50 Schlüsselideen Der Philosophie
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50 Schlüsselideen Der Philosophie - kurze Einfuehrung...
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Philosophie
Sachbuch
50
Ben Dupré
schlüssel ideen
Ben Dupré
50 Schlüsselideen
Philosophie
Aus dem Englischen übersetzt von Regina Schneider
Spektrum
AKADEMISCHER VERLAG
Inhalt Einführung 3
PROBLEME DER ERKENNTNIS 01 Das Gehirn im Tank 4 02 Platons Höhle 8 03 Der Schleier der Wahrnehmung 12 04 Cogito ergo sum 16 05 Verstand und Erfahrung 20 06 Die dreiteilige Theorie des Wissens 24
PHILOSOPHIE DES GEISTES 07 Das Leib-Seele-Problem 28 08 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? 32 09 Der Turing-Test 36 10 Das Schiff des Theseus 40 11 Der Geist der Anderen 44
LOGIK UND BEDEUTUNG 27 Argumentformen 108 28 Das Barbier-Paradoxon 112 29 Der Fehlschluss des Spielers 116 30 Das Sorites-Paradoxon 120 31 „Der König von Frankreich hat eine Glatze“ 124 32 Der Käfer in der Schachtel 128
WISSENSCHAFT 33 Wissenschaft und Pseudowissenschaft 132 34 Paradigmenwechsel 136 35 Ockhams Rasiermesser 140
ÄSTHETIK 36 Was ist Kunst 144 37 Der intentionale Fehlschluss 148
ETHIK
RELIGION
12 Humes Guillotine 48 13 Des einen Freud … 52 14 Die Theorie des Göttlichen Moralgebots 56 15 Die Buh-Hurra-Theorie 60 16 Die Zweck-Mittel-Debatte 64 17 Die Erfahrungsmaschine 68 18 Der Kategorische Imperativ 72 19 Die Goldene Regel 76 20 Handlungen und Unterlassungen 80 21 Das Argument der Schiefen Ebene 84 22 Über den Ruf der Pflicht hinaus 88 23 Ist es (moralisch) schlecht, Pech zu haben? 92 24 Tugendethik 96
38 Der teleologische Gottesbeweis 152 39 Der kosmologische Gottesbeweis 156 40 Der ontologische Gottesbeweis 160 41 Das Problem des Bösen 164 42 Die Verteidigung Willensfreiheit 168 43 Glaube und Vernunft 172
TIERRECHTE
Glossar 204 Index 206 Impressum 208
25 Fühlen Tiere Schmerzen? 100 26 Haben Tiere Rechte? 104
POLITIK, GERECHTIGKEIT UND GESELLSCHAFT 44 Positive und negative Freiheit 176 45 Das Differenzprinzip 180 46 Leviathan 184 47 Das Gefangenendilemma 188 48 Straftheorien 192 49 Rettungsboot Erde 196 50 Gerechter Krieg 200
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Einleitung In ihrer langen Geschichte hat die Philosophie mehr kühne Denker mit gefährlichen Ideen hervorgebracht als jede andere Disziplin. Im Wissen um die Macht ihrer vermeintlich umstürzlerischen Gedanken wurden Descartes, Spinoza, Hume und Rousseau, um nur einige zu nennen, mit Kirchenbann bedroht, an der Veröffentlichung ihrer Werke oder ihrem beruflichen Weiterkommen gehindert oder ins Exil gezwungen. Das berühmteste Beispiel ist Sokrates, in dessen Ideen der Stadtstaat Athen einen derart verderblichen Einfluss sah, dass er ihn zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilte. Nun werden Philosophen heute nicht mehr wegen ihrer Ideen hingerichtet, was man höchstens insofern bedauern könnte, als damit auch ein Gradmesser für deren „Gefährlichkeit“ verschwunden ist. Heute gilt die Philosophie als eine archetypische wissenschaftliche Disziplin, deren Fachleute zurückgezogen in ihren Elfenbeintürmen sitzen, fernab von den Problemen des wirklichen Lebens. Doch dieses Klischee ist in vielerlei Hinsicht weit von der Wahrheit entfernt. Die Fragen der Philosophie mögen ohne Ausnahme tiefgründig und oft schwierig sein, doch sie sind wichtig. Die Wissenschaft verfügt heute über das Potenzial, ihre speziellen „Spielplätze“ mit allerhand wunderbarem „Spielwerk“ auszustatten, angefangen von Designer-Babys bis hin zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Doch leider liefert sie keine Bedienungsanleitung dazu (und kann dies auch gar nicht). Um zu entscheiden, was wir tun sollen, nicht was wir tun können, müssen wir uns der Philosophie zuwenden. Bisweilen lassen sich die Philosophen fortreißen von der schieren Begeisterung, die eigenen Gedanken sprudeln zu hören (denen zu lauschen in der Tat sehr unterhaltsam sein kann). Weit häufiger aber bringen sie erhellende Klarheit in Fragen, die uns alle angehen sollten. Und genau solche Fragen sind es, die dieses Buch aufgreift und untersucht. Es ist für Autoren an dieser Stelle üblich, Lob über Andere auszuschütten und jedweden Tadel auf die eigene Kappe zu nehmen. Üblich vielleicht, aber auch seltsam unlogisch (denn Lob und Tadel sollten zusammengehören) und schwerlich empfehlenswert in einem Buch über Philosophie. Ganz im Sinne von P. G. Wodehouse, der seiner Tochter The Heart of a Goof mit den Worten gewidmet hat, dass „ohne ihre unablässige Anteilnahme und Ermutigung das Buch in der Hälfte der Zeit fertig geworden wäre“, will ich zumindest etwas Lob sehr gern mit Anderen teilen. Insbesondere gebe ich Lob und Dank an meinen stets gut gelaunten und hochmotivierten Lektor Keith Mansfield weiter, der sämtliche Zeitleisten und viele der angeführten Zitate beigetragen hat. Auch meinem Verleger Richard Milbank (Quercus) danke ich sehr für sein unerschütterliches Vertrauen und seine Unterstützung. Mein größter Dank gilt meiner Frau Geraldine und meinen Kindern Sophie und Lydia, ohne deren unablässige Anteilnahme und Ermutigung …
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Probleme der Erkenntnis
01 Das Gehirn im Tank – ein Gedankenexperiment „Stellen Sie sich vor, ein verrückter Wissenschaftler operiert einem Menschen das Gehirn heraus. Er legt es in einen Tank mit Nährlösung, welche das Gehirn am Leben hält. Die Nervenenden verbindet er mit einem Supercomputer, wodurch das körperlose Gehirn die Illusion hat, alles sei völlig normal – Personen, Gegenstände, der Himmel, alles scheint weiterhin da zu sein. Doch in Wirklichkeit erfährt das Gehirn nichts als elektrische Impulse, die vom Computer zu den Nervenenden wandern.“ Ein Alptraumszenario? Stoff für Science-Fiction? Vielleicht. Aber genau so käme es Ihnen vor, wenn Sie die Person mit dem körperlosen Gehirn in einem Tank wären! Sollte Ihr Gehirn tatsächlich in einem Tank liegen statt in Ihrem Schädel, so hätten Sie dennoch völlig normale Erlebnisse, genau so wie ein realer Körper in einer realen Welt. Nur ist die Welt um Sie herum – der Stuhl, auf dem Sie sitzen, das Buch in Ihrer Hand oder Ihre Hände selbst – Teil der Illusionen, Gedanken und Empfindungen, die der verrückte Wissenschaftler in Ihr körperloses Gehirn über seinen Supercomputer einspeist. Ich – ein Gehirn, das in einem Tank schwimmt? Das glaube ich nicht, werden Sie sagen. Und auch die meisten Philosophen glauben das wahrscheinlich nicht. Aber Sie müssen es auch gar nicht glauben. Sie müssen lediglich zugeben, dass Sie nicht sicher sein können, nicht vielleicht doch ein Gehirn zu sein, das in einem Tank schwimmt. Das Problem dabei ist: Sollten Sie zufällig doch eines sein (und diese Möglichkeit lässt sich nun mal nicht ausschließen), dann würden sich all die Dinge, die Sie von der Welt zu wissen glauben, als falsch erweisen. Und wenn das möglich ist, dann wissen Sie im Grunde genommen gar nichts. Die bloße Möglich-
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ca. 375 v. Chr.
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Platons Höhlengleichnis
Das Leib-Seele-Problem
Das Gehirn im Tank – ein Gedankenexperiment keit scheint all unser Wissen um die Außenwelt zu unterhöhlen. Stellt sich die Frage: Lässt der Tank irgendein Schlupfloch?
Gehirn im Tank – Ursprünge Die klassische Idee vom Gehirn im Tank bekam 1981 mit dem Werk Vernunft, Wahrheit und Geschichte des amerikanischen Philosophen Hilary Putnam ein modernes Gewand. Der Kern der Idee jedoch reicht sehr viel weiter zurück. Putnams Gedankenexperiment ist im Grunde die modernisierte Version eines Schauermärchens vom „bösen Geist“ (genius malignus / malin génie), den der französische Philosoph René Descartes in seinem 1641 erschienen Werk Meditationen über die Grundlagen der Philosophie heraufbeschworen hat. Descartes’ Ziel war es, das Denkgebäude menschlicher Erkenntnisse auf unerschütterbaren Grundpfeilern neu zu errichten. Er entwickelt zunächst die „Methode des Zweifels“ und verwirft jegliche Einsichten, die auch nur die geringsten Ungewissheiten zulassen. Nachdem er die trügerische Unzuverlässigkeit unserer Sinne sowie den durch Träume geschaffenen Schein herausgestellt hat, verfolgt er seinen „methodischen Zweifel“ bis zum Äußersten: „So will ich denn annehmen, … irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich zu täuschen. Ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen, durch die er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt.“ Simulierte Welten in der Popkultur Ideen wie die vom Gehirn im Tank haben sich als derart anregend und suggestiv erwiesen, dass sie auch in der Welt der Popkultur zahllose Blüten getrieben haben. Eine der bekanntesten ist der Film Matrix aus dem Jahr 1999, in dem der Computer-Hacker Neo (gespielt von Keanu Reeves) entdeckt, dass das moderne Amerika im Grunde eine virtuelle Realität ist, die von einer bösen künstlichen Intelligenz erschaffen wurde
und in der er zusammen mit anderen Menschen in mit Flüssigkeit befüllten Behältern lebt und an hochkomplexe Computerprogramme angeschlossen ist. Matrix war ein durchschlagender Erfolg, ein Film, der das Gehirn-im-Tank-Szenario auf dramatisch anschauliche Weise mit allen wesentlichen Elementen umsetzt und an die Macht extrem skeptischer Argumente erinnert.
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Cogito ergo sum
Das Schiff des Theseus
Der Schleier der Wahrnehmung
Die Erfahrungsmaschine
Das Gehirn im Tank
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Probleme der Erkenntnis Verstrickt in seine Überzeugungen und Meinungen erkennt Descartes schließlich, dass eine Tatsache unbestreitbar bestehen bleibt: Cogito („ich denke“) – ein (scheinbar) sicheres Fundament, auf dem er neue Grundsätze zu entwickeln beginnt (siehe Seite 16). Beide, Putnam wie Descartes, spielen des Teufels Advokaten. Sie nehmen zunächst eine skeptische Haltung an, um sie später zu widerlegen. Doch viele Philosophen sind bis heute von der alles infrage stellenden Denkrichtung stärker beeindruckt als von den Versuchen der beiden, sich davon wieder frei zu machen. Putnam beispielsweise möchte zeigen, dass das Gehirn-im-Tank-Szenario in sich nicht schlüssig ist. Ein solches Gehirn vermag vor allem einen Gedanken nicht auszudrücken – nämlich den, dass es sich nur in einem Tank befindet. Doch damit demonstriert er lediglich, dass der Zustand, ein Gehirn im Tank zu sein, von innerhalb des Tanks heraus nicht erkennbar und damit auch nicht beschreibbar ist. Es handelt sich um ein Argument, das allenfalls auf der Ebene sprachlicher Bedeutungen einen Sieg darstellt (wenn überhaupt) und wohl kaum weit genug reicht, um die Frage der Erkenntnisfindung zu erhellen.
Das Simulationsargument Der unbedarfte Laie mag versucht sein, die alptraumhaften Folgerungen der Skeptiker zu verwerfen. Aber halt, nicht so schnell. Es gibt nämlich eine geradezu geniale These aus jüngerer Zeit von dem amerikanischen Philosophen Nick Bostrom, nach der es sehr wahrscheinlich ist, dass wir bereits in einer computersimulierten Realität leben! Überlegen wir doch mal … In Zukunft ist damit zu rechnen, dass unsere zivilisierte Welt eine derart hoch entwickelte technische Reife erlangt, dass wir mithilfe von Computern simulierte menschliche Wesen erschaffen können sowie Welten, die von diesen Wesen bewohnt werden. Um derlei virtuelle Welten zu erhalten, bedarf es relativ geringer Mittel. Ein einziger Laptop der Zukunft könnte Millionen von simulierten Wesen beheimaten, womit vorprogrammiert wäre, dass die simulierten Wesen
den natürlichen Personen zahlenmäßig bei weitem überlegen wären. Die Erfahrungen sowohl der natürlichen als auch der simulierten Wesen wären nicht unterscheidbar. Die einen wie die anderen würden denken, sie seien real und nicht simuliert, wobei Letztere (die die große Mehrheit stellen) sich natürlich irrten. Dieses Simulationsargument wird gerne bemüht, um hypothetische Zukunftsszenarien aufzuzeigen. Aber wer sagt denn, dass diese „Zukunft“ nicht bereits im Gange ist? Dass wir die technische Kompetenz nicht längst erlangt und derlei Wesen bereits simuliert haben? Natürlich nehmen wir an, dass wir keine simulierten Wesen in einer simulierten Welt sind. Doch diese Annahme mag lediglich der hochklassigen Programmierung geschuldet sein und ist, folgen wir der Logik des Bostromschen Arguments, sehr wahrscheinlich falsch.
Das Gehirn im Tank – ein Gedankenexperiment Skeptizismus Umgangssprachlich bezieht man die Bezeich-
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Der Computer ist so
nung „skeptisch“ auf Menschen, die zum Zweifel gegenüber all- gescheit – dem Opfer gemein anerkannten Überzeugungen neigen oder ständig misstrau- kann es sogar so scheiisch gegen andere Menschen oder Ideen im Allgemeinen sind. In nen, dass es dasitzt und diesem Sinne kann man den Skeptizismus beschreiben als einen diese Worte jetzt liest, die gesunden, unvoreingenommenen Hang, allgemein anerkannte von der amüsanten, doch Überzeugungen kritisch anzuzweifeln und zu prüfen. Eine skeptische Denkhaltung ist im Allgemeinen ein dienlicher Schutz gegen ganz absurden Annahme Leichtgläubigkeit, kann aber mitunter in eine alles bezweifelnde handeln, es gebe einen Richtung kippen, unabhängig davon, ob berechtigte Gründe dafür bösen Wissenschaftler, bestehen. Ob das nun gut ist oder schlecht, sei dahingestellt, aber der den Leuten die Gehir„skeptisch“ im üblichen Sinne meint etwas gänzlich anderes als ne herausoperiert und im philosophischen Gebrauch des Wortes. sie in einen Tank mit Der philosophische Skeptizismus besagt nicht, dass wir nichts Nährlösung steckt. wissen – nicht zuletzt deshalb, weil eine solche Aussage ganz of- Hilary Putnam, 1981 fenkundig unsinnig wäre (wir könnten ja nicht wissen, dass wir nichts wissen). Die skeptische Denkhaltung zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass sie jeglichen Anspruch auf Erkenntnis der Wirklichkeit infrage stellt. Wir meinen, viele Dinge zu wissen. Aber wie wollen wir diesen Anspruch verteidigen? Welche Gründe können wir vorlegen, um diesen oder jenen Anspruch auf eine Erkenntnis zu rechtfertigen? Unser vermeintliches Wissen von der Welt basiert auf Wahrnehmungen, die wir über unsere Sinne erlangen und für gewöhnlich von unserem Verstand gefiltert sind. Aber sind diese Wahrnehmungen nicht immer fehleranfällig? Können wir je sicher sein, dass wir nicht halluzinieren oder träumen, oder dass unsere Erinnerung uns Streiche spielt? Wenn Traumerfahrungen nicht unterscheidbar von Erfahrungen im Wachzustand sind, dann können wir nie gewiss sein, dass etwas, von dem wir denken, es wäre real, auch tatsächlich real ist – dass das, was wir für wahr halten, auch tatsächlich wahr ist. Im Extremfall führen derlei Gedankenspiele zu bösen Geistern und Gehirnen im Tank … Die Erkenntnistheorie (Epistemologie) ist ein Teilgebiet der Philosophie, die sich mit Wissen befasst. Sie ermittelt, was wir wissen, wie wir davon wissen können und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit bestimmte Überzeugungen als Wissen gelten. Insofern kann die Erkenntnistheorie als Reaktion auf die Herausforderung des Skeptizismus gesehen werden, die im Laufe ihrer Geschichte zahllose Versuche unternommen hat, ihn zu besiegen. Doch bislang ist es keinem Philosophen nach Descartes geglückt, ein stichhaltiges Argument gegen den Skeptizismus vorzubringen. Und so wirft die Vorstellung, dass der Tank am Ende doch kein Schlupfloch lässt, weiterhin einen gedankenschweren Schatten über die Philosophie.
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es geht SindWorum Sie ein Gehirn im Tank?
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Probleme der Erkenntnis
02 Platons Höhle Stellen Sie sich vor, Sie wären zeit Ihres Lebens in einer dunklen Höhle gefangen: Hände und Füße sind gefesselt und auch Ihr Kopf ist so festgebunden, dass Sie nur geradeaus auf die Höhlenwand vor sich blicken können. Hinter Ihnen lodert ein Feuer, das einen Schein wirft. Zwischen Ihrem Rücken und dem Feuer befindet sich ein Weg, auf dem Ihre Wärter Statuen und andere Gegenstände hin und her tragen. Die Schatten, die diese Gegenstände auf die Höhlenwand vor Ihnen werfen, sind die einzigen Dinge, die Sie und Ihre Mitgefangenen je gesehen haben, alles, über das Sie je nachgedacht und gesprochen haben. Das Höhlengleichnis, das vermutlich bekannteste der vielen Bilder und Analogien des griechischen Philosophen Platon, erscheint im siebten Buch seines Hauptwerkes Politeia, worin er den idealen Staat und den idealen Herrscher entwirft – den Philosophenkönig. Um seine Idee der Philosophenherrschaft zu erläutern, stützt Platon sich auf eine detaillierte Betrachtung von Wahrheit und Wissen und gebraucht in diesem Zusammenhang das Höhlengleichnis. Wie komplex und vielschichtig Platons Auffassung von Wissen und den Gegenständen des Wissens ist, zeigt das ganze Gleichnis: Stellen Sie sich nun vor, Sie würden aus den Fesseln befreit und könnten in der Höhle umhergehen: Im ersten Moment sind Sie geblendet vom Feuer. Ganz allmählich erkennen Sie die Gegebenheiten der Höhle immer deutlicher und verstehen, woher die Schattenbilder kommen, die Sie bislang für die reale Welt gehalten haben. Und schließlich erlaubt man Ihnen, die Höhle zu verlassen und hinauszutreten in die sonnenhelle Welt, wo Sie die Fülle der Realität erschauen, beleuchtet vom hellsten aller Himmelsgestirne – der Sonne.
Deutung des Höhlengleichnisses Platons Höhlengleichnis wurde in vielen Interpretationen eingehend diskutiert, doch der Kern seiner Aussage liegt klar auf der Hand. Die Höhle steht für das „Reich des Werdens“, für die sichtbare, sinnlich erfahr-
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ca. 375 v. Chr.
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Platons Höhlengleichnis
Cogito ergo sum
Platons Höhle bare Alltagswelt, in der alle Einzelgegenstände unvollkommen und veränderlich sind. Der Gefesselte (der gewöhnliche Mensch) lebt in einer Welt der Schattenbilder und Illusionen. Der Befreite hingegen, der ungehindert durch die Höhle wandern kann, gelangt zu der genauesten Erkenntnis der Realität, die die stets veränderliche Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt zulässt. Im Gegensatz dazu Sieh nämlich Mensteht die Welt außerhalb der Höhle. Sie symbolisiert das „Reich des Seins“, die nur geistig erfassbare Welt der Wahrheit, die erfüllt schen wie in einer unterist von Gegenständen der Erkenntnis, die vollkommen, ewig wäh- irdischen, höhlenartigen rend und unveränderlich sind. Wohnung … Denn zuerst,
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meinst du wohl, dass dergleichen Menschen nicht nur wahr sein, sondern auch vollkommen und unverändervon sich selbst und vonlich. Ein solches Wissen jedoch kann die Erfahrungswelt (die Welt einander je etwas andeinnerhalb der Höhle) nicht bieten: ein groß gewachsener Mensch res gesehen haben als erscheint klein neben einem Baum; ein Apfel, der am helllichten die Schatten, welche das Tag leuchtend rot erscheint, wirkt in der Dämmerung schwarz … und so weiter. Daraus schließt Platon, dass es ein weiteres Reich Feuer auf die ihnen gemit nicht wandelbaren und ewig währenden Gegenständen geben genüberstehende Wand muss (die Welt außerhalb der Höhle), die er „Ideen“ oder „Formen“ der Höhle wirft? Platon, ca. 375 v. Chr. nennt. Als Abbild der Idee der Gerechtigkeit etwa ist so auch die Die Ideenlehre Nach Platons Ansicht muss echtes Wissen
einzelne gerechte Handlung gerecht. Wie das Höhlengleichnis veranschaulicht, gibt es eine hierarchische Ideenordnung, die umspannt wird von der Idee des Guten (symbolisiert durch die Sonne), die allen anderen Ideen ihre letztendliche Bedeutung zuweist und ihrem Bestehen gar zugrunde liegt.
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Die Platonische Liebe Die Idee, mit der man Platon heute meistens verbindet, ist die sogenannte Platonische Liebe. Sie basiert auf dem im Höhlengleichnis gemachten scharfen Gegensatz zwischen der vom Verstand erfassbaren Welt und der Sinnenwelt. Die klassi-
sche Formulierung der Idee von der höchsten und vollkommensten Form der Liebe, die sich nicht körperlich, sondern seelisch-geistig ausdrückt, findet sich im Symposion, einem weiteren berühmten Dialog des griechischen Philosophen.
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Probleme der Erkenntnis Das Universalienproblem Platons Ideenlehre sowie das metaphysische Fundament, auf dem sie gründet, mögen fremdartig und überaus kompliziert erscheinen, doch sie suchen das sogenannte Universalienproblem zu beseitigen. Dieses ist seitdem in der Philosophie immer wieder ein beherrschendes Thema gewesen und fand im Mittelalter mit zwei philosophischen Schlachtlinien seinen Höhepunkt. Auf der einen Seite standen die Realisten (oder Platonisten), für die Allgemeinbegriffe wie Röte oder Größe unabhängig von bestimmten roten oder großen Einzeldingen existierten. Auf der anderen Seite standen die Nominalisten, die Allgemeinbegriffe für bloße Namen oder Bezeichnungen hielten, die man mit bestimmten Gegenständen verknüpfte, um bestimmte Ähnlichkeiten zwischen ihnen hervorzuheben. Die gleiche grundlegende Unterscheidung, die zumeist in den Begriffen Realismus und Anti-Realismus zum Ausdruck kommt, findet bis heute einen Nachhall in vielen Gebieten der modernen Philosophie. So gibt es nach der realistischen Position in der Welt „dort draußen“ durchaus Gegenstände (wie physikalische, ethische oder mathematische Gegebenheiten), die unabhängig von unserem Wissen oder unserer Erfahrung existieren. Im Gegensatz dazu steht die als antirealistisch bekannte Position, nach der es eine notwendige und innere Beziehung zwischen den Dingen, die wir wissen, und unserem Wissen um sie gibt. Der grundsätzliche Anstoß zu all diesen Kontroversen aber kam vor über 2000 Jahren von Platon, einem der ersten und extremsten Vertreter aller philosophischen Realisten. Zur Verteidigung von Sokrates Es geht Platon in seinem Höhlengleichnis nicht nur darum, seine Ansichten über die Realität und unser Wissen darüber zu erläutern, wie insbesondere im letzten Teil des Gleichnisses deutlich wird. Nachdem er der Höhle entstiegen ist und das Wesen der letzten Wahrheit und Realität erkannt hat, Platon in der Popkultur Platons Höhlengleichnis findet ein literarisches Echo in den Chroniken von Narnia, einer sieben Bücher umfassenden Serie von Fantasy-Romanen des irischen Schriftstellers C. S. Lewis. Am Ende des letzten Buches erleben die Kinder, die im Mittelpunkt der Geschichten stehen, die Zerstörung von Narnia und treten ein in das Land des Aslan, in das wahre Narnia. Es ist ein wunderbares Land, sehr viel schöner als das alte Narnia, das sie kannten. Die Kinder erfahren,
dass sie in Wahrheit tot und aus dem Schattenreich herausgetreten sind, das nur ein schwaches Abbild der ewiglichen und unveränderlichen Welt war, die sie fortan bewohnen. Trotz der offensichtlich christlichen Botschaft, ist der Einfluss Platons unverkennbar. Lewis’ Werk ist nur eines von unzähligen Beispielen, das von der enormen (und oft unvermuteten) Wirkung zeugt, die der griechische Philosoph auf die westliche Kultur, Religion und Kunst genommen hat.
Platons Höhle fürchtet sich der befreite Gefangene davor, in die Höhle zurückzukehren und seine ehemaligen, in geistigem Dunkel verharrenden und unwissenden Mitgefangenen eines Besseren zu belehren. Gewöhnt an das helle Licht der Welt außerhalb, stolpert er zunächst in der Finsternis der Höhle umher und wird von den nach wie vor Gefangenen als Narr verlacht. Ihrer Meinung nach hat die Reise den Befreiten zerstört; sie wollen ihn nicht anhören und erwägen gar, ihn zu töten, so er auf seinen Erkenntnissen beharre. Platon spielt damit auf eine grundsätzliche Misere des Philosophen an, der Spott erntet und auf Ablehnung stößt, will er versuchen, den einfachen Menschen aufzuklären und auf den Weg der Erkenntnis und Weisheit zu führen. Insbesondere hat er dabei das Schicksal seines Lehrmeisters Sokrates (seines Sprachrohrs in der Politeia und in den meisten seiner anderen Dialoge) im Sinn, der sich zeit seines Lebens weigerte, seine philosophischen Lehren zu mäßigen und vom Athenischen Staat 399 v. Chr. schließlich hingerichtet wurde.
Worum geht Irdisches Wissenes ist nur Schatten
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03 Der Schleier der Wahrnehmung Wie sehen (hören und riechen) wir die Welt? Die meisten von uns gehen völlig unkritisch davon aus, dass die fassbaren Gegenstände um uns herum mehr oder weniger so sind, wie wir sie wahrnehmen. Doch birgt diese dem gesunden Menschenverstand entsprechende Auffassung Probleme, die viele Philosophen zu der Frage geführt haben, ob wir die Außenwelt tatsächlich unmittelbar wahrnehmen. Ihrer Ansicht nach haben wir einen direkten Zugang nur zu inneren „Ideen“, „Eindrücken“ oder zu „Sinnesdaten“, um es mit einem modernen Begriff zu formulieren. John Locke, englischer Philosoph des 17. Jahrhunderts, gebrauchte ein berühmtes Bild, um dies zu veranschaulichen. Der menschliche Verstand, so Locke, ist „gar nicht so unähnlich einem Zimmer, das gegen das Licht vollständig abgeschlossen ist und in dem nur einige Öffnungen vorhanden sind, um sichtbare Abbilder oder Ideen von den Dingen draußen hereinzulassen“. Lockes Bild hat allerdings einen großen Haken. Wir können sehr wohl annehmen, dass die Ideen, die in das Zimmer hineingelangen, mehr oder weniger wahrheitsgetreue Abbilder von außerhalb befindlichen Dingen sind. Letztlich schlussfolgern wir aber nur, dass diese inneren Abbilder mit den äußeren Dingen (oder mit der Dingwelt überhaupt) weitgehend übereinstimmen. Unsere Ideen, die uns allein direkt zugänglich sind, bilden einen undurchdringlichen „Schleier der Wahrnehmung“ zwischen uns und der Außenwelt. In seinem Essay von 1690 mit dem Titel Ein Versuch über den menschlichen Verstand lieferte Locke eine der ausführlichsten Beschreibungen der sogenannten „repräsentationalen“ Modelle der Wahrnehmung. Jedes dieser Modelle, die als Quelle der Erkenntnis nur die vermittelnden Ideen oder die Sinnesdaten zugestehen, lässt eine
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ca. 375 v. Chr. Platons Höhlengleichnis
Der Schleier der Wahrnehmung Kluft zwischen uns und der Außenwelt entstehen. Und genau dort, in dieser Kluft, wurzelt der Zweifel an der Erkenntnis der Wirklichkeit. Um diesen Schleier der Wahrnehmung zu zerreißen und den Skeptizismus zu bezwingen, müsste man doch wieder eine direkte Verbindung zwischen dem Beobachter und den Gegenständen der Außenwelt herstellen. Da es diese nach Locke jedoch nicht gibt, wirft sein Modell Probleme auf. Wozu also soll es gut sein?
Primäre und sekundäre Qualitäten Die Unzuverlässigkeit unserer Wahrnehmung liefert den Skeptikern eines der wichtigsten Argumente gegen jeglichen Erkenntnisanspruch. Die Skeptiker führen die Tatsache ins Feld, dass eine Tomate je nach Lichtbedingungen von rot bis schwarz erscheinen kann, um unsere Sinne als verlässliche Erkenntnisquelle anzuzweifeln. Mit einem Wahrnehmungsmodell, das innere Ideen von äußeren Gegenständen trennt, sucht Locke dem Einwand der Skeptiker zu entgehen und stützt sich in seiner Diskussion auf eine weitere, wesentliche Unterscheidung – die primären und sekundären Qualitäten. Die Röte ist keine Eigenschaft, die der Tomate innewohnt, sondern ein Produkt aus der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Dazu gehören bestimmte physikalische Merkmale der Tomate (wie ihre Mikro- und Oberflächenstruktur), das sensoriDas cartesische Theater Lockes Wahrnehmungsmodell ist heute als „repräsentationaler Realismus“ bekannt im Unterschied zum „naiven“ Realismus, dem wir alle (selbst der Philosoph außer Dienst) fast unentwegt anhängen. Beide Sichtweisen sind realistisch, weil sie davon ausgehen, es gebe eine von uns unabhängige Außenwelt. Doch einzig der naive Realismus betrachtet die Röte der Tomate als eine simple Eigenschaft der Tomate selbst. Seine klassische Formulierung mag von Locke stammen, das repräsentationale Wahrnehmungsmodell geht aber nicht auf ihn zurück.
Etwas abfällig wird es bisweilen auch mit dem Begriff „Cartesisches Theater“ versehen. Bereits Descartes sah das Bewusstsein des Menschen als eine Bühne, auf der Ideen von einem inneren Beobachter betrachtet werden – der immateriellen Seele. Dass dieser innere Beobachter, oder „Homunkulus“, selbst wiederum einen Beobachter zu benötigen scheint (und so bis ins Unendliche), wird häufig als Einwand gegen die Theorie gebraucht. Doch trotz aller Bedenken gilt das Modell bis heute als überaus einflussreich.
