist be-
258. Dieser Satz ist von A d o r n o angestrichen.
nung dingfest zu machen. Aber er bildet auch keine Schicht unterhalb oder ihre Supposition wäre nicht minder dinghaft.
reits gesagt, daß der Inhalt der Kunst die Idee, ihre F o r m die sinnliche bildliche Gestaltung sei. B e i d e Seiten nun hat die Kunst zu freier ver-
259. I m Sprachgebrauch der Z e i t gebräuchliche Abkürzung fur
söhnter Totalität zu vermitteln. D i e erste Bestimmung, die hierin
dialektischer Materialismusaleatorisch< einer der zahlreichen statistischen B e g r i f f e , die er in die Kompositionslehre einbezieht u n d mit denen er eine statistische D e n k w e i s e in die K o m p o s i t i o n e i n f u h ren will; B o u l e z v e r w e n d e t den A u s d r u c k zur B e s t i m m u n g der v o n ihm angestrebten musikalischen F o r m ; vgl. W o l f Frobenius, »Aleatorisch, Aleatorik«, in: T e r m i n o l o g i e der M u s i k i m 20. Jahrhundert, hrsg. v. Hans H e i n r i c h E g g e b r e c h t , Stuttgart 1 9 9 5 , S. 30.
2 7 1 . V g l . Lukacs, W i d e r den mißverstandenen R e a l i s m u s , a. a. O. [s. A n m . 2 6 0 ] , S. 1 2 . 2 7 2 . D e r jüdischstämmige deutschböhmische Schriftsteller Franz W e r f e l ( 1 8 9 0 - 1 9 4 5 ) schrieb u. a. die seinerzeit besonders i m katholischen M i l i e u sehr erfolgreichen R o m a n e »Barbara o d e r die F r ö m migkeit« (Berlin 1929) u n d »Das L i e d v o n Bernadette« ( 1 9 4 1 ) . 2 7 3 . V g l . A d o r n o s Aufzeichnungen
zu Kafka ( 1 9 5 3 ) , GS 10-2, S . 2 5 4
bis 2 8 7 , bes. 2 7 1 ; s. auch Walter B e n j a m i n , »Franz Kafka« (1934), in: ders., Gesammelte Schriften, B d . II-2, a. a. O. [s. A n m . 94], S. 409 bis
438. 274. V g l . das dritte B u c h in Franz Werfeis G e d i c h t b a n d »Der G e richtstag«, Leipzig 1 9 1 9 ( S . 9 5 - 1 2 1 ) . 2 7 5 . Dieser Satz ist v o n A d o r n o angestrichen.
394
441
276. V g l . H e g e l , Werke, a. a. O. [s. A n m . 5], B d . 5: Wissenschaft der
es, w o v o n die Sage erzählt, einen gewissen Z a u b e r aufzuheben: das
L o g i k I, F r a n k f u r t a . M . 1 9 6 9 , S . 4 9 : »Das Einzige, u m den w i s s e n -
Stück m u ß rückwärts ganz durchgespielt w e r d e n , sonst w i r d der
schaftlichen F o r t g a n g zu g e w i n n e n - u n d u m dessen ganz einfache
Z a u b e r nicht gehoben.« (Sören Kierkegaard, D i e K r a n k h e i t z u m
Einsicht sich wesentlich zu b e m ü h e n ist - , ist die Erkenntnis des l o g i -
Tode, in: ders., G e s a m m e l t e Werke. U b e r s , v. H . G o t t s c h e d , B d . VIII,
schen Satzes, daß das N e g a t i v e ebensosehr positiv ist o d e r daß das sich
J e n a 1 9 1 1 , S . 4 1 ; zit. nach: A d o r n o , GS 2, S. 1 2 0 ) D e r G e d a n k e , daß
W i d e r s p r e c h e n d e sich nicht in N u l l , in das abstrakte N i c h t s auflöst,
A u f s c h l u ß ü b e r das Wahre w i e ü b e r das Falsche nicht i m A u s g a n g
s o n d e r n wesentlich nur in die N e g a t i o n seines b e s o n d e r e n Inhalts,
v o n einer als zweifelsfrei g e w i ß a n g e n o m m e n e n Wahrheit g e w o n n e n
o d e r daß eine solche N e g a t i o n nicht alle N e g a t i o n , sondern die N e -
w e r d e n kann, sondern m a n in der R e g e l v o n d e m ausgehen m u ß ,
gation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte N e -
was m a n als falsch erkannt hat, u m v o n dort aus via negationis sich
gation ist; daß also i m R e s u l t a t e wesentlich das enthalten ist, woraus
z u m Wahren voranzuarbeiten, ist g r u n d l e g e n d f u r A d o r n o s
es resultiert, - was eigentlich eine Tautologie ist, d e n n sonst w ä r e es
Dialektik;
Negative
vgl. dazu f e r n e r GS 1 4 , S. 3 4 7 .
ein Unmittelbares, nicht ein R e s u l t a t . I n d e m das R e s u l t i e r e n d e , die N e g a t i o n , bestimmte N e g a t i o n ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein
278. D e r B e g r i f f der »Verfremdung« ist zentral f ü r das P r o g r a m m ei-
n e u e r B e g r i f f , aber der höhere, reichere B e g r i f f als der v o r h e r g e h e n -
nes »epischen Theaters« v o n B e r t o l t B r e c h t ( 1 8 9 8 - 1 9 5 6 ) . »Einen V o r -
de; d e n n sie ist u m dessen N e g a t i o n o d e r Entgegengesetztes reicher
gang o d e r einen C h a r a k t e r v e r f r e m d e n heißt zunächst einfach, d e m
g e w o r d e n , enthält ihn also, aber auch m e h r als ihn, u n d ist die E i n h e i t
V o r g a n g o d e r d e m C h a r a k t e r das Selbstverständliche, E i n l e u c h t e n d e
seiner u n d seines Entgegengesetzten.« - In d e m Aufsatz ü b e r den Er-
zu n e h m e n u n d ü b e r ihn Staunen u n d N e u g i e r zu erzeugen [ . . . ]
fahrungsgehalt der H e g e i s c h e n Philosophie, den er a m 2 5 . 1 0 . 1 9 5 8 auf
V e r f r e m d e n heißt also Historisieren, heißt V o r g ä n g e u n d Personen
der F r a n k f u r t e r H e g e l - T a g u n g v o r t r u g [s. A n m . 7 5 ] , betont A d o r n o :
als vergänglich darzustellen.« (Bertolt B r e c h t , Ü b e r experimentelles
Der Nerv der Dialektik als Methode ist die bestimmte Negation. (GS 5,
T h e a t e r ( 1 9 3 9 ) , in: ders., G e s a m m e l t e Werke in 20 B ä n d e n , F r a n k -
S.318)
f u r t a . M . 1 9 6 7 , B a n d 1 5 , S. 3 0 1 f.)
2 7 7 . Spinoza lehrt in seiner »Ethica O r d i n e G e o m e t r i c o d e m o n s t r a -
2 7 9 . S c h o n in seiner Kritik des Musikanten
ta« ( 1 6 7 7 ) : »Wahrlich, w i e das Licht sich selbst u n d die Finsternis o f -
i m B r e c h t s c h e n Sinn postuliert: So unbestechlich sollte Kunst der eige-
fenbart, so ist die Wahrheit die R i c h t s c h n u r ihrer selbst u n d des Falschen.« (»Sane sicut l u x seipsam, & tenebras manifestat, sic Veritas n o r m a sui, & falsi est.« E t h . II, Prop. XLIII, Schol.; zit. nach der latei-
( 1 9 5 6 ) hatte A d o r n o ganz
nen Erfahrung gehorchen, daß sie den Verblendungszusammenhang der verwalteten Welt durchbricht: Verfremdung allein antwortet auf die Entfremdung. (GS 14, S. 71)
nisch-deutschen A u s g a b e v o n B . L a k e b r i n k : Spinoza, D i e E t h i k , Stuttgart 1 9 7 7 , S. 2 i 4 f . ) D e n Satz, daß das Wahre »index sui et falsi«
280. D e n Vers »Was hat die Welt aus uns g e m a c h t ! « a u s d e m G e d i c h t
sei, zitiert H e g e l in dieser F o r m in der Vorrede zur z w e i t e n A u s g a b e
»Flieder« v o n K a r l Kraus (in: ders., A u s g e w ä h l t e G e d i c h t e , M ü n c h e n
seiner E n z y k l o p ä d i e der philosophischen Wissenschaften i m G r u n d -
1 9 2 0 , S . 2 0 ) zitiert A d o r n o des öfteren (u.a. GS 6, S . 2 9 2 ) . Das G e -
risse ( 1 8 2 7 ) , in: ders., Werke, a . a . O . [s. A n m . 5], B d . 8, S. 3 1 , s o w i e in
dicht g e h ö r t zu denen, die Ernst K r e n e k in s e i n e m Liederzyklus
seinen Vorlesungen ü b e r die Philosophie der R e l i g i o n I, Werke,
»Durch die Nacht«, op. 67 ( 1 9 3 0 / 3 1 ) vertont hat, den A d o r n o sehr
a. a. O., B d . 1 6 , S. 63. K a r l M a r x ( B e m e r k u n g e n über die n e u e p r e u -
schätzte u n d in e i n e m R u n d f u n k k o n z e r t a m 2 2 . F e b r u a r 1 9 4 0 e i n e m
ßische Z e n s u r i n s t r u k t i o n , in: MEW, B d . 1 , S. 6) u n d auch n o c h
amerikanischen P u b l i k u m vorstellte (vgl. GS 1 8 , S. 580).
G e o r g Lukacs
(Wider den mißverstandenen R e a l i s m u s ,
a.a.O.
[ A n m . 260], S. 100) schreiben diese Lesart fort. - D a g e g e n orientiert sich A d o r n o , w e n n er d e n Topos u m k e h r t u n d im falsum den index sui et veri ausmacht, eher an Kierkegaard: » U m aber zur Wahrheit zu
281. Vgl. Adornos Versuch, das Endspiel zu verstehen (GS 1 1 , S. 281 bis 3 2 1 ) s o w i e GS 7, S. 3 70 f.
k o m m e n , m u ß m a n durch j e d e Negativität hindurch; d e n n hier gilt
394
443
282. Lücke in der A u f n a h m e bedingt durch Bandwechsel.
nach: Paul Klee, Schriften, R e z e n s i o n e n und Aufsätze, K ö l n 1976,
283. Bereits seit den späten zwanziger Jahren zeigte A d o r n o sich
genau dort, wo das System nicht mehr stimmt, diefreilich, ganz gewiß bei ei-
empfindlich gegen die R e d e von der >AllnaturBlut-und-BodenRichtigenErläuterung< des Unbestimmtheitsprinzips,
293. Von »auf der einen Seite . . . « bis »... als ganzer« von A d o r n o angestrichen.
in putting the stories together in an unplanned way was to suggest
als vielmehr u m dessen performative Exemplifikation: »My intention that all things - stories, incidental sounds from the environment, and, by extension, beings - are related, and that this complexity is more evident, w h e n it is not oversimplified by an idea o f relationship in one
294. S. o. A n m . 267.
person's mind.« (Vgl. die Druckfassung des Vortrags in: J o h n Cage, 295. D e r amerikanische Avantgardist J o h n C a g e ( 1 9 1 2 - 1 9 9 2 ) wurde
Silence, Middletown, C o n n . , 1 9 6 1 , S . 2 6 0 - 2 7 3 , hier: 260) A d o r n o
zum w o h l einflußreichsten Komponisten der zweiten Hälfte des
konnte davon ausgehen, daß zumindest einige seiner Z u h ö r e r das
20. Jahrhunderts, indem er das Klangformbewußtsein der europäi-
C a g e - S t ü c k »TV Köln« kannten, das im September 1958 i m W D R
schen Kunstmusik und die Kalkulationen der seriellen Avantgarde
Fernsehen übertragen worden war.
mit M o m e n t e n des Nichtintendierten und Unvorhersehbaren, des Zufalls und der Fülle der Umweltgeräusche konfrontierte und so das
296. D i e »3. Klaviersonate« ( 1 9 5 6 / 5 7 ) von Pierre B o u l e z ist in genau
Verständnis dessen, was Musik sein kann, revolutionierte
bestimmter Weise unbestimmt, insofern sie dem Interpreten ver-
(vgl.
Heinz-Klaus Metzger / R a i n e r R i e h n [Hrsg.], J o h n C a g e , 2 Bde.,
schiedene Versionen einer minutiös komponierten Struktur zur
Musik-Konzepte, Sonderband, M ü n c h e n 1990). D i e Komposition
Wahl stellt. - In seinem Vortrag »Alea« (bei den Darmstädter Ferien-
seines Klavierstücks »Music o f Changes« ( 1 9 5 1 ) ist das Resultat von
kursen 1 9 5 7 in deutscher Übersetzung von Heinz-Klaus Metzger
Losverfahren nach dem I - G i n g . In seinem legendären Stück »4' 3 3"«
verlesen) hatte B o u l e z in Auseinandersetzung u. a. mit Ideen Stock-
(1952) sitzen die Vortragenden still an ihren Instrumenten; die >Mu-
hausens und Cages, aber auch mit Mallarmes »Würfelwurf« (1897),
sik< besteht aus den Geräuschen der jeweiligen U m g e b u n g , ein-
unterschiedliche Möglichkeiten erörtert, w i e Zufallsmomente in der
schließlich der R e a k t i o n e n des Publikums auf das Ereignis oder
Komposition und in der Ausführung von Musik eine R o l l e spielen
Nicht-Ereignis. Als C a g e mit dem Pianisten David Tudor 1954 bei
können. Dabei ging es B o u l e z - anders als C a g e und Stockhausen -
den Donaueschinger Musiktagen seine aleatorische Komposition
darum, den Z u f a l l gezielt als kompositorisches Sprachmittel einzu-
»I2'55.6078« fur zwei präparierte Klaviere vorstellte, reichten die
setzen. Schon 1 9 5 1 hatte er den Ausdruck »aleatoire« verwendet,
R e a k t i o n e n des Publikums v o n Kopfschütteln über fassungsloses
allerdings noch nicht in einem spezifisch musikalisch-technischen
Gelächter bis zu aggressiver Verachtung. Kritiker sprachen von
Sinn, als er etwa die kompositorische
»stümperhaft kindlichen Geräuschen«, »Sensationsmacherei«, » U n -
Weberns dadurch charakterisierte, daß Webern - aufgrund seines
fug«, »nihilistischer Witzlosigkeit« und »Scharlatanerie« (vgl. M a x
strengeren Bedürfnisses nach R e i n h e i t — die >gewagte< (»aleatoire«)
Nyffeler, Als C a g e die Vogelpfeife blies, in: Beckmesser, 23.
Synthese aus tonaler Musiksprache und Reihenprinzip, auf die
n.
Verfahrensweise
Anton
1999). Z u s a m m e n mit David Tudor führte C a g e bei den Darmstädter
Schönberg und B e r g aus gewesen seien, niemals angestrebt habe. (P.