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Probleme der Erkenntnis sche System des Wahrnehmenden und die Bedingungen, die zum Zeitpunkt der Wahrnehmung vorherrschen. Diese Eigenschaften (oder besser Nicht-Eigenschaften) kommen nicht der Tomate als solcher zu und werden „sekundäre Qualitäten“ genannt. Zugleich hat die Tomate bestimmte wirkliche Eigenschaften wie eine bestimmte Größe und Form, die nicht abhängig sind von den Wahrnehmungsbedingungen, und zudem auch nicht von der Existenz eines Wahrnehmenden überKeines Menschen haupt. Diese „primären Qualitäten“ sind mit einem Gegenstand Kenntnis … kann über selbst untrennbar verbunden. Sie begründen die sekundären Quaseine Erfahrung hinaus- litäten und rufen Ideen im menschlichen Geist hervor. Im Untergehen. schied zu den sekundären Qualitäten ähneln (nach Lockes DarstelJohn Locke, 1690 lung) Ideen von primären Qualitäten den physikalischen Gegenständen selbst und ermöglichen eine Erkenntnis derselben. Darum ist die Wissenschaft vor allem mit den primären Qualitäten befasst. Unsere Ideen von den primären Qualitäten, und das ist hier entscheidend, liefern im Hinblick auf die Herausforderung der Skeptiker den Beleg gegen ihre zweiflerischen Lehrmeinungen.
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Gefangen in Lockes Zimmer Einer der frühesten Kritiker Lockes war sein irischer Zeitgenosse George Berkeley. Berkeley akzeptiert das repräsentationale Wahrnehmungsmodell, nach dem die unmittelbar wahrgenommenen Gegenstände Ideen sind. Aber er erkennt sogleich, dass Locke damit weit davon entfernt ist, die Skeptiker zu bezwingen, sondern Gefahr läuft, sich ihnen auszuliefern. Verschanzt in seinem abgeschlossenen „Zimmer“ würde Locke niemals überprüfen können, ob die von ihm angenommenen „sichtbaren Abbilder oder Ideen von den Dingen draußen“ auch tatsächlich den Dingen der Außenwelt ähneln. Er würde niemals in der Lage sein, den Schleier zu heben und auf die andere Seite zu sehen. Folglich bleibt er in „So widerlege ich das“ Heute wird Berkeleys immaterialistische Theorie als eine virtuose, wenn auch exzentrische metaphysische Glanzleistung betrachtet. Ironischerweise hielt sich Berkeley selbst für einen Meister der menschlichen Vernunft. Nachdem er die Klippen in Lockes mechanistischer Auffassung der Welt gewandt umschifft hat, bringt er eine Lösung vor, die ihm nicht nur klar ersichtlich scheint, sondern mit einem Schlag auch sämtli-
che Schwachstellen ausmerzt und Einwendungen der Skeptiker wie der Atheisten abschmettert. Umso ärgerlicher wäre es heute für ihn, nur auf den berühmten, wenn auch verständnislosen Ausspruch des englischen Gelehrten Samuel Johnson reduziert zu werden, als dieser wütend über Berkeleys Beweis der Nicht-Existenz der Materie mit den Worten „So widerlege ich das“ gegen einen Stein trat.
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einer Welt der Repräsentationen gefangen und macht damit keinen Stich gegen die Skeptiker. Es besteht in der Tat Nachdem er die Gefahren von Lockes Position einleuchtend dargelegt hat, kommt Berkeley zu einem außergewöhnlichen die auffallend verbreitete Schluss. Statt den Schleier zu zerreißen im Versuch, eine Verbin- Meinung, dass Häuser, dung zwischen uns und der Außenwelt herzustellen, folgert er, Berge, Flüsse, mit einem dass es auf der anderen Seite des Schleiers gar nichts zu verbinden Wort, alle sinnlichen Obgibt. Für Berkeley besteht die Wirklichkeit in den „Ideen“ oder jekte, eine natürliche Sinneseindrücken selbst. Und mit diesen sind wir natürlicherweise oder reale Existenz habereits vollkommen und wahrhaft verbunden. So umgeht er die ben, die von ihrem WahrGefahren des Skeptizismus – aber zu einem hohen Preis: Er leuggenommenwerden durch net eine reale, physische Außenwelt! Nach Berkeleys idealistischer (oder immaterialistischer) Theorie den Verstand verschiegilt: esse est percipi – „Sein heißt Wahrgenommenwerden“. Hören den ist. also die Dinge in dem Moment auf zu existieren, da wir aufhöGeorge Berkeley, 1710 ren, sie zu betrachten? Berkeley lässt diese Frage zu, hat aber sogleich die Antwort parat: Gott. Alle Dinge im Universum sind stets auf den göttlichen Geist zurückzuführen. Die Existenz und das Fortbestehen der ideellen Welt sind damit gesichert.
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Was Worum liegt hinteres demgeht Schleier?
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04 Cogito ergo sum Bar jeglicher Überzeugung, die nicht denkbar in Zweifel gezogen werden könnte, hilflos umhertreibend in einem Meer der scheinbar unergründlichen Ungewissheit, sucht Descartes verzweifelt nach sicherem Halt – nach irgendeinem unerschütterlichen Grund, auf dem er das Gebäude der menschlichen Erkenntnis neu errichten kann … „Ich merkte, dass während ich so denken wollte, dass alles falsch sei, es notwendig ist, dass ich, der dies dachte, etwas bin. Ich bemerkte also, dass die Wahrheit „Ich denke, also bin ich“ (cogito ergo sum) so sicher ist, dass all die äußerst extravaganten Annahmen der Skeptiker nicht in der Lage sind, sie zu erschüttern. So beschloss ich, diese Wahrheit vorbehaltlos als erstes Prinzip der Philosophie zu akzeptieren, nach der ich gesucht hatte. Ich denke, Dieses Diktum des Franzosen René Descartes ist der wohl bealso bin ich. rühmteste und vermutlich einflussreichste Gedanke in der GeRené Descartes, 1637 schichte der westlichen Philosophie.
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Der methodische Zweifel In der wissenschaftlichen Revolution, die Europa im 17. Jahrhundert erfasste, war Descartes ganz vorne mit dabei. Es war sein ehrgeiziges Vorhaben, die drögen Dogmen der mittelalterlichen Welt über Bord zu werfen und die Wissenschaft auf einem unerschütterbaren Fundament neu zu errichten. Zu diesem Zweck führt er die strikte „Methode des Zweifels“ ein. Um bei seiner eigenen Metapher zu bleiben: Er gab sich nicht damit zufrieden, die faulen Äpfeln – die falschen Annahmen – auszusortieren; nein, er leerte gleich den ganzen Korb aus, und damit auch jede Annahme, die auch nur den geringsten Zweifel offen ließ. Denn es könnte sein, dass ein böser Dämon nur darauf lauert, uns zu täuschen, so dass selbst die als selbstverständlich angenommenen Wahrheiten der Geometrie und Mathematik nicht länger gewiss sind. Doch just an diesem Punkt, als er radikal an allem zweifelt, sogar daran, dass es den eigenen Körper, die Sinne, die Mitmenschen und die Außenwelt gibt, findet er seine Rettung in der Erkenntnis „Ich denke, also bin ich“. So verblendet er sein
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Der Schleier der Wahrnehmung
Cogito ergo sum
Auf die Sprache kommt es an Cogito ergo sum – dieses bekannte lateinische Diktum findet sich in Descartes Principia philosophiae von 1644 (deutsch: „Die Prinzipien der Philosophie“. Aber in seinem Discours de la méthode von 1637 (deutsch: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung) taucht die französische Version auf: Je pense, donc je suis. In seinem bedeu-
tendsten Werk Meditationes de prima philosophia (deutsch: „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“) von 1641 hingegen erscheint es in seiner allgemeingültigen Form überhaupt nicht. Im philosophischen Kontext wird die Schärfe des Cogito-Arguments insofern deutlich, als es ausschließlich im Präsens und in der ersten Person Gültigkeit hat.
mag, so sehr der Dämon jeden seiner Gedanken getäuscht haben mag, fest steht, dass irgendwer oder irgendetwas existieren muss, das getäuscht oder getrogen werden kann. Selbst wenn er sich in allem täuscht und irrt, lässt sich nicht bezweifeln, dass er in diesem Moment, da er den Gedanken fasst, getrogen werden zu können, sein muss. Der Dämon „wird es niemals fertigbringen, dass ich nichts bin, so lange ich denke, dass ich etwas sei… ’Ich bin, Ich existiere‘, dieser Satz ist notwendig wahr, so oft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse.“
Die Grenzen des Cogito Viele Kritiker, frühe wie spätere, befinden, dass Descartes zu viele Schlüsse aus dem Cogito-Argument gezogen habe. Er sei, so seine Kritiker, lediglich zu dem Schluss berechtigt, dass sich das Denken fortlaufend vollzieht, nicht aber, dass er als Subjekt es sein muss, der denkt. Doch auch wenn wir hinnehmen, dass Gedanken ein denkendes Subjekt voraussetzen, so müssen wir doch erkennen, dass das, was Descartes’ Erkenntnis eröffnet, sehr begrenzt ist. Zunächst einmal steht das cogito grammatikalisch in der ersten Person, funktioniert also auch nur auf die eigene Person bezogen: Es übersteigt sicherlich nicht die Mächte des Dämons, mir vorzugaukeln, du würdest denken (und entsprechend zu folgern, dass du existierst). Zweitens steht das cogito im Präsens: demnach könnte es sein,
1981 Das Gehirn im Tank
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Probleme der Erkenntnis
Ursprünge des Cogito Cogito ergo sum gilt als das wohl bekannteste philosophische Zitat, dessen Ursprünge allerdings nicht ganz eindeutig sind. Zwar ist es untrennbar mit Descartes verbunden, doch reicht die Idee dahinter
weit vor seine Zeit zurück. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. hat Augustinus zum Beispiel ähnlich formuliert: „Selbst wenn ich mich täusche, bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen.“
dass ich aufhöre zu sein, wenn ich nicht denke. Drittens ist das „Ich“, dessen Existenz eingeräumt ist, extrem schwammig definiert und schwer fassbar: Möglicherweise habe ich weder die Biografie noch andere Eigenschaften, von denen ich glaube, sie machten mich aus. Und tatsächlich kann es durchaus sein, dass ich mich nach wie vor in den Fängen des trügerischen Dämonen befinde. Kurzum, das „Ich“ des cogito ist ein bloßer Moment des (Selbst)-Bewusstseins, der von allen anderen Dingen getrennt werden kann, einschließlich der eigenen Vergangenheit. Was also sollte Descartes auf einem so wackeligen Fundament errichten können?
Die Rekonstruktion der Erkenntnis Descartes mag bis auf den tiefsten Grund geschürft haben, aber hat er überhaupt Material für einen philosophischen Wiederaufbau übrig gelassen? Er scheint den tragenden Balken unüberbietbar hoch gelegt zu haben – er will die absolute Gewissheit, dass wir keine Marionetten eines bösen Dämons sind. Wie sich zeigt, gelingt ihm diese philosophische Kehrtwende erstaunlich (wenn nicht gar beunruhigend) schnell. Zwei Hauptpfeiler stützen Descartes neue Erkenntnistheorie. Er stellt zunächst fest, dass am cogito das Besondere die „Klarheit“ ist, mit der wir die Gewissheit des eigenen Denkens einsehen, und daraus leitet er die allgemeine Regel ab, „dass alle von uns ganz klar und deutlich eingesehenen Dinge wahr sind“. Aber wie können wir uns dessen sicher sein? Weil die klarste und deutlichste Idee von allen die eigene Idee von einem vollkommenen, allmächtigen und allwissenden Gott ist. Gott ist der Ursprung all unserer Ideen, und da Gott gut ist, wird er uns nicht täuschen und trügen; sofern wir also unsere Beobachtungsgabe und unseren Verstand einsetzen (der uns ebenfalls von Gott gegeben ist), werden wir zu wahrer Erkenntnis gelangen, nicht zur Unwahrheit. Mit der Annahme eines vollkommenen Gottes weicht das Meer der Zweifel rasch zurück – die Welt ist damit wieder hergestellt und die Neukonstruktion unseres Wissens kann auf einer festen, wissenschaftlichen Grundlage beginnen.
Cogito ergo sum Bleibende Zweifel Descartes hat mit seinem Versuch, aus
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Die Zuflucht zur Wahr-
der skeptischen Grube zu klettern, die er sich selbst gegraben hat, haftigkeit eines höchsten nur wenige überzeugt. Im Mittelpunkt der Kritik steht vor allem Wesens, um daraus die der (un-)rühmliche „Cartesische Zirkel“ – das erst zu Beweisende Wahrhaftigkeit unserer wird bereits vorausgesetzt. Gott soll mittels klarer und deutlicher Sinne zu beweisen, Ideen bewiesen werden, soll aber, da er ein gutes und vollkommeist ein überraschender nes Wesen ist, gleichfalls auch Garant für unsere klaren und deutlichen Ideen sein. Wie stichhaltig auch immer das Argument sein Irrweg. David Hume, 1748 mag (und es ist alles andere als klar, ob Descartes tatsächlich in eine so offensichtliche Falle lief), auf jeden Fall ist schwer nachvollziehbar, dass er den Dämon damit erfolgreich gebannt haben will. Descartes kann nicht leugnen (und tut dies auch nicht), dass es Irrtümer gibt. Und folgen wir seiner allgemeinen Regel, dann heißt das zwangsläufig, dass wir zuweilen auch falsch liegen können, wenn wir von etwas eine klare und eindeutige Idee zu haben glauben. Wir können es nur nicht erkennen, wenn wir irren. Und wenn wir unsere Irrtümer nicht ausmachen können, dann bleibt die Tür einmal mehr weit geöffnet für die Skeptiker. Descartes wird oft als Vater der modernen Philosophie bezeichnet. Und das zurecht, wenn auch nicht aus den Gründen, die er sich erhofft hatte. Sein Ziel war es, den skeptischen Zweifel ein für allemal zu verbannen, so dass wir uns getrost der rationalen Suche nach wahrer Erkenntnis widmen können. Am Ende aber hat Descartes mehr Zweifel gestreut als gebannt. Bis heute tut sich die Fachwelt schwer mit dem Skeptizismus, der seit Descartes einen der ersten Plätze im thematischen Katalog der Philosophie einnimmt.
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Worum es geht Ich denke, also bin ich
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Probleme der Erkenntnis
05 Verstand und Erfahrung Wie erlangen wir Wissen von den Dingen? Speist sich unsere Erkenntnis von der Welt in erster Linie durch den Verstand? Oder spielt die Sinneserfahrung die entscheidende Rolle? Verstand und Erfahrung gelten als zwei grundlegende Erkenntnisprinzipien, die die Geschichte der westlichen Philosophie in hohem Maße geprägt haben. Insbesondere gelten sie als der Zankapfel zwischen zwei überaus einflussreichen philosophischen Richtungen – dem Rationalismus und dem Empirismus. Drei grundlegende Unterscheidungen Um zu verstehen, worum es im Streit zwischen Rationalisten und Empiristen geht, wollen wir zunächst auf drei Begriffspaare eingehen, mit denen die Philosophen ihre unterschiedlichen Ansätze verdeutlichen. a priori vs. a posteriori Als a priori bezeichnet man Erkenntnisse, die unabhängig von der Erfahrung gewonnen werden können – also ohne nachzuschauen, wie die Dinge in der Welt beschaffen sind: „2 + 2 = 4“ beispielsweise ist eine Erkenntnis a priori – man muss nicht in die Welt hinausschreiten, um ihre Wahrheit zu begründen. Im Gegensatz dazu bezeichnet man Erkenntnisse, die einer empirischen Überprüfung bedürfen, als a posteriori: „Kohle ist schwarz“ ist eine Erkenntnis a posteriori, denn um die Richtigkeit dieser Aussage zu überprüfen, muss man einen Kohleklumpen anschauen. analytisch vs. synthetisch Analytische Aussagen (Urteile) formulieren etwas, was in der Bedeutung der verwendeten Worte bereits enthalten ist. So etwa ist die Wahrheit der Aussage „Alle Junggesellinnen sind unverheiratet“ offenkundig, allein deshalb, weil im Wort „Junggesellinnen“ das Wort „unverheiratet“ bereits enthalten
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Argumentformen
Glaube und Vernunft
Verstand und Erfahrung ist. Im Gegensatz dazu ist die Aussage „Alle Junggesellinnen sind unglücklich“ eine synthetische Aussage; sie vereinigt unterschiedliche Vorstellungen (Synthese) und liefert damit eine bedeutende neue Information (oder Fehlinformation in diesem Falle). Um zu überprüfen, ob die Aussage wahr oder falsch ist, müsste man sich in die Köpfe aller unverheirateten Frauen hineinversetzen. notwendig vs. kontingent Eine notwendige Wahrheit ist eine, die absolute Gültigkeit hat. Sie gilt unter allen Umständen und ist in allen möglichen Welten wahr – also unabhängig davon, wie unsere Welt gerade zufällig beschaffen ist. Eine kontingente Wahrheit ist je nach äußeren Umständen wahr oder auch nicht. Beispielsweise ist die Aussage „Die meisten Jungs sind ungezogen“ kontingent (zufällig) – sie kann wahr sein oder auch nicht, je nach dem, wie sich die Mehrheit der Jungs tatsächlich benimmt. Falls hingegen wahr ist, dass alle Jungs ungezogen sind, und wahr ist, dass Ludwig ein Junge ist, so ist notwendigerweise wahr, dass Ludwig ungezogen ist (in diesem Falle eine Sache der Logik). Es scheint eine offensichtliche Ordnung zwischen diesen Unterscheidungen zu geben. Danach ist eine analytische Aussage, sofern sie wahr ist, notwendigerweise wahr und damit eine Erkenntnis a priori. Und ein synthetisches Urteil ist, sofern wahr, nur kontingent wahr und stellt eine Erkenntnis a posteriori dar. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Empiristen und Rationalisten nehmen jeweils eine unterschiedliche Aufstellung der begrifflichen Reihenfolge vor. Ziel der Rationalisten ist es zu zeigen, dass es synthetische Aussagen a priori gibt – will heißen, dass bedeutsame oder aussagekräftige Fakten über die Welt rein durch den Verstand (ohne Hilfe der Erfahrung) entdeckt werden können. Umgekehrt ist Ziel der Empiristen zu Was Kant umtrieb Die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen geht auf den deutschen Philosophen Immanuel Kant zurück. In seinem Werk Kritik der reinen Vernunft geht es ihm vor allem darum zu zeigen, dass es bestimmte Vorstellungen oder Denkkategorien gibt, wie etwa
Substanz und Kausalität, die wir nicht von der Welt lernen können, die wir aber brauchen, um die Welt zu verstehen. Kant beschäftigt sich hauptsächlich mit der Natur und der Berechtigung dieser Kategorien und dem synthetisch a priorischen Wissen, das sie ermöglichen.
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Wissenschaft und Pseudowissenschaft
Verstand und Erfahrung Der Kategorische Imperativ
Die dreiteilige Theorie des Wissens
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Probleme der Erkenntnis
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zeigen, dass offenbare Erkenntnisse a priori (wie etwa solche der Mathematik) im Grunde analytisch sind (siehe Kasten).
Alternativen zum Fundamentalismus Rationalisten und Empiristen mögen sich in vielen Dingen uneins sein. Zumindest aber stimmen sie darin überein, dass es irgendein Fundament gibt (Verstand oder Erfahrung), auf dem unsere Erkenntnisse gründen. So etwa kritisiert der schottische Philosoph David Hume (18. Jahrhundert) Descartes für seine aussichtslose Suche nach einem unerschütterlichen Fundament, das all unser Wissen untermauert, einschließlich der Wahrhaftigkeit unserer Sinne. Doch auch Hume bestreitet nicht, dass es irgendein Fundament gibt, sondern lediglich, dass diese Grundlegung unsere Erfahrungen und natürlichen Glaubenssätze ausschließen kann. Insofern sind sowohl die Rationalisten als auch die Empiristen Fundamentalisten. Aber es gibt auch andere Ansätze, die ganz ohne diese grundlegende Annahme auskommen. Eine sehr einflussreiche Alternative ist der Kohärentismus, demzufolge die Erkenntnis ein komplexes Geflecht aus Glaubenssätzen ist, in dem sich alle Fäden und Stränge gegenseitig stützen, um ein zusammenhängendes Gebilde zu formen. Ein Gebilde, das wohlgemerkt ohne ein einziges Fundament auskommt, denn eine Devise des Kohärentismus lautet: „Jedes Argument braucht Prämissen, doch es gibt nichts, was als Prämisse für jedes Argument dienen kann.“
Die Mathematik hat kein Standbein, das nicht rein metaphysisch wäre. Thomas Quincey, 1830
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Schlachtfeld Mathematik Empiristen und Rationalisten haben sich für ihre Auseinandersetzungen ein ganz besonderes Schlachtfeld auserkoren – die Mathematik. Dort tragen sie seit jeher die heftigsten Kämpfe aus. Für den Rationalisten bietet die Mathematik ein wahres Paradigma der Erkenntnis, denn sie verfügt über abstrakte Gegenstände, von denen man alleine mit Hilfe des Verstandes etwas wissen kann. Der Empirist dagegen kann dies nicht unwidersprochen gelten lassen. Er muss entweder bestreiten, dass mathe-
matische Erkenntnisse auf diese Weise gewonnen werden können, oder er muss zeigen, dass sie im Grunde analytisch oder trivial sind. Letzteres läuft für gewöhnlich auf die Argumentation hinaus, dass die angenommenen abstrakten Fakten der Mathematik genau genommen menschliche Konstrukte sind und dass das mathematische Denken im Grunde eine Frage der Konvention ist – Konsens also, keine Feststellung; Beweis, keine Wahrheit.
Verstand und Erfahrung
Europa in Konkurrenz Die britischen Empiristen des 17. und 18. Jahrhunderts (Locke, Berkeley, Hume) und ihre „Rivalen“ auf dem europäischen Kontinent (Descartes, Leibniz, Spinoza) werden häufig einander gegenüber gestellt. Doch wie so oft vernebeln derlei einfache Kategorisierungen viele Details. Descartes, der
Grundtyp der einen Seite, zeigt sich häufig einverstanden mit empirischen Überprüfungen, während Locke, der Grundtyp der anderen Seite, bisweilen geneigt scheint, den Rationalisten Raum einzuräumen für eine Form der verstandesmäßigen Einsicht oder Intuition.
Worum geht Wie gelangen wires zu Erkenntnis?
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Probleme der Erkenntnis
06 Die dreiteilige Theorie des Wissens „Mist, falsch abgebogen“, dachte Don, als er diese verhasste Gestalt am Laternenpfahl kauern sah und der gelbliche Lichtschein die nur allzu bekannten Züge ihres brutalen Gesichts erhellte. „Hätte ich mir denken können, dass dieser Dreckskerl hier auftauchen würde. Gut, dann weiß ich es jetzt … Worauf wartest du noch, Eric? Wenn du so abgebrüht bist …“ Dons ganze Aufmerksamkeit war auf die Gestalt vor ihm gerichtet, sodass er die Fußschritte, die sich ihm von hinten näherten, nicht hörte. Und er fühlte auch nichts, als Eric ihm von hinten einen tödlichen Schlag auf den Hinterkopf verpasste … Wusste Don wirklich, dass sein Mörder Eric ihm in jener Nacht dort in der Allee auflauern würde? Don glaubte natürlich, dass er Eric vor sich hatte, und er hatte auch allen Grund dazu, zumal es am Ende so kam, wie er befürchtete. Er wusste allerdings nicht, dass Eric einen Zwilling namens Alec hatte, und so sah er ein klares Bild von einem Mann vor Augen, der von Eric in nichts zu unterscheiden war.
Platons Definition von Wissen Intuitiv würden wir sagen, dass Don nicht wirklich gewusst hat, dass Eric in der Allee zugegen war – trotz der Tatsache, dass Eric tatsächlich dort war, hat Don dies bloß geglaubt, und das anscheinend zurecht. Doch damit widersprechen wir einer der „heiligsten“ Definitionen in der Geschichte der Philosophie. In seinem Dialog Theaitetos untersucht Platon auf meisterliche Weise das Konzept des Wissens und kommt zu dem Schluss „Wissen ist wahre Meinung mit Begründung“ (d. h. mit einer „rationalen Erwägung“, warum diese Meinung wahr ist) oder einfach „begründete wahre Meinung“. Diese sogenannte dreiteilige Theorie des Wissens lässt sich vereinfacht wie folgt darstellen:
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Argumentformen
Verstand und Erfahrung
Die dreiteilige Theorie des Wissens Eine Person S weiß, dass eine Aussage P wahr ist, genau dann, wenn: 1. P wahr ist 2. S glaubt, dass P wahr ist 3. S begründet glaubt, dass P wahr ist. Gemäß dieser Definition sind 1, 2 und 3 die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissen. Die Bedingungen 1 und 2 sind allgemein und ohne große Diskussion anerkannt – man kann das Falsche nicht wissen, und man muss glauben, was man zu wissen geltend macht. Und kaum einer zieht in Zweifel, dass irgendeine Form von stichhaltiger Begründung notwendig ist, wie in Punkt 3 festgelegt: Wenn Sie beim Kentucky Derby auf das Pferd Noggin setzen und glauben, dass es gewinnt, nur weil Sie auf der Liste der Pferde und Reiter wahllos Ihr Kreuzchen bei Noggin gemacht haben, dann wird man Ihnen nicht nachsagen, das Ergebnis vorab gewusst zu haben, auch wenn Noggin zufällig als Erster durchs Ziel geht. Dann hatten Sie einfach Glück.
Das Gettier-Problem Bis zu welchem Grad und in welcher Form sich Wissen bestimmen und begründen lässt, wie in Punkt 3 verlangt, wird unter Erkenntnistheoretikern erwartungsgemäß am meisten diskutiert. Aber das Grundgerüst, das die dreiteilige Wissenstheorie lieferte, wurde fast 2 500 Jahre lang weitgehend anerkannt. Bis 1963 dann der amerikanische Philosoph Edmund Gettier einen Einwand gegen diesen Wissensbegriff formulierte. In einem kurzen Aufsatz führt Gettier mehrere Gegenbeispiele an, die in ihrer Aussage der kleinen Geschichte von Don, Eric und Alec ähneln. In diesen Beispielen hegt jemand einen Glauben, der sowohl wahr als auch begründet ist, nach der dreiteiligen Erkenntnistheorie also alle drei Bedingungen für Wissen erfüllt. Und dennoch weiß diese Person offensichtlich nicht, was sie zu wissen glaubt. Das Problem, das Gettier mit seinen Fallbeispielen aufzeigt, liegt darin, dass die Begründung für das, was geglaubt wird, nicht in der richtigen Weise mit der Wahrheit des Glaubens verknüpft ist, die Wahrheit also mehr oder weniger ein glücklicher Zufall ist. Seither haben sich viele Philosophen befleißigt, die Kluft zu schließen, die sich mit dem Gettier-Problem aufgetan hat. Einige stellen gar den ganzen Ansatz, Wissen im Sinne von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu definieren,
1963 Die dreiteilige Theorie des Wissens
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Probleme der Erkenntnis in Frage. Weitaus häufiger aber sucht man nach einer ausweichenden „vierten Bedingung“, die man Platons Modell hinzufügen kann. Doch viele der Ansätze, die den begründeten Wissensbegriff zu verbessern suchen, sind „externalistisch“ angelegt, berücksichtigen also nur Faktoren, die außerhalb der psychischen Zustände des vermeintlich Wissenden liegen. Zum Beispiel verlangt eine kausale Theorie, dass der Übergang von wahrem Glauben zu gesichertem Wissen immer davon abhängig ist, dass der Glaube durch angemessene, äußere Faktoren verursacht ist. Weil Dons Glaube kausal auf die falsche Person bezogen ist (nämlich auf Alec, nicht auf Eric), zählt Dons Glaube also nicht als Wissen. Seit Gettiers Aufsatz gleicht die Suche nach einer Lösung einer Art philosophischem Rüstungswettlauf. Jegliche Verbesserungsversuche der dreiteiligen Definition wurden quittiert mit einem Gefechtsfeuer aus Gegenbeispielen, die zeigen sollten, dass das Problem weiterhin besteht. All jene Vorschläge, die um das Gettier-Problem einen offensichtlichen Bogen machen, klammern häufig vieles aus, was wir intuitiv als Wissen betrachten.
Sollte Wissen unanfechtbar sein? Wissen sollte „unanfechtbar“ sein – so lautet einer der Vorschläge für eine ergänzende vierte Bedingung zur dreiteiligen Theorie des Wissens. Nach dieser Idee sollte es kein mögliches Wissen geben, das vorhandene gültige Gründe, etwas zu glauben, nichtig machen würde. Beispiel: Hätte Don gewusst, dass Eric einen eineiigen Zwillingsbruder hat, hätte er nicht begründet glauben können, dass der Mann, der am Laternenpfahl kauert, tatsächlich Eric ist. Nach der gleichen Begründung aber, wenn Wissen also unanfechtbar sein
soll, hätte Don trotzdem nicht (sicher) gewusst, dass es Eric war, auch wenn dem tatsächlich so gewesen wäre. Egal, ob Don von einem Zwillingsbruder wusste oder nicht, kann es immer Fälle geben, in denen (vermeintlich) Wissende niemals alle Umstände kennen. Wie viele andere Reaktionen auf das Gettier-Problem legt die Forderung, dass gesichertes Wissen unanfechtbar sein muss, die Latte derart hoch, dass nur weniges von dem, was uns allgemein als gesichertes Wissen gilt, bestehen kann.
Die dreiteilige Theorie des Wissens
Die Komödie der Irrungen Die Methode, anhand von Verwechslungen Wissen, das (anscheinend) berechtigterweise gilt, zu hinterfragen, wird jedem, der in Shakespeares Stücken bewandert ist, bekannt vorkommen. So etwa gibt es in der Komödie der Irrungen nicht ein, sondern gleich zwei eineiige Zwillingspaare – Antipholus und Dromio von Syracus sowie Antipholus und Dromio von Ephesus, die bei der Geburt bei einem Schiffbruch getrennt wurden. Shakespeare nutzt ihr Zusammentreffen, um ein raffiniertes Possenspiel zu entspinnen, das sich auf die gleiche Weise analysieren lässt wie die
von Gettier entworfenen Gegenbeispiele. Als Antipholus von Syracus in Ephesus eintrifft, begrüßt ihn der örtliche Goldschmied Angelo mit den Worten „Mein Herr Antipholus“. Verwundert darüber, da er noch nie zuvor in Ephesus gewesen war, entgegnet Antipholus von Syracus: „Das ist mein Name“, woraufhin Angelo antwortet: „Nun ja, das weiß ich, Herr.“ Tatsächlich aber weiß Angelo nichts dergleichen. Gemäß der dreiteiligen Theorie des Wissens ist sein Glauben zwar begründet, doch es ist reiner Zufall, dass sein Kunde einen eineiigen Zwilling gleichen Namens hat.
geht WannWorum wissen wires etwas wirklich?
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Philosphie des Geistes
07 Das Leib-SeeleProblem Seit dem 17. Jahrhundert hat der Vormarsch der Wissenschaft mit so ziemlich allen althergebrachten Lehrmeinungen aufgeräumt. Die Marschroute, vorgegeben von Kopernikus, Newton, Darwin und Einstein, ist mit zahlreichen, bedeutenden Meilensteinen gepflastert, die hoffen lassen, dass die Wissenschaft einmal selbst die entlegensten Winkel des Universums und die tiefsten Geheimnisse des Atoms aufdecken wird. Oder etwa nicht? An einer Sache nämlich beißen sich Wissenschaftler und Philosophen gleichermaßen bis heute die Zähne aus: am menschlichen Geist – dem zugleich offensichtlichsten und geheimnisvollsten aller Phänomene. Wir alle sind uns unmittelbar unseres eigenen Bewusstseins bewusst. Wir haben Gedanken, Gefühle und Wünsche, die sehr subjektiv und persönlich sind, begreifen uns als Hauptakteur im Mittelpunkt unserer eigenen Welt, auf die wir eine einzigartige und individuelle Perspektive haben. Im krassen Gegensatz dazu ist die Wissenschaft triumphal objektiv. Sie ist überprüfbar und lässt alles Persönliche und Perspektivische außen vor. Wie also kann etwas so Seltsames wie das Bewusstsein auf begreifbare Weise in der physikalischen Welt der Wissenschaft existieren? Wie sind mentale Phänomene als physikalische Zustände und körperliche Vorgänge erklärbar (oder anderweitig damit verbunden)? Um all diese Fragen geht es beim Leib-SeeleProblem (auch Körper-Geist-Problem genannt), dem wohl heikelsten aller philosophischen Probleme. Die durchschlagende Wirkung, die der französische Philosoph René Descartes im 17. Jahrhundert in der Erkenntnistheorie wie in der Philosophie des Geistes hatte, findet bis heute einen Nachhall in der westlichen Philosophie. Seine Zuflucht in die Gewissheit des eigenen Selbst (siehe Seite 16) führt Descartes naturgemäß dazu, dem Geist im Vergleich zu den Dingen außerhalb seiner selbst eine erhabene Stellung einzuräumen. Um es metaphysisch auszudrücken – er begriff den Geist als eine völlig ei-
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Das Leib-Seele-Problem
Cogito ergo sum
Das Schiff des Theseus
Das Leib-Seele-Problem
Ryles Gespenst In seinem Werk Der Begriff des Geistes (The Concept of Mind 1949) wirft der englische Philosoph Gilbert Ryle Descartes vor, sein dualistisches Konzept von Geist und Materie auf einem sogenannten „Kategorienfehler“ aufgebaut zu haben. Ein solcher liegt vor, wenn man Begriffe unterschiedlicher Kategorien gleich auffasst. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Fremder bekommt eine Führung durch alle Institute, Bibliotheken und andere Gebäude, welche zusammen die Universität Oxford bilden, und fragt zum Schluss, wo denn nun eigentlich die Universität sei. Der Fremde hat die Universität sowie die einzelnen Gebäude in ein und dieselbe Kategorie eingeord-
net und damit ihre Beziehung zueinander völlig falsch ausgelegt. Ein ähnlicher Kategorienfehler liegt laut Ryle bei Descartes vor, der Geist und Materie irrigerweise als zwei voneinander völlig verschiedene Substanzen betrachtet. Auf diesen dualistischen, metaphysischen Ansatz bezogen entwickelt Ryle das Bild vom „Gespenst in der Maschine“: Der immaterielle Geist oder die Seele (das Gespenst) wohnt uns in irgendeiner Form inne und zieht die Hebel des materiellen Körpers (der Maschine). Nachdem er den Cartesischen Dualismus scharf attackiert hat, entwickelt Ryle eine eigene Lösung für das Leib-Seele-Problem – den Behaviorismus (siehe Seite 39).
genständige Entität, als eine geistige Substanz, deren wesentliche Natur das Denken ist. Alles andere ist Materie (oder materielle Substanz), deren kennzeichnendes Merkmal die räumliche Ausdehnung ist (d. h. sie füllt den physikalischen Raum aus). Somit geht Descartes von zwei einander sich ausschließenden Erscheinungsformen aus – von immateriellen Substanzen (mit mentalen Eigenschaften wie Denken und Fühlen) und materiellen Körpern (mit physikalischen Eigenschaften wie Masse und Form). Dieser sogenannte „Substanzdualismus“ war es, den der britische Philosoph Gilbert Ryle als ein Dogma vom „Gespenst in der Maschine“ bespöttelte (siehe Kasten).
Probleme des Dualismus Der Wunsch etwas zu trinken veranlasst meinen Arm, das Glas zu heben; wenn ich einen Spreißel im Fuß habe, verursacht er Schmerzen. Geist und Körper, so sagt uns der gesunde Menschenverstand, stehen in einem Wechselspiel: Mentale Ereignisse rufen körperliche Ereignisse hervor und umgekehrt. Doch die Notwendigkeit einer solchen Wechselwirkung weckt sogleich Zweifel am Cartesischen Dualismus. Eine physikalische Wirkung setzt eine physikalische Ursache voraus – so das grundlegende wissenschaftliche Prinzip. Doch indem er Geist und Materie als zwei eigenständige Substanzen begreift, macht
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Der Schleier der Wahrnehmung
Der Geist der Anderen
Der Turing-Test
Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
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Philosphie des Geistes
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Descartes eine solche wechselseitige Beeinflussung anscheinend unmöglich. Descartes erkannte das Problem zwar, vertrat aber die Ansicht, dass für notwendige kausale Zusammenhänge das Eingreifen Gottes erforderlich sei, und trug damit selbst kaum zur Lösung des Problems bei. Nicolas Malebranche, ein jüngerer Zeitgenosse und Anhänger Descartes’, übernahm dessen dualistisches Konzept, setzte sich mit dem Kausalitätsproblem auseinander und brachte die überraschende Lösung vor, dass es keinerlei Wechselwirkungen gäbe. Nach Malebranche ist es vielmehr Gott, der bei jeder Gelegenheit, wo eine Verknüpfung von geistigen und körperlichen Ereignissen nötig ist, diese hervorbringt und damit auch die Erscheinungsformen von Ursache und Wirkung schafft. Diese wenig überzeugende Antwort auf das Leib-Seele-Problem, die man als „Okkasionalismus“ bezeichnet, hat kaum Anhänger gefunden und dient vorwiegend dazu, die Schwere des Problems herauszustellen, das zu beheben Malebranche angetreten war. Eine Position, die die Probleme des Cartesischen Dualismus geschickt umgeht, ist der „Eigenschaftsdualismus“. Er geht auf die Werke von Baruch Spinoza zurück, einem niederländischen Zeitgenossen Descartes’, und besagt, dass der Dualismusgedanke sich nicht auf Substanzen, sondern auf Eigenschaften bezieht: Zwei wesensmäßig verschiedene Typen von Eigenschaften (geistige und körperliche) können einem einzelnen Objekt (einer Person oder einem Subjekt) zugeschrieben werden; diese Eigenschaften sind vollkommen verschieden und können nicht mittels des jeweils anderen Typs analysiert werden. Insofern beschreiben die verschiedenen Eigenschaften verschiedene Aspekte derselben Entität (weshalb die Position zuweilen auch als „Doppelaspekttheorie“ bezeichnet wird). Der Eigenschaftsdualismus kann das Zusammenspiel von Körper und Geist zwar erklären, da die Ursachen für unsere Handlungen sowohl physikalische als auch mentale Aspekte haben. Aber indem er diese wesensmäßig verschiedenen Eigenschaften einer einzelnen Person zuschreibt, scheint er das eigentliche Problem im Zusammenhang mit dem Substanzdualismus lediglich verlagert, nicht gelöst zu haben.
Das Dogma vom Gespenst in der Maschine … behauptet, dass sowohl der Körper als auch der Geist existieren; dass es physikalische und mentale Ereignisse gibt; dass es mechanische Ursachen von körperlichen Bewegungen und mentale Ursachen von körperlichen Bewegungen gibt. Gilbert Ryle, 1949
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Physikalismus Was liegt näher, als den Schwierigkeiten im Descartes’schen Substanzdualismus mit einer genau gegenteiligen Position zu begegnen und einen sogenannten „monistischen“ Ansatz zu entwickeln, das heißt, von der Existenz nur einer Substanz auszugehen (einer mentalen oder einer physikalischen) und nicht wie im Dualismus von zweien. Einige Philosophen, insbesondere George Berkeley,
Das Leib-Seele-Problem
Dualistische Ursprünge Die klassische Formulierung des Substanzdualismus mag auf Descartes zurückgehen, das dualistische Gedankengebäude an sich aber war zur damaligen Zeit nicht neu. Formen dualistischer Konzepte finden sich in jeder Philosophie, Religion oder Weltanschauung, die annimmt, dass es ein übernatürliches Reich gibt, in dem
immaterielle Körper wohnen (Seelen, Götter, Dämonen, Engel und dergleichen). Die Idee, dass die (unsterbliche) Seele den Tod eines physischen Körpers überdauert oder in einen neuen (menschlichen) Körper übergeht, setzt gleichwohl eine Art dualistische Vorstellung von der Welt voraus.
haben den idealistischen Pfad genommen und behauptet, dass die Wirklichkeit nur aus dem Geist und seinen Ideen besteht. Die große Mehrheit jedoch, die sich auch unter den heutigen Philosophen findet, hängt einer physikalistischen Erklärung an. Angetrieben von den unbestreitbaren Erfolgen der Wissenschaft auf anderen Gebieten, liegt den Physikalisten daran, dass auch der Geist in den Geltungsbereich der Wissenschaft rückt; da der Gegenstand der Wissenschaft ausschließlich physikalischer Natur ist, muss auch der Geist physikalischer Natur sein. Der Physikalismus möchte erklären, wie der (subjektive und private) Geist in eine rein physikalische Betrachtung der (objektiven und öffentlich zugänglichen) Welt eingepasst werden kann. Der Physikalismus hat eine Vielfalt philosophischer Positionen ausgeprägt. Eines aber ist allen gemein: Sie sind reduktionistisch. Das heißt, sie wollen zeigen, dass mentale Phänomene vollständig mit physikalischen Begriffen analysiert werden können. Fortschritte in den Neurowissenschaften lassen kaum mehr Zweifel, dass geistige Zustände eng verbunden sind mit Zuständen unseres Gehirns. So ist es für Physikalisten einfach zu sagen, dass geistige Phänomene an und für sich identisch sind mit physikalischen Ereignissen und Prozessen im Gehirn. Die radikalsten Varianten dieser sogenannten Identitätstheorien sind allesamt „eliminativ“: sie gehen davon aus, dass die sogenannte „Alltagspsychologie“ mit einem fortschreitenden Wissenschaftsverständnis verschwindet. Die Alltagspsychologie werde zunehmend durch präzise Konzepte aus den Neurowissenschaften ersetzt. Die physikalistischen Lösungen für das Körper-Geist-Problem gehen über viele ungeklärte Aspekte des Dualismus kurzerhand hinweg. Insbesondere bleibt das Rätsel der Kausalität ausgespart, indem man das Bewusstsein einfach in den Rahmen der wissenschaftlichen Erklärung stellt. Kritiker werfen dem Physikalismus vor, zu viele Aspekte übergangen und das Wesen des bewussten Erlebens nicht erfasst zu haben: seine subjektive Natur.
es widersetzt geht Der Worum Geist, der sich
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Philosphie des Geistes
08 Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? „… sich vorzustellen, dass man Flughäute an den Armen hätte, die einen befähigten, bei Einbruch der Dunkelheit und im Morgengrauen herumzufliegen, während man mit dem Mund Insekten finge; dass man ein schwaches Sehvermögen hätte und die Umwelt mit einem System reflektierter akustischer Signale aus Hochfrequenzbereichen wahrnähme; und dass man den Tag an den Füßen nach unten hängend verbrächte. Insoweit ich mir dies vorstellen kann (was nicht sehr weit ist), sagt es mir nur, wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält. Das aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein.“
„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ – in der Philosophie des Geistes ist der so überschriebene Aufsatz des US-amerikanischen Philosophen Thomas Nagel aus dem Jahre 1974 die wohl einflussreichste aller in neuerer Zeit erschienenen Schriften. Nagel bringt das Unbehagen auf den Punkt, das man bei vielen Versuchen, unsere Gedankenwelt und unser Bewusstsein in rein physikalischen Begriffen zu analysieren, empfindet. Insofern kam Nagels Aufsatz gewissermaßen als Retter in der Not all jenen recht, denen die physikalistischen und reduktionistischen Theorien nicht genügten.
Die Fledermaus-Perspektive Nagels Kernaussage ist, dass es ein „subjektives Merkmal von Erfahrung“ gibt – etwas, das ein bestimmtes Wesen zu sein ausmacht, etwas, wie es sich anfühlt, dieses Wesen zu sein. Dieses Etwas entgeht den reduktionistischen Theorien. Nehmen wir das Beispiel der Fledermaus. Fledermäuse sind mit einem Echoortungssystem ausgestattet, das es ihnen ermöglicht, sich in völliger Dunkelheit zu orientieren und Insekten zu lokalisieren. Dabei stoßen sie
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Können Tiere Schmerz empfinden?
Das Leib-Seele-Problem
Das Schiff des Theseus
Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
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Ultraschallwellen aus und registrieren deren Reflexionen, wenn Ohne das Thema diese von umliegenden Objekten zurückgeworfen werden. Diese „Bewusstsein“ wäre Art der Wahrnehmung unterscheidet sich grundlegend von unsedas Leib-Seele-Problem ren menschlichen Sinnen. Von daher können wir begründet anweit weniger interesnehmen, dass sie sich subjektiv vollkommen von all dem abhebt, was wir zu erleben imstande sind. Es gibt demnach Erfahrungen, sant. Mit dem Thema „Bewusstsein“ scheint die sich unserem menschlichen Erleben prinzipiell entziehen, es hoffnungslos. deren innerstes Wesen unserem menschlichen Verstand unbegreiflich bleiben muss. Uns Menschen sind demnach ErkenntThomas Nagel, 1979 nisschranken gesetzt, die auf die subjektive Natur der Erfahrung eines Wesens zurückzuführen sind. Physikalisten zitieren immer wieder gerne Beispiele für erfolgreiche reduktionistische Ansätze in der Naturwissenschaft, z. B. die Analyse von Wasser als H2O oder von Blitzen als elektrische Entladungen. Daraus schließen sie dann, dass sich mentale Phänomene in ähnlich reduktionistischer Weise mittels physikalischer Phänomene erklären lassen. Nagel bestreitet dies: Der Erfolg dieser Art von wissenschaftlichen Analysen basiert auf einer fortlaufenden Annäherung an größere Objektivität, bei gleichzeitiger Entfernung von einer subjektiven Perspektive. Und gerade dadurch, dass sie das subjektive Element aussparen, werden physikalistische Theorien des Geistes immer unvollständig und unbefriedigend sein. Und so, folgert Nagel, „… ist es ein Rätsel, wie der wahre Charakter von Erlebnissen in der physikalischen Funktionsweise dieses Organismus entdeckt werden könnte“ – was an sich alles ist, das die Wissenschaft zu bieten hat.
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„Was Mary nicht wusste“ Nagel ist offenbar zufrieden damit, das Problem am Ende als ein ewiges Rätsel stehen zu lassen und darauf abzuheben, dass es auch den neueren physikalistischen Theorien misslingt, das subjektive Element zu fassen, das für unser Bewusstsein so wesentlich zu sein scheint. Er bekennt zwar, die reduktionistischen Ansätze abzulehnen, nicht aber den Physikalismus an sich. Der australische Philosoph Frank Jackson wagt sich ein Stück weiter vor: In seinem aufsehenerregenden Aufsatz aus dem Jahre 1982 „Was Mary nicht wusste“ präsentiert er ein philosophisches Gedankenexperiment. Es geht um eine Wissenschaftlerin, die alles weiß, was es in der Wissenschaft der Farbwahrnehmung zu wissen gibt. Wenn der Physikalismus nun Recht hätte, so argumentiert Jackson, dann würde Mary alles
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Philosphie des Geistes wissen, was es über Farben zu wissen gibt. Doch wie sich herausstellt, gibt es Dinge (Fakten), die Mary nicht weiß: Sie weiß nicht, wie es ist, Farben zu sehen und zu erleben; sie muss erst lernen, wie es ist, beispielsweise rot zu erleben. Jackson schließt daraus, dass es Fakten gibt, nämlich die nicht-physikalischen, die physikalische Theorien nicht erfassen und nicht erfassen können, und dass der Physikalismus daher falsch ist (siehe Kasten). Eingeschworene Physikalisten lassen sich von Jacksons Argument natürlich nicht beeindrucken. Sie wehren sich hauptsächlich gegen den Status der „nicht-physikalischen Fakten“. Einige Kritiker räumen zwar ein, dass es sich dabei um Fakten handelt, bestreiten aber, dass diese nicht-physikalisch sind. Andere wiederum betrachten sie in keiner Weise als Fakten. Die Einwände rühren vor allem daher, dass Jackson an der eigentlichen Frage vorbeigeht: Wenn der Physikalismus wahr ist und Mary alle physikalischen Fakten kennt, die es über die Farbwahrnehmung zu wissen gibt, dann weiß sie in der Tat alles über die Farbe Rot, einschließlich der subjektiven Erfahrungen, die damit verbunden sind. Aber so, wie Jackson Marys mentale Zustände nutzt, um die notwendige Unterscheidung zwischen physikalischen und nicht-physikalischen Fakten zu machen, wird man das Gefühl nicht los, er begehe einen interpretatorischen Fehlschluss (siehe Kasten „Der Maskenmann“). Wie stichhaltig die Argumentation gegen das Mary-Gedankenexperiment auch sein mag, es bleibt die leise Ahnung, dass Jackson wie Nagel eine Lücke aufgetan und damit gezeigt haben, dass irgendetwas ganz Wesentliches in den bis heute vorgetragenen physikalistischen Varianten fehlt. Eines kann man wohl getrost daraus schließen: Das Thema, das menschliche Bewusstsein einer rein physikalischen Betrachtung zu unterziehen, birgt noch reichlich Stoff für philosophische Herausforderungen. Die „einfarbige“ Mary Von Geburt an verbringt Mary ihr Leben in einem schwarz-weißen Raum, wo sie nie etwas anderes sieht außer Schwarz und Weiß oder ein paar Grautöne. Ihre Bildung ist ungewöhnlich, aber dennoch umfassend. Indem sie Bücher liest (keine farbig illustrierten, versteht sich) und Wissenssendungen im Schwarzweiß-Fernsehen sieht, wird sie irgendwann eine brillante Wissenschaftlerin. Sie lernt buchstäblich alles, was man je über die physikalische Natur der Welt, über uns Menschen und unsere Umgebung wissen
kann. Schließlich kommt der Tag, an dem Mary aus ihrem einfarbigen Raum hinaus in die Welt tritt. Welch ein Schock für sie! Sie sieht zum ersten Mal Farben. Sie erlebt zum ersten Mal, wie es ist, rot, blau und gelb zu sehen. Obgleich sie alle physikalischen Tatsachen über Farben kennt, gibt es immer noch Dinge über Farben, die sie nicht weiß … Moral: 1. Es gibt Fakten, die nicht physikalisch sind; 2. Seine Eltern kann man sich nicht aussuchen!
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Der „Maskenmann“ Das „Leibniz’sche Gesetz“ oder die „Identität Ununterscheidbarer“ besagt, dass, wenn zwei Dinge ununterscheidbar sind, sie auch identisch sind und somit gilt, dass jede Eigenschaft von A auch Eigenschaft von B ist; demzufolge sind A und B nicht identisch, wenn A eine Eigenschaft hat, die B fehlt. Beispiel: Berti denkt, dass Bono der größte Rockstar der Welt ist, hat aber keinen Schimmer von Paul Hewson (er weiß nicht, dass das Bonos eigentlicher Name ist). Das bedeutet, dass Bono eine Eigenschaft hat, die Paul Hewson fehlt – die Eigenschaft, von Berti für den größten Rockstar dieser Welt gehalten zu werden. Nach dem Leibniz’schen Gesetz ist Bono also nicht die gleiche Person wie Paul Hewson. Das aber ist er, und damit ist irgendetwas an diesem Argument falsch. Das Problem ergibt sich durch einen interpretatorischen Fehlschluss namens „Maskenmann“: Ich weiß nicht, wer
der Maskenmann ist; ich weiß aber, wer mein Bruder ist; also ist mein Bruder nicht der Maskenmann. Der Irrtum rührt daher, dass subjektive Anschauungen oder Überzeugungen keine echten Eigenschaften einer Sache oder Person sind: Man kann etwas unter verschiedenen Begriffen kennen, genau so wie verschiedene Menschen unterschiedliche Anschauungen von derselben Person oder Sache haben können. Bleibt die Frage, ob Frank Jackson in seinem Mary-Gedankenexperiment tatsächlich ein solcher „Maskenmann-Fehlschluss“ unterläuft? Physikalisten wenden ein, dass er eine „falsche Art“ von Eigenschaft benutzt, um eine Dualität von physikalischen und nicht-physikalischen Fakten aufzustellen. Dabei gebe es nur eine Art von Fakten (physikalische), denen man verschiedene, im Grunde subjektive Beschreibungen zuordnen kann: zwei Arten also, die gleiche Sache zu betrachten.
geht Im Worum Kopf einer es Fledermaus?
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Philosphie des Geistes
09 Der Turing-Test Parry: Die Bullen verhaften immer die Falschen. Befrager: Manchmal verhaften sie auch die Richtigen. Parry: Die sollten endlich diese Gauner von Italienern schnappen. Befrager: Sind Sie Italiener? Parry: Nein, britischer Herkunft, aber hier in diesem Land geboren. Befrager: Kennen Sie einen italienischen Gauner? Parry: Ich versuche, die Unterwelt zu meiden. Befrager: Haben Sie Angst vor der Unterwelt? Parry: Die Mafiosi sind die schlimmsten Gauner. Befrager: Haben Sie Verbindungen zur Mafia? Parry: Nun, die kennen mich. Befrager: Woher? Parry: Die schnüffeln mir nach. Befrager: Warum das denn? Parry: Die wollen mir etwas anhängen. Befrager: Was haben die gegen Sie? Parry: Die haben es auf mich abgesehen.
Parry steckt ganz schön in der Klemme, oder? Schon möglich. Aber das ist nicht sein größtes Problem, denn Parry ist ein Computerprogramm. Es wurde 1971 von Kenneth Colby entwickelt, Psychiater und Computerwissenschaftler an der Stanford University. Parry war darauf programmiert, auf Fragen so zu antworten, als sei er schizophren mit der fixen paranoiden Idee, Zielscheibe der Mafia zu sein. Colby startete einen Testlauf, in dem Parry neben einer Reihe echter paranoider Patienten befragt wurde. Die Ergebnisse wurden danach von Psychiatern ausgewertet, die allesamt nicht merkten, dass Parry kein echter Patient war.
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Das Leib-Seele-Problem
Der Turing-Test Kann Parry denken? Im Jahre 1950, zwanzig Jahre vor Parrys „Geburt“, schrieb der britische Mathematiker und Informatikpionier Alan Turing einen zukunftsträchtigen Aufsatz, in dem er einen Test entwickelte, um zu bestimmen, ob eine Maschine denken könne. Bei diesem Test führt ein menschlicher Fragesteller eine Unterhaltung mit einem Menschen und einer Maschine, von denen er räumlich getrennt und nur durch elektronischen Kontakt verbunIch glaube, dass sich am den ist. Der Fragesteller versucht nun herauszufinden, Ende dieses Jahrhunderts wer von beiden die Maschine und wer der Mensch ist. Wenn der Fragesteller nach dem Testlauf nicht eindeutig der Sprachgebrauch und die sagen kann, welcher von beiden die Maschine ist, hat allgemeine gebildete Meinung die Maschine den Turing-Test bestanden. so stark gewandelt haben Hat Parry den Test bestanden? Nicht ganz. Für einen werden, dass man von denordnungsgemäßen Turing-Test muss die Riege der Psy- kenden Maschinen reden chiater (welche die Rolle der Befrager haben) darüber kann, ohne mit Widerspruch informiert sein, dass es sich bei einem der Patienten um rechnen zu müssen. einen Computer handelt und die Aufgabe darin besteht, Alan Turing (1912–1954) genau diesen einen Patienten herauszufinden. Auf alle Fälle hätte Parry sich sehr rasch verraten, wenn man ihn weiter und eingehender befragt hätte. Turing selbst glaubte, dass die Computertechnologie bis zum Jahr 2000 so weit fortgeschritten sein würde, dass der Befrager eine höchstens 70-prozentige Chance habe, Mensch und Maschine nach einem fünfminütigen „Gespräch“ erfolgreich zu identifizieren. Der technologische Fortschritt vollzog sich jedoch langsamer, als Turing es angenommen hatte. Bis heute hat kein Computerprogramm den Turing-Test auch nur annähernd bestanden. „Können Maschinen denken?“ – Turing selbst hielt diese Frage ursprünglich für zu bedeutungslos, als dass sie ernsthaft diskutiert werden sollte. Trotzdem wird der Turing-Test bis heute herangezogen, um die alte Frage zu entscheiden, ob ein Computer denken kann („einen Geist hat“ oder über „Intelligenz verfügt“, wenn man so will). Er gilt als Maßstab unter den (wissenschaftlichen und philosophischen) Anhängern der sogenannten „starken KI“, der „starken künstlichen Intelligenz“, welche der Ansicht sind, dass entsprechend programmierte Computer ein Bewusstsein besitzen (und nicht nur eine Simulation davon), und zwar in genau demselben Sinne, wie ein Mensch ein Bewusstsein besitzt.
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Philosphie des Geistes Das „Chinesische Zimmer“ So lautet der Name eines Gedankenexperiments, das der US-amerikanische Philosoph John Searle 1980 entwickelt hat und das als ein bedeutendes kritisches Argument gegen den Turing-Test gilt. Searle stellt sich vor, er säße als englischer Muttersprachler, ohne ein Wort chinesisch zu kennen, in einem geschlossenen Raum. Durch einen Aktuelle Versuche, den Schlitz in der Tür werden ihm Zettel mit Geschichten Geist in Analogie zu men- in chinesischer Sprache zugeschoben. Im Zimmer finschengemachten Computern det er des Weiteren einen Stapel Bücher mit chinesizu verstehen, die ganz hervor- schen Symbolen sowie ein umfangreiches Regelhandragend einige der gleichen buch in seiner englischen Muttersprache, mit dem er externen Aufgaben bewältigen lernt, wie er bestimmte Symbole kombinieren muss, um auf chinesisch formulierte Fragen zu den Gekönnen wie Lebewesen mit schichten antworten zu können. Mit der Zeit entwieinem Bewusstsein, wird man ckelt er eine so große Fertigkeit in der Zeichenerkenals gigantische Zeitver- nung, dass der chinesische Muttersprachler vor der schwendung erkennen. Tür des Raumes überzeugt ist, im Raum befände sich Thomas Nagel, 1986 ein chinesischer Muttersprachler. Mit anderen Worten: Die Zettel, die in und aus dem Raum hin und her wandern, weisen die gleichen sinnhaften Symbole auf, als wäre der Mensch in diesem Raum des Chinesischen voll und ganz mächtig. Dabei tut er nichts weiter, als sich der uninterpretierten, formalen Zeichen zu bedienen. Tatsächlich versteht er überhaupt nichts. Kein Wort. Den richtigen Output als Reaktion auf einen Input zu produzieren, gemäß der Regeln, die ein Programm vorgibt (wie das Regelhandbuch in Searles Experiment), ist genau das, was ein Digitalcomputer tut. Ein Computerprogramm, so Searle, egal wie hochentwickelt es ist, tut nichts anderes und könnte niemals mehr tun als der Mensch im „Chinesischen Zimmer“ – es ordnet rein mechanisch Symbole an. Was herauskommt, ist syntaktisch zwar korrekt, denn das Programm folgt ja der kombinatorischen Regelhaftigkeit, aber den Sinngehalt der Zeichen, die Semantik, kann das Programm nicht erkennen (genau sowenig, wie der Mensch im „Chinesischen Zimmer“): Es hat keine Intelligenz und kein Bewusstsein; es kann also nie mehr sein als eine Simulation dieser Dinge. Den Turing-Test zu meistern, bedeutet also grundsätzlich nur, einen angemessenen Output als Antwort auf einen bestimmten Input zu liefern, und ist dem „Chinesischen Zimmer“ zufolge völlig ungeeignet, um die Frage nach der denkenden Maschine zu beantworten. Damit wäre nicht nur der Turing-Test obsolet, sondern auch die zentrale These der starken KI. Aber mehr noch: Es gibt zwei weitere, sehr bedeutsame Ansätze der Philosophie des Geistes, die ebenso fragwürdig erscheinen, wenn man das „Chinesische-Zimmer“-Argument gelten lässt.
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Der Turing-Test
Turing in der Popkultur Der britische Schriftsteller Arthur C. Clarke nahm Alan Turings Voraussage für bare Münze. Für das Drehbuch zum ScienceFiction-Film 2001: Odyssee im Weltraum aus dem Jahre 1968, das er zusammen mit Stanley Kubrick schrieb, erschuf er einen intelligenten Computer namens HAL
(eine Verballhornung des Firmennamens IBM; die Buchstaben H, A und L stehen im Alphabet jeweils unmittelbar vor den Buchstaben I, B und M). In der Geschichte wundert sich kein Mensch darüber, dass eine denkende Maschine ihr Raumschiff lenkt.
Behaviorismus und Funktionalismus Aussagen über mentale Phänomene können direkt in Aussagen über Verhalten oder Verhaltensdispositionen übersetzt werden, und zwar ohne inhaltliche Verluste – so die zentrale These des Behaviorismus. Die Aussage beispielsweise, dass jemand Schmerzen leidet, ist demzufolge eine Art Kurzformulierung dafür, dass er blutet oder das Gesicht verzerrt. Anders gesagt: Mentale Ereignisse werden gänzlich mittels äußerlicher und damit beobachtbarer Reize und Reaktionen definiert. Ein solches Vorgehen wird aber gerade durch das „Chinesische Zimmer“ als unzulässig eingestuft. Der Behaviorismus, dessen klassische Auslegung von Gilbert Ryle stammt (siehe Seite 29), wurde auch vor Searles „Chinesischem Zimmer“ immer wieder heftig kritisiert. Die große Bedeutung, die er bis heute hat, erklärt sich dadurch, dass er eine überaus anerkannte Theorie des Geistes hervorgebracht hat – den Funktionalismus. Mentale Zustände sind funktionale Zustände. Mit dieser Kernaussage hat der Funktionalismus viele der Schwachstellen des Behaviorismus ausgebessert: Ein funktionaler Zustand ist dadurch definiert, dass er auf einen bestimmten Input (der ihn bedingt) mit einem bestimmten Output reagiert (das Verhalten, das er hervorruft) und zudem andere mentale Zustände beeinflusst. Um es in der Computersprache auszudrücken: Der Funktionalismus ist (wie der Behaviorismus) eine „Softwarelösung“ für das Problem des Geistes. Er definiert mentale Phänomene über die Begriffe Input und Output, ohne Rücksicht auf die Hardware-Teile, mit denen die Software läuft. Das Problem dabei: Input und Output in den Mittelpunkt zu stellen, führt uns geradewegs wieder zurück in das „Chinesische Zimmer“.