Ferienkursen für N e u e M u s i k am 3 . 9 . 1 9 5 8 u.a. seine »Music for
Boulez, »Moment de Jean-Sebastien Bach« ( 1 9 5 1 ) , in: ders., Releves
394
447
d'apprenti, Paris 1966, S. 18; zit. nach: Frobenius, »Aleatorisch, Aleatorik«, a. a. O. [s. A n m . 267], S. 33) 297. Das »Klavierstück XI« (1956) von Karlheinz Stockhausen (1928-2007), das vielfach als paradigmatisches Werk aleatorischer Musik diskutiert wurde, besteht aus 19 verschieden langen, j e für sich nach einem komplexen seriellen Verfahren streng auskomponierten »Gruppen« auf einem einzigen großen Notenblatt mit der Spielanweisung, daß es dem Interpreten überlassen bleiben soll, mit welchem Fragment er beginnen und in welcher R e i h e n f o l g e er die Teile nacheinander spielen möchte; Geschwindigkeit, Lautstärke und A n schlagsart sind fur den Anfang ebenfalls freigestellt, doch findet sich jeweils am Ende der »Gruppe« eine Spielanweisung, nach der die nächste (frei gewählte) angegangen werden soll, was j e nach gewähltem Parcours zu sehr unterschiedlichen Klanggestalten fuhrt; für eine Aufführung des Gesamtstücks soll jede »Gruppe« dreimal drangekommen sein. John Cage kritisierte dieses Stück in einem seiner Darmstädter Seminare im September 1958, weil in den einzelnen Modulen der Gestaltungswille des Komponisten noch viel zu dominierend wirke. Auch David Tudor, dem Stockhausen sein »Klavierstück XI« gewidmet hatte und der es in mehreren Versionen eingespielt hat, empfand die minutiösen Tondauer-Vorschriften Stockhausens als beengend. - In Stockhausens Stück »Zeitmaße« für funfHolzbläser (1956), das auf Adorno starken Eindruck machte (vgl. GS 14, S. 1 3 ; GS 18, S. 137; GS 7, S. 239), wechseln metronomisch fixierte Teile mit »Zeitfeldern«, in denen die Instrumente mit »individuellen Tempi« zwischen »so langsam wie möglich« und »so schnell w i e möglich« agieren; dadurch ergeben sich regelmäßig unregelmäßige strukturelle Verschiebungen im Zusammenspiel der fünf Stimmen und insgesamt unvorhersehbare Klanggestalten. 298. Gegenüber der hier vorgetragenen Anerkennung der ästhetischen Relevanz aleatorischer Formen überwiegt in den späteren Schriften Adornos die Kritik; vgl. u.a. GS 1 7 , S . 2 7 o f . , und GS 7,
S. 329: Action painting, informelle Malerei, Aleatorik mochten das resignative Moment ins Extrem treiben: das ästhetische Subjekt dispensiert sich von der Last der Formung des ihm gegenüber Zufälligen, die es länger zu tragen verzweifelt; es schiebt die Verantwortung der Organisation gleichsam dem Kontingenten selbst zu.
394
299. Vgl. Philosophie der neuen Musik (GS 12, S. 28): Die Wahrheit [der avancierten Musik] scheint eher darin aufgehoben, daß sie durch or-
ganisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft, von der sie nichts wissen will, dementiert, als daß sie von sich aus positiven Sinnes mächtig wäre. 300. Vgl. GS 1 2 , S. 196. 3 0 1 . D e r österreichische Komponist und Musiktheoretiker Joseph Matthias Hauer (1883-1959) hatte 1 9 1 2 begonnen, aus seinem Prinzip der »Bausteintechnik« eine eigene Form von Zwölftonmusik zu entwickeln. Sein »Nomos« op. 19 (August 1 9 1 9 ) gilt als die erste Zwölftonkomposition überhaupt. Anders als Arnold Schönbergs Methode der »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« fand Hauer mit seinen Theorien in der Musikwelt nur wenig Beachtung; immerhin wurde er 1956 mit dem Großen Osterreichischen Staatspreis geehrt. Im Kontext aleatorischer Verfahren kam es im späteren 20. Jahrhundert zu einer Wiederentdeckung Hauers in Avantgardekreisen der postseriellen Musik. Adorno hat sich 1929 in der Zeitschrift für Musik kritisch mit Hauers Hölderlinliedern ausein-
andergesetzt: Joseph Matthias Hauer, Hölderlinlieder II, op. 23, undJoseph Matthias Hauer, Hölderlin-Lieder III, op.32, und IV op. 40 (vgl. GS 19, S. 306 ff. u n d 3 i i f.; vgl. auch GS 12, S. 63). In einer Konzertkritik von 1927 zeigt er sich - bei aller Kritik an Hauers Dilettantismus - beeindruckt von Hauers Siebenter Suite, op. 48, s. GS 19, S. 107 f. 302. Von »Das soll nun zunächst ...« bis »... überhaupt hereinkommt« [sie!] am linken R a n d angestrichen. 303. Im September 1958 kam J o h n Cage als Dozent zu den D a r m städter Ferienkursen für N e u e Musik [s. A n m . 295]. Im Anschluß an seinen Darmstädter Auftritt wurde sein »Concert for Piano and O r chestra« (UA 1 5 . 5 . 1 9 5 8 in N e w York) in Köln, später auch noch in Düsseldorf und Stockholm aufgeführt. Die Partitur ist eine Sammlung experimenteller Notate unterschiedlichster Art; die einzelnen Stimmen stehen in keiner Beziehung zueinander. D e r Dirigent hat lediglich die Funktion des zeitlichen Koordinators. Adorno erlebte das Konzert am 1 9 . 9 . 1 9 5 8 im Kleinen Sendesaal des W D R in Köln und hat sich auch später noch mit der Aufnahme dieses Konzerts beschäftigt (vgl. seinen B r i e f an Erich Doflein v o m 26. 2. i960, in:
449
T h e o d o r W. A d o r n o - E r i c h D o f l e i n . B r i e f w e c h s e l , hrsg. v. Andreas
verweist, stammt j e d o c h nicht v o n Stephanus sondern v o n Apelt; sie
Jacob, Hildesheim 2006, S. 244). 1 9 5 9 versuchte A d o r n o , eine Veran-
w u r d e auch in der v o n A d o r n o s Studenten vermutlich zumeist b e -
staltung über C a g e i m Frankfurter A m e r i k a - H a u s zu organisieren,
nutzten Taschenbuchausgabe der S c h l e i e r m a c h e r - U b e r s e t z u n g (Pia-
bei der - w e n n es nach i h m gegangen wäre - auch das Klavierkonzert
ton, Sämtliche Werke, B d . 4, hrsg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi,
hätte aufgeführt w e r d e n sollen (vgl. seinen B r i e f an Hans G . H e l m s
G e r t P l a m b ö c k , R e i n b e k bei H a m b u r g 1958) ü b e r n o m m e n . B e i den
v. 27. 2. 1 9 5 9 ; T h e o d o r W. A d o r n o - A r c h i v , B r 588/44).
angegebenen Kapiteln i m »Phaidros« handelt es sich u m die A b schnitte 2 4 9 d - 2 5 2 c .
304. V o n »Es ist wirklich das Zufallsprinzip . . . « b i s » . . . w e i t hinausgeht« v o n A d o r n o angestrichen. V g l . dazu Neue Musik heute (1956),
3 1 0 . V g l . Phaidr. 2 4 6 a f f .
jetzt in: GS 1 8 , S. 1 2 4 - 1 3 3 . 3 1 1 . V g l . E d u a r d Zeller, D i e Philosophie der G r i e c h e n in ihrer g e 305. V g l . Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, Salzburg 1948.
schichtlichen E n t w i c k l u n g , 2. Teil, 1 . Abt.: Sokrates u n d die Sokratiker. Plato u n d die Alte A k a d e m i e [EA 1846], Leipzig 5 I 9 2 2 , S. 5 3 7
306. Als »Furie des Verschwindens« hatte H e g e l in seiner »Phäno-
Fn.; f e r n e r ebd. S. 488 F n .
m e n o l o g i e des Geistes« die »allgemeine Freiheit« verspottet, vgl. a. a. O. [s. A n m . 1 5 ] , S. 345 f.
3 1 2 . A d o r n o orientiert sich hier an Friedrich U e b e r w e g (Hrsg.), G r u n d r i ß der Geschichte der Philosophie, 1 . Teil: D i e Philosophie
307. V o n »Jedenfalls aber b l e i b t . . . « b i s » . . . erst w i e d e r f i n d e n kann«
des Altertums, hrsg. v. Karl Praechter, B e r l i n
I2
I 9 2 6 , S. 189.
am linken R a n d angestrichen. 3 1 3 . D i e Etablierung einer R e i h e n f o l g e der Platonischen Schriften 308. Z u m Problem der Charaktere vgl. A d o r n o s Aufsatz Arnold
Schön-
berg (1952), in: GS IO-I, S. 169; Zum Gedächtnis Eichendoffs, in: Noten zur Literatur I (1958), GS n , S. 88; sowie Kleine
Proust-Kommentare
(1958), in: Noten zur Literatur II, GS 1 1 , S . 2 0 6 .
anhand wortstatistischer U n t e r s u c h u n g e n w u r d e begründet v o n W i l h e l m Dittenberger, Sprachliche K r i t e r i e n f ü r die C h r o n o l o g i e der platonischen Dialoge, in: H e r m e s 1 6 ( 1 8 8 1 ) , S. 3 2 1 - 3 4 5 , n a c h d e m L e w i s C a m p b e l l bereits in seiner Ausgabe der D i a l o g e »Sophistes and Politicus o f Plato« ( O x f o r d 1867) Ansätze zu einer D a t i e r u n g a u f g r u n d sprachlicher B e o b a c h t u n g e n entwickelt hatte. Z u r Geschichte
9. VORLESUNG
der Datierungsversuche vgl. inzwischen Leonard B r a n d w o o d , T h e C h r o n o l o g y o f Plato's Dialogues, C a m b r i d g e 1990. In der neueren
309. A d o r n o arbeitete f ü r diese Vorlesung mit der U b e r s e t z u n g des
Forschung w i r d der »Phaidros« nicht zur G r u p p e der letzten Schriften
»Phaidros« v o n Constantin R i t t e r , in: Piaton, Sämtliche Dialoge,
Piatons ( N o m o i , Politikos, Sophistes, Philebos, Timaios) gezählt,
hrsg. v. O t t o Apelt, B d . 2: M e n o n - Kratylos - P h a i d o n - Phaidros,
sondern (mit Politeia, Parmenides u n d Theaitetos) in der mittleren
Leipzig 2 1 9 2 2 . Sein H a n d e x e m p l a r ist i m T h e o d o r W. A d o r n o A r -
Periode o d e r in einer Ubergangsphase v o m mittleren z u m späten Pia-
chiv erhalten (NB A d o r n o 40). D a n e b e n konsultierte A d o r n o auch
ton angesiedelt; vgl. dazu jetzt auch: M i c h a e l Erler, Piaton, in: U e b e r -
die englische Ubersetzung v o n B . J o w e t t , T h e Dialogues o f Plato,
w e g . Grundriss der Geschichte der Philosophie. D i e Philosophie der
vol. I, N e w Y o r k 4 I 9 3 7 ; auch darin finden sich A n n o t a t i o n e n zu den
Antike, hrsg. v o n H e l l m u t Flashar, B d . 2 / 2 , Basel 2007, S. 2 2 - 2 6 .
in dieser Vorlesung behandelten Stellen aus d e m »Phaedrus« (NB A d o r n o 49, S. 2 5 0 - 2 5 4 ) . D i e S t e p h a n u s - Z ä h l u n g , nach der Piaton üblicherweise zitiert wird, geht auf die Seiten- u n d Abschnittszahlen der dreibändigen Platon-Ausgabe v o n H e n r i c u s Stephanus (Paris 1 5 7 8 ) zurück. D i e Kapiteleinteilung, auf die A d o r n o an dieser Stelle
394 450
3 1 4 . V g l . Zeller, a . a . O . [s. A n m . 3 1 1 ] , S . 6 6 2 f f . ; U e b e r w e g / P r a e c h ter, a. a. O. [s. A n m . 3 1 2 ] , S. 329 fr. - Z u A d o r n o s Verständnis der P l a tonischen Ideenlehre vgl. auch seine Vorlesung Metaphysik. und Probleme (1965), N a S IV-I4, bes. S . 2 8 - 3 5 .
Begriff
315- Vgl. die von Phaidros referierte R e d e des Lysias (Phaidr. 227 c). In seinem Handexemplar des »Phaidros« hat Adorno neben den hier zitierten Satz den N a m e n Proust notiert.
324. Vgl. z. B. Arnold R ü g e , Die Platonische Aesthetik, Halle 1832; vgl. jetzt auch Stefan Büttner, Antike Ästhetik. Eine Einführung in die Prinzipien des Schönen, München 2006, bes. S. 2 6 f f . , 40ff.
3 1 6 . Vgl. Phaidr. 2 3 7 a f f . 3 1 7 . Vgl. Phaidr. 2 4 4 a f f . ; zur Lehre von der Anamnesis vgl. bes. Phaidr. 250 a; Phaidon 7 2 e - 7 7 a ; M e n o n 80 d.
325. Der Gedanke, daß die entscheidenden Einsichten nicht durch einen einzelnen B e g r i f f angesprochen werden können, sondern nur durch eine Konstellation von Begriffen, ist grundlegend für Adornos Philosophieverständnis, von seinem Kierkegaard-Buch bis zu den spä-
3 1 8 . Vgl. Phaidr. 250b.
ten Hauptwerken, der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie.
3 1 9 . Vgl. Phaidr. 2 5 1 a-e.
326. S. S. 168 f., w o Adorno auf das Gedicht »Der Teppich« aus dem Zyklus »Der Teppich des Lebens« von Stefan George verweist; vgl.
320. Vgl. Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, übers, v. H. C. Ketels u. H . Gottsched, in: ders., Gesammelte Werke, B d . III, Jena 2 I909, S. 35: »Dem Sublimen in dem Pedestren einen absoluten Ausdruck zu geben / . . . das ist das einzige Wunder«. Adorno zitiert diese Stelle in seinem Kierkegaard-Buch (vgl. GS 2, S. 183) und kommt auch später wiederholt darauf zurück (vgl. u. a. Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, S.435).
auch GS 7, S. 193 f.: Am Ende mögen sogar Teppich, Ornament, alles nicht Figürliche am sehnsüchtigsten der Dechiffrierung harren.
3 2 1 . Vgl. Phaidr. 252 a-c.
329. Vgl. Hegel, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse [1808], in: ders., Werke, a.a.O. [s. Anm. 5], B d . 4 : Nürnberger und Heidelberger Schriften 1 8 0 8 - 1 8 1 7 , S. 56: »Die räsonierende Vernunft sucht die Gründe der Dinge auf, d. h. deren Gesetztsein durch und in einem Anderen, welches das insichbleibende Wesen derselben, zugleich aber nur ein relativ Unbedingtes ist, indem das Begründete oder die Folge einen anderen Inhalt hat als der Grund.«
3 22. Johann Wolfgang von Goethe, »Faust. Der Tragödie erster Teil« (1808), V 784, in: Goethes Werke, a.a.O. [s. A n m . 55], B d . 3 , S . 3 1 .