Worum esTuring-Test geht Machen Sie den doch einmal selbst!
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Philosphie des Geistes
10 Das Schiff des Theseus Oh Mann, Theo hatte von Anfang an nur Scherereien mit diesem Auto, das er bei Joe gekauft hatte! Es fing an mit ein paar kleinen Macken – das Türschloss war dahin, die Heckfederung ließ nach, das Übliche. Und es kam immer dicker – zuerst Kupplung, dann Getriebe, schließlich die ganze Übersetzung. Dann klapperte und klopfte es ständig, kaum dass der Wagen aus der Werkstatt war. In einem fort ging das so … unglaublich. „Aber nicht so unglaublich wie die Tatsache, dass der Wagen erst zwei Jahre alt ist und ich bereits jedes einzelne Teil ersetzen lassen musste“, meinte Theo kläglich. „Aber he, wenn ich es mal positiv betrachte, habe ich jetzt … ein neues Auto!“ Hat Theo Recht? Oder ist es immer noch das gleiche Auto? Die kleine Geschichte ist im Grunde die vom berühmten „Schiff des Theseus“ – bei dem auf der Fahrt von Athen nach Milet auch jedes Teil ausgewechselt wurde. Die Frage scheint ein ewiges Rätsel und wird in Fachkreisen gerne herangezogen, um Intuitionen über die Identität von Dingen oder Personen in einem zeitlichen Verlauf zu überprüfen. Wie es scheint, sind unsere Intuitionen diesbezüglich oft stark ausgeprägt, aber widersprüchlich. Erzählt hat die Geschichte vom „Schiff des Theseus“ der englische Philosoph Thomas Hobbes, um daraus ein bis heute ungelöstes Rätsel zu entspinnen. Aber zurück zu Theos Variante: Der ehrliche Joe machte seinem Namen keine Ehre. Die meisten Teile an Theos Wagen, die er ersetzt hatte, funktionierten tadellos, die anderen reparierte er. Er hob alle alten Teile auf und bastelte sie nach und nach zusammen, bis er zwei Jahre später dann eine exakte Kopie von Theos Wagen hatte. Eine Kopie? Für Joe war es das. Oder war es vielleicht Theos Wagen?
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Das Leib-Seele-Problem
Cogito ergo sum
Das Schiff des Theseus
Das Schiff des Theseus Identitätsprobleme
Welches Auto ist das Original? Das Auto, das Theo fährt und das inzwischen komplett aus Neuteilen besteht? Oder Joes Auto, das vollständig aus zusammenmontierten Originalteilen besteht? Kommt darauf an, wen Sie fragen. Wie auch immer die Antwort lautet, die Identität des Autos im zeitlichen Verlauf zu bestimmen, ist nicht annähernd so einfach, wie wir es gerne hätten. Aber es geht nicht nur um Autos und Schiffe. Auch wir Menschen verändern uns im Laufe eines Lebens enorm. Körperlich und geistig haben das zweijährige Kleinkind und der neunzigjährige Greis, zu dem es 88 Jahre später wird, wohl kaum etwas gemein. Handelt es sich also um ein und dieselbe Person, und wenn ja, woran liegt das? Genau darauf kommt es an –- ist es gerecht, einen Neunzigjährigen für etwas zu bestrafen, das er siebzig Jahre zuvor verbrochen hat? Was, wenn er sich gar nicht mehr daran erinnert? Soll ein Arzt den Neunzigjährigen sterben lassen, weil er das vierzig Jahre zuvor als eine (vermeintlich) frühere Variante seiner selbst so verfügt hat? Das Problem der personalen Identität beschäftigt Philosophen seit je her. Aber was sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die eine Person in der einen Zeit als die gleiche Person zu einer späteren Zeit ausmachen?
Von Tieren und Gehirnverpflanzungen Der gesunde Menschenverstand sagt wohl, dass die personale Identität eine Frage der Biologie ist: Ich bin heute noch genau der, der ich auch in der Vergangenheit war, weil ich derselbe lebende Organismus bin, dasselbe menschliche Tier. Ich bin verbunden mit einem bestimmten Körper, der für sich eine einzelne und dauerhafte organische Einheit darstellt. Aber stellen Sie sich für einen kurzen Augenblick eine Gehirntransplantation vor (was beim heutigen Stand der Technik nicht schwer fallen dürfte), bei der man Ihr Gehirn in meinen Körper verpflanzt. Was sagt Ihre Intuition spontan? Genau. Sie sagt, dass Sie nun einen anderen Körper haben, nicht, dass mein Körper ein anderes Gehirn hat. Daraus ließe sich folgern, dass der Umstand, einen bestimmten Körper zu haben, keine notwendige Bedingung für das Weiterleben der eigenen Person ist. Diese Betrachtung hat etliche Philosophen veranlasst, ihr Augenmerk weniger auf den Körper als vielmehr auf das Gehirn zu lenken und zu behaupten, dass Identität nicht mit dem Körper als Ganzem zusammenhängt, sondern mit dem Gehirn. Dieser Ansatz stimmt mit unserer Intuition im Falle einer Gehirnverpflanzung überein, reicht aber als Erklärung nicht ganz. Es geht in erster Hinsicht um die geistigen Phänomene, die, wie wir annehmen, unserem Gehirn entspringen, und nicht um das physische Organ selbst. Wie das Gehirn Bewusstsein erzeugt, ist zwar noch unklar – aber ein Bewusstsein ohne Gehirnaktivität? Dass das nicht geht, bezweifelt niemand. Dabei
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Der Turing-Test
Das Gehirn im Tank
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Das Paradoxon des tapferen Soldaten Thomas Reid versuchte John Lockes Position (Identität = psychische Kontinuität) zu widerlegen:
Angenommen ein tapferer Offizier, der als Schuljunge dafür bestraft wurde, dass er einen Obstgarten geplündert hat, habe in seinem ersten Feldzug eine Standarte des Feindes erobert und sei im späteren Leben zum General ernannt worden; weiter angenommen, dass er, als er die Standarte erobert hat, sich der Züchtigung in der Schule noch bewusst gewesen ist, und dass er,
als er zum General ernannt wurde, sich zwar noch der Eroberung der Standarte bewusst war, aber nicht mehr der Züchtigung. Nach Reid ist nun in Lockes Sinne der alte General paradoxerweise gleichzeitig der Junge, der gezüchtigt wurde (denn der alte General erinnert sich an die eroberte Standarte und der „Eroberer“ daran, als Junge gezüchtigt worden zu sein), gleichzeitig aber auch nicht, denn die Erinnerungen des alten Generals reichen ja nicht mehr in die Kindheit zurück.
glauben wir, es sei eben die „Software“ (Erfahrungen, Erinnerungen, Überzeugungen), die mich zu meinem Ich macht – nicht die „Hardware“, dieser spezielle Klumpen gräulicher Substanz. Mein Ich-Gefühl würde nicht wirklich ins Wanken geraten, würde man die Gesamtsumme all meiner Software-„Erfahrungen“ in ein künstliches Gehirn hineinkopieren, auch dann nicht, wenn man das Gehirn eines Anderen so konfigurierte, dass es all meine Erinnerungen, Überzeugungen usw. fassen könnte. Ich bin mein Geist; ich gehe, wohin mein Geist geht. So gesehen, ist meine Identität ganz und gar nicht verbunden mit meinem Körper, mein Gehirn inbegriffen.
Psychische Kontinuität Betrachtet man die personale Identität von der psychischen und nicht von der biologischen Seite, kann man annehmen, dass jedes einzelne Element der eigenen Geschichte über kontinuierliche Ketten von Erinnerungen mit früheren Elementen verbunden ist. Dabei ist nicht eine Kette mit aktuellen Erinnerungen an die Vergangenheit gefordert, sondern ein Gitter von sich überlappenden Erinnerungen, das meine Geschichte zu meiner Geschichte macht, das mein Ich ausmacht. Die psychische Kontinuität von Erinnerung als Bedingung für personale Identität im zeitlichen Verlauf stammt von John Locke. Sie gilt als die vorherrschende Theorie unter modernen Philosophen, wirft selbst aber auch wieder Fragen auf. Stellen Sie sich ein Teleportationssystem vor, so wie man es von Science-FictionFilmen kennt. Es zeichnet sämtliche Daten Ihrer körperlichen Struktur auf, bis zum letzten Atom, und übermittelt diese Daten dann an einen fernen Ort (sagen wir von London, Erde, auf eine Mondstation 1). Dort wird Ihr Körper aus neuer Materie haargenau repliziert, und zwar exakt in dem Moment, da man Ihren Körper in London vernichtet. Prima, alles gut gegangen, werden Sie denken, sofern Sie der These
Das Schiff des Theseus von der psychischen Kontinuität anhängen: ein ununterbrochener Erinnerungsstrom, der von der Person in London zu der neu gestalteten auf dem Mond fließt. Die psychische Kontinuität und somit die personale Identität bleibt folglich erhalten. Sie leben fortan auf der Mondstation 1. Aber stellen Sie sich nun einmal vor, es gäbe doch zwei Ausgaben von „Ihnen“ – die alte auf der Erde und die neue auf dem Mond. Nach der These von der psychischen Kontinuität sind beide Ausgaben „Sie“, da der Erinnerungsstrom in beiden Fällen erhalten ist. Doch ohne zu zögern, würden wir in diesem Falle sagen, dass Sie die Person in London sind (die „alte Materie“), während die andere auf dem Mond nur eine Kopie ist. Sofern diese Intuition richtig ist, scheint uns die These von der psychischen Kontinuität zurückzuführen auf die der biologisch-physikalischen.
Unser „Selbst“ – aber selbstverständlich!? Woher kommen diese ungleichen Intuitionen? Liegt es an den falschen Fragen? Oder daran, dass wir sie mit den falschen Begrifflichkeiten zu beantworten suchen? David Hume zufolge gibt es gar kein „Selbst“ oder „Ich“, nur eine ständige Abfolge von individuellen Gedanken, Erinnerungen und Erfahrungen. Zwar sei es natürlich, sich ein wesenhaftes Selbst vorzustellen, das das Subjekt dieser Gedanken ist, doch sei diese Vorstellung eben falsch. Gäbe es das „Selbst“ – so Hume, der Empirist –, so müsste sich die entsprechende Vorstellung letztlich aus einem Sinneseindruck, aus der Erfahrung herleiten lassen, was aber tatsächlich nicht gelänge. Die Idee von einem „Selbst“ als einem wesenhaften Etwas, das wir für unser „Ich“ halten, sorgt für Verwirrung, wenn wir uns vorstellen, dass wir uns einer Gehirntransplantation unterziehen oder vernichtet und an einem anderen Ort wieder zusammengesetzt werden. Irgendwie scheinen wir in derlei Gedankenexperimenten davon auszugehen, dass unser individuelles Fortbestehen davon abhängig ist, einen Ort für dieses Selbst zu finden. Doch sobald wir aufhören, in diesen Begriffen zu denken, wird die Sache klarer. Nehmen wir an, die Teleportation wäre reibungslos verlaufen, Ihr Körper in London wäre ausgelöscht, aber man hätte zwei Kopien von Ihnen auf dem Mond erzeugt. Natürlich fragen wir uns auch jetzt: Welche dieser beiden Kopien sind „Sie“? Aber diese Fragestellung ist falsch. Es gibt fortan zwei menschliche Wesen, von denen jedes mit exakt demselben Fundus an Gedanken, Erfahrungen und Erinnerungen in das neue Leben startet; jedes wird seinen eigenen Weg gehen und sich psychisch in verschiedene Richtung entwickeln. „Sie“ (genau genommen Ihr mentaler Fundus) leben in zwei neuen Individuen fort – eine sehr interessante Form des persönlichen Überlebens, das auf Kosten der personalen Identität geht!
esIchgeht WasWorum macht mein zum Ich?
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Philosphie des Geistes
11 Der Geist der Anderen Der ganze Hollywood-Kram ist völliger Blödsinn – der glasige Ausdruck, die Fischaugen, der starre Blick – absoluter Quatsch. In Wirklichkeit ist es echt schwer, einen Zombie auszumachen. Zombies sehen genauso aus wie Sie und ich, gehen genauso, sprechen genauso – nie und nimmer würde man ihnen anmerken, dass in ihrem Innern gar nichts abläuft. Verpasse einem Zombie einen ordentlichen Tritt gegen das Schienbein, und er wird zusammenfahren und aufschreien wie Sie und ich. Doch im Unterschied zu Ihnen und mir fühlt er nichts: keinen Schmerz, keine Regung, keinerlei Bewusstsein. Sagt sich so dahin – wie „Sie und ich“ – aber eigentlich sollte ich nur von „ich“ sprechen. Denn wer oder was „Sie“ sind, darüber kann ich mir ehrlich gesagt ganz und gar nicht sicher sein … Philosophische Zombies spielen immer wieder eine Rolle in der anhaltenden philosophischen Diskussion um das sogenannte „Problem des Fremdpsychischen“. Ich für mich weiß, dass ich ein Bewusstsein habe, ein InPhilosophische Zombies nenleben bewusster Erfahrung. Doch der Inhalt „Ihres“ haben mehr Ähnlichkeit mit Bewusstseins ist mir fern, bleibt mir verborgen; alles, den Ehefrauen in die Frauen was ich direkt beobachten kann, ist Ihr Verhalten. Doch von Stepford als mit der blut- ist das ein hinreichender Beweis für meine Annahme, hungrigen Meute der Untoten dass Sie genau wie ich ein Bewusstsein haben? Um es in Die Nacht der lebenden drastischer zu formulieren: Woher weiß ich, dass Sie Toten. Und doch stimmt mit nicht so ein Zombie sind wie oben beschrieben, dass Sie den Frauen von Stepford ir- also in Sachen Verhalten und körperlicher Ausstattung gendetwas nicht, kaum merk- genau so ein Wesen sind, wie ich es bin, nur eben ohne Bewusstsein?
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lich zwar, aber dennoch. Larry Hauser, 2006
Zeitleiste ca. 350 v. Chr.
ca. 250 v. Chr.
ca. 1300
Argumentformen
Fühlen Tiere Schmerzen?
Ockhams Rasiermesser
Der Geist der Anderen
Von Zombies und Mutanten Zombies sind nicht die einzigen ungewöhnlichen Gäste auf Tagungen der Philosophie des Geistes. Man wird dort auch Mutanten antreffen, die – ebenso wie die Zombies – weniger unheimlich sind als ihre Pendants aus den Hollywoodfilmen. Sie sind, was Aussehen und Verhalten angeht, nicht im Mindesten von gewöhnlichen Menschen zu unterscheiden. Und sie haben ein Bewusstsein, einen Geist! Nur ist dieser nicht auf die gleiche Weise verschaltet wie bei Ihnen oder (zumindest) bei mir. Wie aber stellt sich dieses Anderssein eines Mutanten dar? Ganz einfach: Was mir Schmerz bereitet, mag dem Mutanten Freude bereiten; wo ich blau sehe, mag er rot sehen usw. Es gilt nur eine Regel, und die lautet: Alle Empfindungen so-
wie sämtliche mentalen Ereignisse eines Mutanten unterscheiden sich von meinen. Mutanten sind insbesondere dann nützlich, wenn man einen anderen Aspekt der Problematik betrachtet. Es dreht sich hierbei nicht darum, ob andere Menschen ein Bewusstsein haben, sondern ob das Bewusstsein der Anderen auf die gleiche Weise funktioniert wie meines. Kann ich jemals (auch nur prinzipiell) wissen, ob Sie Schmerzen genauso empfinden wie ich? Oder wie stark Ihr Schmerzempfinden ist? Oder ob Sie die Farbe Rot genauso wahrnehmen wie ich? Mit derlei Fragen eröffnet sich ein ganz neues Diskussionsfeld, und genau wie auch sonst beim Problem des Fremdpsychischen helfen die Antworten unsere Grundbegriffe von dem zu erhellen, was Bewusstsein ist.
Die Frage, ob auch Andere ein Bewusstsein haben, scheint absurd, aber so irrational nun auch wieder nicht. Wenn man bedenkt, wie außerordentlich schwierig es ist, Bewusstsein in einer physikalischen Welt zu erklären oder ihm einen Platz einzuräumen (siehe Seite 32), dann ist es eigentlich durchaus rational, wenn ich annehme, dass das einzige Bewusstsein, das ich kenne, nämlich mein eigenes, eine Rarität darstellt oder sogar einzigartig ist. Möglicherweise sind alle anderen (die Zombies) normal und ich bin der Irre?
Wenn wir uns also so ähnlich sind… Das in diesem Zusammenhang bekannte Analogieargument hat unter anderen Bertrand Russell entwickelt. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Wenn ich auf einen spitzen Nagel trete, führt das bei mir zu einem bestimmten Verhalten („Autsch“), das zudem begleitet ist von einem bestimmten Gefühl – Schmerz. Daraus schließe ich, dass ein Anderer ebenfalls Schmerz empfindet, wenn er in ähnlicher Weise auf ähnliche Reize reagiert. Allgemeiner formuliert: Ich beobachte zahllose Ähnlichkeiten – körperlicher Art und
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Philosphie des Geistes vom Verhalten her – zwischen mir und Anderen und schließe daraus, dass die Anderen mir auch in psychischer Hinsicht ähnlich sind. Der gesunde Menschenverstand will dem Analogieargument gerne zustimmen. Wären wir aufgefordert, den eigenen Glauben an das Bewusstsein der anderen zu rechtfertigen (ein zugegebenermaßen unwahrscheinlicher Fall), würden wir wohl ähnlich argumentieren. Das Argument ist natürlich induktiv (siehe Seite 108) und kann nicht (und das soll es auch nicht) als endgültiger Beweis dienen. Aber dasselbe gilt auch für vieles andere, an das zu glauben wir uns berechtigt fühlen. Die übliche Kritik an dieser Argumentation bezieht sich darauf, dass man auf der Grundlage eines einzelnen Falls (dem eigenen Bewusstsein nämlich) Schlüsse zieht oder hochrechnet. Mal angenommen, Sie finden eine Auster mit einer Perle darin und schließen daraus, alle Austern enthielten Perlen. Um die Gefahr eines solchen Irrtums zu reduzieren, müssten Sie eine Reihe von Austern untersuchen. Doch dies ist genau die Vorgehensweise, die uns im Falle des Bewusstseins Anderer verschlossen bleibt. So bemerkt Wittgenstein: „Wie kann ich den einzelnen Fall derart unverantwortlich verallgemeinern?“
Gegen Windmühlen kämpfen? Das Problem des Fremdpsychischen scheint einer jener Fälle zu sein, wo Philosophen wieder mal ein Problem finden, wo wir anderen gar keines vermutet hätten. Tatsächlich gehen wir doch alle ganz selbstverständlich davon aus (auch die Philosophen unter uns, zumindest aus praktischen Gründen), dass auch Andere ebenso wie wir ein Seelenleben mit Gedanken und Empfindungen haben. Doch das Problem deshalb von der Hand zu weisen, würde am eigentlichen Kern der Sache vorbeigehen. Niemand will uns überzeugen, dass wir alle Zombies sind. Es ist nur so, dass die vielerlei Vorstellungen, die wir uns über unser menschliches Bewusstsein und seiner Beziehung zum Körper machen können, alle Möglichkeiten für die Existenz von Zombies offen lassen. Der Cartesische Dualismus (siehe Seite 28) treibt einen riesigen metaphysischen Keil zwi-
schen mentale und körperliche Ereignisse und reißt eine Kluft, in der die Skepsis gegenüber dem Bewusstsein Anderer prächtig gedeiht – ein guter Grund, die dualistischen Theorien prüfend unter die Lupe zu nehmen, sei es bei Descartes oder in den vielen religiösen Spielarten. Umgekehrt liegt der Reiz der physikalistischen Bewusstseinstheorien nicht zuletzt darin, dass mentale Ereignisse mit physikalischen Begriffen in vollem Umfang erklärt werden können, zumindest prinzipiell; und mit der Auflösung des Mentalen im Physikalischen verschwinden auch die Zombies. Derlei Theorien sind deshalb nicht notwendigerweise wahr, aber sie gehen deutlich in die richtige Richtung, und das Problem des Fremdpsychischen wirft damit ein Licht auf allgemeinere Fragen innerhalb der Philosophie des Geistes.
Der Geist der Anderen
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Die „Unverantwortlichkeit“, Schlüsse Wenn die Beziehung zwischen dem anhand eines einzelnen Falles zu ziehen, menschlichen Körper und Geist so zufällig wird gemildert, wenn man gleichzeitig ist, wie es die Cartesische Theorie des über geeignete HintergrundinformatioGeistes impliziert, dann dürfte es mir ebennen verfügt. Wenn wir beispielsweise erso leicht fallen … mir einen Tisch vorzukennen, dass die Perle in einer Auster keinerlei Funktion hat, oder dass Perlen stellen, der Schmerzen leidet, wie ich mir nicht so wertvoll wären, kämen sie in je- eine andere Person vorstellen kann, die der Auster vor, dann werden wir weniger Schmerzen leidet. Aber das klappt nicht, und genau darum geht es. geneigt sein, aus der einzelnen Auster, die wir zufällig in Händen halten, falsche Ludwig Wittgenstein, 1953 Schlüsse zu ziehen. Was den Umgang mit Phänomenen wie Geist und Bewusstsein so problematisch macht, ist die Tatsache, dass sie uns rätselhaft bleiben, dass sie nichts ähneln, was uns sonst vertraut ist. Und so bleibt auch gänzlich unklar, was als geeignete Hintergrundinformation gelten könnte. Insofern ist das Problem des Bewusstseins der Anderen als ein weiteres Symptom des allgemeineren Leib-Seele-Problems zu betrachten. Wenn unsere Theorie des Geistes es schafft, die Beziehung zwischen geistigen und körperlichen Phänomenen zu enträtseln, dann dürften sich mithin auch alle Bedenken hinsichtlich des Bewusstseins Anderer abschwächen oder gar ganz zerstreuen.
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Worum es geht Ist da jemand?
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12 Humes Guillotine „In jedem moralischen System, das mir bislang begegnet ist, habe ich stets festgestellt, dass der Autor eine gewisse Zeit in der üblichen Argumentationsweise fortschreitet und darlegt, dass es einen Gott gibt, oder Beobachtungen über menschliche Angelegenheiten trifft; dann plötzlich stelle ich überrascht fest, dass anstatt der üblichen Satzverknüpfungen, nämlich „ist“ und „ist nicht“, ich nur auf solche Sätze stoße, welche mit „soll“ oder „soll nicht“ verbunden sind … … Dies ändert sich auf nicht wahrnehmbare Weise – es ist aber, worauf es letztlich führt. Denn dieses „soll“ oder „soll nicht“ drückt eine neue Art der Verbindung oder der Behauptung aus. Das sollte genau bemerkt und erklärt werden, und zwar so, dass gleichzeitig ein Grund angegeben wird. Denn es scheint schlicht unverständlich, wie diese neue Art der Verbindung eine Ableitung aus anderen sein kann, da jene anderen vollständig davon verschieden beschaffen sind.“ In dieser berühmten Passage aus seinem Werk Ein Traktat über die menschliche Natur formuliert der schottische Philosoph David Hume in gewohnt lakonischer Manier die klassische Aussage dessen, was bis heute als eine der Kernfragen in der Moralphilosophie diskutiert wird. Wie können wir möglicherweise von einer beschreibenden Aussage über das Sein der Dinge zu einer vorschreibenden Aussage über das, was getan werden soll, finden – von einem Ist-Satz zu einem Soll-Satz. Oder kurz gesagt: Wie können wir ein „Soll“ von einem „Ist“ ableiten? Nach Hume ist es eine Unmöglichkeit, vom Sein auf ein Sollen zu schließen, und darin stimmen ihm viele Denker zu. „Humes Guillotine“, oder einfach nur „Humes Gesetz“, so die einhellige Meinung, hat in entschiedener Weise die Welt der Fakten von der Welt der (moralischen) Werte getrennt.
Der naturalistische Fehlschluss Humes Gesetz wird häufig verwechselt mit einem verwandten, aber doch verschiedenartigen Konzept, das der englische Philosoph George Edward Moore in seinem Werk Principia Ethica (1903) darlegt.
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ca. 440 v. Chr. Des einen Freud …
Humes Guillotine Moore hält früheren Philosophen vor, einen sogenannten naturalistischen Fehlschluss begangen zu haben, der darin besteht, moralische Begriffe mit Begriffen gleichzusetzen, die sich auf die Natur beziehen. So werde beispielsweise „gut“ gleichbedeutend mit (sagen wir) „wohltuend“ verwendet. Allerdings, so Moore, bleibt immer noch die offene Frage, ob das, was wohltuend ist, auch gut ist. Und da die Frage nicht einfach nichtssagend ist, muss die Gleichsetzung beider Begriffe ein Irrtum sein. Nach Moore selbst sind ethische Begriffe wie „gut“ nicht natürlich und können auch nicht weiter analysiert werden. Sie lassen sich nur mit Hilfe der moralischen Intuition zuverlässig bestimmen. Diese Betrachtung war weniger einflussreich als der von ihm angenommene naturalistische Fehlschluss. Um die Verwirrung komplett zu machen: Der Begriff „naturalistischer Fehlschluss“ wird häufig auch benutzt für einen Fehlschluss ganz anderer Art: Die Tatsache, dass etwas naturbelassen oder natürlich ist (oder unnatürlich), ist Grund genug zur Annahme, dass es an sich gut (oder schlecht) ist (unter Werbeleuten sehr beliebt). Dass dieses Argument hinkt, wird jeder sofort bescheinigen, der schon einmal synthetische Medikamente gegen „natürliche“ Krankheitserreger verabreicht bekommen hat.
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Vielleicht ist die einfachste und bedeutsamste Aussage über Ethik rein logisch. Ich meine die Unmöglichkeit …, aus Faktenaussagen nicht-tautologische ethische Regeln abzuleiten. Karl Popper, 1948
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Werte in einer wertfreien Welt Das Problem, das Hume herausgestellt hat, ist zum Teil zwei starken, aber widersprüchlichen Überzeugungen geschuldet, die viele von uns teilen. Zum einen glauben wir, dass wir in einer physikalischen Welt leben, die grundsätzlich durch wissenschaftlich feststellbare Naturgesetze vollstän-
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Ethische „-ismen“ Die Ethik, die auch als Moralphilosophie bezeichnet wird, ist in drei große Bereiche unterteilt. Allen voran steht die Metaethik. Sie versucht, den Ursprung oder die Natur der Moral im Allgemeinen zu bestimmen. Dabei geht es auch um Fragen wie etwa, ob die Moral im Grunde objektiv oder subjektiv ist. Die Normative Ethik befasst sich mit ethischen Prinzipien (Normen), auf denen moralisches Handeln basiert; der Utilitarismus beispielsweise ist ein normatives System, da er für die moralische Bewertung einer Handlung das Nützlichkeitsprinzip zugrunde legt. Der dritte Bereich ist die Angewandte Ethik, welche die theoretischen Grundprinzipien mit praxisbezogenen Themen zusammenbringt (z. B. Abtreibung, Euthanasie, gerechter Krieg, Umgang mit Tieren). Zu all diesen Fragen haben Philosophen die unterschiedlichsten Positionen bezogen, woraus eine ganze Reihe von „Ismen“ entstanden ist. Der folgende kurze Abriss nennt die wichtigsten ethischen Theorien.
• Moralischer Absolutismus Der moralische Absolutist ist überzeugt, dass bestimmte Handlungen unter allen Umständen richtig oder falsch sind.
• Konsequentialismus Ob eine Handlung richtig oder falsch ist, beurteilt diese Position allein aufgrund der von ihr bewirkten Konsequenz hinsichtlich des erstrebten Ziels. Die bekannteste Variante ist der Utilitarismus (siehe Seite 69).
• Deontologismus Der Deontologe betrachtet bestimmte Handlungen unabhängig von ihren Konsequenzen als in sich selbst gut oder schlecht. Besondere Bedeutung kommt dabei gewöhnlich den Absichten des Handelnden zu sowie Pflichten und Rechten. Als das wichtigste deontologische System gilt die Kant‘sche Ethik (siehe Seite 72).
dig erklärt werden kann; in einer Welt der objektiven Fakten, aus der Werte ausgenommen sind. Zum anderen fühlen wir, dass wenn wir in unserem alltäglichen Leben wertende Urteile fällen (wie etwa, dass Völkermord unrecht ist), wir damit etwas Wahres über die Welt aussagen; etwas, das wir wissen können und das wahr ist, ganz gleich, wie wir darüber denken. Doch diese Ansichten scheinen mit Humes Gesetz unvereinbar; denn wenn wir unsere moralischen Wertungen nicht in der von der Wissenschaft beschriebenen wertfreien Welt verankern können, müssen wir die
Humes Guillotine
• Naturalismus Der Naturalist sagt, dass ethische Konzepte allein durch die „Fakten der Natur“, welche durch die Wissenschaft feststellbar sind, erklärt oder analysiert werden können. Das sind zumeist Fakten aus der menschlichen Psychologie wie etwa Freude.
hängig davon, ob ein Mensch sie fassen kann; ethische Behauptungen sind nicht subjektiv oder relativ zu etwas und können wahr oder falsch sein, je nachdem, ob sie widerspiegeln, wie die Dinge in der Welt beschaffen sind. Der Objektivismus hält ethische Konzepte für metaphysisch real und ist daher mit dem moralischen Realismus weitgehend deckungsgleich.
• Nonkognitivismus Für Nonkognitivisten ist Moral keine Frage des Wissens, da die Gegenstände der Moral gerade keine Fakten darstellen; moralische Urteile sind vielmehr Ausdruck von inneren Haltungen, Gefühlen usw. einer Person. Beispiele für nonkognitivistische Positionen sind Emotivismus und Präskriptivismus (siehe Seite 62).
• Objektivismus Der Objektivist vertritt die Ansicht, dass moralische Werte und Eigenschaften als Teil „der Ausstattung des Universums“ vorhanden sind, unab-
• Subjektivismus Der Subjektivist sagt, dass moralische Werte nicht in einer außen liegenden Realität verankert sind, sondern entweder in unseren Überzeugungen von der Realität oder in unseren emotionalen Reaktionen darauf. Letztere Position ist prinzipiell identisch mit dem Nonkognitivismus (siehe oben). Im ersten Fall hingegen (eine kognitivistische Position) sagt der Subjektivist, dass es ethische Fakten gibt, bestreitet aber, dass diese objektiv wahr oder falsch sind; ein Beispiel hierfür ist der Relativismus (siehe Seite 52).
Ursprünge unserer moralischen Empfindungen zwangsläufig in unserer Gefühlswelt suchen. Hume selbst war überzeugt, dass man seiner Feststellung eine gewisse Bedeutung nicht absprechen könne. Wenn man ihr nur Beachtung schenkte, würden „alle gewöhnlichen Moralsysteme“ untergraben. Die logisch unüberbrückbare Kluft zwischen Tatsachen und Werten, die Hume aufzutun scheint, lässt den Anspruch ethischer Behauptungen zweifelhaft erscheinen und zielt damit auf das Herzstück moralischer Philosophie.