327. Vgl. Zeller, Die Philosophie der Griechen, 2. Teil, 1. Abt., a.a.O. [s. A n m . 3 1 1 ] , S. 569ff. 328. Vgl. Phaidr. 249c-d.
323. Als J i c d i v w ö i a (Widerruf) bezeichnet Sokrates (Phaidr. 257a) seine zweite, >euphemistische< R e d e auf den Eros (Phaidr. 244 a ff.), die ihm als Reinigungsritual nötig wurde, u m seine inzwischen als »unwahr« und frevelhaft verworfene erste R e d e zu revidieren, in der er zunächst die These verfochten hatte, man müsse den Nichtverliebten vor dem Verliebten begünstigen (vgl. Phaidr. 2 3 7 3 - 2 4 1 d). Im R a h m e n des Beweises, daß die Götter den Menschen zu ihrer größten Glückseligkeit den Wahnsinn der Liebe verleihen, entwirft Sokrates das große Gleichnis v o m Seelenwagen mit dem befiederten G e spann, von der Ausfahrt der Seelen an den himmlischen Ort (vgl. Phaidr. 246 a ff.) und in diesem Zusammenhang auch die klassische Version der Ideenlehre, die im Zentrum von Adornos Phaidros-Interpretation steht.
3 3 1 . Vgl. neben der angeführten Stelle im »Phaidros« auch Piatons I ° n , 533 d-e, und Timaios, 7 i e - 7 2 a ; s. dazu auch Hermann G u n dert, Enthusiasmos und Logos bei Piaton, in: Lexis 2 (1949), S. 25-46.
394
453
330. Vgl. Phaidr. 241 e.
332. Vgl. Phaidr. 2 4 6 a f f . 333. D e r Verweis auf die Relevanz der in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vor allem von Martin Heidegger geltend gemachten »ontologischen Differenz« - der Unterscheidung dessen, was allen-
falls »das Sein« genannt w e r d e n kann, v o n j e g l i c h e m Seienden (vgl.
344. S . o . A n m . 3 1 4 .
Sein u n d Z e i t [s. A n m . 2 3 1 ] , S . 4 ; S. 3 8 U . 0 . ) - überrascht an dieser Stelle, da A d o r n o sich in seinen veröffentlichten Schriften sonst z u -
345. Z u r K r i t i k des ästhetischen Subjektivismus s. auch S. 1 7 2 f r . ;
meist nur polemisch zu der B e h a u p t u n g verhält, es sei d e m D e n k e n
263 u. 278.
m ö g l i c h u n d v o n i h m gefordert, sich in ein Verhältnis nicht nur z u m Seienden i m einzelnen w i e i m ganzen zu setzen, sondern darüber-
346. D i e Transkription verzeichnet hier eine L ü c k e , o f f e n b a r b e -
hinaus auch zu d e m Sein, v e r m ö g e dessen allein das jeweils Seiende
dingt durch eine Störung der Tonbandaufnahme.
sein kann; vgl. u. a. GS 1 , S. 3 3 1 ; GS 5, S. 306; GS 6, S. 8 2 u . bes. 1 2 1 ; sowie GS 1 8 , S. 1 5 5 .
347. V o n »Es besagt nämlich . . . « bis » . . . objektiven M o m e n t e n « v o n A d o r n o angestrichen.
3 3 4 . D i e Assoziation k ö n n t e sich z. B . auf Hölderlins P a t m o s - H y m ne (1802) beziehen, vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. K l e i -
348. Zur Beseitigung des Begehrens aus dem Gegenstand des Schönen
ne Stuttgarter Ausgabe, hrsg. v. Friedrich B e i ß n e r , B d . 2, Stuttgart
als G r u n d z u g der christlichen F o r m des Verhaltens z u m S c h ö n e n vgl.
1 9 5 3 , S. 1 7 7 .
Augustinus, Confessiones, eingeleitet, übersetzt u n d erläutert v o n J o s e p h B e r n h a r t , M ü n c h e n 2 i 9 6 o , IV. B u c h , Kap. 1 3 f r .
3 3 5 . V g l . Zeller, D i e Philosophie der G r i e c h e n , 2. Teil, 1 . A b t . , a . a . O . [s. A n m . 3 1 1 ] , bes. S. 882-886.
349. Siehe o b e n S. 4 6 f f .
336. Phaidr. 2 4 9 d - 2 5 0 c . In A d o r n o s H a n d e x e m p l a r des »Phaidros« ist neben d e m zuletzt zitierten Satz angemerkt: Leib als Gefängnis
/
10. VORLESUNG
Phaidon. 350. Phaidr. 250 c. 3 3 7 . V g l . Piaton, P h a i d o n 1 1 4 b . 3 5 1 . Phaidr. 2 5 0 d . 3 3 8 . Siehe o b e n S. 80. 3 5 2 . D e r B e g r i f f »Logistik«, der i m heutigen Sprachgebrauch (in 339. Wortlaut und Anlaß dieser Ä u ß e r u n g v o n J o s e f H e r m a n n D u f -
A n l e h n u n g an die B e z e i c h n u n g des militärischen Nachschubwesens)
hues, v o n 1 9 5 8 - 1 9 6 2 Innenminister v o n N o r d r h e i n - W e s t f a l e n , w a -
nur n o c h f ü r die Organisation v o n Transportleistungen gebräuchlich
ren nicht m e h r zu ermitteln.
ist, w u r d e in der Philosophie v o m frühen 20. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre als Disziplintitel f ü r die ausgebreiteten Forschungs-
340. Siehe o b e n S. 1 0 f .
gebiete der f o r m a l e n L o g i k (symbolische L o g i k , mathematische L o gik, Algebra der L o g i k usw.) verwendet; vgl. G ü n t e r Patzig, Artikel
3 4 1 . Z u r dialektischen M e t h o d e als »Wissenschaft der B e g r i f f s v e r -
»Logistik«, in: Das Fischer L e x i k o n , Philosophie, hrsg. v o n A . D i e -
knüpfung« vgl. Zeller, D i e Philosophie der G r i e c h e n , I I . i , a . a . O .
m e r u n d I. Frenzel, a . a . O . [s. A n m . 1], S. 1 6 0 - 1 7 3 ; J o s e p h M . B o -
[s. A n m . 3 1 1 ] , S . 6 1 4 f r . ; s. auch A n m . 3 8 7 .
chenski u n d Albert M e n n e , G r u n d r i ß der Logistik, Paderborn 1 9 5 4 .
342. Phaidr. 2 5 0 b [siehe o b e n S. 1 4 5 ] .
3 5 3 . Z u m B e g r i f f der »Abschattungen« vgl. E d m u n d Husserl, Ideen zu einer reinen P h ä n o m e n o l o g i e u n d p h ä n o m e n o l o g i s c h e n P h i l o s o phie, Halle 2 i 9 2 2 , S . 7 5 ; v g l . dazu auch A d o r n o , GS 5, S. 1 8 8 , sowie
343. Siehe oben S. 59.
GS 2 0 - 1 , S. 5 9 f . , und bereits GS I , S. 22.
394
455
354- N a c h Platonischer Lehre k o m m t den Einzeldingen eine b e -
366. Eine entsprechende R e g i e b e m e r k u n g findet sich weder in W e -
stimmte B e n e n n u n g jeweils nur kraft ihrer »Teilhabe« (gr. (leöe^ig)
dekinds Lulu-Drama »Der Erdgeist« (1895), noch in der späteren Fas-
an den Ideen zu (vgl. Phaidon 1 0 2 b; Parmenides 1 3 0 6 - 1 3 3 d, Timaios
sung, »Die Büchse der Pandora« (1904). Möglicherweise bezog
52a). D i e Vorstellung v o n einer Teilhabe soll auch zu verstehen g e -
A d o r n o sich auf eine Version i m Nachlaß Wedekinds, mit dem er
ben, daß derselbe Gehalt einem D i n g mehr oder weniger z u k o m m e n
sich schon 1 9 3 2 intensiv auseinandergesetzt hatte; vgl. GS 1 1 , S . 6 2 7
kann; diese Gradualität findet in der R e d e v o n »Teilen« ihren indi-
bis 633.
rekten Ausdruck. 367. A u f einen Z u g der Antizipation j e n e r Tendenzen, die erst im 355. Phaidr. 2 5 0 e .
Jugendstil des frühen 20. Jahrhunderts recht deudich zur Entfaltung kamen, bei dem französischen Dichter Charles Baudelaire ( 1 8 2 1 bis
356. Phaidr. 2 5 1 a-b.
1867) - der i h m im übrigen eher als modernistischer Antipode des Jugendstils galt - hat Walter Benjamin aufmerksam gemacht, vgl.
357. Wolfgang Amadeus M o z a r t / L o r e n z o da Ponte, Le nozze di
»Zentralpark«
Figaro (1786), K V 4 9 2 ; 2. Akt. 2. Szene, N r . 1 2 , T. 29-36: »Sento un
B d . 1-2, a. a. O. [s. A n m . 94], S. 66of. U n t e r den Materialien, die B e n -
(1939-40),
in: Benjamin,
Gesammelte
Schriften,
affetto pien di desir, ch'ora e diletto, ch'ora e martir.«
j a m i n fur sein »Passagen-Werk« gesammelt hatte, befand sich neben umfangreichen Notizen und Exzerpten zu Baudelaire (Konvolut J ,
358. V g l . Kierkegaard, E n t w e d e r - O d e r . Erster Teil, a. a. O. [s. A n m .
in: Benjamin, Gesammelte Schriften, a . a . O . [s. A n m . 94], B d . V i , hrsg. v. R o l f Tiedemann, Frankfurt a. M . 1982, S. 300-489) auch eine
136], S. 83.
M a p p e mit Notizen zum Jugendstil (Konvolut S, in: Gesammelte 359. Vgl. Walter Benjamin, Einbahnstraße (1928), in: ders., Gesam-
Schriften, B d . V-2, a . a . O . , S.674-697); darin finden sich weitere
melte Schriften, a. a. O. [s. A n m . 94], B d . IV-1, hrsg. v. Tillman R e x -
B e m e r k u n g e n zur »Präfiguration des Jugendstils« bei Baudelaire
roth, Frankfurt a . M . 1 9 7 2 , S. 1 1 6 : »An allem, was mit G r u n d schön
(S. 687 ff.).
genannt wird, wirkt paradox, daß es erscheint.« 368. Das Stichwort, unter dem der von A d o r n o hier angesprochene 360. Dieser Satz ist von A d o r n o i m T s angestrichen.
Verlust der ästhetischen Distanzierungsfähigkeit
seit Baudelaire zumeist
verhandelt wird, lautet: >Verlust< bzw. Verfall der Aurafeiti S. 5 1 8 - 5 2 3 ; Louis Leibrich, E x p e r i e n c e et philosophie de la
94], S. 1 2 5 ff. Sie findet sich - aufbauend auf der neukantianischen
v i e chez T h o m a s M a n n , in: Etudes G e r m a n i q u e s IX (1954), S. 291 bis
U n t e r s c h e i d u n g zwischen >Sachen< u n d >Werten< bzw. zwischen Fra-
307; Fritz K a u f m a n n , T h o m a s M a n n : T h e World as W i l l and R e p r e -
gen der >Genesis< und solchen der >Geltung< - bereits in G e o r g S i m -
sentation, B o s t o n 1957.
meis »Philosophie des Geldes« (Berlin 1900).
4 5 3 . T h o m a s M a n n , D e r Z a u b e r b e r g . R o m a n , B e r l i n 1924.
459. D i e Prosa v o n Flaubert - insbesondere in den bereits angesproc h e n e n R o m a n e n »Madame Bovary« u n d »L'Education sentimenta-
454. Sein Unbehagen an den Dissertationen über den Einfluß von Scho-
le« [s. A n m . 254] - gilt A d o r n o als die authentischste V e r k ö r p e r u n g
penhauer
des traditionellen bürgerlichen R o m a n s (vgl. Standort des
und Nietzsche,
über die Rolle der Musik bei T h o m a s M a n n
hat A d o r n o auch in seinem Aufsatz Zu einem Porträt Thomas
Manns
(1962) geäußert (vgl. GS 1 1 , S. 3 3 5 - 3 4 4 ; hier: 336).
im zeitgenössischen Roman,
Erzählers
GS 1 1 , S. 45). In der deutschen Literatur
des späten 19. Jahrhunderts - zwischen G o e t h e u n d T h o m a s M a n n k o m m t T h e o d o r Fontane eine ähnliche Position zu. Fontane w i e
455. D e r republikanisch orientierte Humanist L o d o v i c o S e t t e m b r i -
Flaubert konzentrieren sich in ihren R o m a n e n auf die Darstellung
ni ist der Vertreter der >Vernunft< in T h o m a s M a n n s R o m a n »Der
des Strebens nach individueller Selbstverwirklichung und E m a n z i p a -
Zauberberg«; er versucht, d e m j u n g e n Hans Castorp g e g e n ü b e r die
tion - u n d der Konflikte, in die der A n s p r u c h auf freie Selbstverwirk-
R o l l e des Erziehers einzunehmen. L e o Naphta, der K o m m u n i s t ost-
lichung des Individuums mit den N o r m e n des gesellschaftlichen A l l -
jüdischer H e r k u n f t u n d jesuitischer Prägung ist sein Gegenspieler,
g e m e i n e n fuhrt. A u c h f ü r G e o r g Lukäcs stellt das Spätwerk Fontanes
Vertreter der >MystikEffi Briest< gehört in j e n e R e i h e der großen
nold Schönberg, Stil und Gedanke, hrsg. v. Ivan Vojtech, Frankfurt
bürgerlichen R o m a n e , in denen die einfache Erzählung einer E h e
a. M . 1992, S. 97: »In der N o t i e r u n g von Brahms sind diese subkuta-
und ihres notwendigen Bruchs zu einer Gestaltung der allgemeinen
nen Schönheiten in acht Takten untergebracht«. - D i e Unterschei-
Widersprüche der ganzen bürgerlichen Gesellschaft emporwächst.«
dung zwischen »manifesten« und »subkutanen«, unter der Oberfläche
(G. Lukacs: D e r alte Fontane, in: Sinn und F o r m 3 [ 1 9 5 1 ] , H . 2, S. 7 1 ) .
verborgenen Strukturen hat A d o r n o mehrfach aufgegriffen, u. a. in
460. D e r Existenzialismus war die herrschende intellektuelle M o d e
Buch, s. NaS i-i, S. 1 1 3 ; s. auch Arnold Schönberg (1874-1951), in: Pris-
einem 1 9 5 2 niedergeschriebenen Fragment zu seinem
Beethoven-
der Nachkriegszeit; als seine führenden Vertreter galten der Philo-
men (1955), jetzt in: GS i o - i , S. 1 5 2 - 1 8 0 , hier: 1 5 7 ; und den späteren
soph, Dramatiker und R o m a n c i e r Jean Paul Sartre (1905-1980) und
Aufsatz Zum
der 1 9 5 7 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Schrift-
S . 4 2 8 - 4 4 5 ; hier: 436. Als Schlüsselthese für sein projektiertes B u c h
steller Albert Camus ( 1 9 1 3 - 1 9 6 0 ) .
zur Theorie der musikalischen Reproduktion notierte A d o r n o 1946: Die
4 6 1 . D e r Brite Graham Greene ( 1 9 0 4 - 1 9 9 1 ) war 1926 zum Katholizismus konvertiert und lebte seit den zwanziger Jahren hauptsächlich in Paris und auf R e i s e n . In seinen R o m a n e n , darunter Welter-
Verständnis Schönbergs ( 1 9 5 5 / 1 9 6 7 ) , jetzt in: GS 18,
wahre Reproduktion ist die Röntgenphotographie des Werkes. Ihre Aufgabe ist es, alle Relationen, Momente des Zusammenhanges, Kontrasts, der Konstruktion, die unter der Oberfläche des sinnlichen Klanges verborgen liegen, sichtbar zu machen. (NaS 1-2, S.9)
folge w i e »Schlachtfeld des Lebens« (1934), »The E n d of the Affair« ( 1 9 5 1 ) , »Our M a n in Havana« (1958), setzt er sich vielfach mit den D o g m e n und der katholischen Frömmigkeit auseinander. D e r R o man »The Power and the Glory« (1940) stellt die besondere B e r u f u n g des katholischen Priesters dar, zog allerdings das Mißtrauen der römischen Glaubenskongregation auf sich, die das B u c h zeitweilig auf den Index der verbotenen B ü c h e r setzte.
466. Siehe oben S. 1 6 7 f . 467. D e r amerikanische Cartoonist und Filmproduzent Walt Disney ( 1 9 0 1 - 1 9 6 6 ) gilt als >Vater< der M i c k e y M o u s e (seit 1927) und anderer weltberühmter C o m i c f i g u r e n w i e Donald D u c k (seit 1936). M i t »Flowers and Trees« produzierte Disney 1 9 3 2 den ersten Film im Technicolor-Verfahren. Seine Zeichentrick-Version des Märchens
462. A u f g r u n d einer Lücke i m Text durch Bandwechsel läßt sich nicht rekonstruieren, a u f w e i c h e n A u t o r A d o r n o den folgenden Satz bezog.
»Schneewittchen und die sieben Z w e r g e « (1937) wurde ein Klassiker des Animationskinos. N a c h dem Z w e i t e n Weltkrieg produzierte Disney auch zahlreiche Abenteuerfilme; weltweit erfolgreich waren zudem Dokumentarfilme w i e »The Living Desert« (1953) oder »The Vanishing Prairie« (1954). M i t Fernsehshows w i e »Disneyland« war
463. S. A n m . 53.
Walt Disney seit A n f a n g der 1950er Jahre auch persönlich im ameri-
464. V g l . Christian von Ehrenfels, Ü b e r Gestaltqualitäten. Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), 249-292; s. a. M a x Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, in: Psychologische Forschung, 4 (1923), 3 0 1 - 3 5 0 . A d o r n o hatte als Student in Frankfurt Vorlesungen der Gestaltpsychologen
Kurt
Goldstein ( 1 8 7 8 - 1 9 6 5 ) und A d h e m a r Gelb ( 1 8 8 7 - 1 9 3 6 ) gehört (vgl. GS 20-1, S. 156).
kanischen Fernsehen präsent, w o er seine neuesten Filme vorstellte, die Kunst der Animation erläuterte oder Filme und Serien anmoderierte. A d o r n o war mit den Produktionsbedingungen in der amerikanischen Filmindustrie hinreichend vertraut, u m zu wissen, daß der N a m e Walt Disney für einen hochgradig arbeitsteilig produzierenden Konzern stand. Dementsprechend verwendet er ihn pars pro toto für die
Kulturindustrie.
468. D i e Formel von einer »Psychologie ohne Seele« prägte Friedrich 465. Von »subkutanen« Strukturen sprach Schönberg unter anderem
Albert Lange, Geschichte des Materialismus. Zweites B u c h : G e -
in seinem Aufsatz »Brahms the Progressive«, in: A r n o l d Schoenberg,
schichte des Materialismus seit Kant [1874], 2. A u f l . , Leipzig 1 8 7 5 ,
Style and Idea, N e w York 1950, S. 96; in der deutschen Ausgabe: A r -
S.381.
394
475
469. V g l . Adornos Beitrag zur Festschrift fur M a x H o r k h e i m e r zu dessen sechzigstem Geburtstag (1955): Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, jetzt in: GS 8, S. 42-85, hier: S. 57.
die aufklärerisch-rationalistische Forderung nach einer V e r w i s s e n -
470. E i n e T h e o r i e der >aesthetic experience^ die auf den B e g r i f f der
fahl er die Orientierung an den R e g e l n der aristotelischen Poetik
Schönheit meint verzichten zu können und ihn als nichtssagend ablehnt, propagierte - anknüpfend an ähnliche Bestrebungen in der psychologischen Ästhetik bereits des ausgehenden 19. Jahrhunderts u. a. Ivor Armstrong Richards in seinen einflußreichen »Principles o f Literary Criticism« (1924), dt. Übers.: Prinzipien der Literaturkritik, Frankfurt a . M . 1985.
schaftlichung» der R e g e l p o e t i k und einer »vernünftigem B e g r ü n dung der Inhalte poetischer Darstellung propagiert. G e g e n den >Schwulst< und die Manierismen der deutschen Barockliteratur e m p und am Vorbild der französischen Klassizisten (Boileau, Corneille, R a c i n e ) , deren Dramen er auch übersetzte und auf die B ü h n e brachte. Durch rege publizistische und literarturkritische Aktivität wirkte er u m die Mitte des 18. Jahrhunderts als der bedeutendste Kritiker der deutschen Literatur (>Praeceptor GermaniaeGeschmacksdiktatur< Gottscheds.
wollen, käme u . a . J o h n Hospers, M e a n i n g and Truth in the Arts, Chapel Hill, N . C . , 1946, in Betracht.
475. Gotthold Ephraim Lessing ( 1 7 2 9 - 1 7 8 1 ) bekämpfte Gottsched in seinen »Briefen, die neueste Litteratur betreffend« ( 1 7 5 9 - 6 5 ; in: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. B a n d 8, hrsg. von
15. VORLESUNG
Karl Lachmann, Dritte
[...] verm. Aufl., besorgt durch Franz
Muncker, Stuttgart 1892) sowie in seiner »Hamburgischen Drama472. A d o r n o hatte Picassos langjährigen Galeristen D a n i e l - H e n r y
turgie« (1767-68; in: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften.
Kahnweiler (1884-1979) am 30. O k t o b e r 1949 bei R e n e Leibowitz
B d . 9, Dritte Aufl., besorgt durch F. Muncker, Stuttgart 1893).
in Paris kennengelernt (vgl. Adorno. Eine Bildmonographie, hrsg. v o m T h e o d o r W A d o r n o Archiv, Frankfurt a . M . 2003, S. 208 f.) und danach wiederholt besucht; in den sechziger Jahren erhielt er durch ihn zwei Z e i c h n u n g e n von Picasso (vgl. ebd., S. 255). E r widmete ihm 1962 den Aufsatz Jene zwanzigerJahre
(jetzt in: GS 10-2, S. 499 bis
506) und schrieb als Beitrag zu einer Festschrift aus Anlaß von K a h n weilers 80. Geburtstag 1964 den Aufsatz Über einige Relationen
zwi-
schen Musik und Malerei (jetzt in: GS 16, S. 628-642). 473- V g l . GS 14, S. 143 ff.
476. V g l . Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1 4 4 9 b 24: »Die Tragödie ist die N a c h a h m u n g einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten G r ö ß e in gewählter R e d e , derart, daß jede F o r m solcher R e d e in gesonderten Teilen erscheint und daß gehandelt und nicht berichtet wird und daß mit Hilfe von M i d e i d und Furcht eine R e i n i gung von eben derartigen A f f e k t e n bewerkstelligt wird.« (Übersetzung von O l o f G i g o n , Stuttgart 1 9 6 1 ) . 477. V g l . Adornos Untersuchung der Astrologie-Kolumnen aus der
474. D e r Wolffianer J o h a n n Christoph Gottsched ( 1 7 0 0 - 1 7 6 6 ) , seit 1 7 3 0 außerordentlicher Professor für Poetik, seit 1 7 3 4 ordendicher Professor für L o g i k und Metaphysik in Leipzig, hatte in seinem »Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen« [s. A n m . 79]
394
Los Angeles Times, The Stars Down to Earth ( 1 9 5 3 / 5 7 ) , jetzt in: GS 9-2, S. 7 - 1 2 0 . 478. A d o r n o selbst hatte in seiner Kritik des Musikanten (1954) g e -
schrieben: Verfremdung allein antwortet auf die Entfremdung (GS 14, 477
S. 7 1 ) . Welche Stelle i m Werk des Philosophen und Anthropologen
sammelte Schriften, a . a . O . , B d . V I I , Frankfurt a . M . 1982, S . 2 0 1 bis
Helmuth Plessner ( 1 8 9 2 - 1 9 8 5 ) , der seit 1 9 5 1 als Professor für Sozio-
387, bes. S. 3 2 3 - 3 2 7 .
logie an der Universität Göttingen lehrte und 1 9 5 2 - 5 3 A d o r n o an der Frankfurter Universität vertreten hatte, während dieser an der H a k ker-Foundation in Kalifornien arbeitete, hier für A d o r n o als Anstoß gewirkt haben mag, ist nicht eindeutig auszumachen; vielleicht handelt es sich auch u m eine mündliche Äußerung. In seinem 1953 p u blizierten Aufsatz »Mit anderen Augen« fuhrt Plessner aus: »Man muß der Z o n e der Vertrautheit fremd geworden sein, u m sie wieder sehen zu können. M i t erfrischten Sinnen genießt man die W i e d e r b e gegnung mit dem nun sichtbar gewordenen Umkreis, der uns zugleich freundlich umschließt und als Bild gegenübertritt. In verstärktem M a ß e erlebt diese Entfremdung, w e r als K i n d seine Heimat verließ und als reifer Mensch dahin zurückkehrt, vielleicht am intensivsten der Emigrant, der auf der H ö h e des Lebens seine tausend in heimisches Erdreich und überkommenen Geist gesenkten Wurzelfasern bis zum Zerreißen gespannt fühlt, w e n n er die ganze Überlieferung, aus der heraus er wirkt, nicht w i e die Heimat glaubt, durch die Brille der ihn freundlich beschützenden Fremde, sondern mit anderen Augen wieder entdeckt. [ . . . ] N u r das Unverständliche sucht man zu verstehen und mit ihm vertraut zu werden, nur das Vertraute kann man sich entfremden, u m es in den Blick zu bekommen, es zu überblicken. [ . . . ] Die Kunst des entfremdenden Blicks erfüllt darum eine unerläßliche Voraussetzung allen echten Verstehens. [...]« (Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Günter D u x , O d o Marquard und Elisabeth Ströker unter M i t w i r k u n g von R i c h a r d W Schmidt, Angelika Wetterer und Michael-Joachim Z e m l i n , B d . VIII: Conditio Humana, Frankfurt a . M . 1980, S . 9 2 f f . ) .
4 8 1 . Von »Und so, nach diesem Gleichnis, ...« bis »... Formales ist.« am linken R a n d angestrichen. 482. V g l . Philosophie der Neuen Musik, GS 1 2 , S. 165; s. auch Das Al-
tern der neuen Musik, GS 14, 144. 483. S. A n m . 305. 484. Von den Kulturvögten Hitlers sprach A d o r n o schon 1950 in sein e m Aufsatz Die auferstandene Kultur (vgl. GS 20-2, S.460); die öst-
lichen Kulturvögte, die jenseits der Zonengrenze - in der Sowjetischen Besatzungszone< und seit 1949 in der auf dem Gebiet dieser Besatzungszone gegründeten Deutschen Demokratischen R e p u b l i k - im Cefolge der nazistischen die Kulturpolitik ebenso als Herrschaftsmittel einsetzten, sind Gegenstand seiner Kritik in dem Aufsatz Die gegängelte Musik (1953), s. GS 14, S. 5 1 . - Das Attribut >totalitär< wurde in der Z e i t des >Kalten Kriegs< vor allem verwendet, u m die stalinistischen Herrschaftsformen i m sowjetischen Einflußbereich dahingehend zu charakterisieren, daß sie sich von denen des Faschismus nicht unterschieden. Schon vor dem einflußreichen B u c h v o n Hannah Arendt, T h e Origins o f Totalitarianism ( 1 9 5 1 ; deutsch unter dem T i tel: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a . M . 1955), hatten A d o r n o und H o r k h e i m e r in ihrer Dialektik der Aufklärung das Adjektiv >totalitär< verwendet zur Kennzeichnung der in der nationalsozialistischen Diktatur kulminierenden, aber mit dieser keineswegs sich erschöpfenden Tendenz zur totalen Kontrolle und gren-
479. D i e Apostrophierung des französischen Malers Paul Cezanne
zenlosen Herrschaft.
( 1 8 3 9 - 1 9 0 6 ) als »Vater von uns allen« (»le p e r e d e n o u s tous«) wird seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts sprichwörtlich sowohl Picasso als auch H e n r i Matisse zugeschrieben, ohne daß sich rekonstruieren ließe, w e r sie zuerst verwendete. Von Cezanne selbst wird das D i k t u m überliefert, »daß wir vielleicht alle von Pissaro h e r k o m men« (Paul Cezanne, Ü b e r die Kunst. Gespräche mit Gasquet, H a m burg 1 9 5 7 , S . 2 3 ) .
485. D e r französische Maler Georges Braque ( 1 8 8 2 - 1 9 6 3 ) galt n e ben Pablo Picasso und J u a n Gris als Begründer des Kubismus [s. A n m . 224]. 486. »Je mehr Pferde D u anspannst, desto rascher gehts - nämlich nicht das Ausreißen des Blocks aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der R i e m e n und damit die leere und fröhliche
480. V g l . Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersu-
Fahrt.« (Franz Kafka, B e i m B a u der chinesischen M a u e r und andere
chung der Grenzen menschlichen Verhaltens ( 1 9 4 1 ) , in: ders., G e -
Schriften aus dem Nachlaß in der Fassung der Handschrift. N a c h g e -
394
479
lassene Schriften und Fragmente I, hrsg. v. M a l c o l m Pasley, Frankfurt
4 9 1 . Schon Z o l a hatte sich in seinem Programm des Naturalismus
a . M . 1994, S . 2 3 5 ) ; vgl. auch Das Altern der Neuen Musik (1954), GS
unter anderem auf die positivistische Doktrin des französischen S o -
1 4 , S. 150, und GS 7, 3 1 .
ziologen und Wissenschaftstheoretikers Auguste C o m t e ( 1 7 9 8 - 1 8 57) berufen, der gefordert hatte, alle wissenschaftliche Erkenntnis streng
487. In den Schriften Benjamins ist diese Aussage nicht nachweisbar; vermutlich bezieht A d o r n o sich auf eine mündliche Äußerung Benjamins.
auf die Interpretation »positiver Befunde< zu beschränken, die unvoreingenommen zur Kenntnis zu nehmen seien. F ü r die Sozialwissenschaften wurde die Forderung nach strikter >Wertfreiheit< der Forschung i m 20. Jahrhundert einflußreich von M a x Weber vertreten, u. a. in seinen Aufsätzen »Die »Objektivität sozialwissenschafdicher und sozialpolitischer Erkenntnis« (1904) sowie »Der Sinn der »Wert-
16. VORLESUNG
freiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften« 488. D e r A n f a n g der Vorlesung fehlt in der Tonbandabschrift.