Worum es Ist geht Die Kluft zwischen und Soll
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13 Des einen Freud … „Als Darius König der Perser war, berief er die Griechen, die bei ihm waren, und fragte sie, um welchen Preis sie ihre gestorbenen Väter verspeisen wollten. Die aber sagten, das würden sie um keinen Preis tun. Hierauf ließ Darius die Kalatier zu sich kommen – ein indisches Volk – die tatsächlich die toten Körper ihrer eigenen Eltern verzehren. Er fragte sie in Gegenwart der Griechen, denen ein Dolmetscher das Gesprochene erklärte, um welchen Preis sie ihre toten Eltern mit Feuer verbrennen würden (im Sinne der griechischen Bräuche). Sie aber schrieen laut auf und sagten, er solle nicht von so Schrecklichem sprechen.“ Wer hat nun Recht? Die Griechen oder die Kalatier? Wir mögen ein wenig erbleichen vor Schreck beim Gedanken, unsere Eltern zu verspeisen, ebenso wie die Kalatier beim Gedanken, die ihren zu verbrennen. Am Ende werden wir es wohl mit Herodot halten, dem griechischen Historiker, der diese Geschichte erzählt, wenn er zustimmend den Dichter Pindar zitiert: „Die Gewohnheit herrscht als Königin über alle“. Es geht nicht darum, dass eine Seite richtig und die andere falsch liegt; es gibt keine „richtige Antwort“. Jede Gruppe hat ihren eigenen Kodex von Sitten und Traditionen; jede verhält sich diesem Kodex gemäß richtig; und jede wird sich auf den jeweils geltenden Kodex berufen und die entsprechende Art des Leichenbegräbnisses verteidigen. Im angeführten Fall scheint das, was moralisch richtig ist, nicht absolut zu sein, sondern lediglich abhängig von der Kultur und den Traditionen der betreffenden sozialen Gruppe. Beispiele für eine solche kulturelle Verschiedenheit, sowohl auf geographischer wie historischer Ebene, gibt es natürlich unzählige. Die Relativisten folgern daraus, dass es überhaupt keine absoluten oder universalen Wahrheiten gibt: Alle moralische Beurteilungen und Bewertungen sind allenfalls relativ zu den sozialen Normen einer Gruppe gültig.
Vive la différence Nach dem Relativismus können wir moralische Urteile so behandeln, als wären sie ästhetische. In Fragen des Geschmacks lässt sich im Allge-
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Des einen Freud … meinen nicht von Fehlschluss oder Irrtum sprechen: de gustibus non disputandum – „über Geschmack kann man nicht streiten.“ Schmecken Ihnen Tomaten? Ja? Mein Geschmack sind sie nicht. Wir sind uns also einig, dass wir einen unterschiedlichen Geschmack haben. Was für Sie richtig oder wahr ist, muss für mich nicht ebenso richtig oder wahr sein. In solchen Fällen folgt Wahrheit der Aufrichtigkeit: Wenn ich aufrichtig sage, dass ich etwas mag, dann kann ich nicht irren –- es ist wahr (für mich). Folgen wir dieser Analogie und sagen, dass wir (als eine Gesellschaft) die Todesstrafe befürworten, so ist das moralisch richtig (für uns) und etwas, worin wir nicht irren können. Genauso wie wir nicht auf die Idee kommen würden, jemanden davon abzubringen, Tomaten zu mögen oder ihn dafür zu kritisieren, ist auch in Sachen Moral Überredung und Kritik fehl am Platz. Natürlich sind unsere moralischen Haltungen voll von Einwänden und Kritik, und wir nehmen gewohnheitsmäßig eine strikte Position ein, wenn es um Fragen wie die Todesstrafe geht. Gut möglich auch, dass wir uns im Laufe der Zeit selbst widersprechen: Wir ändern etwa unsere Meinung zu einer moralischen Frage oder erleben eine gesellschaftliche Verschiebung einer bestimmten Grundhaltung – wie etwa Amerika einst in der Frage der Sklaverei. Die Aussage des ausgemachten Relativisten müsste hier lauten, dass eine Sache für einige Leute richtig war, nicht aber für andere; oder dass sie einst für mich (oder uns) richtig war, jetzt aber nicht mehr richtig ist. Und das könnte im Falle der Sklaverei, der Mädchenbeschneidung, der legalen Kindstötung usw. eine bittere Pille sein. Dass der Relativismus darin versagt, Aspekte ernsthaft zu berücksichtigen, die so charakteristisch sind für unsere unmittelbar moralischen Vorstellungen, ist für Kritiker ein schlagendes Argument gegen die relativistische These. Aber gerade das verbuchen die Relativisten unter dem Vorzeichen der Toleranz als einen Vorteil für sich. Wir sollten, so sagen sie, nicht immer so wertend und kritisch mit anderen sein. Die gleiche Lektion erteilt uns auch die kleine Geschichte von den Griechen und den Kalatiern: Wir müssen toleranter und unvoreingenommener im Umgang mit Anderen sein sowie sensibler für deren Sitten und Bräuche. Aufgrund dieser Argumentationslinie verbinden viele den Relativismus mit Toleranz und Vorurteilsfreiheit. Ein gegenteiliges Bild wird von den Nicht-Relativisten gezeichnet. Sie gelten als intolerant und voreingenommen, wenn es um Gepflogenheiten geht, die anders sind als die ihrigen. Auch das Bild des westlichen Kulturimperialisten, der in arroganter Manier den „unaufgeklärten“ Anderen seine Sichtweisen aufdrückt, ist ein Extrem dieser Linie. Aber dieses Bild ist eine Karikatur, eine Verzerrung: Tatsäch-
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Was ist Moral in einer beliebigen Zeit oder an einem beliebigen Ort? Es ist das, was der Mehrheit dann und dort zufällig gefällt. Und Unmoral ist das, was ihr nicht gefällt. Alfred North Whitehead, 1941
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lich kann man einerseits im Allgemeinen tolerant sein und dennoch andererseits behaupten, dass andere Menschen oder Kulturen bei dem einen oder anderen Thema falsch liegen. Tatsächlich können sich nur die Nicht-Relativisten Toleranz und kulturelles Feingefühl als universelle Tugenden auf die Fahnen schreiben (siehe Kasten, unten), was für die Relativisten doch sehr entmutigend sein muss.
Auf die Perspektive kommt es an Die Absurdität eines vollendeten Relativismus und seine verbreitete Akzeptanz als politisches Mantra (siehe Kasten) haben dazu geführt, dass Einsichten, die eine mäßigere Form des Relativismus bereithält, bisweilen übersehen werden. Die wichtigste Lektion des Relativismus ist die, dass das Wissen selbst perspektivisch ist: Unsere Sicht auf die Welt erfolgt immer aus einer bestimmten Perspektive (oder Sichtweise) heraus; es gibt keinen außerhalb befindlichen Punkt, von dem aus wir die Welt „so wie sie wirklich ist“ beobachten können. Der Wahrheitswert eines jeden Urteils ist relativ zu diesem (Stand-)Punkt, der auch als begriffliches Schema oder theoretischer Rahmen bezeichnet wird. Ein-
Die Grenzen des Relativismus Ein ausgeprägter, radikaler Relativismus – die Idee, dass alle Behauptungen (moralische und andere) relativ sind –, verfängt sich rasch in der eigenen Schlinge. Ist die Behauptung, alle Behauptungen seien relativ, selbst relativ? Nun, das muss sie sein, um einen Selbstwiderspruch zu vermeiden. Aber wenn es so ist, dann bedeutet das, dass meine Behauptung, alle Behauptungen seien absolut, für mich wahr ist. Und diese Art der Inkohärenz wirkt sich schnell auf alles andere aus. Der Relativist kann nicht behaupten, es sei immer falsch, die kulturellen Gepflogenheiten anderer Gesellschaften zu kritisieren, da dies zu tun für mich durchaus richtig sein mag. Er kann auch nicht behaupten, dass es immer richtig ist, tolerant und unvoreingenommen zu sein, da es für einen Autokraten durchaus richtig sein mag,
alle abweichenden Meinungen im Keim zu ersticken. Allgemein gesprochen kann der Relativist die (universelle) Gültigkeit seiner eigenen Position unmöglich in konsequenter Weise und ohne Heuchelei aufrechterhalten. Wie selbstwidersprüchlich der radikale Relativismus ist, hat bereits Platon erkannt. Er zeigt in seinem Dialog Protagoras auf, wie sich der Sophist Protagoras mit seiner relativistischen Auffassung in Widersprüchlichkeiten verwickelt. Die Lektion daraus ist, dass wir uns auf der rationalen Ebene nur verständigen können, wenn wir irgendeine gemeinsame Basis haben; wir müssen uns auf etwas einigen, was wir als gemeinsame Wahrheit anerkennen, um überhaupt sinnvoll kommunizieren zu können. Doch genau diese gemeinsame Basis ist es, die der radikale Relativismus in Abrede stellt.
Des einen Freud …
Mach, was du willst! „Ein besonders tückisches Hindernis für die Erziehungsarbeit stellt heute in unserer Gesellschaft und Kultur das massive Auftreten jenes Relativismus dar, der nichts als definitiv anerkennt und als letzten Maßstab nur das eigene Ich mit seinen Gelüsten gelten lässt und unter dem Anschein der Freiheit für jeden zu einem Gefängnis wird, weil er den einen vom anderen trennt und jeden dazu erniedrigt, sich ins eigene ,Ich‘ zu verschließen.“ Papst Benedikt XVI, Juni 2005 Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat die Idee des Relativismus zunehmend auch auf politischer und sozialer Ebene Bedeutung erlangt und damit ihren ursprünglichen Sinngehalt bis an ihre Belastungsgrenze und darüber hinaus strapaziert. Aus der ursprünglichen Idee, dass es keine
absoluten Wahrheiten gibt – „alles ist relativ“ –, hat man gefolgert, dass alle Werte gleichermaßen Gültigkeit besitzen und somit jeder nach der Wertsetzung lebt, die ihm beliebt. Zumindest glauben verschiedene reaktionäre Gruppierungen, darunter auch Teile der Katholischen Kirche, die Gesellschaft habe deartige Schlüsse gezogen. Die moralische Zügellosigkeit und der gesellschaftliche Verfall seien auf die relativistischen Einwirkungen zurückzuführen, wie sie sich überall auf der Welt zeigen. Andererseits gibt es etliche libertär gesinnte Vertreter, die es mit der Logik nicht so genau nehmen und sich den Slogan „Mach, was du willst!“ auf die politischen Fahnen schreiben. Damit haben zwei gegensinnige Seiten Position bezogen und den Relativismus in die Mitte genommen.
fach ausgedrückt: Ein geistiges Verständnis von der Wirklichkeit können wir nur von innerhalb unseres eigenen begrifflichen Rahmens heraus erlangen, der von allerlei Faktoren bestimmt ist, darunter auch Kultur und Geschichte. Doch die Tatsache, dass wir uns nicht außerhalb dieses Rahmens stellen und eine objektive Sicht auf die Dinge nehmen können – eine gottgleiche Sicht – bedeutet nicht, dass wir keine Einsichten erlangen können. Denn eine Perspektive ist immer eine bestimmte Sicht auf etwas, und indem wir unsere verschiedenen Perspektiven austauschen und vergleichen, können wir hoffen, sie gegenseitig abzugleichen und damit ein kompletteres, runderes und weit gefasstes „stereoskopisches“ Bild von der Welt zu gewinnen. Dieses erstrebenswerte Bild von der Welt deutet darauf, dass der Weg zu mehr Verständnis über Zusammenarbeit und Kommunikation sowie dem Austausch von Ideen und Sichtweisen führen muss – und das ist ein überaus positives Vermächtnis des Relativismus.
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14 Die Theorie des Göttlichen Moralgebots Fragen nach richtig und falsch, nach gut und böse, nach Tugend und Untugend sind genau jene Art von Fragen, die dazu angetan sind, uns schlaflose Nächte zu bereiten: Abtreibung, Euthanasie, Menschenrechte, Tierschutz, Stammzellenforschung … eine nicht enden wollende Liste von heiklen und hochbrisanten Themen. Mehr als jedes andere Gebiet ist die Ethik ein wahres Minenfeld – ein tückisches Gelände, auf dem man darauf gefasst sein muss, jeden Augenblick zu stolpern, und dieses Stolpern einem sehr teuer zu stehen kommen kann.
Doch paradoxerweise ist die Auseinandersetzung mit moralischen Fragen für viele eher wie ein Spaziergang durch den Park. Und für die meisten ist Moral untrennbar mit Religion verbunden: Dies oder jenes ist richtig oder falsch aus dem einfachen Grund, dass Gott (oder ein Gott) es so bestimmt hat; gut ist gut und böse ist böse, weil es Gottes Wort ist. In allen drei „Religionen der Bibel“ (Judentum, Christentum und Islam) fußt das Moralsystem auf dem „göttlichen Gebot“: Gott befiehlt, der Mensch gehorcht; Gott schreibt seinen Anbetern eine Reihe moralischer Gebote vor; tugendhaftes Verhalten verlangt Gehorsam, während Ungehorsam Sünde ist. Ein solcher Kodex ethischer Regeln aus Gottes eigener Hand sollte doch eigentlich genügen, um jegliche Bedenken, die die Auffassung von Moral der Subjektivisten befallen, zu zerstreuen – diesen unangenehmen Verdacht, dass moralische Werte stattdessen willkürlich von uns Menschen erschaffen werden?
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Glaube und Vernunft
Die Theorie des Göttlichen Moralgebots Das Euthyphron-Dilemma Ohne Gott fällt die Theo-
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Keine Moral kann auf
rie vom Göttlichen Moralgebot natürlich sofort in sich zueiner Autorität gründen, sammen (siehe Kasten, Seite 58). Doch selbst wenn wir Gott auch dann nicht, wenn die als alleinige Quelle der Moral annehmen, so wirft das noch Autorität göttlich ist. immer eine ganze Reihe von Fragen auf, die an der dargelegAlfred Jules Ayer, 1968 ten Theorie kratzen. Die wohl gewichtigste geht auf Platon zurück, der vor rund 2400 Jahren das sogenannte Euthyphron-Dilemma formuliert hat. Im Dialog fragt Sokrates (Platons Sprachrohr) den Philosophen und frommen Seher Euthyphron, was das Fromme sei. Beide sind sich einig: „Das, was den Göttern lieb ist.“ Doch dann stellt Sokrates die entscheidende Frage: „… ob wohl das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt wird, oder ob es, weil es von den Göttern geliebt wird, fromm ist?“ Die Frage zeigt das Dilemma, in dem sich göttliche Moralbegründungen (für gewöhnlich monotheistisch formulierte) verfangen.
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Vom Sinn der Gebote Gottes Lassen wir das Euthyphron-Dilemma kurz beiseite und betrachten ein weiteres ernstes Problem, das sich all jenen stellt, die ihre Moral auf die göttlichen Gebote stützen. Es besteht darin, dass die verschiedenen religiösen Texte, durch die Gottes Wille uns Menschen hauptsächlich übermittelt wird, sehr viele widersprüchliche und/oder unverständliche Botschaften enthalten. Nehmen wir ein allbekanntes Beispiel aus der Bibel. Dort heißt es im Dritten Buch Mose (20:13): „Wenn jemand beim Knaben schläft wie beim Weibe, die haben einen Gräuel getan, und sollen beide des Todes sterben; ihr Blut sei auf ih-
nen.“ Wenn die Bibel das Wort Gottes ist, und das Wort Gottes bestimmt, was Moral ist, dann ist die aktive Ausübung homosexueller Neigungen moralisch verwerflich. Doch die Mehrheit heute wird diese Sicht als moralisch unhaltbar ansehen, zumal sie nicht übereinstimmt mit göttlichen Weisungen an anderen Bibelstellen (allen voran dem Gebot Du sollst nicht töten). Für Anhänger der Theorie des Göttlichen Moralgebots stellt es daher eine große Herausforderung dar, aus Gottes bekannten Vorgaben ein allgemein annehmbares und in sich schlüssiges Moralsystem zu konstruieren.
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Gottesglaube und Moral Die Theorie des Göttlichen Gebots gibt Gott als moralischen Gebieter vor. Aber was, wenn wir ihn als diesen nicht gelten lassen, wenn wir die theoretische Annahme, dass Gott existiert, alles andere als überzeugend finden und das moralisch Gute daher nicht im Rückgriff auf ein göttliches Prinzip begründen? (siehe Seite 172) Doch unbeirrt aller berechtigten Einwände drehen Verfechter der Theorie den Spieß auf geniale Weise um und sehen in der Existenz der Moral einen Beweis für die Existenz Gottes: 1. Es gibt eine Moral – wir haben einen Kodex ethischer Gesetze/Gebote.
2. Gott alleine kommt als Gesetzesgeber/Gebieter der Moral infrage. Also folgt … 3. Gott existiert. Mit dieser Argumentationslinie lässt sich wohl kaum ein Zweifler bekehren. Die erste Prämisse, die impliziert, dass Moral dem Wesen nach unabhängig von uns Menschen existiert, geht an einer der grundlegendsten Fragen völlig vorbei. Und selbst wenn wir uns darauf einlassen, wäre die zweite Prämisse mit dem Euthyphron-Dilemma leicht abzuschmettern.
Wird also das moralisch Gute deswegen von Gott befohlen, weil es das moralisch Gute ist, oder ist es deswegen moralisch gut, weil es von Gott befohlen wird? Weder die eine noch die andere Alternative lässt sich mit der Theorie vom Göttlichen Moralgebot vereinbaren. Betrachten wir zunächst letztere Alternative und sagen, Töten ist falsch, weil Gott es so gebietet. Aber eigentlich könnte es auch genau anders sein. Gott könnte bestimmt haben, dass das Töten gut oder gar verpflichtend wäre, und dann wäre es so, weil Gott es in seinem Wort so befohlen hat. Nach dieser Lesart ist der religiöse Gehorsam kaum mehr als ein blinder Gehorsam gegenüber einer willkürlichen Autorität. Wie sieht es mit der anderen Formulierung aus? Wenn das moralisch Gute deswegen von Gott befohlen wird, weil es das moralisch Gute ist, dann ist das Gute seinem Wesen nach nicht abhängig von Gott. Gott ist hier nicht die Quelle der Moral, sondern im besten Falle moralischer Botschafter, der ethische Vorgaben weitergibt. Warum also nicht geradewegs selbst zur Quelle gehen und den Botschafter kurzerhand entthronen? In der Rolle des moralischen Gesetzgebers zumindest ist Gott überflüssig. Und in Sachen Moral an sich ist Gott entweder willkürlich oder unbedeutend – ein ethisches Dilemma für all jene, die danach trachten, Gott zum Garanten oder Bürgen ihrer Moral zu machen.
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Gegen das Euthyphron-Dilemma erheben sich StimOb wohl das Fromme, weil men, die beharrlich sagen: „Gott ist gut und würde des- es fromm ist, von den Göttern halb nichts Böses gebieten“. Doch diese Angriffslinie geliebt wird, oder ob es, weil läuft Gefahr, sich im Kreis zu drehen. Wenn „gut“ soviel es von den Göttern geliebt bedeutet wie „von Gott befohlen“, dann ist die Aussage: wird, fromm ist? „Gott ist gut“ praktisch inhaltsleer und synonym zur Aussage: „Gott ist so geartet, dass er mit seinen eigenen Platon, ca. 375 v. Chr. Weisungen übereinstimmt.“ Man könnte aber auch sagen: „Gott ist (dasselbe wie) das Gute“ und somit sind auch seine Gebote notwendigerweise gut. Doch wenn Gott und das Gute ein und dasselbe sind, dann ist die Aussage „Gott ist gut“ ebenfalls völlig inhaltsleer und geht im Kreis. Aber wie heißt es so schön? Gottes Wege sind rätselhaft. Und vielleicht ist das ein Beispiel dafür.
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geht hat WeilWorum Gott es soes befohlen
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15 Die Buh-HurraTheorie Mose blieb dort beim Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte. Er aß kein Brot und trank kein Wasser. Er schrieb die Worte des Bundes, die zehn Gebote, auf Tafeln: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. (Hurra!) Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen … (Buh!) (Es folgen fünf Buhs! und zwei Hurras!, bis es dann am Ende heißt:) Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat. (Buh!) So die Worte Gottes, die man nach der Theorie des Emotivismus oder der BuhHurra-Theorie, wie sie auch genannt wird, mit einem jeweils emotionalen Ausdruck versehen könnte. In dieser Form erscheint der Emotivismus nicht wie ein ernstzunehmender Versuch, ethischen Aussagen eine neue Stoßrichtung zu geben, zumal er einen so saloppen Beinamen trägt. Dennoch ist er eine überaus einflussreiche Theorie mit einer bemerkenswerten Geschichte. Er wird angetrieben von Bedenken gegenüber der Weise, wie der gesunde Menschenverstand Moral auffasst.
Die Verschiebung zum Subjektivismus Es gibt in unserer Welt Fakten verschiedener Art, die objektiv wahr sind – Fakten, die unabhängig von einem subjektiven Wahrheitsempfinden gültig sind. Einige davon sind wissenschaftlicher Natur, beschreiben also physikalische Ereignisse, Abläufe und Beziehungen; andere sind moralischer Natur, beschreiben also Dinge, die wahr oder falsch, gut oder schlecht sind. Solch eine einfache Darstellung mag dem gesunden Menschenver-
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Die Goldene Regel
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Die Vernunft – die Sklavin der Leidenschaften Der schottische Philosoph David Hume gilt als eine bedeutende Quelle der Inspiration für moderne Formen des Subjektivismus. Sein berühmtes Konzept einer subjektivistisch verstandenen Moral entwickelt er in seinem Traktat über die
menschliche Natur: „Selbst wenn man einen absichtlichen Mord von allen Seiten betrachtet, das, was Laster genannt wird, lässt sich nicht finden. Wie Ihr das Ding auch ansehen möget, Ihr findet nur gewisse Affekte, Motive, Willensentschließungen und Gedanken. Außer diesen enthält der Fall nichts Tatsächliches. Das „Laster“ entgeht Euch gänzlich, solange Ihr nur den Gegenstand betrachtet. Ihr könnt es nie finden, wofern ihr nicht Euer Augenmerk auf Euer eigenes Inneres richtet, und dort ein Gefühl von Missbilligung entdeckt, das in Euch angesichts dieser Handlung entsteht. Auch dies ist eine Tatsache, aber dieselbe ist Gegen-
stand des Gefühls, nicht der Vernunft. Sie liegt in euch selbst, nicht im Gegenstand.“ Nach seinen Ausführungen über ethisches Handeln sieht Hume die Moral in der Gefühlswelt des Menschen begründet, in einem, wie er es nennt, „moralischen Sinn“ oder der „Sympathie“, was nichts anderes bezeichnet als die Fähigkeit, sich mit dem Anderen gefühlsmäßig verbinden zu können, um Glück oder Leid zu teilen. Es sind also Gefühlsregungen, und eben nicht die Vernunft, die uns das Motiv für unser moralisches Handeln geben. Vernunft ist zwar wichtig, um die Konsequenzen unseres Handelns zu begreifen und um rational zu überlegen, wie wir moralische Ziele erreichen können. An sich aber ist der Verstand träge und unfähig, uns ursprüngliche Handlungsimpulse zu liefern. Und so gelangt Hume zu seinem berühmten Satz: „Die Vernunft ist und sollte auch nur Sklavin der Leidenschaften sein.“
stand vielleicht entgegenkommen, findet aber bei vielen Philosophen wenig Anklang. Nehmen wir einmal ein vermeintlich moralisches Faktum: Töten ist falsch. Ein Akt des Tötens lässt sich minutiös beschreiben mitsamt den physikalischen und psychologischen Fakten, die erklären, wie und warum die Tat begangen wurde. Aber welche weitere Eigenschaft oder Qualität fügen wir dem Bild hinzu, wenn wir es mit dem Attribut „falsch“ belegen? Kein Ding ist gut oder Im Grunde sagen wir damit nichts anderes, als dass Töten zu schlecht, erst das Denken der Art von Handlungen gehört, die wir nicht tun sollen. macht es dazu. Dass solche seltsamen Werteigenschaften in der Welt vorkommen (der angeblich wertefreien Welt, wie sie von der Wis- William Shakespeare, ca. 1600
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Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
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Präskriptivismus Kritiker halten dem Emotivismus vor, es nicht zu schaffen, den moralischen Diskurs mit den typischen Instrumenten einer logisch rationalen Argumentation zu führen, an die jede Diskussion gebunden ist. Insofern war einer anderen subjektivistischen Theorie größerer Erfolg beschieden – dem Präskriptivismus, der hauptsächlich mit dem englischen Philosophen Richard Mervyn Hare verbunden wird. Nach Hare haben Moralurteile ein präskriptives Element, sie geben uns vor, was wir zu tun bzw. wie wir uns zu verhalten haben, und sind in ihrem Kern handlungsweisend. Das heißt, die Zustimmung zu einem Moralurteil verlangt eine bestimmte Konsequenz im Verhalten; die Aussage „Töten ist falsch“ entspricht dem gebilligten Gebot „Tu es nicht!“. Nach Hares Theorie gibt es ein be-
zeichnendes Merkmal, das Moralurteile von anderen Typen von Geboten unterscheidet: Sie sind „universalisierbar“. Wer eine moralische Vorschrift erteilt, legt für sich und alle anderen in ähnlichen Situationen fest, dass sie befolgt werden soll (siehe die „Goldene Regel“, Seite 76). Moralische Meinungsverschiedenheiten kommen nach den Präskriptivisten widersprüchlichen Geboten gleich; dass es zu Widersprüchlichkeiten und Unentschlossenheit kommt, erklärt sich dadurch, dass es mehrere moralische Maßgaben gibt, die sich nicht alle gleichzeitig befolgen lassen. In dieser Hinsicht lässt der Präskriptivismus mehr Raum für kontroverse Debatten als der Emotivismus. Aber spiegelt er tatsächlich einen echten, vielschichtig geführten moralischen Diskurs wider? Einige bezweifeln dies nach wie vor.
senschaft beschrieben wird; siehe Seite 132) und als objektiv moralische Eigenschaften gelten, finden viele Philosophen höchst verwunderlich und schlagen deshalb vor, sie als subjektive (Gefühls-)Reaktion auf die Dinge dieser Welt zu begreifen.
Von der Beschreibung zum Ausdruck Nach einer sehr naiven subjektivistischen Sicht sind moralische Behauptungen bloße Beschreibungen oder Berichte von Gefühlen über die Welt. Wenn ich also sage „Morden ist falsch“, dann bekunde ich lediglich meine (oder die meiner sozialen Gemeinschaft) Missbilligung darüber. Aber das wäre zu einfach. Wenn ich sage „Morden ist richtig“ und das eine exakte Beschreibung meiner Gefühlslage ausdrückt, so ist auch dieser Satz wahr. Eine moralische Missbilligung ist offenbar nicht möglich. Hier bedarf es eines tieferen Blicks. Der Emotivismus (oder Expressivismus) – die Buh-Hurra-Theorie – ist eine differenziertere Form des Subjektivismus, nach der moralische Urteile keine Beschreibungen oder Behauptungen unserer Gefühle über die Welt sind, sondern Ausdruck dieser Gefühle. Wenn wir also ein moralisches Urteil treffen, drücken wir eine emo-
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Die Buh-Hurra-Theorie
tionale Reaktion aus – unsere Billigung (Hurra!) oder MissIch sehe nicht, wie die billigung (Buh!) einer Sache in der Welt. Der Satz „Töten ist Argumente für Subjektivifalsch“ ist ein Ausdruck unserer Missbilligung (ein Buh! auf tät ethischer Werte zu widas Morden), während der Satz „Es ist richtig, die Wahrheit derlegen wären, aber ich zu sagen“ ein Ausdruck unserer Zustimmung darstellt (ein selbst finde mich unfähig Hurra! auf die Wahrheit). Das große Problem der Emotiviszu glauben, dass das einten ist, ihre Theorie damit in Einklang zu bringen, wie wir zige, was an mutwilliger tatsächlich moralische Diskurse führen. Dieser Diskurs setzt eine Außenwelt objektiver Werte voraus: Wir disputieren mo- Grausamkeit falsch ist, die Tatsache ist, dass ich sie ralische Fragen und berufen uns dabei auf moralische (und nicht mag. andere) Fakten, um sie gedanklich zu ordnen; dann stellen wir moralische Behauptungen auf, die wahr oder falsch sein Bertrand Russell, 1960 können und kommen so am Ende vielleicht auf moralische Wahrheiten. Doch für Vertreter des Emotivismus ist Moral keine Frage des Wissens – wir stellen überhaupt keine Behauptungen auf, sondern drücken unsere Gefühle aus, und dieses Ausdrücken kann natürlich weder wahr noch falsch sein. Dabei mögen Emotivisten einräumen, dass Überlegungen und Uneinigkeit hinsichtlich unserer Hintergrundannahmen und dem Kontext unserer Handlungen möglich sind. Aber aus diesem Zugeständnis etwas abzuleiten, das unserer Vorstellung von moralischem Diskurs einigermaßen entspricht, bleibt ein schwieriges Unterfangen. Logische Beziehungen zwischen moralischen Aussagen an sich scheinen nicht vorhanden, und so ist eine moralische Argumentation bestenfalls eine Übung in Sachen Rhetorik – Moralität als Werbefeldzug, wie bissige Zungen bisweilen sagen. Und diese Schwierigkeit muss erst bewältigt werden: Mag sein, dass die Theorie nicht mit unseren üblichen Annahmen übereinstimmt, so der Einwand der Emotivisten, aber das rührt daher, dass die Annahmen falsch sind, nicht die Theorie. Nach dieser sogenannten „Irrtumstheorie“ bringt uns der normale moralische Diskurs von vornherein auf ein falsches Gleis, da er auf objektiven moralischen Fakten fußt, die in Wirklichkeit gar nicht existieren. Man hat vielfach versucht, das emotivistische Bild unserem „realistisch“ klingenden moralischen Diskurs anzunähern. Für viele aber ist die Kluft noch immer viel zu groß und dementsprechend wurden andere Ansätze vorgeschlagen. Der wahrscheinlich wichtigste ist der Präskriptivismus.
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Worum es gehtUrteile Der Ausdruck moralischer
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16 Die Zweck-MittelDebatte „Mr. Quelch fragte sich, ob Haie Lippen hätten und wenn ja, ob sie sich diese lecken könnten. Wenn dem so wäre, dann war es zweifellos genau das, was sie jetzt in diesem Augenblick gerade taten. Der Ballon fiel schneller und schneller auf das Meer zu, und er konnte die vielen Flossen der versammelten Gierschlünde, die bedrohlich das Wasser durchschnitten, klar und deutlich erkennen …“
… und Mr. Quelch wusste, dass er samt seiner sechs Musterschüler in wenigen Sekunden Haifutter wäre, wenn sie es nicht schafften, noch mehr Ballast abzuwerfen. Aber sie hatten bereits alles aus dem Ballonkorb geworfen – nur er und die sechs Jungen befanden sich noch darin. Bunter war der fülligste von allen und so war klar, dass es ihn treffen würde, um den anderen den Tag zu retten. Pech für den armen Kerl – aber es blieb keine andere Wahl … „Ach, du meine Fresse … nein, das ist nicht euer Ernst … wehe, ihr rührt mich an … dann … Aaaauuuh!“ Angenommen, Quelchs Einschätzung der Situation wäre völlig Ein Flugzeug mit 120 Passakorrekt und es gäbe wirklich nur zwei Möglichkeiten: gieren an Bord gerät über ei1. Alle sechs Jungs (einschließlich Bunter) samt Quelch stürzen ab nem dicht besiedelten Gebiet und werden von den Haien in Stücke gerissen; 2. Nur Bunter wird außer Kontrolle. Es bleibt keiins Meer geworfen und gefressen. Abgesehen davon, dass die anne Zeit, das Gebiet zu evakuderen ihn zum alleinigen Pechvogel erkoren haben, wäre es für ieren. Ein Absturz der MaschiBunter einerlei; er würde sterben, so oder so. Aber wenn Quelch ne würde Tausende Menschen entscheidet, dass nur Bunter dran glauben muss, kann er sich und töten. Einziger Ausweg: das die anderen fünf Jungs retten. Handelt er also richtig, wenn er Flugzeug abschießen. Sollten Bunter opfert? Heiligt der Zweck (das unschuldige Leben mehreSie das tun? rer zu retten) die Mittel (ein unschuldiges Leben zu opfern)?