( 1 9 1 8 ) , beide in: M a x Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., hrsg. v. Johannes Winckelmann,
489. Als maßgeblicher Propagator des Begriffs >Naturalismus< zur
Tübingen
1951.
Kennzeichnung der literarischen B e w e g u n g des modernen R o m a n s im 19. Jahrhundert, die sich an den exakten M e t h o d e n der m o d e r -
492. Lücke durch Tonbandwechsel. »Wenn man einem« v o m H e r -
nen Naturwissenschaften orientierte, u m eine möglichst genaue und
ausgeber ergänzt.
unvoreingenommene Darstellung der Wirklichkeit zu erreichen, gilt der französische Schriftsteller E m i l e Z o l a (1840-1902), der sich in
493. D e r 1 9 1 2 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete
seiner Programmschrift »Le roman experimental« (1880) insbesonde-
Dramatiker
re auf Flauberts »Madame Bovary« und die »Education sentimentale«
19. Jahrhundert mit sozialkritischen naturalistischen Stücken w i e
Gerhart
Hauptmann
(1862-1946)
hatte i m
späten
als Beispiele der neuen naturalistischen Literatur berief; vgl. A r n o l d
»Die Weber« (1892) das Publikum polarisiert. N a c h d e m seine Diebs-
Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, M ü n c h e n 1 9 5 3 ,
komödie »Der Biberpelz« (1893) schlechte Kritiken erhielt, wandte
S. 829; zu Flaubert s. auch o. [Anm. 254] sowie [Anm. 459].
Hauptmann sich von der naturalistischen Darstellungsweise ab und widmete sich mythisch-religiösen und Märchenstoffen. D e n von
490. D e r französische R o m a n c i e r H o n o r e de Balzac ( 1 7 9 9 - 1 8 5 0 )
A d o r n o angesprochenen Vorwurf erhob u. a. G e o r g Lukacs, W i d e r
gilt - neben Stendhal und Flaubert - als der bedeutendste Erzähler
den mißverstandenen Realismus, a. a. O. [s. A n m . 260], S. 65.
des bürgerlichen Realismus i m 19. Jahrhundert. In seinem über 90 R o m a n e und Erzählungen umfassenden Zyklus »La C o m e d i e h u -
494. Gerhart Hauptmann, Florian Geyer, D i e Tragödie des B a u e r n -
maine« zeichnet er ein umfassendes Bild der Gesellschaft seiner Zeit.
krieges, Berlin 1896; UA 4. Januar 1896 i m Deutschen Theater, B e r -
A d o r n o entnahm Balzac, den er von J u g e n d an intensiv gelesen hatte,
lin.
grundlegende Orientierungen über die Machtverhältnisse und Verhaltenstypologien in der bürgerlichen Gesellschaft. Zugleich entwik-
495. Gerhart Hauptmann, Hanneies Himmelfahrt. Traumdichtung,
kelte er nicht zuletzt am Paradigma dieser poetisch verdichteten Sit-
Berlin 1894; UA 14. N o v e m b e r 1893 im Königlichen Schauspielhaus,
tenschilderung einen maßgeblichen Teil der Kriterien, nach denen
Berlin.
er die Ergiebigkeit sozialwissenschaftlicher Forschungsansätze b e wertete. D i e Quintessenz seiner Balzac-Lektüre
hat er in einem A u f -
satz zusammengefaßt, den er 1 9 6 1 i m zweiten B a n d seiner Noten zur
496. V g l . Lukäcs, W i d e r den mißverstandenen Realismus, a. a. O. [s. A n m . 260], S. 2 1 f.
Literatur veröffendichte, vgl. GS 1 1 , S. 1 3 9 - 1 5 7 .
394
481
497- Vgl. GS 1 2 , S. 53: Die expressionistische Musik hatte das Prinzip des Ausdrucks aus der traditionell romantischen so genau genommen, daß es Protokollcharakter annahm.
hacker zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Gerhard Funke, B o n n 1958, S. 3 3 5-344506. Diesen Satz hat A d o r n o i m T s angestrichen.
498. S . o . A n m . 222. 507. A d o r n o entfaltet hier einen Gedanken, den er auch in seinem der
Aufsatz über Die Funktion des Kontrapunkts in der neuen Musik 1 9 5 7
neuen Musik, vgl. GS 1 2 , S. 126. E i n Zitat dieses Wortlauts ist in
bereits berührt hatte: Allgemein tangiert jede Verselbständigung und In-
499. A d o r n o zitiert diese Wendung auch in seiner Philosophie
Schönbergs Schriften nicht nachweisbar. In dem von seinen W i e n e r
tensivierung eines musikalischen Mittels alle anderen, damit zwischen ihnen
Schülern - nach Schönbergs Weggang nach Berlin - herausgegebe-
jenes Gleichgewicht, jene Homöostase sich bildet, die der späte Schönberg
nen B a n d »Arnold Schönberg« (München 1 9 1 2 ) berichtet Karl Linke
einmal als das in jeder Komposition aufs neue zu erreichende Ziel definier-
[d.i. Karl Lincke, 1 8 8 4 - 1 9 3 8 ] über seine Erfahrungen mit dem L e h -
te. (GS 16, S. 1 5 1 ) ; vgl. auch die Kranichsteiner Vorlesung über Krite-
rer Schönberg unter anderem, daß dieser ihm bei Gelegenheit einer
rien der neuen Musik (1957): Die Moral des Kunstwerks, nichts schuldig
von i h m dem Meister vorgelegten Liedkomposition gesagt habe:
zu bleiben, will den Wechsel honorieren, den der erste Takt unterschreibt.
» . . . was Sie hier haben, ist Schmuck. D i e M u s i k soll aber nicht
Homöostase wird zur Forderung immanenter ästhetischer Ökonomie. (GS
schmücken, sie soll bloss wahr sein« (ebd., S. 79).
16, S. 225).
500. Vgl. Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner. A k t e n -
508. V g l . A r n o l d Schoenberg, Style and Idea, a.a. O. [s. A n m . 4 6 5 ] ,
stücke eines Psychologen [ 1 8 8 8 / 1 8 9 5 ] , in: ders., Werke, a . a . O . [s.
S. 67. Z u Schönbergs B e g r i f f der >motivischen und harmonischen
A n m . 2 9 ] , B d . II, S. 1 0 3 5 - 1 0 6 1 , hier: 1 0 4 3 .
Verpflichtungen«, die ein Stück eingeht und dann auch einzulösen hat, s. auch Adornos Versuch über Wagner [1952], GS 1 3 , S. 1 1 3 , sowie
5 0 1 . Vgl. Kriterien S. 1 9 1 f.
der neuen Musik, GS 16, S. 1 7 0 - 2 2 8 ; hier v. a.
N a S 1 - 1 , S. 1 5 4 . 509. V g l . Schoenberg, ebd., S.49: »Every tone w h i c h is added to a beginning tone makes the meaning o f t h a t tone doubtful [ . . . ] , and
502. S. o. A n m . 286.
the addition o f other tones may or may not clarify this problem. In 503. Galimathias (frz. galimatias): Unsinn, unverständliches, verworrenes Geschwätz; angeblich entstanden durch Verdrehung von Gallus Matthiae, der H a h n des Matthias, in Galli Matthias, der M a t thias des Hahns. 504. Von »Auf der einen Seite ...« bis » . . . in sich Bewegtes« von A d o r no angestrichen.
this manner there is produced a state o f unrest, o f imbalance w h i c h grows throughout most o f the piece, and is enforced further by similar functions o f the rhythm. T h e method by w h i c h this balance is restored seems to me the real idea o f the composition.« 5 1 0 . Von »die Theorie von Schönberg ...« b i s » . . .Homöostase sein« am linken R a n d angestrichen.
Wellek
5 1 1 . D e r B e g r i f f »Homöostase« war für Gleichgewichtszustände
( 1 9 0 4 - 1 9 7 2 ) schrieb u.a. ein Handbuch »Musikpsychologie und
chemisch-physiologischer Natur bereits u m die Mitte des 19. Jahr-
Musikästhetik. Grundriß
hunderts eingeführt worden von dem französischen Physiologen
505. D e r
Psychologe
und Musikwissenschaftler Albert
der systematischen Musikwissenschaft«
(Frankfurt a. M . 1963), das bis in die achtziger Jahre als Standardwerk
Claude Bernard in dessen »Le^ons surles proprietes physiologiques et
galt. A d o r n o bezieht sich hier auf den Aufsatz: »Problematik der m o -
les laterations pathologiques des liquides de l'organisme« (Paris 1859).
dernen Musik«, in: Konkrete Vernunft. Festschrift für E r i c h R o t -
Freud verwendet den B e g r i f f gelegentlich in seinen B r i e f e n an W i l -
394
483
h e l m Fließ, weist i h m aber in seinen m e t a p s y c h o l o g i s c h e n S c h r i f t e n
derts handelt es sich u m : H e n r y H o m e , L o r d K a m e s ( 1 6 9 6 - 1 7 8 2 ) ,
keine t e r m i n o l o g i s c h e F u n k t i o n zu. D e r Sache nach ist das t r i e b d y -
E l e m e n t s o f C r i t i c i s m , E d i n b u r g h 1 7 6 2 (ND H i l d e s h e i m
namische M o d e l l , das er insbesondere in »Jenseits des Lustprinzips«
Charles B a t t e u x ( 1 7 1 3 - 1 7 8 0 ) , Les B e a u x - A r t s reduits ä u n m e m e
(1920) entwickelt, mit s e i n e m K o n z e p t des Ausgleichs z w i s c h e n teil-
principe, Paris 1 7 4 6 (ND G e n f 1969); K a r l W i l h e l m R a m l e r ( 1 7 2 5 bis
1970);
w e i s e antagonistischen T r i e b e n d e m G e d a n k e n der H o m ö o s t a s e
1798), E i n l e i t u n g in die S c h ö n e n Wissenschaften ( 1 7 5 6 - 1 7 5 8 ) , L e i p -
durchaus verpflichtet; vgl. N i g e l Walker, F r e u d and Homeostasis, in:
zig
T h e British J o u r n a l f o r the P h i l o s o p h y o f S c i e n c e VII (1956), S. 61 bis
belles-lettres, o u principes de la litterature«, Paris 1 7 4 7 - 1 7 5 0 ) .
5
1 8 0 2 (letzteres ist eine U b e r s e t z u n g v o n B a t t e u x ' » C o u r s de
72. D i e m o d e r n e P s y c h o l o g i e hat sich den B e g r i f f seit den vierziger J a h r e n zu eigen g e m a c h t , n a c h d e m der amerikanische Physiologe Walter B r a d f o r d C a n n o n ( 1 8 7 1 - 1 9 4 5 ) in » T h e W i s d o m o f the B o d y « ( N e w Y o r k 1 9 3 2 ) ein allgemeines Prinzip d e r >homeostasis< f u r Gleichgewichtszustände in l e b e n d e n S y s t e m e n e i n g e f ü h r t u n d auch schon a u f den B e r e i c h der P s y c h o l o g i e übertragen hatte u n d daran anschließend K y b e r n e t i k e r w i e N o r b e r t W i e n e r
(»Cybernetics«,
N e w Y o r k 1948) d e n B e g r i f f mit d e m Prinzip des R e g e l k r e i s e s o p e rationalisiert hatten.
5 1 9 . V g l . den Tragödiensatz aus d e r Aristotelischen »Poetik« [s. A n m . 476]; dazu Lessings » H a m b u r g i s c h e D r a m a t u r g i e « [s. A n m . 475], bes. i m 37. Stück. 520. H e g e l , Werke, a . a . O . , B d . 1 3 , S . 3 2 . 5 2 1 . E b d . , S . 3 2 f.
522. Das B u c h v o n O t h m a r H . Sterzinger, G r u n d l i n i e n der K u n s t 5 1 2 . D e r Musikwissenschaftler Thrasybulos G e o r g i a d e s (1907 bis
psychologie, B d . I: D i e S i n n e n w e l t , G r a z 1 9 3 8 , hatte A d o r n o in der
1 9 7 7 ) hatte a m 10. 2. 1 9 5 4 in F r a n k f u r t unter a n d e r e m ü b e r die J u p i -
Z e i t s c h r i f t f ü r S o z i a l f o r s c h u n g 7 (1938), S.426F. rezensiert; jetzt in:
t e r - S i n f o n i e (1788; K V 5 5 1 ) gesprochen. A d o r n o äußerte sich w i e -
G S 2 0 - 2 , S. 5 0 5 f.
derholt b e e i n d r u c k t ü b e r diesen Vortrag, vgl. auch G S 1 5 , S. 380; GS 1 7 , S. 1 5 8 ; N a S I i , 7 3 .
5 2 3 . D e r irische D a n d y u n d Schriftsteller O s c a r W i l d e ( 1 8 5 4 - 1 9 0 0 ) w u r d e m i t s e i n e m R o m a n » T h e Picture o f D o r i a n Gray« ( 1 8 9 1 ) u n d
5 1 3 . V o n »Ich m ö c h t e . . . « b i s » . . . an dieser Stelle a n m e l d e n möchte« v o n A d o r n o angestrichen.
T h e a t e r s t ü c k e n w i e »Lady W i n d e r m e r e ' s Fan« (1892) o d e r »Salome« ( 1 8 9 1 ) z u m E x p o n e n t e n des Ästhetizismus i m ausgehenden 19. J a h r hundert. S c h o n in seinem Aufsatz ü b e r George
und
Hofmannsthal
Doppelt entstellt ist das symbolistisch Schöne: durch krude Stoffgläubigkeit und durch allegorische Ubiquität. Auf dem kunstgewerblichen Markt kann alles alles bedeuten. Je weniger vertraut die Stoffe, desto schrankenloser ihre Verfügbarkeit für Intentionen. Lange Seiten bei Oscar Wilde könnten den Katalog eines Juweliers abgeben, ungezählte Interieurs vom fin du siecle gleichen dem ( 1 9 3 9 / 4 0 ) hatte A d o r n o über W i l d e gespottet:
17. VORLESUNG
5 1 4 . V o n »nämlich . . . « b i s » . . . das U m g e k e h r t e « v o n A d o r n o a n g e strichen. 515-
V g l . GS 5, S. 7 .
Raritätenladen.
(GS 1 0 - 1 , S . 2 3 0 )
516. Vgl. G S n . S . 9 - 3 3 -
524. H e g e l , Werke, a.a. O., B d . 1 3 , S. 33 [s. A n m . 5 2 1 ] .
5 1 7 . V g l . K a n t , K r i t i k d e r reinen V e r n u n f t [s. A n m . 9], B 1 3 1 f.
525. V g l . die Vorlesung v. 18. 1 2 . 1 9 5 8 [S. 168].
5 1 8 . V g l . H e g e l , Werke, a . a . O . [s. A n m . 5 ] , B d . 1 3 , S . 3 2 . B e i den
526. V o n »Das S c h ö n e ist i m S i n n e der B e t r a c h t u n g e n . . . « bis
v o n H e g e l e r w ä h n t e n Klassikern der Kunstliteratur des i 8 . J a h r h u n -
» . . . b e k e h r e n m ö c h t e « v o n A d o r n o angestrichen.
394 484
535. Von »Meine These . . . « bis »... fuhrt« am linken R a n d angestri-
527• V g l . Im Jeu de Paume gekritzelt [s. A n m . 4 3 1 ] .
chen. 528. Hegel, a . a . O . , B d . 1 3 , S. 32 [s. A n m . 5 1 8 ] . 536. Das Programm einer v o n empirisch psychologischen E r h e 529. Von »Das, was v o m Kunstwerk zu verlangen i s t . . . « bis » . . . zu tun hat« am linken R a n d angestrichen.
bungen des Schönheitsempfindens ausgehenden »Ästhetik von u n ten«, w i e es bereits Gustav T h e o d o r Fechner in seiner »Vorschule der Aesthetik« (2 Teile, Leipzig 1876) entwickelt hatte, wurde i m
530. D e r deutsche Maler Hans T h o m a ( 1 8 3 9 - 1 9 2 4 ) , der von 1878
20. Jahrhundert in der psychologischen Ästhetik und neueren Ansät-
bis 1899 in Frankfurt am M a i n lebte und dort i m Städelschen
zen der »experimentellen Ästhetik« weitergeführt. Z u den Positio-
Kunstinstitut mit mehreren Werken vertreten ist, gehörte u m die
nen, von denen A d o r n o sich hier abgrenzt, gehört u.a. T h e o d o r
Jahrhundertwende zu den angesehensten Malern Deutschlands.
Lipps, Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, H a m b u r g / Leipzig 1 9 0 3 - 1 9 0 6 , aber auch die neuere psychologische Forschung,
5 3 1 . Von »Wir werden j a in Deutschland ...« b i s » . . . registriert« am linken R a n d angestrichen.
mit der er sich i m Princeton R a d i o Research Project auseinandergesetzt hatte. 537. Von »... direkte Relation« bis » . . . nicht herrscht« von A d o r n o
18.
angestrichen. V g l . hierzu GS 7, S. 1 3 0 f .
VORLESUNG
532. D e r dänische Dichter Jens Peter Jacobsen ( 1 8 4 7 - 1 8 8 5 ) fand i m
538. Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien besagt, daß dersel-
späten 19. und frühen 20. Jahrhundert große Anerkennung als W e g -
be R e i z in verschiedenen Sinnesorganen verschiedene Sinnesemp-
bereiter des Symbolismus und Neuromantizismus. I m Mittelpunkt
findungen und umgekehrt verschiedene R e i z e in demselben Sinnes-
seines Entwicklungsromans »Niels Lyhne« (1880) stehen die Phanta-
organ gleichartige Sinnesempfindungen auslösen. Nicht der äußere
sien und die unerfüllte Sexualität des jugendlichen Titelhelden, die
R e i z , sondern nur die Eigenart des gereizten Sinnesorgans bestimmt
mit psychologischem Einfühlungsvermögen geschildert
werden.
die Qualität der Wahrnehmung. Es wurde 1826 von dem Physiolo-
Seine Lyrik, die feinste Seelenregungen und Naturstimmungen
genjohannes Müller formuliert in seiner Arbeit »Zur vergleichenden
nuancenreich wiedergibt, hatte großen Einfluß auf Dichter w i e R a i -
Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Thiere«, die
ner Maria R i l k e und Stefan George. D i e »Gurre-Lieder« aus seiner
auf experimentellen Studien der Wirkungen unterschiedlicher R e i -
1886 postum veröffendichten Novelle »Ein Kaktus erblüht« w u r d e n
ze auf den Sehnerv beruhte.
von A r n o l d Schönberg vertont (UA 1 9 1 3 in Wien). 539. Von einem »Nero-Komplex« hatte E r i c h F r o m m gesprochen in 533. Peter Altenberg (d.i. R i c h a r d Engländer, 1 8 5 9 - 1 9 1 9 ) war ein
seiner R e z e n s i o n der Biographie eines amerikanischen Zeitungsma-
W i e n e r Kaffeehausliterat. Alban B e r g komponierte »Fünf O r c h e -
gnaten, in: Zeitschrift für Sozialforschung V (1936), S. 2 8 4 f .
sterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg« (op. 5). Karl Kraus gab 1 9 3 2 eine Auswahl aus Altenbergs B ü c h e r n heraus;
540. Z u dem Preludium eis moll, op. 3, Nr. 2 (1892), von Sergej
vgl. dazu auch Adornos Rezension: Physiologische Romantik,
R a c h m a n i n o f f ( 1 8 7 3 - 1 9 4 3 ) vgl. GS 16, S . 2 8 5 f .
GS 1 1 ,
634fr. 5 4 1 . Tonbandwechsel. Einfügungen in eckiger K l a m m e r v o m H e r 534. »Ästhetik und Maßstäbe der Kunst in den Reaktionsweisen des Subjekts zu begründen« am linken R a n d angestrichen.
394 486
ausgeber.
542. N a c h Jean-Jacques R o u s s e a u ( 1 7 1 2 - 1 7 7 8 ) ist die »volonte g e -
daß es die Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Elemente sich zur
nerale«, der »allgemeine Wille< i m Sinne dessen, was i m wohlverstan-
Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne. [ . . . ]
denen Interesse der Allgemeinheit liegt und deshalb sich politisch
Dies ist der Hauptsinn der Seichtigkeit, die Wissenschaft, statt auf die
durchsetzen muß, in der R e g e l keineswegs das, was in einer gegebe-
E n t w i c k l u n g des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittel-
nen Situation jeweils die vorherrschende M e i n u n g oder die »volonte
bare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen, eben-
de tous« als S u m m e der unmaßgeblichen Einzelinteressen verlangt;
so die reiche Gliederung des Sittlichen in sich, welche der Staat ist,
vgl. J.-J. R o u s s e a u , D u contrat social ou Principes du droit politique
die Architektonik seiner Vernünftigkeit [ . . . ] Das was ist zu begreifen,
(1762), in: ders., CEuvres completes, hrsg. v. B . Gagnebin u. M . R a y -
ist die A u f g a b e der Philosophie [...]« (Hegel, Werke, a . a . O . , [s.
m o n d , (Bibliotheque de la Pleiade), B d . 3, Paris 1964, bes. Liv. II,
A n m . 5], B d . 7, S. 15-26).
ch. 3. - A d o r n o war i m übrigen weit davon entfernt, die behauptete Suprematie der »volonte generale« über die verachtete »volonte de
547. Siehe S . 2 6 5 [Anm. 5 1 5 f . ] .
tous« zu idealisieren: Man weiß, welches Unheil der Rousseausche Unter-
schied von volonte generale und volonte de tous, vom Allgemeinwillen und dem aller einzelnen, angerichtet hat, als terroristische Diktatoren des Allgemeinwillensfür ihre Zwecke sich bemächtigten. (Kann das Publikum wol-
gesetzt werden« am linken R a n d angestrichen.
len? [1963], in: GS 20-1, S. 344)
549. M i t dem amerikanischen Sozialpsychologen Hadley Cantril
543. Vgl. Sigmond Spaeth, Great Symphonies: H o w to R e c o g n i z e
Project zusammengearbeitet. Cantril hatte zusammen mit G o r d o n
548. Von »daß von einer solchen Unmittelbarkeit...« bis »... herab-
(1906-1969) hatte A d o r n o 1 9 3 8 - 4 0 im Princeton R a d i o Research and R e m e m b e r T h e m , Garden City, N . Y., 1936. D e r amerikanische
Willard Allport eine wegweisende Studie über »The Psychology o f
Musikologe und Entertainer Sigmund Gottfried Spaeth ( 1 8 8 5 - 1 9 6 5 )
R a d i o « (Salem, N . H . , 1 9 3 5 ) veröffentlicht; zusammen mit Hazel
w u r d e mit seiner wöchentlichen Sendung »The Tune Detective«
Gaudet und H e r t a H e r z o g untersuchte er die Panik, die 1938 durch
auf dem amerikanischen R a d i o N B C ( 1 9 3 1 - 1 9 3 3 ) einem Massen-
Orson Welles' legendäre Radiosendung »Invasion from Mars« ausge-
publikum bekannt; 1947 präsentierte er wöchentlich
löst w o r d e n war; vgl. Invasion f r o m Mars: A Study in the Psychology
»Sigmund
Spaeth's Musical Quiz« i m M u t u a l - R a d i o p r o g r a m m .
of Panic, N e w York 1940. B e i der Studie, auf die A d o r n o sich hier bezieht, handelt es sich um: Hadley Cantril, Experimental Studies of
544. D i e 6. Symphonie h-moll, op. 74 (1893) von Peter T s c h a i k o w -
Prestige Suggestion, in: Psychological Bulletin 34 (1937), S. 528 ff.
skij ( 1 8 4 0 - 1 8 9 3 ) .
A u f die hier angesprochene Studie Cantrils geht A d o r n o auch in seiner Einleitung in die Musiksoziologie (1962) ein; vgl. GS 1 4 , S. 294.
545. In seiner Theorie der Halbbildung (1959) zitiert A d o r n o die b e treffenden Verse von Spaeth w i e folgt: »This music has a less pathetic
550. D e r schon früh auch in den USA w i e an den bedeutendsten
strain, / It sounds more sane and not so full o f pain. / S o r r o w is e n -
Konzert- und Opernhäusern Europas überaus erfolgreiche italieni-
ded, grief may be mended, / It seems Tschaikowsky will be calm
sche Dirigent Arturo Toscanini ( 1 8 6 7 - 1 9 5 7 ) war gewissermaßen der
again!« (GS 8, S. 1 1 3 )
Prototyp des Klassik-Superstars. A d o r n o hatte seine langjährige A u s einandersetzung mit Toscanini nach dessen Tod 1 9 5 7 in einem R a -
546. A d o r n o faßt hier einen Gedanken zusammen, den Hegel in der
diovortrag zusammengefaßt, der 1958 auch i m D r u c k erschienen
»Vorrede« zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« ( 1 8 2 1 )
war: Die Meisterschaft des Maestro-, jetzt in: GS 16, S. 52-67.
ausführt: »Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist, [...] ihre ewige Harmonie, aber als ihr imma-
5 5 1 . D i e »Missa Solemnis« in D - D u r , Op. 1 2 3 (1823) v o n L u d w i g v a n
nentes Gesetz und Wesen zu erforschen und begreifend zu fassen
Beethoven gilt als eine der bedeutendsten Leistungen des K o m p o n i -
habe. D i e sittliche Welt dagegen [ . . . ] soll nicht des Glücks genießen,
sten. In einem Radiovortrag hatte A d o r n o sich 1 9 5 7 mit dem sperri-
394 488
gen Werk und dessen Rezeptionsgeschichte auseinandergesetzt; im
562. Von »Und w e n n . . . « bis » . . . mehr sich erschöpft« von A d o r n o
D r u c k erschien der Vortrag unter dem Titel Verfremdetes Hauptwerk in:
angestrichen. V g l . GS 7, S. 228 f.
N e u e Deutsche Hefte, Nr. 54 (Januar i959);jetztin: GS 1 7 , S. 1 4 5 - 1 6 0 . 563. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon, oder U b e r die Grenzen 552. V g l . u.a. Minima Moralia ( 1 9 5 1 ) , N r . 7 9 : Für
Nach-Sokratiker.
der Malerei und der Poesie [1766], in: ders., Sämtliche Schriften, hg.
[...] Zu den Aufgaben der dialektischen Logik gehört es, die letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten advokatorischen Gebär-
v. Karl Lachmann und Franz Muncker, B d . 9, a. a. O. [s. A n m . 475].
de des Gedankens zu beseitigen. (GS 4, S. 79), sowie die Vorrede zur
564. Vgl. T h e o d o r A . Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig
Metakritik der Erkenntnistheorie (1956), GS 5, S. 9; ebd. auch S. 1 8 1 ff. 553. Eine entsprechende Ä u ß e r u n g Schönbergs über die »Missa solemnis« ließ sich nicht ermitteln.
1 9 0 1 ; s. dazu auch GS 7, S. 150. 565. Worauf genau A d o r n o sich hier bezieht, ließ sich nicht rekonstruieren. D e r B e g r i f f e i n e s »optischen Zeichens« ist in der Semiotik von Charles Morris bis M a x Bense nicht terminologisch eingeführt;
554. Vgl. Beethovens B r i e f v o m 10. 3. 1824 an den Verleger Schott:
dort werden stattdessen B e g r i f f e w i e »ikonisches Zeichen« oder allen-
»So schwer es mir wird, über mich selbst zu reden, so halte ich sie [die
falls »visuelles Zeichen« verwendet. In der bildenden Kunst e n t w i c -
Messe] doch für mein größtes Werk« (Beethoven, Sämtliche Briefe,
kelt sich zwar seit den fünfziger Jahren eine Auffassung v o m Bild als
hrsg. v. E m e r i c h Kastner, Neuausgabe von Julius Kapp, Leipzig 1 9 2 3 ,
einem primär den Sehsinn ansprechenden, mithin auf »optische«
S.44); s. dazu auch N a S I - i , S.200.
W i r k u n g angelegten Objekt, doch der B e g r i f f »Optical Art« (bzw. »Op Art«) kam dafür erst Mitte der sechziger Jahre auf.
555. Vgl. GS 1 4 , S. 1 4 f r . 566. D i e beiden Typoskriptseiten seit »Ich kann es mir nicht versa556. Siehe oben A n m . 550.
gen ...« bis » . . . sie erkennen« sind am linken R a n d angestrichen.
557. N i c h t ermittelt.
567. Von »dieser emotionale Gehalt ...« bis » . . . hervorheben« von A d o r n o am linken R a n d angestrichen.
558. Siehe oben S. 79 ff. 568. Von »Aber die Erkenntnis . . . « bis »... Anschauliches darstellt« 559. Siehe S. 78.
von A d o r n o angestrichen. 569. V g l . Alfred Lorenz, Das Geheimnis der F o r m bei R i c h a r d 19. VORLESUNG
Wagner, B d . 1: D e r musikalische A u f b a u des Bühnenfestspiels »Der R i n g des Nibelungen«, Berlin 1 9 2 4 , S. 291 f.: »Klar ist, daß die F o r m -
560. Von »Denn diese Synthesis . . . « bis » . . . gegenwärtig ist« von
schöpfung etwas ist, was [...] verständiges D e n k e n erfordert, da es
A d o r n o angestrichen.
sich hier u m ein ordnendes Prinzip handelt. Diese Verstandesarbeit kann natürlich, soll eine wirkliche Schöpferkraft in Frage k o m m e n ,
5 6 1 . Z u m neukantianischen Hintergrund der Ästhetik-Konzepti-
nur die deutende Folge eines genialen Momentes sein, in welchem -
on, mit der A d o r n o sich hier auseinandersetzt, vgl. H e r m a n n C o h e n ,
die Grundbedingung alles wahrhaften Schaffens - der Genius die
Ästhetik des reinen Gefühls [ 1 9 1 2 ] , 3. Aufl., in: ders., Werke, B d . 8u.