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Handlungen und Unterlassungen Gerechter Krieg
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Eine moralische Scheidelinie Entscheidungen dieser
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Art, bei denen es um Leben und Tod geht, sind nicht bloß Stoff Mittel, solange es etwas für Filme und Geschichten. Auch im echten Leben findet man gibt, das den Zweck sich bisweilen in Situationen, die es notwendig machen, unheiligt. schuldige Menschen sterben zu lassen oder sie im Extremfall Leo Trotzki, 1936 gar zu töten, um einigen oder vielen Anderen das Leben zu retten. Situationen, die unsere Intuition bis an die Grenze fordern, zerren uns gnadenlos in die eine oder andere Richtung – und manchmal auch in beide gleichzeitig. Diese fundamentale Ungewissheit spiegelt sich in den sehr unterschiedlichen Ansätzen, mit denen Philosophen derlei Entscheidungsdilemmas zu erklären versuchen. Doch alle scheinen sie sich auf der einen oder anderen Seite einer wesentlichen moralischen Grenzlinie zu bewegen – einer Linie, die pflichtbasierte (deontologische) Theorien von konsequenzbasierten (konsequentialistischen) scheidet.
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Konsequentialismus und Deontologie Unter dem Aspekt von Mittel und Zweck lassen sich die Unterschiede Ein siamesisches Zwillingszwischen Konsequentialismus und Deontologie besonders paar wird innerhalb weniger gut herausstellen. Ob eine Handlung richtig oder falsch ist, Monate sterben, es sei denn, beurteilt der Konsequentialist allein aufgrund ihrer Folgen sie würden operativ getrennt. (Konsequenzen); insofern ist jede beliebige Handlung bloß Danach gäbe es nur für einen ein Mittel zu einem erwünschten Zweck; je nachdem, wie der beiden gute Aussichten, wirksam diese den Zweck zu erreichen vermag, gilt sie als ein gesundes und erfülltes Lerichtig oder falsch. Der Zweck selbst ist eine Art End-Sachben zu führen, während der verhalt (wie etwa „Glück“), der sich (als Konsequenz) aus andere bei dem Eingriff sicher mehreren vorangegangenen Handlungen ergibt oder auf diesterben wird. Wagen Sie die se folgt. Geht es darum, eine aus mehreren verfügbaren Operation? (Auch ohne eine Handlungsoptionen zu wählen, wägt der Konsequentialist in Einverständniserklärung der jedem einzelnen Fall gute und schlechte Konsequenzen geEltern?) geneinander ab und trifft daraufhin seine Entscheidung. Im oben beschriebenen „Fall Bunter“ wird er sehr wahrscheinlich entscheiden, dass die gute Folge, nämlich viele unschuldige Leben zu retten, den Tod eines Einzelnen rechtfertigt. Die deontologischen Theorien hingegen sehen in einer Handlung nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern schreiben ihr unabhängig von ihren Konsequenzen zu,
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Patient A ist todkrank und wird sicher binnen einer Woche sterben. Sein Herz und seine Nieren wären optimal für die Patienten B und C geeignet, welche noch vor ihm sterben werden, sollten sie nicht die lebensrettenden Transplantate bekommen, mit denen sie gute Gesundungschancen hätten. Andere Spender sind nicht verfügbar. Was würden Sie tun? Patient A töten (ob mit oder ohne seine Erlaubnis), um das Leben der Patienten B und C zu retten?
Ein Gestapo-Offizier lässt zehn Kinder antreten und droht, sie zu erschießen, es sei denn Sie geben ihm Identität und Aufenthaltsort eines Spions preis. Doch Sie wissen gar nichts von einem Spion, und schon gar nicht kennen Sie seine Identität. Aber, und das wissen Sie ziemlich sicher, wenn Sie sich auf Unwissenheit berufen, wird Ihnen der Offizier das nicht glauben und seine Drohung wahrmachen. Was machen Sie? Nennen Sie einen Namen, irgendeinen, um die Kinder zu retten? (Und wenn ja, den von welcher Person?)
Der Zweck heiligt die Mittel In einem trivialen Sinne kann ein Mittel nur durch den Zweck gerechtfertigt werden, denn es ist per definitionem ein Weg, den Zweck zu erreichen; insofern ist ein Mittel schon allein durch die Tatsache gerechtfertigt (als Mittel geadelt), dass es dem beabsichtigten Ziel einer Handlung dienen soll. Problematisch kann es werden, wenn ein unangebrachtes Ziel gewählt und die-
se Wahl im Schein einer Ideologie oder eines Dogmas getroffen wird. Wenn zum Beispiel ein politischer Ideologe oder ein religiöser Eiferer ein bestimmtes Ziel unter Ausschluss aller anderen postuliert, dann ist es für seine Anhängerschaft nur ein kleiner Schritt, daraus zu folgern, dass es moralisch vertretbar sei, jegliche Mittel zur Erreichung dieses Ziels zu gebrauchen.
Die Zweck-Mittel-Debatte in sich richtig oder falsch zu sein. Danach hat eine Handlung einen ihr innewohnenden Wert und nicht nur einen instrumentellen, der an der Erlangung des erstrebten Zwecks mitwirkt. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Legt der Deontologe fest, dass es falsch ist, unschuldige Menschen zu töten, dann ist es auch falsch an sich, Bunter über Bord zu werfen, was auch nicht durch die vermeintlich nachfolgenden guten KonseSie überleben mitsamt den anquenzen gerechtfertigt werden kann. deren Insassen den Absturz Der „Fall Bunter“ mag weit hergeholt erscheinen, doch eines kleinen Flugzeugs über auch im richtigen Leben kommt es vor, dass wir in Zwangseiner öden Bergregion. Es gibt lagen (Entscheidungsdilemmas) dieser Art geraten. Die Beikeine Nahrung und keine spiele in diesem Kapitel ähneln sich alle, zumindest in den Chance, zu Fuß zu entkomethischen Fragen, die sie aufwerfen. Sie haben sich so oder men. Bis ein Rettungstrupp so ähnlich tatsächlich zugetragen und werden sich in der Sie findet, können Wochen einen oder anderen Form auch künftig wiederholen. vergehen. Bis dahin aber sind Die bekannteste konsequentialistische Theorie ist der Sie längst verhungert. Das Utilitarismus (siehe Seite 69); die einflussreichste des Fleisch eines Passagiers aber Deontologismus ist der von Kant entwickelte Kategorische könnte die anderen so lange Imperativ (siehe Seite 72). am Leben halten. Was tun Sie? Einen Ihrer Kameraden töten und ihn verspeisen? (Wen wählen Sie dafür aus?)
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17 Die Erfahrungsmaschine Man stelle sich eine Erfahrungsmaschine vor, an die man sich anschließen lassen könnte, um dort alle Erfahrungen zu machen, die man sich wünscht. Super-Neurologen könnten das Gehirn so stimulieren, dass es sich so anfühlt, als würde man einen großartigen Roman schreiben, neue Freundschaften schließen oder ein interessantes Buch lesen. Während man all diese Dinge erlebt, würde man in einem Tank schwimmen, und das Gehirn wäre per Elektroden mit der Maschine verbunden. Würden Sie sich wünschen, an dieser Maschine angeschlossen zu sein und sich Ihre Wünsche vorprogrammieren zu lassen? … Nun, während Sie im Tank treiben, würden Sie ja nicht wissen, dass Sie sich dort befinden; Sie würden denken, dass all das wirklich passiert … Also, was ist? Würden Sie sich anschließen lassen? Was könnte uns wichtiger sein als zu erfahren, wie sich unser Leben von innen her anfühlt? Der Erfinder dieses Gedankenexperiments aus dem Jahre 1974, der US-amerikanische Philosoph Robert Nozick, meint, die Antworten auf die beiden letzten Fragen zu kennen: Einmal ein „Nein!“, einmal ein „Viel!“ OberflächZwischen dem Leid lich betrachtet, erinnert die Erfahrungsmaschine stark an das und dem Nichts wähle „Gehirn im Tank“ von Putnam (siehe Seite 4). Beide beschreiben virtuelle Realitäten, in denen eine Welt auf eine Weise siich das Leid. William Faulkner, 1939 muliert wird, dass sie ganz und gar nicht mehr vom wirklichen Leben zu unterscheiden ist, zumindest nicht von innerhalb des Tanks aus. Doch während Putnams Interesse dem Gehirn im Tank gilt und dem, was es uns über die Grenzen des Skeptizismus sagt, befasst sich Nozick in der Hauptsache mit Personen, die vor der Entscheidung stehen, sich an die Erfahrungsmaschine anschließen zu lassen oder nicht: Entscheidet sich die Mehrheit dafür, und wenn ja, was können wir aus dieser Entscheidung lernen?
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Zur Wahl stehen ein simuliertes Leben in ungetrübten Die Natur hat die MenschFreuden, in dem sich alle Ziele und alle Wünsche erfüllen heit unter die Herrschaft werden; und ein wirkliches Leben, das gekennzeichnet ist zweier souveräner Gebieter von absehbaren Fehlschlägen und Enttäuschungen – der – Leid und Freude – gestellt. üblichen Mischung eben aus Teilerfolgen und unerfüllten Es ist an ihnen aufzuzeigen, Träumen. Trotz der offensichtlichen Vorzüge eines Lebens in der Erfahrungsmaschine, würde die Mehrheit sich, wie was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun Nozick meint, nicht für ein Leben in der Maschine entwerden. scheiden. Fast alle entscheiden sich für die Wirklichkeit Jeremy Bentham, 1785 des Lebens, dafür, das Leben selbst in die Hand zu nehmen, das nicht nur von Lust und Freude begleitet ist. Doch wäre die Freude der einzige Parameter, der für unser Wohlbefinden ausschlaggebend ist, die alleinige Komponente eines schönen Lebens, dann würde die Wahl wohl anders ausfallen. Denn der Faktor Freude wäre umso größer, wenn wir uns an die Erfahrungsmaschine anstöpseln lassen würden. Daraus schließt Nozick, dass es noch andere Dinge geben muss, die wir, abgesehen von der Freude, als in sich wertvoll erachten.
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Der klassische Utilitarismus Nozicks Schluss läuft allen hedonistischen (auf dem Lustprinzip basierenden) Moraltheorien zuwider, insbesondere dem Utilitarismus in seinem klassischen Ansatz, wie ihn dessen Begründer Jeremy Bentham im 18. Jahrhundert formuliert hat. Frühe Utilitaristen waren der Ansicht, dass jede beliebige Handlung als richtig oder falsch gewertet werden kann, je nachdem, in welchem Maß sie das menschliche Wohlergehen oder den „Nutzen“ entweder erhöht oder mindert. Seither entstanden viele Interpretationen, was denn der „Nutzen“ eigentlich sei, für Bentham selbst jedoch bestand der „Nutzen“ in der Schaffung von Freude und Glück. „Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“ – so die griffige Formel seiner Theorie des richtigen Handelns. Der Utilitarismus scheut nicht zurück vor moralischen Folgerungen, die unseren tradierten, intuitiven Wertvorstellungen zuwiderlaufen (siehe Seite 64). Bentham selbst lag sehr daran, mit seiner Theorie eine rationale und wissenschaftliche Grundlage für moralische und soziale Entscheidungsfindungen zu liefern. Er wollte sich damit bewusst abheben von den wirren intuitiven Ethiken, auf denen die sogenannten „Naturrechte“ des Menschen und die „Naturgesetze“ gegründet waren. Um
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Varianten des Utilitarismus Historisch betrachtet ist der Utilitarismus die bedeutendste Variante des Konsequentialismus (nach dem eine Handlung allein nach ihren Konsequenzen als richtig oder falsch beurteilt wird, siehe Seite 65). Im Utilitarismus wird der Wert einer Handlung nach dem Nützlichkeitsprinzip bestimmt, nach ihrem Beitrag zur Schaffung von Wohlergehen („Nutzen“). Der klassische (hedonistische) Utilitarismus nach Bentham und Mill definiert „Nutzen“ als menschliche Freuden. Inzwischen aber wurde der Kerngedanke vielfach abgewandelt und erweitert. Die verschiedenen Varianten stimmen im Großen und Ganzen darin überein, dass das menschliche Glück nicht von der Freude allein abhängig ist, sondern von der Erfüllung einer breiten Palette an Wünschen und Vorlieben. Einige Theoretiker schlagen zudem vor, den Rahmen des Utilitarismus über das menschliche Wohlergehen hinaus auch auf andere empfindungsfähige Formen von Leben auszudehnen. Uneins ist man sich zudem in der Frage, wie der Utilitarismus auf Handlungen angewendet
werden soll. Im direkten oder Handlungsutilitarismus wird die einzelne Handlung direkt nach dem Nutzen ihrer Folgen bewertet. Im Regelutilitarismus hingegen ist die Beurteilung der einzelnen Handlung von ihrer Übereinstimmung mit Handlungsregeln abhängig, die, sofern sie allgemein befolgt werden, nutzbringende Folgen haben. Zum Beispiel kann das Töten eines unschuldigen Menschen unter bestimmten Umständen dazu führen, dass viele andere Leben gerettet werden und so den allgemeinen Nutzen steigern – nach dem Handlungsutilitarismus die richtige Handlungsweise. Als eine Regel jedoch mindert das Töten Unschuldiger den Nutzen. Die gleiche Handlung ist nach dem Regelutilitarismus also falsch, selbst wenn sie in einem Einzelfall nutzbringende Folgen hat. Hier scheint der Regelutilitarismus eher mit unserem gängigen, intuitiven Moralempfinden übereinzustimmen. Trotzdem können sich die Utilitaristen der jüngeren Zeit nicht so richtig mit ihm anfreunden. Sie halten ihn aus verschiedenen Gründen für unstimmig und unannehmbar.
eine solche rationale Grundlage zu schaffen, ersann Bentham den „Hedonistischen Kalkulus“ (das „Nutzenkalkül“), eine Art Glücksrechnung, nach der die Größen von Freude und Schmerz, die eine Handlung erzeugt, gemessen und verglichen werden können; richtiges Handeln in einem gegebenen Fall lässt sich damit durch eine einfache Addition und Subtraktion bestimmen. Nach Bentham unterscheiden sich verschiedene Arten von Glück nur im Hinblick auf Dauer und Intensität, nicht in ihrer Qualität – ein recht starres Konzept, das im Zusammenhang mit der Erfahrungsmaschine von Nozick sehr angreifbar scheint. Angesichts von Benthams kompromissloser Natur können wir wohl davon ausgehen, dass er mit Freude auf der Intuition, die Nozicks Gedankenexperiment hervorruft, herumgetrampelt hätte. John Stuart Mill hingegen, ebenfalls einer der Gründerväter des Utilitarismus, lag daran, zumindest einige schärfere Kanten der utilitaristischen Theorie abzuklopfen.
Die Erfahrungsmaschine Von höheren und niederen Freuden Zeitgenössische Kritiker kreideten Bentham vor allem an, ein sehr enges moralisches Konzept ersonnen zu haben. Mit der Annahme, dass das Leben keinem höheren Zweck als Lust und Freude diene, habe er alle anderen Dinge wie Wissen, Ehre oder Erfolg, die wir normalerweise als in sich wertvoll erachten würden, schlichtweg außen vor gelassen. Der Utilitarismus sei „eine Doktrin, die zu befolgen allenfalls einem Schwein angemessen sei“ (wie Mill den Vorwurf wiedergibt). Bentham kontert mit dem prägnanten Satz: „Ein Kinderspiel ist genauso gut wie die Künste und Wissenschaften der Musik und Poesie“. Mit anderen Worten: Primitivere (niedere) Freuden sind gleich zu bewerten wie höhere. Mill war von Benthams spontaner Retourkutsche ganz und gar nicht angetan. Um die Vorwürfe der Kritiker abzuwenden, änderte er das Verfahren zur Bemessung von Freude (oder Leid) und fügte den beiden von Bentham vorgegebenen Variablen, nämlich Dauer und Intensität, eine dritte hinzu. Er erweiterte den bislang quantitativen Nutzenbegriff um die Variable der Qualität und führte damit eine Hierarchie der höheren und niederen Freuden ein. Gemäß dieser UnterDer klassische Utilitarist scheidung sind einige Freuden (intellektuelle oder künstleribetrachtet eine Handlung sche) naturgemäß von höherem Wert als die körperlichen. als richtig, wenn sie (ebenDie unterschiedliche Gewichtung der verschiedenen Arten soviel oder mehr Zuwachs von Glück/Freude veranlasst Mill zu dem berühmten Satz: „Lieber ein unglücklicher Sokrates, als ein glückliches an) Glück (für alle BetroffeSchwein.“ Doch diese gütliche Verständigung hat ihren nen) produziert (als jede Preis. Die frappierende Einfachheit, die den Reiz von Bent- andere Handlung), und als hams „Nutzenkalkül“ letztlich ausgemacht hatte (auch wenn falsch, wenn sie das nicht das Verfahren für sich äußerst problembehaftet ist), war da- tut. mit dahin. Aber das war noch das Allerwenigste. Weit schwerer wog Mills Idee der verschiedenen Arten von Freu- J.S. Mill, 1859 den, denn sie machte ein weiteres Kriterium nötig, um dieselben unterscheiden zu können. Wenn irgendeine andere Komponente als die der Freude in Mills utilitaristischer Idee eine Rolle spielt, dann mag ihm das vielleicht hilfreich sein, um sich gegen derartige Probleme zu stemmen, die Nozick aufgeworfen hat, doch fragt man sich dann, ob seine Theorie überhaupt noch utilitaristisch im strengen Sinne ist.
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18 Der Kategorische Imperativ Sie wissen, dass Christina Ihre Freundin Mariah töten will, Und Sie wissen, dass Mariah gerade an der Bar sitzt, wo Sie eben noch mit ihr geplaudert haben. Christina kommt auf Sie zu und fragt, ob Sie wüssten, wo Mariah sei. Wenn Sie ihr die Wahrheit sagen, wird Christina Mariah finden und sie töten. Wenn Sie lügen und ihr erzählen, Sie hätten Mariah vor wenigen Minuten aus dem Lokal gehen sehen, wird das Christina aufhalten und Mariah Zeit geben abzuhauen. Was tun Sie? Bleiben Sie bei der Wahrheit oder lügen Sie? Es scheint verrückt, diese Frage überhaupt zu stellen. Die Folgen, wenn Sie die Wahrheit sagen, sind geradezu grauenhaft. Natürlich sollten Sie lügen – eine harmlose Lüge, wie man meinen möchte, noch dazu für einen überaus guten Zweck. Doch nach Auffassung von Immanuel Kant, einem der einflussreichsten, wenn nicht dem größten Philosophen der vergangenen dreihundert Jahre, ist diese Antwort nicht die richtige. Nicht zu lügen, also die Wahrheit zu sagen, ist nach Kant ein grundlegendes Prinzip der Moral, ein „kategorischer Imperativ“: ein gültiges Pflichtgebot, das es bedingungslos und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen zu befolgen gilt. Das unerbittliche Beharren auf Pflicht zusammen mit dem zugrunde liegenden Leitgedanken des Kategorischen Imperativs bilden die Eckpfeiler der Kant‘schen Morallehre.
Hypothetischer versus Kategorischer Imperativ Um zu erklären, was ein kategorischer Imperativ ist, stellt Kant zunächst klar, was er nicht ist, indem er ihn einem hypothetischen Imperativ gegenüberstellt. Angenommen, ich sage Ihnen, was Sie tun sollen, indem ich Ihnen einen Befehl erteile (einen Imperativ): „Hören Sie mit dem Rauchen auf!“ Darin eingeschlossen sind eine Reihe von Bedingungen,
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Der Kategorische Imperativ
Ungeachtet aller Konsequenzen! Kants Morallehre, das paradigmatische deontologische oder auch pflichtbasierte Moralsystem, hatte einen gewaltigen Einfluss auf nachfolgende Moralphilosophen, die seine Ideen entweder weiter ausbauten oder sie scharf kritisierten. Durch die kategorischen Geschütze, die Kant auffährt im Beharren, dass es jedermanns moralische Pflicht sei, sich in ausnahmslos allen Situationen an die Wahrheit zu halten (auch gegenüber
einem Mörder), bleibt Kant in seinem kategorischen Prinzip stecken (wie es der Fall ChristinaMariah illustriert). Indem er die Pflicht um ihrer selbst Willen unbeirrt in den Mittelpunkt stellt, ungeachtet aller Konsequenzen (ob absehbar oder nicht), entwirft Kant einen philosophischen Pfad, der nicht nur allen konsequenz-basierten Moralsystemen zuwiderläuft, sondern auch schwer zu fassen ist.
die ich an diesen Befehl knüpfen könnte: „… wenn Ihre Gesundheit Ihnen lieb ist“ oder „… wenn Sie Ihr Geld nicht verschwenden wollen“. Natürlich hat mein Befehl für Sie keinerlei Bedeutung und Sie müssen sich auch nicht daran halten, wenn Ihnen Gesundheit und Geld egal sind. Der Kategorische Imperativ hingegen enthält keine einschränkenden Bedingungen (kein „wenn“), weder implizit noch explizit. „Du sollst nicht lügen!“ oder „Du sollst keinen Menschen töten!“ sind Vorschriften, die nicht nur bedingt auf ein Ziel (oder einen Wunsch) gerichtet sind, das sich erfüllen kann oder nicht. Es sind vielmehr Pflichtgebote, denen Folge zu leisten ist, und zwar immer und bedingungslos. Ein solcher kategorischer Imperativ bildet im Gegensatz zum hypothetischen Imperativ ein moralisches Gesetz aus. Nach Ansicht Kants liegt jeder Handlung eine gesetzte Handlungsregel zugrunde, eine Maxime. Eine solche Maxime kann zwar die Form eines kategorischen Imperativs haben, wird aber erst dann zu einem moralischen Gesetz, wenn sie der Überprüfung nach der obersten, allumfassenden Formel des Kategorischen Imperativs standhält, die da lautet: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
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Ethik Mit anderen Worten: Eine Handlung ist moralisch statthaft nur dann, wenn sie sich deckt mit einer Regel, die sich durchweg und universell auf die eigene Person und auf andere anwenden lässt (was im Grunde eine Variante der Goldenen Regel darstellt, siehe Seite 76). Beispiel: Wir stellen eine Maxime auf, die es erlaubt zu lügen. Doch Lügen ist nur möglich vor dem Hintergrund des Begriffs der Wahrheit: Denn würde jeder die ganze Zeit lügen, dann würde keiner irgendwem mehr glauben. Und aus eben diesem Grund würde es uns selbst schaden und wäre in einem gewissen Sinne absurd, das Lügen zu einem universellen Gesetz erheben zu wollen. Desgleichen setzt das Stehlen den Kontext des Besitztums voraus. Doch alle Vorstellungen von Besitz und Eigentum würden in sich zusammenfallen, wenn jeder stehlen würde. Oder: Versprechen zu brechen, setzt eine allgemein anerkannte gesellschaftliche Institution, Versprechen zu halten, voraus – und so weiter. Die Forderung nach Universalisierbarkeit (Verallgemeinerbarkeit) schließt mithin bestimmte Arten von Handlungsregeln aus logischen Gründen aus. Aber nicht alle. Es scheint noch zahllose andere zu geben, die man verallgemeinern könnte, die man aber nicht als moralisch einstufen würde: „Verfolge stets nur deine eigenen Interes-
Der grübelnde Philosoph Immanuel Kant, der Denker, der Grübler, ein Philosoph wie er im Buche steht, der abgeschieden von der Welt in seinem Elfenbeinturm über teutonische Metaphysik brütet – so das etwas spöttelnde Bild, das man lange Zeit von ihm gezeichnet hat. Ein Bild, das verstärkt wurde durch die Tatsache, dass Kant nahezu sein ganzes Leben lang in seiner Heimatstadt Königsberg verbracht hat, dort studiert und später auch gelehrt hat. Der strenge Ernst seiner Philosophie sowie die Schwerfälligkeit seiner Sprache färben dieses Bild umso düsterer. Doch Kant legte sich auch gerne mit seinen Kritikern an, denen er bisweilen ganz schön Munition lieferte; so etwa mit seiner berühmten Schrift über die sexuelle Liebe, die sich (wie der Philosoph Simon Blackburn spitz bemerkte) eher wie eine Beschreibung einer Gruppenvergewaltigung liest:
Für sich genommen stellt sie eine Niederung der menschlichen Natur dar; denn sobald ein Mensch zum Objekt der Begierde für einen anderen wird, sind sämtliche Beweggründe für eine moralische Beziehung eingestellt, denn als Objekt der Begierde für einen Anderen wird jeder Mensch zu einem Ding und kann als solches von allen behandelt und benutzt werden. Wie dem auch sei. Auch wenn es für diese Überzeichnung gute Gründe geben mag, so muss der Wahrheit letzter Schluss lauten, dass Kant zu den markantesten und einflussreichsten Denkern in der Geschichte der Philosophie zählt; einer, der die moderne Ethik genauso unauslöschlich geprägt hat wie die Erkenntnistheorie und die Metaphysik.
Der Kategorische Imperativ sen“; „Brich Versprechen, wo immer du kannst, jedoch ohne die Institution des Versprechens zu unterhöhlen“. Nun, wieso nicht? Klingt doch gar nicht so widersprüchlich und absurd, sich zu wünschen, dass diese Gebote universelle Gesetze werden? Stellt sich die Frage, wie Kant sich dieser Angriffspunkte erwehrt.
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Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Immanuel Kant, 1788
Autonomie und reine Vernunft Die Forderungen des Kategorischen Imperativs zwingen Kants Morallehre eine rationale Struktur auf. Wie aber gelangt Kant vom logischen Rahmenwerk zum eigentlichen moralischen Inhalt? Wie erklärt er, wie die „reine Vernunft“ ohne eine empirische Grundlage den Willen eines moralisch Handelnden durchdringen und leiten kann? Die Antwort liegt im inneren Wert der moralischen Handlungskompetenz selbst – einem Wert, der auf dem „einzigen und höchsten Moralprinzip“ basiert, der Freiheit oder Autonomie des Willens, und der Gesetzen gehorcht, die er sich selbst auferlegt. Die hohe Bedeutung, die autonom Handelnden, die ihrem freien Willen folgen, zukommt, findet Ausdruck in der zweiten bedeutsamen Formulierung des Kategorischen Imperativs: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
Den unermesslichen Wert der eigenen moralischen Handlungskompetenz zu erkennen, impliziert notwendigerweise auch die Achtung und Wertschätzung der Handlungen der Anderen. Andere bloß als ein Mittel zum eigenen Zweck zu betrachten, um die eigenen Interessen voranzubringen, untergräbt deren moralische Handlungsfähigkeit oder macht sie gar zunichte. So stehen Maximen, die eigennützig oder anderen schädlich sind, im Widerspruch zu dieser Formulierung des Kategorischen Imperativs und taugen nicht als moralische Gesetze. Im Wesentlichen liegt darin die Erkenntnis, dass es Grundrechte gibt, die allen Menschen bedingt durch ihr Menschsein zu eigen sind und nicht zunichte gemacht werden dürfen – ein zutiefst humaner und aufgeklärter Aspekt der Kant’schen Morallehre.
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19 Die Goldene Regel „Im Kern der Frage geht es um gleiche Rechte und Chancengleichheit für alle Amerikaner, darum, dass wir unsere amerikanischen Mitbürger so zu behandeln haben, wie wir selbst behandelt werden möchten. Wenn ein Amerikaner aufgrund seiner dunklen Hautfarbe nicht in einem öffentlich zugänglichen Lokal zum Essen gehen kann, wenn er seine Kinder nicht auf die besten öffentlichen Schulen unseres Landes schicken kann, wenn er nicht die Regierungsvertreter wählen kann, die ihn repräsentieren, wenn er, kurz gesagt, nicht das erfüllte und freie Leben haben kann, das wir alle wollen, dann frage ich, wer von uns bereitwillig seine Hautfarbe tauschen und an seine Stelle treten würde?“
Im Juni 1963, zu einer Zeit, da Rassenspannungen und Rassenhass in den USA umschlugen in eine Welle der offenen Gewalt und Demonstrationen, hielt Präsident John F. Kennedy eine Rede an das amerikanische Volk, in der er sich vehement gegen Rassentrennung und -diskriminierung aussprach. Kern Schade niemandem, seiner Rede war ein Appell an einen der grundlegendsten und auf dass niemand dir universellsten Grundsätze der Moral schlechthin, die sogenannte schade. „Goldene Regel“. Sie fasst die wohl wichtigste ethische GrundMohammed, 630 lage im menschlichen Miteinander in einem Satz zusammen: „Behandelt die Menschen so, wie Ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt“. Die Goldene Regel findet sich in der einen oder anderen Variante in praktisch allen religiösen und moralischen Traditionen. Kaum ein Moralphilosoph, der die Goldene Regel nicht zitiert oder sie zumindest mit Bezug zu seinen eigenen Theorien herausstellt. Obwohl Kant behauptet, die Goldene Regel tauge aufgrund mangelnder Strenge nicht als Universalgesetz, findet
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Von Trittbrettfahrern und Heuchlern Die Schmäher der Goldenen Regel haben enge Verwandte, die sogenannten Trittbrettfahrer. Selbst pfeifen sie auf die Regel, erwarten aber von allen anderen, dass sie sich daran halten, um davon zu profitieren. Zwei Beispiele: Ein Arbeiter, der nicht Mitglied einer Gewerkschaft ist, gerne aber von der erkämpften Lohnerhöhnung profitiert; oder Länder, die nichts unternehmen, um ihre CO2-Emissionen zu kontrollieren, trotzdem aber von den internationalen Unternehmungen zur Senkung der globalen Klimaerwärmung profitieren. Das eigennützige Handeln eines Einzelnen mag unter Umständen ja noch zweckrational sein, aber wenn zu viele auf die gleiche Weise handeln, werden angestrebte nutzbringende Ziele nie erreicht. Und genau das ist der springende Punkt. Wäre es da nicht angebracht, über Zwangsmaß-
nahmen nachzudenken? Sollte man etwa Mitgliedschaften in einer Gewerkschaft erzwingen durch Unternehmen, die vereinbarungsgemäß nur Gewerkschaftsmitglieder einstellen? Oder international bindende Vereinbarungen treffen, die bei Nichteinhaltung Sanktionen oder anderweitige Strafen nach sich ziehen? Andere nahe Verwandte der „Regelbrecher“ sind die Heuchler, die selbst nicht nach den Werten leben, die sie predigen: der ehebrecherische Kaplan, der die heilige Ehe preist; der Politiker, der Schmiergelder annimmt, während er sich über Finanzmauscheleien empört. Das Hauptproblem in all diesen Fällen besteht in der Inkonsequenz und Doppelmoral des eigenen Handelns, was sich auf die knappe Formel bringen lässt: Wasser predigen, aber selbst Wein trinken!
sie ein klares Echo in der berühmtesten Formulierung des Kategorischen Imperativs: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde (siehe Seite 73). Am anderen Ende des philosophischen Spektrums spannt John Stuart Mill die Goldene Regel für den Utilitarismus ein und sagt, dass „in der Goldenen Regel des Jesus von Nazareth der Geist der Nützlichkeitsethik vollendet artikuliert worden ist“ (siehe Seite 69). Ein Beispiel aus jüngerer Zeit findet sich im Präskriptivismus, in der von Richard Mervyn Hare begründeten Morallehre. Hare sagt, dass das Prinzip der „Universalisierbarkeit“ – das eindeutig eine Variante der Goldenen Regel darstellt – ein wesentliches Kriterium aller Moralurteile ist.
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Der „Ideale Beobachter“ und „Neutrale Zuschauer“
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Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn das ist das Gesetz und die Propheten. Jesus, im Jahre 30 des Herrn
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Die Goldene Regel ist ein guter Maßstab, der vielleicht sogar noch verbessert werden kann, indem man andere, wo immer möglich, so behandelt, wie sie behandelt werden wollen. Karl Popper, 1945
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Die universelle Anerkennung der Goldenen Regel, deren Kern in der einen oder anderen Form in praktisch jedem philosophischen und religiösen Moralsystem vorhanden ist, erklärt sich zum Teil aus ihrer schier unbegrenzten Allgemeingültigkeit. Je nach Bedürfnissen und Vorlieben mag man zu ihren vorherrschenden Facetten wechselseitige Akzeptanz, Vorurteilsfreiheit und Universalität (um nur einige zu nennen) zählen. Der vielgestaltige Charakter der Regel war geradezu wie geschaffen, um mannigfaltige Erscheinungsformen auszuprägen. Eine überaus bedeutende Variante ist die des „Idealen Beobachters“. In der Annahme, dass Urteile durch verschiedene Faktoren (wie z. B. durch Unwissenheit, Voreingenommenheit, mangelndes Wohlwollen oder Mitgefühl für Andere) verzerrt werden und daher nicht unbedingt als objektiv gelten können, entwarfen verschiedene Philosophen einen „idealen Beobachter“. Dessen Sicht ist ungetrübt von derlei Mängeln und liefert damit einen tauglichen moralischen Maßstab. Eine der bekanntesten Versionen ist die des „unparteiischen und gut informierten Beobachters“, die der schottische Philosoph Adam Smith 1759 in seinem Werk Theorie der ethischen Gefühle entwirft. Smiths Betrachter ist die innere Stimme, die wir unser Gewissen nennen: (…) „die Gerichtsbarkeit des ,inneren‘ Menschen gründet sich ganz und gar auf den Wunsch, lobenswürdig zu sein und auf die Abneigung dagegen, tadelnswert zu sein; diese Gerichtsbarkeit gründet sich auf den Wunsch, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen lieben und bewundern, und auf die Furcht, jene Eigenschaften zu besitzen und jene Handlungen zu vollbringen, die wir an anderen Menschen hassen und verachten“.
Die Goldene Regel Vom Sinn der Goldenen Regel Trotz ihrer intuitiven
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Was du selbst nicht
Anziehungskraft bleibt unklar, inwiefern die Goldene Regel wünschest, das tue auch als praktische Handlungshilfe tatsächlich taugt. Sie ist so nicht anderen an … Ist es einfach formuliert, so universell – und darin liegt nicht zu- dein Wunsch, Ansehen letzt ihr Reiz –, dass sie gerade deshalb zum leichten Anzu haben, so hilf deinem griffsziel für kritische Scharfschützen wird. Einer ihrer Nächsten, ihn zu erreiSchwachpunkte liegt darin, dass die Menschen sehr unterchen; Ist es dein Wunsch, schiedliche Vorlieben haben. Die große Mehrheit hegt beispielsweise zwar keine masochistischen Wünsche, aber was, Erfolg zu haben, so hilf wenn sich ein Masochist strikt an die sittliche Grundformel deinem Nächsten, ihn zu erreichen. hält: Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt. Doch wenn wir versuchen, die Re- Konfuzius, ca. 500 v. Chr. gel immer wieder neu zu definieren, riskieren wir, ihr Gewicht zu schwächen – so gerne wir auch Kontext und Umstände, in denen sie anzuwenden ist, genauer bestimmen würden. Aber sobald wir zu genau werden, verliert die Regel ihre Universalität und damit auch größtenteils ihren Reiz. In ihrem Kern fordert die Goldene Regel eine Konsequenz, doch der Egoist kann sein eigenes Interesse konsequent verfolgen und erweist sich nicht als inkonsequent, wenn er anderen empfiehlt, ebenso zu verfahren. Anstatt die Goldene Regel als moralisches Patentrezept zu betrachten (wie man es hin und wieder versucht hat), ist es sehr viel ersprießlicher, sie als einen wesentlichen und notwendigen Bestandteil der Fundamente unseres moralischen Denkens zu begreifen; als eine Forderung nicht nur nach Konsequenz, sondern auch nach Fairness; als eine Aufforderung zu versuchen, sich in die Lage des Anderen hineinzuversetzen; dem Anderen den Respekt und das Verständnis entgegenzubringen, so wie man es für sich selbst erwarten würde. So verstanden, ist die Goldene Regel eine nützliche Waffe gegen jene Art von moralischer Kurzsichtigkeit, die manch einen befällt, wenn er die eigenen Belange in Gefahr sieht.
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esdasgeht Was duWorum nicht willst, man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!
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20 Handlungen und Unterlassungen Das Wasser steht den Höhlenforschern bereits bis an die Brust und steigt rasend schnell. Wenn das Rettungsteam nicht schnell handelt, werden die acht Männer in nicht einmal einer halben Stunde tot sein. Aber was können die Retter tun? Es gibt keine Chance, die Männer rechtzeitig aus der Höhle zu schaffen oder den Wasserstrom einzudämmen. Die einzige Möglichkeit ist, das Wasser in eine nahe gelegene, kleinere Höhle umzuleiten. Genau dort aber befinden sich zwei weitere Höhlenforscher, die von der Hauptgruppe getrennt wurden und nun geduldig und außer Gefahr darauf warten, herausgeholt zu werden. Das Wasser umzuleiten, würde die kleine Höhle binnen weniger Minuten überfluten und die beiden Männer würden ertrinken. Was also sollen die Retter tun? Abwarten und die acht Männer sterben lassen, oder deren Leben auf Kosten ihrer beiden Kameraden retten?
Ein scheußliches Dilemma und nicht einfach zu lösen. Angenommen, es gäbe tatsächlich nur diese beiden Möglichkeiten: Das Wasser umzuleiten, womit man den Tod der beiden Menschen, die andernfalls mit dem Leben davonkämen, billigend in Kauf nehmen würde? Oder tatenlos abzuwarten, was den sicheren Tod der anderen Acht bedeuten würde, die man hätte retten können? Letztere Option wiegt zwar schwerer, was die Zahl der Opfer anbelangt. Doch für viele ist es schlimmer, eine Handlung zu vollziehen mit der Folge, einen Menschen zu töten, als ihn durch eine unterlassene Handlung sterben zu lassen. An dieser vermeintlich moralischen Differenz zwischen dem, was man aktiv tut und dem, was man passiv geschehen lässt, scheiden sich die Geister der Moraltheoretiker, die genau diese Problematik in der sogenannten Handlungs- und Unterlassungslehre erörtern. Eine Ethik, die Handlun-
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Das Problem des Bösen
Handlungen und Unterlassungen Gerechter Krieg
Handlungen und Unterlassungen
Das Prinzip der Doppelwirkung In der moralischen Bewertung einer Handlung ist die Absicht des Handelnden von entscheidender Bedeutung. Eine Handlung mag tadelnswert sein, auch wenn ihre negativen Konsequenzen unbeabsichtigt waren (z. B. bei Fahrlässigkeit). Die gleiche Handlung aber würde sehr viel schärfer beurteilt, wären ihre Konsequenzen beabsichtigt gewesen. Eng verwandt mit der Handlungs- und Unterlassungslehre beruht das Prinzip der Doppelwirkung darauf, die unbeabsichtigten Folgen einer Handlung von beabsichtigten oder einfach nur absehbaren Folgen zu unterscheiden. Eine Handlung, die sowohl positive als auch negative Folgen hat, mag insofern moralisch gerechtfertigt sein, wenn sie in der Absicht vollzogen wurde, positive Ergebnisse zu erbringen, während die negativen zwar vorhersehbar, aber nicht beabsichtigt waren. Folgende Beispiele machen dieses Prinzip anschaulich: • Um das Leben einer Mutter zu retten, entnehmen Chirurgen ihrem Leib den ungeborenen Fötus (und töten ihn damit): Die Absicht ist, das Leben der Mutter zu retten; der Tod des Fötus ist zwar absehbar, aber unbeabsichtigt.
• Todkranken Patienten werden Schmerzmittel verabreicht. Die Absicht ist, ihnen die Schmerzen zu erleichtern; dass die Mittel auch lebensverkürzend wirken, ist eine unbeabsichtigte, aber bekannte Nebenwirkung. • Eine feindliche Munitionsfabrik wird bombardiert. Die Absicht ist, die Fabrik zu zerstören; dass dadurch viele Zivilisten im nahen Umkreis getötet werden, ist die unbeabsichtigte, aber absehbare Folge. In all diesen Fällen wird das Prinzip der Doppelwirkung benutzt, um den Anspruch zu bekräftigen, die nämlichen Handlungen seien moralisch vertretbar. Vor allem Philosophen, die eine absolutistische oder pflichtbasierte (deontologische) Moralauffassung favorisieren, weichen auf dieses Konzept aus, um Fälle zu erklären, wo Handlungen im Widerstreit der Pflichten begangen und Rechte scheinbar verletzt werden. Das Prinzip steht und fällt mit der Unterscheidung zwischen Absicht und Voraussicht; ob diese Unterscheidung das Gewicht tragen kann, das ihr aufgelastet wird, ist eine viel diskutierte Frage.
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Ethik gen rein nach ihren Konsequenzen beurteilt, wird die Lehre wohl verwerfen; während sie sich gemeinhin all jenen Philosophen selbst empfiehlt, welche die inneren Eigenschaften gewisser Handlungen betonen und unsere Pflicht, diese zu vollziehen, ungeachtet aller Konsequenzen (siehe Seite 73).
Gott spielen? Vor einer Entscheidung zwischen Tun und Lassen zu stehen, macht uns Angst, umso mehr, je näher wir diese Grenze betrachten. Und diese Angst ist weitgehend begründet in unserem Widerwillen gegen jeden Versuch, „Gott zu spielen“: zu entscheiden, wer sterben und wer leben soll. Doch in welchem moralisch relevanten Sinne ist ein „Abwarten und Nichtstun“ auch tatsächlich ein Nichtstun? Ob ich mich entscheide, zu handeln oder nicht zu handeln – es ist und bleibt eine Entscheidung. So oder so spiele ich Gott. Welche Handlung würden wir wohl mehr verurteilen: Wenn Eltern ihre Kinder in der Badewanne ertränken? Oder wenn sie sie einfach nicht mehr ernähren und langsam verhungern lassen? Zugegeben, die feine Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen mag in dieser Fragestellung etwas grotesk anmuten. Aber wohl kaum einer käme auf die Idee, die „unterlassene“ Handlung moralisch weniger verwerflich zu nennen als die „aktive“ Handlung. Die moralische Unterscheidung zwischen „Dinge tun“ und „Dinge geschehen lassen“ ist vor allem in ethisch sensiblen Bereichen wie der Euthanasie ein viel beachteter Aspekt. Man unterscheidet für gewöhnlich zwischen aktiver Sterbehilfe,
Thomas von Aquin über Notwehr Die Formulierung des Prinzips, das später als das „Prinzip der Doppelwirkung“ bekannt wurde, wird Thomas von Aquin zugeschrieben, dem bedeutenden Philosophen des 13. Jahrhunderts. Er diskutiert die Frage der moralischen Rechtfertigung des Tötens aus Notwehr und macht Unterscheidungen, die den modernen juristischen Definitionen bemerkenswert nahe kommen. Die klassische Formulierung der Lehre findet sich in seinem Werk Summa Theologica: „Aus der Handlung dessen, der sich selbst verteidigt, kann eine doppelte Wirkung folgen, wo
nur die eine Wirkung gewollt ist, die andere nicht … die eine ist die Rettung des eigenen Lebens, die andere ist die Tötung des Angreifers. Die Liebe zu sich selbst bleibt ein Grundprinzip der Sittenlehre. Somit darf man sein eigenes Recht auf das Leben geltend machen. Wer sein Leben verteidigt, macht sich keines Mordes schuldig, selbst wenn er gezwungen ist, seinem Angreifer einen tödlichen Schlag zu versetzen. Wenn jemand zur Verteidigung des eigenen Lebens größere Gewalt anwendet als nötig, ist das unerlaubt. Wenn er die Gewalt aber mit Maß zurückstößt, ist die Verteidigung erlaubt (…)
Handlungen und Unterlassungen
Enola Gay Was wäre passiert, wenn der B-29Bomber namens Enola Gay am 6. August 1945 die Atombombe über Hiroshima nicht abgeworfen hätte? Sehr wahrscheinlich hat die Handlung, auf die der Abwurf einer zweiten Bombe auf Nagasaki drei Tage später folgte, den Zweiten Weltkrieg verkürzt: Japan kapitulierte am 14. August. Trotz der bewussten Handlung, die viele grausame Tode verursacht hat, hat sie
ungleich viel mehr Leben gerettet, da eine blutige Invasion von Japan abgewendet wurde. War die Entscheidung, die Bombe abzuwerfen, gerechtfertigt? Präsident Truman hierzu: „Das (…) war keine große Entscheidung. Jedenfalls keine, die einem Kopfzerbrechen bereitete.“
wo die medizinische Behandlung das Sterben eines Patienten beschleunigt, und passiver Sterbehilfe, wo auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet wird. Die meisten Rechtsordnungen erkennen diese Unterscheidung an (und folgen damit vermutlich einem menschlichen Grundinstinkt). Doch es bleibt nach wie vor schwierig, einen moralisch relevanten Unterschied zu erkennen zwischen einer bewussten Handlung (dem Verabreichen sterbefördernder Medikamente) und einer bewussten Unterlassung (der Nichtverabreichung lebensverlängernder Medikamente). Die rechtliche Position fußt teils auf dem Gedanken der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, der in seinem Ursprung religiöser Natur ist; und zumindest in der EuthanasieDebatte findet er seinen Ausdruck in erster Linie darin, menschliches Leben per se zu erhalten. Lebensqualität oder persönliche Einstellungen der Menschen, um deren Leben es geht, finden kaum oder gar keine Berücksichtigung. Insofern haben die bestehenden Gesetze zur Folge, dass einem Menschen im Zustand äußerster Qualen und Leiden weniger Achtung zuteil wird als es üblicherweise ein Tier in ähnlicher Lage erfährt.
Worum es geht Tun oder nicht tun?
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Ethik
21 Das Argument der Schiefen Ebene Wer sich in hohen moralischen Gefilden bewegt, sieht sich von Bergen umgeben. Und wo Berge sind, gibt es Hänge – viele schiefe Ebenen, und tückische dazu. In der allgemeinen Diskussion rund um eine breit gefächerte politische und soziale Themenpalette, wird kaum eine Erscheinung öfter oder eifriger bemüht als das Schreckgespenst der Schiefen Ebene. Dieses Bild ist offenbar derart klar, dass es mit wenig Untermauerung auskommt und kaum auf Einwendungen stößt. Auch wenn es nicht unbedingt verboten ist, sich auf die „Schiefe Ebene“ zu begeben, wird das Argument fast ausnahmslos in hochbrisanten und gefühlsgeladenen Bereichen eingebracht und erweist sich in vielen Fällen als fadenscheinig oder ausweichend.
Die allgemeine Form des Arguments könnte kaum simpler sein: Erlaubt man den Vollzug einer (harmlosen oder leicht anstößigen) Handlung A, so führt das unvermeidbar zu einer (missliebigen oder höchst unerwünschten) Handlung Z. „Schiefe Ebenen“ finden sich in verblüffend vielen Situationsbereichen. Im Folgenden ein paar klassische Beispiele: • Aktive Sterbehilfe zu erlauben, was todkranken Menschen ermöglicht, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen, wird unerbittlich ein Klima der Schuld schaffen, in dem ältere Menschen einwilligen, „still zu gehen“, um Platz zu machen und die jüngere Generation pflegerisch und finanziell zu entlasten. • Werdenden Eltern zu erlauben, das Geschlecht ihrer Kinder zu bestimmen, wird dazu führen, dass diese Eltern künftig auch weitere wünschenswerte Eigenschaften auswählen wollen – der Alptraum der Designerbabys wäre damit perfekt.
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ca. 300 v. Chr. Das Sorites-Paradoxon
Das Argument der Schiefen Ebene • Die Legalisierung weicher Drogen wie Cannabis wird zum Experimentieren mit harten Drogen ermutigen, und Junkies werden bald das Bild unserer Straßen prägen. • Jugendlichen Straftätern mit Milde zu begegnen, wird sie zu größeren Straftaten anspornen, und Raub und Mord gehören dann bald zum jugendlichen Alltag. Ein Merkmal haben diese Beispiele gemeinsam. Sie benennen allesamt eine „Schiefe Ebene“, die von Punkt A nach Punkt Z führt, schweigen sich aber über etwaige Punkte B bis Y aus. Und der Punkt, der am auffälligsten fehlt, ist gleichzeitig der wichtigste, nämlich irgendeine Begründung für die behauptete Unvermeidbarkeit, dass Handlung A geradewegs zu Handlung Z führt. Das Hauptaugenmerk wird auf die Schreckensszenarien von Punkt Z verlegt, die meist in den grellsten Farben ausgemalt werden, während man hofft, dass die fehlende Diskussion um Vorteile oder Nutzen von Handlung A unbemerkt bleibt. Rhetorik ersetzt hier Argumente. Eine Handlung (beispielsweise Eltern zu erlauben, das Geschlecht ihrer Kinder zu bestimmen) sollte für sich selbst beurteilt werden, und wenn man sie für verwerflich befindet, sollte man sie begründet untersagen. Befindet man die Handlung für sich selbst aber als harmlos, kann es durchaus von Bedeutung sein zu prüfen, ob sie tatsächlich, wie behauptet, unvermeidbar eine verwerfliche Handlung nach sich zieht. Wie man Frösche kocht Die Gefahren eines schleichenden sozialen oder politischen Wandels werden gerne illustriert mit der kleinen Geschichte vom Frosch im Kochtopf. Wenn Sie vorhaben einen Frosch zu kochen, wird die liebe Müh’ vergeblich sein, wenn Sie ihn in kochendes Wasser geben. Denn dann wird er prompt wieder heraushüpfen. Diese Enttäuschung können Sie sich ersparen, wenn Sie den Frosch in kaltes Wasser legen, das Sie dann langsam zum
Kochen bringen. In der gleichen Weise, so mögen tierliebe Anhänger des Libertarismus hier argumentieren, würde das allmähliche Unterhöhlen unserer bürgerlichen Freiheiten zu einem zunehmenden Verlust führen, dem man sich energisch widersetzt hätte, wäre er auf einen Schlag erfolgt. Diese sozio-politische Theorie ist plausibler als die Froschtheorie; die Falschheit der letzteren sollte man glauben und nicht überprüfen.
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Ethik Das Argument auf feste Füße zu stellen, dürfte sich im wirklichen Leben schwierig gestalten, wo bei echten Gefahren von schiefen Ebenen meist Regeln und Richtlinien getroffen werden, um ein unkontrolliertes „Abrutschen“ zu vermeiden.
Domino, Keil und Grenze Das Argument der Schiefen Ebene ist nicht die einzige rhetorische Gefahr, in die wir hier geraten können. Der erste gewagte Schritt auf eine Schiefe Ebene beschleunigt zumeist ein Abrutschen, das mitten hineinführt in einen dichten rhetorischen Blätterwald voller Gefahren, wo das Klappern fallender Dominosteine hallt, Schneebälle zu riesigen Geschossen anwachsen, sich mächtige Schleusentore öffnen und jeder Eisberg ungeahnte Tiefen birgt. Der Dominoeffekt, bei dem alle Steine nacheinander purzeln, sobald der erste Stein fällt, bezeichnet eine Kettenreaktion, die sich (vermeintlich) auch übertragen lässt auf eine Ereigniskette: Ein bestimmtes (unerwünschtes) Ereignis löst eine Abfolge ähnlicher Ereignisse aus. Das bekannteste Beispiel auf politischer Ebene findet sich im Jahr 1954, als der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower die Dominotheorie als Begründung für die amerikanische Intervention in Vietnam erstmals vorgebracht hatte. Es stand, so hieß es, zu befürchten, dass der kommunistische Umsturz in einem Land unvermeidbar den Kommunismus in weiteren Ländern Südostasiens nach sich ziehen würde. Im damaligen Fall fiel der erste Dominostein (Vietnam) tatsächlich (und in schneller Folge auch Kambodscha und Laos). Die prognostizierte Ausbreitung des Kommunismus in dieser Region blieb aber aus; die vermeintliche Unvermeidbarkeit erwies sich als heiße Luft. Ein kleiner Riss in einem Stein lässt sich nach und nach weiten, wenn man einen Keil hineintreibt; bildlich gesprochen markiert der Keilschlag eine erste kleine Veränderung, die übertragen auf, sagen wir mal, eine Norm oder ein Gesetz den Beginn einer massiven Reform markiert (oder auch einen Vorwand für dieselbe liefern kann). Beispiel: Im Vorschlag, dass das Recht auf eine Schwurgerichtsverhandlung in komplizierten Betrugsfällen annulliert werden solle, sehen viele die Gefahr, dass dieses Recht auch in anderen (und möglicherweise allen) Bereichen langsam aber sicher verschwinden wird. Die Vermutungen der „Keil“-Theoretiker bleiben aber reine Hypothesen, solange ein tendenziell „Keil“ treibendes Verhalten der politischen Entscheidungsträger bei entsprechenden Sachlagen nicht bewiesen werden kann. Aber wo sind die Grenzen zu ziehen? Keine einfache Frage und umso problematischer, weil sie sich dann ergibt, wenn wir nach Erkenntnissen suchen, wo diese unmöglich zu finden sind – wenn sich etwas in einem bestimmten Kontext nicht so präzisieren lassen will, wie wir das gerne hätten. Beispiel: Die große Mehrheit würde wohl sagen, dass es falsch wäre, Jahr für Jahr Millionen Einwanderer in unser Land aufzunehmen, aber einige aufzunehmen, finden wir richtig. Wo ziehen wir die
Das Argument der Schiefen Ebene
Die Nase des Kamels Eine farbreiche und viel zu selten vorgetragene Variante des Arguments der Schiefen Ebene basiert wohl auf einer kleinen Fabel aus Arabien, die einen vergnüglichen Blick auf die dortigen, ganz eigenen Gefahren wirft. Was die fatalen Folgen sind, wenn man ein „Kamel ungeniert agieren lässt“, beschreibt Lydia Howard Sigourney, amerikanische Dichterin des 19. Jahrhunderts, auf amüsante Weise: Eines Tages, eines schönen, sich ans Werkeln zu gewöhnen, schickt lustlos so ein Handwerksmann, sich müde in der Werkstatt an – So kam’s, dass er nicht reagiert, als ein Kamel sich ungeniert, die kalte Nas’ durchs Fenster streckt, sich weinend fast schon weiter reckt, es will sich wärmen in dem Raum,
und Kopf und Hals – man glaubt es kaum, bricht unheildrohend gleich alsbald, herein die ungelenk’ Kamelgestalt – Erschrocken schaut der Handwerksmann, ganz fassungslos den Störfried an, ob solcher Ungezogenheit, war fern er von Gastfreundlichkeit – Doch das Kamel bestimmt sogleich, die Werkstatt als sein eigen Reich, So die Moral von der Geschicht, lass weder Nase noch Gesicht, ein ungebührliches Benehmen, nicht erst um dich Besitz einnehmen, den eig’nen Platz nicht zu entbehren, gilt es den Anfängen zu wehren – Erstick den dunklen Keim, sei schlau, der Weisheit aus Arabien trau’.
Grenze? Die Tatsache, dass eine Entscheidung (in einem bestimmten Kontext) zwangsläufig mehr oder weniger unklar bleibt, heißt nicht, dass sie nicht getroffen werden kann oder sollte. Auch die ethische Diskussion um die Abtreibung hat mit diesem Problem zu kämpfen. Während viele darin übereinstimmen, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem Embryo in einer frühen Entwicklungsphase und einem Baby vor der Reifgeburt, tut man sich offenbar schwer damit (weil es unmöglich ist), einen exakten Zeitpunkt festzumachen, der diesen Übergang in der Entwicklung des Ungeborenen markiert. Das liegt daran, dass die Entwicklung des Fötus ein gradueller Prozess ist und jeder Punkt, an dem wir eine Grenze ziehen, ist gewissermaßen willkürlich gewählt. Doch das bedeutet nicht, dass jeder beliebige Punkt genauso gut (oder schlecht) ist wie jeder andere. Es bedeutet nicht, dass wir keine Grenze ziehen sollten oder dass irgendeine Grenze, die wir gezogen haben, einer Verbindlichkeit oder Legitimation entbehrt.
es geht ReichtWorum man den kleinen Finger …
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22 Über den Ruf der Pflicht hinaus Am 31. Juli 1916, während der Schlacht an der Somme in Nordfrankreich, bekam James Miller, ein 26-jähriger Soldat im königseigenen „Royal Lancaster Regiment“, den Befehl, „unter schwerem Granaten- und Gewehrfeuer eine wichtige Nachricht zu überbringen und mit einer Antwort zurückzukehren, koste es was es wolle! Er war gezwungen, das offene Schlachtfeld zu durchqueren, und kaum hatte er den Schützengraben verlassen, traf ihn auch schon ein Schuss in den Rücken. Die Kugel trat durch seinen Bauch wieder heraus. Doch er drückte mit heroischem Mut und Selbstaufopferung die klaffende Wunde fest zusammen, überbrachte die Nachricht seinem Offizier und brach sogleich zusammen. Er gab sein Leben in höchster Ergebenheit für seine Pflicht.“
Was schließen wir aus diesem Verhalten? Das britische Militär im Ersten Weltkrieg erachtete den Heldenmut des Soldaten Miller ohne Frage als ganz außerordentlich und zeichnete ihn mit dem Victoria-Kreuz für „herausragende Tapferkeit im Angesicht des Feindes“ aus (das obige Zitat stammt aus der offiziellen ehrenvollen Erwähnung anlässlich seiner Auszeichnung), und das in einer Zeit, da außerordentliche Taten alltäglich waren. Hätte Miller sich wieder hinter den Schützengraben verzogen, just nachdem ihn der tödliche Schuss getroffen hatte, würden wir ihm das wohl kaum vorwerfen oder gar behaupten, er hätte falsch oder gar unmoralisch gehandelt. Genau wie seine Befehlshaber würden auch wir befinden, dass Millers Taten „über den Ruf der Pflicht“ hinausgingen und besondere Anerkennung verdienen. Kurzum, wir würden ihn rühmen dafür, ihm aber auch keinen Vorwurf machen, wenn er anders gehandelt hätte.
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Die Goldene Regel
Handlungen und Unterlassungen
Über den Ruf der Pflicht hinaus Übergebührliche Handlungen Unsere erste Intuition gibt sich mit dieser Art der Bewertung offenbar gerne zufrieden. Es scheint ganz natürlich, Moral als eine zweigeteilte Sache zu betrachten. Es gibt Dinge, die sich aus moralischer Sicht wie von selbst zu verstehen scheinen: grundlegende Verpflichtungen, die eine Frage der Pflicht sind und ein Mindestmaß gewöhnlicher Moralität festlegen. Sie sind meist negativ formuliert, und sie nicht zu erfüllen, wäre falsch: nicht lügen, nicht betrügen, nicht töten usw. Man erwartet von uns, dass wir sie erfüllen, so wie wir von anderen erwarten, dass sie dies ebenfalls tun. Neben diesen alltäglichen moralischen Pflichten gibt es auf einer höheren Ebene die moralischen Ideale. Diese werden oft sehr positiv formuliert und können völlig uneingeschränkt gelten: Während es eine alltägliche moralische Pflicht ist, andere nicht zu bestehlen, ist Großzügigkeit gegenüber Anderen ein Ideal, dass prinzipiell uneingeschränkt ist. Sie an den Tag zu legen, kann gar über das hinausgehen, was die alltägliche Pflicht fordert und in die Kategorie der sogenannten „supererogatorischen“ (übergebührlichen) Handlungen fallen – Handlungen, die als moralisch gut und verdienstvoll bewertet, aber nicht eingefordert werden. Sie sind Domäne der Eine Heldentat? Stellen wir uns eine Truppe Soldaten vor, die das Abwerfen von Handgranaten übt; eine Granate rutscht einem der Soldaten aus der Hand und rollt am Boden auf die Truppe zu; einer der Truppe opfert sein Leben, indem er sich auf die Granate wirft und unter Einsatz seines Lebens die Kameraden vor dem Tode rettet … Wenn der Soldat sich nicht auf die Granate geworfen hätte, hätte er seine Pflicht dann nicht erfüllt? Gewiss, mit seiner Tat trat er in gewisser Weise überragend hervor. Aber könnten wir nicht auch sagen, dass die anderen in ihrer Pflichterfüllung versagt haben, da sie gar nicht versuchten, sich für ihre Kameraden zu opfern? Wenn der Soldat nicht so gehandelt hätte, wie er gehandelt hat, hätte ihm
irgendwer dann Vorwürfe machen können? Diese Geschichte, die eine neuerliche Debatte über supererogatorische Handlungen entfacht hat, erzählt der britische Philosoph J. O. Urmson in Saints and Heroes (Heilige und Helden), einer wichtigen Schrift aus dem Jahre 1958. Urmson legt drei Bedingungen fest, die als Voraussetzung für eine übergebührliche Handlung erfüllt sein müssen: Die Handlung überschreitet das Maß der (üblichen) Pflicht; sie muss verdienstvoll sein; ihre Unterlassung darf nicht kritisiert werden. All diese Kriterien, so Urmson, sind im oben genannten Fall erfüllt. Und das macht die Handlung zu einer Heldentat.