Kraft besitzt, vieles auseinanderliegende in einem einzigen A u g e n -
9., hrsg. v. Helmut Holzhey u. Gerd Wolandt, Hildesheim 1982.
blick gleichzeitig zu erfassen. [ . . . ] Vielleicht glaubt j e m a n d nicht an die Möglichkeit der Einheitsempfindung über eine geschwungene
394
491
Linie, die w i e hier über zwei Stunden dauert. [ . . . ] Trotzdem ich nur
575. D e r österreichische Komponist und Dirigent Alois Melichar
eine sehr bescheidene kompositorische Schaffenskraft mein Eigen
( 1 8 9 6 - 1 9 7 6 ) wirkte v o n 1945 bis 1949 als Dirigent der W i e n e r Phil-
nennen darf, so kann ich doch von dem - bei mir freilich nicht häufig
harmoniker und W i e n e r Symphoniker, daneben 1946 bis 1949 auch
eintretenden - inspirierten M o m e n t berichten, in w e l c h e m ich alles,
als Musikleiter der Abteilung Ernste Musik des W i e n e r R a d i o s e n -
was in Wirklichkeit aufeinanderfolgt, in einem Augenblick höchster
ders R o t - W e i ß - R o t . Z w i s c h e n 1 9 3 3 und 1955 komponierte er die
Intensität innerlich gleichzeitig höre. Das ist ein unbegreifliches m e -
Musik zu mehr als 60 Filmen, darunter eine R e i h e von NS-Propa-
taphysisches Phänomen. W i e es vor sich geht, kann ich nicht sagen:
gandastreifen (u. a. »Kameraden« [ 1 9 4 1 ] ; »>• • • reitet für Deutschland«
man hört nicht etwa bloß A n f a n g und Ende nahe aneinander g e -
[ 1 9 4 1 ] ; »Anschlag auf Baku« [1942]; »Geheimnis Tibet« [1943]).
rückt, sondern buchstäblich alle T ö n e des ganzen Werkes gleichzeitig
Seine Polemiken gegen die musikalische M o d e r n e erschienen in
in einem unnennbar kurzen Augenblick. [ . . . ] Wenn man ein großes
B u c h f o r m in den Bänden: »Die unteilbare Musik« (Wien 1952),
Werk mit allen seinen Einzelheiten vollständig auswendig beherrscht,
»Überwindung des Modernismus« (Wien 1954), »Musik in der
so k o m m e n manchmal Augenblicke vor, w o das Zeitbewußtsein
Zwangsjacke« (Wien 1958), sowie »Schönberg und die Folgen«
plötzlich w e g ist und das ganze Werk, ich möchte sagen >räumlich<
(Wien i960).
alles in höchster Genauigkeit zusammen, gleichzeitig vorhanden ist.« — A d o r n o bezieht sich auf dieses Ideal der in- und auswendigen
576. Wann zuerst eine Ware beworben wurde mit der Behauptung,
Transparenz auch in Zweite Nachtmusik, GS 18, S. 52, und in Wagner
die große Z a h l der Kunden, die sich für sie entschieden hätten, k ö n -
und Bayreuth (1966), GS 18, S. 2 1 9 .
ne nicht irren, ließ sich nicht rekonstruieren. D e r vielfältig verwen-
570. Vgl. Lukäcs, T h e o r i e des R o m a n s [s. A n m . 2 1 5 ] , S. 3 1 , 44.
nische Entertainerin Sophie Tucker (1884-1966) schon 1 9 2 7 große
dete Slogan wurde ebenso vielfältig ironisiert; so feierte die amerikaErfolge mit dem Schlager »Fifty Million Frenchmen can't be wrong«. 5 7 1 . V g l . Kant, Kritik der reinen Vernunft [s. A n m . 9], B 595 ff.
1959 g r i f f Elvis Presley diesen Titel auf für sein A l b u m »Fifty Million Elvis Fans can't be wrong«.
572. Von »Aber diese Verwandlung ...« bis »... gesprochen hat« von A d o r n o angestrichen.
577. D e r katalanische Maler und Bildhauer J o a n M i r o ( 1 8 9 3 - 1 9 8 3 ) , der in den zwanziger und dreißiger Jahren zum Kreis der Surrealisten
573. V g l . E d m u n d Husserl, Logische Untersuchungen.
Zweiter
gehörte, wurde in der Nachkriegszeit mit seinen an Kinderzeich-
Band. I. Teil ( 1 9 0 1 / 1 9 1 3 ) , in: ders., Gesammelte Werke (Husserlia-
nungen erinnernden abstrakten Bildern populär. 1954 wurde ihm
na), B a n d X I X / 1 , hrsg. v. Ursula Panzer, D e n Haag 1984, S. 443: »Ein
auf der Biennale in Venedig der Große Preis für Graphik verliehen;
intentionales Erlebnis gewinnt überhaupt seine Beziehung auf ein
1 9 5 5 w u r d e er auf der Kasseler D o c u m e n t a 1 ausgestellt; 1 9 5 7 - 5 8 war
Gegenständliches nur dadurch, daß in ihm ein Akterlebnis des V o r -
eine Ausstellung seines graphischen Werks in Krefeld, Berlin, M ü n -
stellens präsent ist, welches ihm den Gegenstand vorstellig macht.
chen, K ö l n , Hannover und H a m b u r g zu sehen.
Für das Bewußtsein wäre der Gegenstand nichts, w e n n es kein Vorstellen vollzöge, das ihn eben zum Gegenstande machte und es so er-
578. »Finnegans Wake« (1939) ist der letzte R o m a n des irischen
möglichte, daß er nun auch zum Gegenstand eines Fühlens, B e g e h -
Schriftstellers James J o y c e ( 1 8 8 2 - 1 9 4 1 ) , zweifellos eines der b e m e r -
rens, u. dgl. werden kann.«
kenswertesten, aber auch am schwersten zugänglichen Werke der L i teratur des 20. Jahrhunderts - ohne erkennbaren Handlungsstrang,
574. Vgl. Walter Harburger, D i e Metalogik. D i e L o g i k in der Musik
geschrieben in einem gezielt mehrdeutig lesbaren Sprachen-Misch-
als exakte Phänomenologie, M ü n c h e n 1 9 1 9 ; vgl. dazu GS 18, S. 160.
masch aus 40 verschiedenen Sprachen, voller Wortwitz und Anspielungen auf zentrale und abgelegene Quellen des westlichen und außerwesdichen Bildungskanons. In Anlehnung an den von J o y c e
394
493
jahrzehntelang f ü r das B u c h , das »Finnegans Wake« w e r d e n sollte,
L e v i n s o n , R . N e v i t t Sanford, T h e A u t h o r i t a r i a n Personality, N e w
v e r w e n d e t e n Arbeitstitel sprach A d o r n o auch v o n seiner Ästhetischen
Y o r k 1950; teilweise in: GS 9 - 1 , S. 1 4 3 - 5 0 9 .
Theorie als » w o r k in progress« (vgl. GS 7, S. 537). 583. V g l . A d o r n o s Vortrag Theorie der Halbbildung 579. V g l . Philosophie
auf d e m 14. D e u t -
schen S o z i o l o g e n t a g in B e r l i n (23. M a i 1959), s. GS 8, S . 9 3 - 1 2 1 .
der neuen Musik, GS 1 2 , S. i ö f f .
580. J e a n Paul Sartre äußert sich ü b e r Sade unter a n d e r e m in »Saint
584. D e r R o m a n »Brave N e w World« (1932) v o n A l d o u s H u x l e y
G e n e t . C o m e d i e n et martyr« (1952), vgl. die dt. Ü b e r s , v. U . D ö r r e n -
( 1 8 9 4 - 1 9 6 3 ) erschien in einer deutschen Ü b e r s e t z u n g v o n H e r b e r t v.
bacher, R e i n b e k 1986, S . 2 7 2 ; zu Sartres Auseinandersetzung m i t
Herlitschka zunächst unter d e m T i t e l »Welt - w o h i n ? E i n R o m a n
Sade vgl. auch R o b e r t E . Taylor, T h e SEXpressive S in Sade and
der Z u k u n f t « (Leipzig 1932), in zweiter A u f l a g e 1 9 5 0 unter d e m T i -
Sartre, in: Yale F r e n c h Studies N r . 1 1 (1953), S. 1 8 - 2 4 .
tel »Wackere n e u e Welt. E i n R o m a n der Z u k u n f t « , in späteren A u f l a g e n »Schöne n e u e Welt. E i n R o m a n der Z u k u n f t « .
5 8 1 . A u f w e i c h e Stelle i m W e r k des Marquis de Sade ( 1 7 4 0 - 1 8 1 4 ) A d o r n o sich hier bezieht, w u r d e nicht ermittelt. Als H o c h z e i t s g e schenk hatte i h m M a x H o r k h e i m e r 1 9 3 7 die »Histoire de Juliette« (Hollande 1 7 9 7 ) verehrt. V g l . auch den 2. Exkurs in der Dialektik
Aufklärung-, Juliette oder Aufklärung und Moral (GS 3, S.
20. VORLESUNG
der
585. Vgl. Zeitlose Mode. Zum Jazz. GS IO-I, S. 123 ff., sowie Über Jazz, GS 17, S. 74 fr.
100-140).
582. E s läßt sich nicht g e n a u rekonstruieren, auf w e l c h e Studie A d o r n o sich an dieser Stelle bezog; v e r m u t l i c h dachte er an E g o n
586. V g l . K a r l B a r g h e e r , L u d w i g van B e e t h o v e n s f ü n f letzte Q u a r -
B r u n s w i k , Perceptual characteristics o f schematized h u m a n
tette, H a m b u r g 1883.
Psychological Bulletin
figures.
3 6 ( 1 9 3 9 ) , 5 5 3 f f ; vgl. auch E . B r u n s w i k & L .
R e i t e r , Eindruckscharaktere schematisierter Gesichter. Zeitschrift für
587. W s e w o l o d M e y e r h o l d ( 1 8 7 4 - 1 9 4 0 ) , russischer
Psychologie 1 4 2
R e g i s s e u r u n d Theaterleiter. 1 9 3 8 w u r d e sein T h e a t e r geschlossen,
( 1 9 3 7 ) , 6 7 - 1 3 4 . D e r in B u d a p e s t g e b o r e n e P s y c h o l o g e
Schauspieler,
E g o n B r u n s w i k ( 1 9 0 3 - 1 9 5 5 ) habilitierte sich 1 9 3 4 in W i e n m i t e i -
w e i l er sich nicht d e m geforderten »sozialistischen Realismus« b e u g e n
n e m W e r k ü b e r » W a h r n e h m u n g u n d Gegenstandswelt« u n d erhielt
wollte; 1 9 3 9 w u r d e er verhaftet, 1940 wahrscheinlich hingerichtet.
1 9 3 6 einen R u f an die Universität B e r k e l e y in K a l i f o r n i e n , w o er bis zu s e i n e m T o d 1 9 5 5 lehrte. Z u r B e d e u t u n g seiner F o r s c h u n g e n f u r
588. V g l . A n m . 260; s. auch GS 7, S. 2 1 3 .
die P s y c h o l o g i e des 20.Jahrhunderts vgl. B e r n h a r d W o l f , B r u n s w i k u n d ökologische Perspektiven in der P s y c h o l o g i e , W e i n h e i m 1995.
589. D i e B e s t i m m u n g des I d e o l o g i e b e g r i f f s als notwendiges
In e i n e m B e r i c h t v o m »Kongreß f ü r die E i n h e i t der Wissenschaft
bzw. als notwendig falsches Bewußtsein,
falsches
f ü r die A d o r n o w i e d e r h o l t auf
(Logische Positivisten)«, den A d o r n o 1 9 3 7 g e m e i n s a m mit Walter
M a r x verweist (vgl. u. a. GS 10-2, S. 584; GS 2 0 - 1 , S. 387), findet sich
B e n j a m i n f ü r das Institut f ü r Sozialforschung erstellte, findet sich
bei M a r x nicht in dieser Fassung, trifft aber den B e g r i f f , v o n d e m
eine w e n i g freundliche Charakterisierung B r u n s w i k s (s. A d o r n o
-
M a r x u n d E n g e l s in ihrer K r i t i k der »deutschen Ideologie« ausgin-
Christoph
gen, vgl. M a r x / E n g e l s , D i e deutsche I d e o l o g i e [geschrieben 1 8 4 5 /
H o r k h e i m e r , B r i e f w e c h s e l . B d . I. 1 9 2 7 - 1 9 3 9 , hrsg. v.
G ö d d e u n d H e n r i Lonitz, F r a n k f u r t a. M . 2003, S. 566). E g o n B r u n s -
46, veröffentlicht 1 9 3 2 ] , in: MEW, B d . 3, S. 405: »Hier, w i e überhaupt
w i k w a r seit 1 9 3 8 verheiratet m i t der Psychoanalytikerin u n d Sozial-
bei den I d e o l o g e n , ist zu b e m e r k e n , daß sie die Sache n o t w e n d i g auf
p s y c h o l o g i n Else Frenkel ( 1 9 0 8 - 1 9 5 8 ) , die an der Studie des Instituts
d e n K o p f stellen u n d ihre I d e o l o g i e s o w o h l f ü r die erzeugende K r a f t
f ü r Sozialforschung z u m A u t o r i t ä r e n C h a r a k t e r m a ß g e b l i c h e n A n -
w i e f ü r den Z w e c k aller gesellschaftlichen Verhältnisse ansehen,
teil hatte, vgl. T h e o d o r W. A d o r n o , Else F r e n k e l - B r u n s w i k , D a n i e l J .
w ä h r e n d sie n u r ihr A u s d r u c k u n d S y m p t o m ist.«
394
495
590- Von »Ich würde soweit gehen ...« bis »... zurückgeblieben ist« von
$94. Von »Wenn das nämlich so ist ...« bis » . . . vorzuordnen« von
A d o r n o angestrichen.
A d o r n o angestrichen. Z u m Vorrang des Objekts vgl. u. a. GS 6, S. 185 bis 1 9 3 , sowie GS 10-2, S. 602 und 7 4 6 f f .
5 9 1 . V g l . Kant, Kritik der Urteilskraft [s. A n m . 3], B XXV. 595. V g l . Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, GS 5, S. 1 4 4 f r 592. N a c h Kants »Kritik der reinen Vernunft« verfugt der Mensch über zwei »Stämme der Erkenntnis [ . . . ] nämlich Sinnlichkeit und
596. V g l . Hegel, Werke, a . a . O . [s. A n m . 5 ] , B d . 1 3 , S . 5 2 f i : »Diese
Verstand« (Kritik der reinen Vernunft, a. a. O. [s. A n m . 9], B 29; vgl.
R e f l e x i o n hat zu der Betrachtung Veranlassung gegeben, daß die
auch B 74 f.). Durch die erstere werden »uns Gegenstände gegeben«,
schöne Kunst die Empfindung, und näher zwar die E m p f i n d u n g , die
durch letzteren aber »gedacht« (ebd., B 29). Strenggenommen k ö n -
w i r uns gemäß finden - die angenehme - , zu erregen bestimmt sei.
nen uns freilich, w i e Kant in der »Kritik der reinen Vernunft« argu-
M a n hat in dieser R ü c k s i c h t die Untersuchung der schönen Kunst zu
mentiert, keineswegs irgendwelche Gegenstände »gegeben« sein. D i e
einer Untersuchung der E m p f i n d u n g e n gemacht und gefragt, w e l -
Gegenstände, von denen w i r uns gegebenenfalls sinnlich affiziert
che E m p f i n d u n g e n denn nun w o h l durch die Kunst zu erregen seien:
fühlen, als bestimmte Gegenstände zu konstituieren, ist vielmehr
Furcht z. B . und Mitleid — w i e diese aber angenehm sein, w i e die B e -
eine Leistung des Subjekts, die einzig durch das Zusammenspiel z w i -
trachtung eines Unglücks Befriedigung gewähren könne. Diese
schen der Sinnlichkeit und j e n e n transzendentalen F o r m e n der A n -
R i c h t u n g der R e f l e x i o n schreibt sich besonders aus Moses Mendels-
schauung sowie der Verstandesbegriffe in der Erfahrung jeweils erst
sohns Zeiten her, und man kann in seinen Schriften viele solcher B e -
zustande k o m m e n kann; »Anschauungen ohne B e g r i f f e sind blind«
trachtungen finden. D o c h führte solche Untersuchung nicht weit,
(ebd. S. 75). Alle Erfahrung muß »außer der Anschauung der Sinne,
denn die E m p f i n d u n g ist die unbestimmte dumpfe R e g i o n des G e i -
wodurch etwas gegeben wird« - von dem man freilich nicht ohne
stes; was empfunden wird, bleibt eingehüllt in der F o r m abstraktester
weiteres wissen kann, woran man mit ihm ist - »noch einen B e g r i f f
einzelner Subjektivität, und deshalb sind auch die Unterschiede der
von einem Gegenstande, der in der Anschauung gegeben wird oder
E m p f i n d u n g ganz abstrakte, keine Unterschiede der Sache selbst.«
erscheint«, enthalten (ebd., B 126); sonst wäre sie keine Erfahrung von etwas Bestimmtem. N e b e n den Verstandesbegriffen oder katego-
597. Z w i s c h e n »Totalität« und »man« lag eine Störung bei der T o n -
rialen Formen und der Sensibilität für Umweltreize sind als M ö g l i c h -
bandaufnahme vor, von der Sekretärin i m T s verzeichnet; E i n f ü g u n g
keitsbedingungen
in eckiger K l a m m e r v o m Herausgeber. — Von »Kunstwerk als einer
der Gegenstandskonstitution
nach Kant
auch
noch die sogenannten »Formen der Anschauung« beteiligt, das sind
Totalität...« bis »... gar nicht vorkommt« am linken R a n d von A d o r -
für Kant die Ordnungsdimensionen des räumlichen Nebeneinander
no angestrichen.
und des zeitlichen Nacheinander, die weder als Verstandeskategorien begriffen, noch zu den M o m e n t e n der sinnlichen Affiziertheit durch etwas gezählt werden können (vgl. ebd., B . 3 3 - 7 3 ) . - A d o r n o hatte sich in seiner Metakritik der Erkenntnistheorie und zuletzt in seiner Vorlesung i m Sommersemester 1959 intensiv mit der »Kritik der reinen Vernunft« auseinandergesetzt, vgl. N a S , B d . I V 4 : Kants
»Kri-
tik der reinen Vernunft«, hrsg. v. R o l f Tiedemann, Frankfurt a. M .
1995-
598. Vgl. R o b e r t Henseling, Das All und wir. Das Weltgefiihl der Gegenwart und seine Urgeschichte, Berlin 1936. 599. Von »... daß der Inbegriff von R e a k t i o n e n . . . « bis » . . . in abstracto« am linken R a n d angestrichen. 600. Von »Zu diesem G e f ü h l ...« bis » . . . gegeben ist« von A d o r n o angestrichen.
593. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a.a. O., B 43 f. 6 0 1 . Karl H e r m a n n Usener ( 1 9 0 5 - 1 9 7 0 ) war seit 1953 Ordinarius für Kunstgeschichte in Marburg. E r hat neben vielen anderen A r b e i -
394
497
ten, die sich mit der Kunst des Mittelalters, der Renaissance und der
609. Von »das ist ein durch und durch modernes G e f ü h l . . . « bis »... ei-
M o d e r n e beschäftigen, auch eine Untersuchung über »Eduard M a -
gentümlich ist« am linken R a n d angestrichen.
net und die vie moderne« verfaßt, die erst nach seinem Tod in B d . 1 9 des Marburger Jahrbuchs für Kunstwissenschaften (1974) erschien.
6 1 0 . Vgl. Benedetto Croce, Grundriß der Ästhetik. V i e r Vorlesungen, Leipzig 1 9 1 3 , bes. S. 43-48; dazu auch Walter Benjamin, U r -
602. Vgl. Im Jeu de Paume gekritzelt, GS IO-I, S. 324.
sprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, B d . I-i [s. A n m . 109], S. 223 ff.
603. B e i welcher Gelegenheit die Graphikerin und Bildhauerin K ä the Kollwitz ( 1 8 6 7 - 1 9 4 5 ) sich über Manet in dem hier von A d o r n o
6 1 1 . Von »Diese Synthesis . . . « bis »... vermittelt« am linken R a n d
kritisierten Sinn äußerte, ließ sich nicht ermitteln.
angestrichen.
604. »Spleen et ideal« ist der Titel des ersten von sechs Teilen in B a u -
6 1 2 . Hegel, a . a . O . [s. A n m . 5], B d . 1 3 , S. 3 72 f.
delaires Gedichtband »Les Fleurs du Mal« ( 1 8 5 7 / 1 8 6 8 ) , vgl. B a u d e laire, CEuvres completes, a. a. O. [s. A n m . 368], B d . 1 , S. 7 - 8 1 .
6 1 3 . S. S. 1 8 8 f . u. A n m . 4 1 1 .
605. D i e gesamte Passage seit »In den Bildern von M a n e t . . . « bis » . . . der spekulative Gedanke eigentlich kann« ist von A d o r n o am linken R a n d angestrichen.
6 1 4 . V g l . Edgar Zilsel, D i e Geniereligion. E i n kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen B e gründung ( 1 9 1 8 ) , hrsg. v . J o h a n n Dvorak, Frankfurt a . M . 1990. 6 1 5 . J . W Goethe, »Ein Gleiches« (»Wanderers Nachtlied«), in: ders.,
21.
VORLESUNG
606. Diese B e m e r k u n g ist zu verstehen i m K o n t e x t der These, die
Werke, a. a. O. [s. A n m . 55], B d . 1 , S. 142. 6 1 6 . V g l . z . B . Goethe, »Die Nacht«, ebd., S. 18.
A d o r n o in der Negativen Dialektik auf die Formel bringt: Erkenntnis ist ein XQwaac, i d o e t a i (GS 6, S. 62). D e r Topos zitiert die Telephos-
6 1 7 . W i l h e l m Dilthey hatte gegen die naturalistische Psychologie des
Sage: Einzig der Speer des Achilles, durch den Telephos verwundet
positivistischen 19. Jahrhunderts geltend gemacht, daß alles, »was für
worden war, vermochte dessen Wunde zu heilen. - Für A d o r n o hat
uns da ist«, nur v e r m ö g e der »innere[n] Auffassung der psychischen
das Kunstwerk grundsätzlich Anteil an dem als verletzend und be-
Ereignisse und Tätigkeiten« zu Bewußtsein k o m m e n kann. M i t den
schädigend gesehenen Wirkungszusammenhang der diskursiven L o -
psychischen Ereignissen und Tätigkeiten »entsteht ein eigenes R e i c h
gik und instrumenteilen Vernunft; allerdings soll es in diesem Z u -
v o n Erfahrungen, welches i m inneren Erlebnis seinen selbständigen
sammenhang dann eben doch deijenige Teil sein, an den man sich
Ursprung und sein Material hat, und das demnach [ . . . ] Gegenstand
halten könne und müsse, u m doch noch so etwas w i e eine Heilung
einer besonderen Erfahrungswissenschaft ist«. (Wilhelm Dilthey, E i n -
der dadurch verursachten Schäden erreichen zu können.
leitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für
607. Von »Man könnte ...« bis »... verlorengeht« von A d o r n o ange-
sammelte Schriften, B d . 1 , hrsg. v. Bernhard Groethuysen, Göttingen
strichen.
' 1 9 9 0 , S. 8 f.) N a c h Kants »oberstem Grundsatz aller synthetischen
das Studium der Gesellschaft und der Geschichte [1883], in: ders., G e -
Urteile« (vgl. Kritik der reinen Vernunft, a . a . O . , [Anm.9], B 197) 608. V g l . Lukacs, Wider den mißverstandenen Realismus, a . a . O . ,
konnte Dilthey nun argumentieren, daß diese durch den B e g r i f f des
S. 86 f.
»Erlebnisses« von allen extrapsychisch beobachtbaren Gegenständen und Ereignissen abgehobene Dimension der »inneren Erfahrung« als
394
499
die »Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« an-
che N ö t i g u n g , w o z u auch eine äußere Gesetzgebung möglich ist;
zuerkennen sei. D e m n a c h versprach die Erforschung der Strukturen
beide also eines Zwanges, er mag nun Selbstzwang oder Z w a n g
und Eigengesetzlichkeiten des >ErlebensundWirf w e g , damit du gewinnst!«
tik v o n A u s d r u c k u n d K o n s t r u k t i o n 1 0 4
1 8 2 - Sinn des G a n z e n 1 8 4
VORLESUNG
106
N a t u r geschichtlich 1 0 6 - K o n s t r u k t i o n u n d F o r m 108
1 2 . VORLESUNG
186
R e k a p i t u l a t i o n 186 - Kunstgenuß 1 8 6 - D e r E i n w o h n e r
-
K r i t i k des Schöpfertums 109 - Scheu v o r d e m A u s d r u c k
18 8 - Fetischismus 1 9 0 - Ästhetischer G e n u ß 1 9 2 - D u r c h -
1 1 0 — R e d u k t i o n des Individuums 1 1 5 — Verstummen nach
bruch 1 9 5 - A u f h e b u n g des p r i n c i p i u m individuationis
A u s c h w i t z 1 1 6 - Krise des Sinns 1 1 6 - Grenze der K o n s t r u k -
1 9 7 - Das Verstehen v o n K u n s t w e r k e n 198
tion 1 2 0 1 3 . VORLESUNG 8. VORLESUNG
122
201
R e f l e k t i e r t e r Mitvollzug 2 0 1
-
Ästhetische
Dummheit
202 - U b e r s e t z u n g , K o m m e n t a r , K r i t i k 204 - Vergeistigung
K r i s e des Sinns (Fortsetzung) 1 2 2 - D i e verstümmelte N a t u r z u m Sprechen b r i n g e n 1 2 4 - A u s d r u c k der E n t f r e m d u n g
der Kunst 206 - Konstruktivismus 2 1 1 - Dialektik der sinn-
1 2 6 - V e r f r e m d u n g 1 2 7 - K o n s e q u e n z der K o n s t r u k t i o n
lichen u n d geistigen M o m e n t e i m K u n s t w e r k 2 1 2
1 2 9 - Aleatorik 1 3 3 - P r o b l e m der Charaktere 1 3 7 14. VORLESUNG 9. VORLESUNG
139
214
Geistiger Gehalt 2 1 6 - Strukturzusammenhang 2 2 1 - K r a f t -
D i e Platonische Lehre v o n der Schönheit 1 3 9 - Einleitung
feld 2 2 4 - Allergie gegen das sinnlich Wohlgefällige 2 2 6 -
zur »Phaidros«-Interpretation
Ästhetik o h n e Schönheit 228
1 4 0 - Enthusiasmos
143 —
Schönheit als eine F o r m des Wahnsinns 1 4 4 - E r g r i f f e n s e i n 146 — S c h m e r z als Konstituens der E r f a h r u n g des S c h ö n e n 1 4 7 - K e i n e D e f i n i t i o n 148 - Idee 1 4 9 - Subjektivität des
15. VORLESUNG
231
S c h ö n e n 1 5 0 - N a c h a h m u n g der Idee der Schönheit 1 5 0 -
Richtigstellungen zur B e s t i m m u n g des Kunstwerks
M o m e n t der G e f a h r in der Schönheit 1 5 2
E n t f r e m d u n g 2 3 4 - B e z i e h u n g auf das O b j e k t in der bilden-
394
521
231-
den K u n s t 2 3 6 - »Abstrakte« Kunst 2 3 7 - F o r m als sedimentierter Inhalt 2 4 1 - Spannungsverlust 243 -
2 1 . VORLESUNG
326
Theoretische
Voraussetzungen der Kunsterfahrung 244
Wiederherstellung der Wahrheit 326 - Idee in der Totalität der M o m e n t e 328 - » . . . v o n der Sache ganz erfüllt zu w e r -
16. VORLESUNG
247
S c h ö n h e i t u n d Wahrheit 2 4 7 - Naturalismus 249 - W a h r -
den« 3 3 1 - Erlebnis 3 3 3 - Künstlerpsychologie 3 3 5 - E i n f ü h l u n g 336 — Das K u n s t w e r k als objektivierter Geist 3 3 7 — Künsderische P r o d u k t i o n 338
heit des Ausdrucks 2 5 4 - S t i m m i g k e i t 255 - N o t w e n d i g k e i t 2 5 6 - D i e Idee des S c h ö n e n als ein in sich B e w e g t e s 258 -
STICHWORTE ZU DEN VORLESUNGEN
H o m ö o s t a s e 2 5 9 — D i e vermittelte Wahrheit 2 6 1
17. VORLESUNG
263
Subjektivismus u n d Objektivismus in der Ästhetik 263
-
Hegels K r i t i k des Geschmacks 266 - P h y s i o g n o m i k des Ä s theten 2 7 0 - G o ü t quand m e m e 274 - A k k u m u l i e r t e E r f a h rung 2 7 5 - M o d e 276
1 8 . VORLESUNG
278
K r i t i k des ästhetischen Subjektivismus 278 - K r i t i k der psychologischen Ästhetik 2 8 1 - M e t h o d i k 286 - U n m i t t e l b a r keit der subjektiven R e a k t i o n vermittelt 2 8 7 - K o n s u m des Prestiges 288 - Das emotionale Verhältnis zur Kunst 2 9 1
1 9 . VORLESUNG
294
R e k a p i t u l a t i o n 294 - »The T i r e d Business-Man's Show< 296 - Begriffslose Synthesis 298 - Erkenntnis der Kunst 3 0 1 - A b w e h r r e a k t i o n e n gegen die m o d e r n e K u n s t 303
2 0 . VORLESUNG
310
R e k a p i t u l a t i o n 3 1 0 - R a n c u n e der N i c h t m i t g e k o m m e n e n gegen neue Kunst 3 1 1 - Halbbildung 3 1 2 - E n t f r e m d u n g der m o d e r n e n Kunst v o m K o n s u m selbst ein Gesellschaftliches 3 1 4 - Lukäcs' P s e u d o - R e a l i s m u s 3 1 5 -
Ideologie-
b e g r i f f 3 1 9 - Kants Subjektivismus 3 1 9 - K r i t i k der T h e o rie der ästhetischen E r f a h r u n g 3 2 2 - Mehrdeutigkeit des Kunstwerks 323
522
343
A n m e r k u n g e n des Herausgebers
391
Editorische N a c h b e m e r k u n g
503
Register
509
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