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Der Kategorische Imperativ
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Moralische Integrität Die Idee der supererogatorischen Handlungen unterstreicht den persönlichen Aspekt der Moralität. Helden und Heilige haben ein ausgeprägtes Pflichtgefühl, das für ihr persönlich richtiges Handeln von zentraler Bedeutung ist und dem sie sich ausnahmslos ergeben, auch in gefährlichen oder schwierigen Situationen, die für die meisten von uns Ausrede genug wären für das Unterlassen einer Handlung. Die meisten Formen des Utilitarismus sind strikt unpersönlich ausgelegt, sehen jedes Leben (einschließlich das des Han-
delnden) als gleichwertig an und neigen dazu, die Bedeutung persönlicher Ziele und Verpflichtungen zu gering zu bewerten. Diese werden nämlich häufig übergangen, sobald man den utilitaristischen Maßstab anlegt, um zu moralischen Entscheidungen zu kommen. Insoweit wird der Utilitarismus häufig als eine Philosophie betrachtet, die den persönlichen Prioritäten eines Handelnden sowie dessen Sinn für die eigene moralische Integrität keinen angemessenen Wert einräumt.
„Helden und Heiligen“, der Menschen, die derlei Handlungen als ihre Pflicht ansehen und sich selbst die Schuld geben, wenn sie versagen, sie auszuführen. Doch im Grunde handelt es sich hier um ein persönliches Pflichtgefühl, das zu beurteilen wohl niemandem ansteht.
Können gute Handlungen eine Frage der Wahl sein? Diese Kategorie der außergewöhnlichen, nicht zwingenden moralischen Handlungen ist aus philosophischer Sicht allein deshalb interessant, da manche ethische Systeme Schwierigkeiten haben, sie einzuordnen. Solche Systeme definieren typischerweise zunächst einmal den Begriff „gut“, um anhand dieser Norm dann im Weiteren zu bestimmen, was richtig und was falsch ist. Die Idee, dass irgendetwas als gut anerkannt, aber nicht eingefordert wird, mag insofern schwer erklärbar sein. Dem Utilitarismus zufolge, zumindest in seinen gradlinigen Versionen (siehe Seite 69), ist eine Handlung genau dann gut, wenn sie dem allgemeinen Nutzen (indem sie z. B. das Glück vermehrt) zugute kommt; und die beste Handlung, egal in welcher Situation, ist diejenige, die den größten Nutzen erbringt. Großzügige Geldspenden für wohltätige Zwecke in Entwicklungsländern würde man für gewöhnlich nicht als eine moralische Pflicht ansehen. Andere mögen dafür lobende Worte haben, sich aber auch nicht schlecht dabei fühlen, dem Beispiel selbst nicht zu folgen. Mit anderen Worten: Allzu große Freigebigkeit ist übergebührlich. Aus utilitaristischer Sicht fragt sich aber, wie es sein kann, dass eine solche Handlung nicht eingefordert wird, wo sie doch dem allgemeinen Nutzen dient (was sie sehr wahrscheinlich tut). Supererogatorische Handlungen sind auch für die Kant’sche Ethik problematisch, denn Kant legt höchsten Wert auf die moralische Handlungs-
Über den Ruf der Pflicht hinaus fähigkeit (siehe Seite 72). Und ist diese einmal anerkannt, fragt man sich weiter, wieso es überhaupt eine Grenze für das geben sollte, was diese Handlungsfähigkeit verbessert oder unterstützt. Konflikte dieser Art zwischen ethischen Theorien und dem gewöhnlichen Moralempfinden sind schädlich, vor allem für erstere. Radikale Utilitaristen drängen mitunter darauf, dass wir ihre Theorie voll und ganz annehmen und umsetzen (also faktisch bestreiten, dass Handlungen an sich supererogatorisch sein können) und unsere Lebensweise entsprechend danach richten. Doch die meisten von uns fühlen sich durch derartig extreme, reformistische Vorschläge, die dem Kern der gewöhnlichen Moralität zuwiderlaufen und uns fast alle als moralische Versager dastehen lassen, wohl eher verprellt als angetan. Weit häufiger aber versuchen Theoretiker, die offenkundigen Konflikte zu erklären oder herunterzuspielen. Die Strategie dabei ist, sich auf Ausnahmen oder Ausreden zu berufen (wie etwa auf ungewöhnliche Schwierigkeiten oder Gefahren), um das Nichtausführen einer Handlung zu entschuldigen, die andernfalls verpflichtend wäre. Sofern ein solcher Schachzug einer bestimmten Theorie aus dem Schneider hilft, hat dies gewiss seinen Preis. Denn mit der Einführung persönlicher Faktoren wird die Universalität gekippt, die im Bereich der Moral ansonsten als unabdingbar erachtet wird (siehe Seite 76). Andere Ansätze versuchen es mit der Einführung neuer Konzepte, wie etwa der Doktrin der Doppelwirkung oder der Handlungs- und Unterlassungslehre (siehe Seite 81), um zu erklären, wie es als richtig gelten kann, diesen oder jenen Pfad zu beschreiten, wo ein anderer, sichtlich besserer offen steht. Doch auch diese Konzepte sind nicht unproblematisch. Was bleibt, ist das Gefühl, dass die Plausibilität einer Theorie geschmälert wird, wenn sie schwer beladen ist mit Fußnoten oder anderen Einschränkungen.
Worum geht Sollten wir allees Helden sein?
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23 Ist es (moralisch) schlecht, Pech zu haben? Zwei Freunde, Bell und Haig, verbringen den Abend zusammen im Pub. Als die Sperrstunde naht, haben die beiden gut ein, zwei Bier zu viel intus, torkeln auf ihre Autos zu und machen sich auf die Fahrt nach Hause. Bell kommt wohlbehalten daheim an, so wie dutzende Male zuvor auch, fällt ins Bett und wacht am folgenden Morgen mit einem leichten Kater auf. Auch Haig, der schon öfter mal angetrunken hinterm Steuer saß, tuckert langsam vor sich hin, bis seine Fahrt ein jähes Ende nimmt, als ihm plötzlich ein junger Mann vors Auto läuft. Der Mann ist sofort tot. Haig verbringt die Nacht in einer Polizeizelle, wacht am folgenden Morgen genau wie Bell ebenfalls mit einem leichten Kater auf und weiß, dass er eine jahrelange Haftstrafe zu erwarten hat. Was sagt uns dieses Fallbeispiel von Bell und Haig? Haig hat sich laut Gesetz zweifelsohne um einiges schuldiger gemacht. Bell hingegen hätte es allenfalls ein Bußgeld und für eine bestimmte Zeit den Führerschein gekostet, hätte man ihn mit ein paar Promille zuviel erwischt; Haig aber muss mit einer jahrelangen Freiheitsstrafe rechnen. In diesem Falle scheint die rechtliche Seite unser moralisches Empfinden widerzuspiegeln. Wer durch fahrlässiges Handeln den Tod eines Menschen verschuldet, verdient ein härteres Urteil als derjenige, der nur angetrunken fährt. Doch im Falle Bell/Haig war es der reine Zufall, der über Glück oder Pech der beiden Fahrer entschieden hat. Beide Fahrer haben fahrlässig gehandelt, nur hatte Haig eben das Pech, dass ihm ein junger Mann vors Auto sprang. Pech ist hier offenbar der alleinig ausschlaggebende Faktor für das härtere rechtliche und moralische
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Tugendethik
Handlungen und Unterlassungen
Ist es (moralisch) schlecht, Pech zu haben? Urteil – doch Pech (oder Glück) ist etwas, das sich per definitionem der Kontrolle des Handelnden entzieht.
Moralischer Zufall (moral luck) Die Unterscheidung der beiden Fälle scheint im Widerspruch zu stehen zu einer sehr verbreiteten Intuition, wonach man nur die Dinge moralisch beurteilen sollte, die wir unter Kontrolle haben. Beispiel: Wenn Sie absichtlich Ihren Kaffee auf mich verschütten, dann sehe ich die Schuld allein bei Ihnen; wenn das gleiche aber auf einer Zugfahrt pasLässt man ein Baby nachsiert, weil der Zugführer plötzlich jäh auf die Bremse lässigerweise bei laufendem tritt, dann würde ich kaum auf die Idee kommen, die Wasser in der Badewanne Schuld bei Ihnen zu suchen. Anders ausgedrückt, man sitzen, wird einem auf dem sollte zwei Menschen nicht mit zweierlei Maß messen, wenn Faktoren beteiligt sind, die sich ihrer Kontrolle ent- eiligen Weg zurück ins Bad ziehen. Noch ein Beispiel: Zwei Golfer. Der eine schlägt schlagartig bewusst: wenn seinen Ball aus Versehen in die Zuschauermenge, wo er das Baby nun ertrunken ist, einen Menschen tödlich trifft. Der Ball des anderen landet hat man etwas Schreckebenfalls in der Menge, trifft aber keinen der Zuschauer. liches getan. Wenn nichts Würden wir dem ersten größere Vorwürfe machen als passiert ist, war man einfach dem zweiten (wie sich der Pechvogel persönlich fühlen nur leichtsinnig. mag, ist dabei eine ganz andere Frage)? Übertragen auf den Fall von Bell und Haig hieße das, Thomas Nagel, 1979 auch hier mit gleichem Maß zu messen. Sollten wir also über Bell härter urteilen, weil er mit seinem fahrlässigen Verhalten ein ebenso tragisches Unglück hätte verursachen können? Oder sollte unser Urteil über Haig vielleicht milder ausfallen, weil sein Verhalten nicht besser oder schlimmer war als das von tausenden anderen Alkoholsündern und er einfach nur Pech hatte? Gut, wir mögen dazu neigen, an unserem ersten Urteil festzuhalten und nach wie vor meinen, dass die beiden Fälle aufgrund des unterschiedlichen tatsächlichen Ausgangs auch unterschiedlich betrachtet werden sollten. Schön und gut, aber dann müssten wir auch die Bedeutung von Kontrolle überdenken und anerkennen, dass Moralität nicht immun ist gegen den Zufall – dass es etwas gibt, das man paradoxerweise „moralischen Zufall“ nennen könnte: Es scheint so, als ob der Zufall einen letztlich moralisch doch schlecht machen kann.
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Ethik Oder ist es Pech, (moralisch) schlecht zu sein? Die Frage, ob es moralischen Zufall gibt, ob moralische Urteile zumindest teilweise bestimmt sind von Zufallsfaktoren jenseits unserer Kontrolle, ist in der neueren Philosophie ein viel diskutiertes Thema. Vor allem der sogenannte „nachfolgende Zufall“ (wie im Falle von Bell und Haig, wo die zufällige Folge einer Handlung unser Urteil zu beeinflussen scheint) wird heiß debattiert. Aber es gibt noch andere Arten von Zufall, die im Spiel sein können, was die Sache umso komplizierter macht. Spontan würden wir sagen, dass sich unser moralisches Urteil in einem Fall vom Typ Bell/Haig nicht nur an den Folgen einer Handlung orientieren sollte, sondern auch an den Absichten der Handelnden. Bell und Haig hatten die gleichen Absichten, sie hatten nicht vor, irgendjemand zu töten. Und dennoch fällt unser Urteil für beide verschieden aus. Aber inwieweit haben wir tatsächlich eine Kontrolle über unsere Absichten? Wir bilden bestimmte Absichten aus, weil wir ganz bestimmte Menschen sind. Doch gibt es unzählige Faktoren, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind, und die wir nicht kontrollieren können (sie werden allgemein als „konstitutiver Zufall“ beschrieben). Unser Charakter ist das Produkt aus einer hochkomplexen Kombination genetischer und umweltbedingter Faktoren, über die wir wenig oder gar keine Kontrolle haben. Inwieweit also sollten wir für Handlungen oder Absichten verurteilt werden, die sich ganz natürlich aus unseren Charaktereigenschaften ergeben? Wenn ich nichts dafür kann, feige oder eigennützig zu sein, weil es „in meiner Natur“ liegt, ist es dann gerecht, mir vorzuwerfen, dass ich mich in brenzligen Situationen verdrücke oder immer zuerst an meinen eigenen Vorteil denke? Der Begriff des moralischen Zufalls lässt sich noch weiter ausdehnen. So etwa können gewisse „Zufälligkeiten in den Lebensumständen“, wie zur falschen Zeit
Falsche Zeit, falscher Ort Die guten oder schlechten Seiten unseres Charakters können nur dann zutage treten, wenn die Umstände entsprechend sind: Wir alle sind von „zufälligen Umständen“ abhängig. Großzügigkeit ist eine schöne Tugend, kommt aber nicht zum Zug, wenn einem die finanziellen Mittel fehlen, sich großzügig zu erweisen oder niemand da ist, dem man sie zuteil werden lassen könnte. Ein anderes Beispiel: Klar, würden wir von uns sa-
gen, dass wir nie und nimmer einen brutalen Naziaufseher in Auschwitz abgegeben hätten, aber sicher wissen können wir das natürlich nicht. Wir können nur von Glück sagen, nie in die Situation geraten zu sein, es herausfinden zu müssen. Aber wie steht es mit dem Naziaufseher, der tatsächlich in dieser Situation war und es herausfinden konnte? Hatte er am Ende einfach nur Pech, schlecht zu sein?
Ist es (moralisch) schlecht, Pech zu haben? am falschen Ort zu sein, unsere Bewertung des moralischen (Fehl-)Verhaltens eines Handelnden mitbestimmen. Im logischen Schluss heißt dies, dass die Frage, ob es moralischen Zufall gibt, eng verbunden ist mit der Frage nach dem freien Willen, die sich in ihrem Kern beide um das Gleiche drehen: Der Zweifel an der Idee, die Tun wir alles, was wir tun, aus freiem Willen? Wenn Moral sei frei von Zufall, ändert es keine Freiheit des Willens gibt, kann es dann Verantwortung geben? Und wenn es keine Verantwortung notwendigerweise unseren Begriff von Moralität, ... (der) gibt, worin haben Schuld und Strafe dann ihre Begründung (siehe Seite 192)? fortan sicherlich weniger beUnsere Intuitionen hinsichtlich des moralischen Zu- deutend sein wird, als wir ihn falls sind gemeinhin weit entfernt davon, einheitlich, für gewöhnlich auffassen; und logisch oder widerspruchsfrei zu sein. Diese Zerrisder deshalb nicht der unsere senheit spiegelt sich auch in der Polarisierung der phi- sein wird, da eines besonders losophischen Positionen wider, die zu diesem Thema bedeutsam an unserem Begriff vertreten werden. Die einen bestreiten, dass es so etvon Moral ist – nämlich für wie was wie moralischen Zufall überhaupt gibt und mühen sich um Erklärungen für offenkundige Erscheinungen wichtig wir ihn halten. Bernard Williams, 1981 desselben, oder sie diskutieren ihn von vornherein einfach weg. Andere setzen die Existenz von moralischem Zufall voraus und denken darüber nach, ob und inwieweit uns dies verpflichtet, die Art unserer Urteilsfindung zu verbessern oder zu überprüfen. Doch bislang deutet nichts auf einen Konsens in dieser Diskussion hin, die das Risiko in sich birgt, einige grundsätzliche Moralprinzipien in unserem menschlichen Miteinander ins Wanken zu bringen.
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Worum esdas geht Begünstigt Glück Gute?
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Ethik
24 Tugendethik In der Moralphilosophie der vergangenen vierhundert Jahre stand die Handlung im Vordergrund. Es ging vor allem um die Frage, was der Mensch tun soll und nicht darum, wie der Mensch sein muss. Die Hauptaufgabe sah man darin, diejenigen Prinzipien zu erkennen und darzulegen, auf denen tugendhaftes Handeln beruht und daraus moralische Normen zu formulieren, an denen sich das Handeln orientieren soll.
Über die Natur der zugrunde liegenden Prinzipien gibt es vielerlei Theorien, von der pflichtbasierten Ethik Kants bis zum konsequentialistischen Utilitarismus nach Bentham und Mill. Gleichwohl aber drehen sie sich im Kern alle um die Handlung an sich, darum, wie eine Handlung begründet oder gerechtfertigt ist. Der Charakter des Handelnden selbst spielt eine zweitrangige oder nur instrumentelle Rolle. Doch die Tugend war nicht immer Magd der Pflicht oder eines außerhalb ihrer selbst liegenden Nutzens. Bis zur Renaissance und den ersten Regungen der wissenschaftlichen Revolution waren Philosophie und Wissenschaft maßgeblich beeinflusst von den großen Denkern des klassischen Griechenlands, von Platon und vor allem von dessen Schüler Aristoteles. Ihnen ging es primär um die Natur und die Kultivierung des Guten im Menschen. Die wichtigste Frage war nicht „Was ist richtiges Handeln (in dieser oder jener Situation)?“, sondern „Was ist die beste Art des (sittlichen) Lebens?“ Diese Ausgangsfragen rückten die Natur der Tugend oder die moralische Vortrefflichkeit von vornherein in den Mittelpunkt der Betrachtung. Doch seit der Zeit von Galileo und Newton verschob sich die Aufmerksamkeit hin zu Normen und Prinzipien des moralischen Handelns, sodass die Philosophie des Aristoteles über mehrere Jahrhunderte ein Schattendasein führte. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts begannen einige Denker ihre Unzufriedenheit über die vorherrschenden Tendenzen in der Moralphilosophie zu bekunden und sorgten für neues Interesse daran, den Charakter und die Tugenden zu untersuchen. Diese neuerliche Bewegung, die hauptsächlich
Zeitleiste
ca. 440 v. Chr.
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Des einen Freud …
Tugendethik
Tugendethik
Ethik und Moralität Zwischen der Ethik Aristoteles’ und dem Ansatz, den Philosophen in heutiger Zeit verfolgen, besteht dem Anschein nach eine so große Kluft, dass es einige für ratsam halten, die Terminologie anzupassen, um die Unterschiede herauszustellen. So hat man vorgeschlagen, den Begriff „Moralität“ auf Moralsysteme wie das von Kant zu begrenzen, die auf Pflichtprinzipien und Verhaltensregeln ausgerichtet sind; während der Begriff „Ethik“ (griechisch ethos,
„Charakter“, „Sinnesart“) den eher aristotelischen Ansätzen vorbehalten bleiben soll, in denen die Charakteranlagen des Handelnden sowie die praktische (nicht nur moralische) Weisheit im Vordergrund stehen. Uneins ist man sich allerdings darin, ob und inwieweit eine solche Unterscheidung überhaupt sinnvoll ist, oder ob man damit nicht einen falschen (weil deutlich irreführenden) Gegensatz zwischen aristotelischen und anderen Lehren aufbaut.
inspiriert ist von der aristotelischen Ethik, hat sich unter dem Banner der „Tugendethik“ stetig weiterentwickelt und von anderen Ethiken abgegrenzt.
Tugend in der griechischen Philosophie Ein guter Mensch zu sein, richtig von falsch unterscheiden zu können, hängt nach Aristoteles und anderen griechischen Denkern nicht in erster Linie von der Erkenntnis und Anwendung bestimmter moralischer Maßstäbe und Prinzipien ab. Vielmehr geht es darum, Weisheit durch echte Tätigkeit und Übung zu erlangen und dadurch die Art von Person zu sein oder zu werden, die sich in jeweiligen Situationen angemessen verhält. Kurzum, aus dem richtigen Charakter und Anlagen, ob angeboren oder erworben, gedeihen richtige Verhaltensweisen. Die besagten Anlagen sind die Tugenden. Tugenden sind Ausdruck oder Erscheinungsformen der Eudaimonie, die den alten Griechen als das höchste Gut und Endziel menschlichen Handelns galt. Eudaimonie wird zumeist mit „Glück“ oder „Glückseligkeit“ übersetzt, hat genau genommen aber eine sehr viel umfassendere und dynamischere Bedeutung, die man treffender mit einer „gedeihlichen“ oder „guten (erfolgreichen, geglückten) Lebensführung“ umschreiben könnte. Griechische Philosophen führen häufig vier Grundtugenden an (Kardinaltugenden) — Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung (Selbstbeherrschung)
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Humes Guillotine
Die Erfahrungsmaschine
Ist es (moralisch) schlecht, Pech zu haben?
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Ethik
Die Goldene Mitte Die Goldene Mitte ist der Kerngedanke in der Tugendlehre des Aristoteles. Dabei geht es Aristoteles bei weitem nicht darum, in allen Dingen ein Mittelmaß oder einen Mittelweg zu finden, wie man irrigerweise hier und da gedacht hat. Wie das folgende Zitat klar herausstellt, ist die Mitte allein durch die Vernunft bestimmt. Nehmen wir ein Beispiel: Die Tugend zwischen Feigheit und Leichtsinn heißt Mut. Mutig zu sein, heißt also, die Mitte zu finden zwischen Feigheit oder Furcht und Leichtsinn – nicht übermütig den Helden spielen (und sich und andere dadurch in Gefahr bringen), aber auch nicht feige kneifen. Mut ist abhängig von der Vernunft, die die niederen, nicht rationalen Instinkte beherrscht: Der entscheidende Punkt dabei ist der, dass die Handlung der Situation angemessen sein sollte, dass sie der praktischen Weisheit folgen sollte, die auf die tatsächlichen Umstände einer Situation sensibel zu reagieren vermag.
„Es ist mithin die Tugend ein Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird (…) Die Mitte ist die zwischen einem doppelten fehlerhaften Habitus, dem Fehler des Übermaßes und des Mangels; sie ist aber auch noch insofern Mitte, als sie in den Affekten und Handlungen das Mittlere findet und wählt, während die Fehler in dieser Beziehung darin bestehen, dass das rechte Maß nicht erreicht oder überschritten wird. Deshalb ist die Tugend nach ihrer Substanz und ihrem Wesensbegriff Mitte.“
Aristoteles, ca. 350 v. Chr.
und Klugheit (Weisheit). Doch sowohl für Platon als auch für Aristoteles bestand die eigentliche Tugend in der sogenannten „Einheit der vier Kardinaltugenden“. Dieser Gedanke gründet nicht zuletzt in der Beobachtung, dass ein guter Mensch wissen muss, wie er auf die bisweilen widerstreitenden Forderungen der einzelnen Tugenden sensibel reagieren kann. Tugenden, so schließen Platon und Aristoteles, sind den verschiedenen Facetten eines Juwels vergleichbar – es ist nicht möglich die eine (Tugend) ohne die anderen zu besitzen. Die vielen verschiedenen Tugenden zu besitzen und zu kultivieren, macht nach Aristoteles die wahre Seelengröße des guten Menschen aus. Der aristotelische Megalopsychos („der Mann mit der großen Seele“) ist das Urbild von Güte und Tugend: ein Mensch mit angesehener Stellung im Leben und der großartigsten Dinge würdig; freigebig mit anderen, aber genügsam mit sich selbst; von angemessenem Stolz, aber nicht kleinmütig. Die Tatsache, dass die „Einheit der Tugenden“ eine bestimmte Hierarchie beinhaltet, brachte Platon zu dem gewichtigen Schluss, dass die verschiedenen Tugenden tatsächlich eins sind und sich unter einer einzigen zusammenfassen lassen –
Tugendethik
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Wissen. Wenn Tugend gleichbedeutend ist mit Wissen, so Das menschliche Gute Platon, dann ist auch akrasia, Willensschwäche, nicht mög- zeigt sich also als die lich. Denn wer „einmal die Einsicht in das Gute gewonnen Tätigkeit der Seele gemäß hat, kann unmöglich wider dieses besseren Wissens hander Vorzüglichkeit … ein deln“. So etwa ist unbeherrschtes Handeln keine Frage der Leben lang. Denn eine Willensschwäche, sondern der Unwissenheit. Den GedanSchwalbe macht noch ken, wir könnten nicht wider besseren Wissens falsch handeln, der eindeutig der Erfahrung widerspricht, weist ausge- keinen Frühling, auch rechnet Aristoteles zurück, der sonst stets bestrebt war, nicht nicht ein Tag. Aristoteles, ca. 350 v. Chr. von anerkannten Meinungen (Endoxa) abzuweichen. Für Platon und Aristoteles ist tugendhaftes Verhalten untrennbar verbunden mit der Vernunft, der vernunftbestimmten Entscheidung. Die Tugendlehre verfeinert Aristoteles in der einflussreichen Doktrin von der Goldenen Mitte (siehe Kasten S. 98).
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eswas geht WasWorum du bist, nicht, du tust
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Tierrechte
25 Fühlen Tiere Schmerzen? „Mein Bein“, schrie er. „Ach, mein armes Schienbein!“ Er setzte sich im Schnee auf und hielt sein Bein mit beiden Pfoten. „Armer alter Maulwurf!“, sagte die Ratte freundlich. „Heute hast du nicht viel Glück, nicht wahr? Ich will mir das Bein mal ansehen.“ Sie kniete im Schnee nieder und sah, was los war. „Ja, klar, du hast dir das Schienbein aufgerissen. Ich hole mein Taschentuch und verbinde dich.“
„Ich muss über einen verborgenen Zweig oder Baumstumpf gestolpert sein“, klagte der Maulwurf. „O weh, oh!“ „Es ist ein sehr sauberer Schnitt“, sagte die Ratte, die die Wunde gründlich untersuchte. „Das kommt auf keinen Fall von einem Ast oder Baumstumpf …“ „Vergess es doch“, sagte der Maulwurf, der vor Schmerz all seine Grammatik vergessen hatte, „vergess doch, was es war. Davon, dass ich weiß, was es war, tut es nicht weniger weh.“ Fühlen echte Tiere Schmerzen? Oder nur erfundene wie der Maulwurf in Der Wind in den Weiden? Wir mögen halbwegs sicher sein, dass nichtmenschliche Lebewesen der Sprache nicht mächtig sind, aber mehr auch nicht. Wie wir die Frage beantworten, ob Tiere Schmerzen empfinden oder ob sie gar ein Bewusstsein haben, ist auch für andere brisante Fragen von großer Relevanz: • Ist es richtig, dass Abermillionen von Ratten, Mäusen und gar Primatenarten zu medizinischen Forschungszwecken und Produkttests benutzt werden? • Ist es richtig, dass Maulwürfe und andere sogenannte „Schädlinge“ vergiftet, vergast oder anderweitig ausgerottet werden? • Ist es richtig, dass Milliarden von Tieren wie Kühe und Hühner geschlachtet werden, um die Nahrungsversorgung zu sichern?
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Fühlen Tiere Schmerzen?
Das Leib-Seele-Problem
Humes Guillotine
Fühlen Tiere Schmerzen?
Die linguistische Wende In Analogie zu unserem eigenen Bewusstsein lassen sich große Ähnlichkeiten annehmen zwischen dem bewussten Erleben bei uns Menschen und dem bei (einigen) Tieren. Aber wie weit lässt sich dieser Bogen spannen? Das subjektive Erleben eines Tieres muss eng verbunden sein mit seiner Lebensweise, seinem speziellen Lebensraum, an den es sich im Laufe seiner Evolution angepasst hat; und wie Thomas Nagel klar gemacht hat, haben wir nicht die leiseste Ahnung davon, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, oder irgendein anderes Tier (siehe Seite 32). Das Problem wurde einmal mehr akut, als im 20. Jahrhundert die sogenannte „Linguistische
Wende“ weite Gebiete der Philosophie des Geistes zu beherrschen begann. Dieser Strömung zufolge wird unser geistiges Erleben im Wesentlichen von der Sprache unterstützt und vermittelt, und unsere Gedanken werden innerlich in sprachlichen Begriffen repräsentiert. Doch wollte man diese Sichtweise rigoros auf nicht sprachbegabte Tiere anwenden, müsste man bestreiten, dass sie überhaupt irgendeinen Gedanken fassen können. Doch die Einstellungen der Philosophen fallen heute gemeinhin milder aus. Die meisten würden die Aussage, dass (einige) Tiere durchaus Gedanken haben, wenn auch von simpler Natur, wohl stehen lassen.
Die meisten Philosophen sind sich einig, dass Bewusstsein (insbesondere das Schmerzen leiden) von entscheidender Bedeutung dafür ist, welche moralische Haltung wir gegenüber Tieren einnehmen. Wenn wir der Meinung sind, dass auch Tiere (zumindest einige) fähig sind, Schmerzen zu empfinden, und dass es allgemein falsch ist, einem Lebewesen unnötig Schmerzen zu verursachen, dann müssen wir daraus folgern, dass es falsch ist, Tieren unnötig Schmerzen zuzufügen. Wenn wir diesen Gedankengang weiter spinnen – und einmal reiflich überlegen, was, wenn überhaupt, als angemessene Rechtfertigung dienen könnte, um einem Tier Schmerzen zuzufügen –, dann bekommt das Thema mit einem Mal eine moralische Brisanz.
Haben Tiere ein Bewusstsein? Was geht im Kopf eines Tieres vor? Was wissen wir überhaupt darüber? Haben Tiere Gefühle, Gedanken, Überzeugungen? Sind sie zur Vernunft fähig? Die Wahrheit ist, dass wir nur sehr wenig darüber wis-
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Die Zweck-Mittel-Debatte
Haben Tiere Rechte?
Der Geist der Anderen
Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
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sen. Unser Unwissen darüber, ob Tiere ein Bewusstsein haben, ist im Prinzip nichts anderes als eine weitere Spielart des Problems des Fremdpsychischen (siehe Seite 44). Wir können, so scheint es, nicht mit Sicherheit wissen, ob andere Menschen die Dinge in der gleichen Weise erfahren und empfinden wie wir, ob sie überhaupt etwas erfahren oder empfinden – insofern ist es kaum verwunderlich, dass wir in punkto Tiere und Bewusstsein auch nicht viel schlauer sind (eher noch unwissender!). Um die Frage nach dem bewussten Erleben bei Mensch und Tier zu erhellen, betrachten wir zunächst ein Argument, das sich auf Analogien zwischen uns und Tieren beruft. Säugetiere scheinen auf Schmerz ziemlich genau so zu reagieren wie wir Menschen, sie zucken zurück, stoßen Schreie aus usw. Auch physiologisch betrachtet weisen die Nervensysteme aller Säugetiere eine gewisse einheitliche Struktur auf; Parallelen finden sich auch in der genetischen Ausstattung und im evolutionsgeschichtlichen Ursprung. So viele Gleichartigkeiten lassen nun auch Ähnlichkeiten auf der Ebene des subjektiven Erlebens vermuten. Und je größer die Ähnlichkeiten in der Physio-
Man sagt manchmal: die Tiere sprechen nicht, weil ihnen die geistigen Fähigkeiten fehlen. Und das heißt: „Sie denken nicht, darum sprechen sie nicht“. Aber: Sie sprechen eben nicht. Oder besser: Sie verwenden die Sprache nicht – wenn wir von den primitivsten Sprachformen absehen. Ludwig Wittgenstein, 1953
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Der Hund des Chrysippos In der Antike gingen die philosophischen Meinungen in der Frage, wie und ob (wenn überhaupt) Tiere denken und überlegen können, weit auseinander. Ein besonders interessantes Beispiel in dieser Diskussion gibt der stoische Philosoph Chrysippos im 3. Jahrhundert v. Chr.: Ein Hund kommt beim Jagen seiner Beute an eine Stelle, wo der Weg sich dreiteilt; nachdem er die Fährte auf zwei Wegen vergeblich erschnüffelt hat, folgt er ohne erneutes Schnüffeln dem dritten Weg. Der Hund folgt damit dem logischen Schluss „Wenn A, B oder C; und weder A noch B; dann folgt C“. Solche Fälle von hündischer Logik überzeugten aber nicht alle späteren Philosophen, welche mehrheitlich die logisch vernünftige
Denkweise als die Fähigkeit herausstellen, die den Menschen vom Tier wesentlich unterscheidet. Vor allem Descartes hielt nicht sonderlich viel von der Vorstellung eines Bewusstseins bei Tieren. Er sah in Tieren wenig mehr als lebende Maschinen, die jeglicher Art von Intelligenz entbehren. Die Idee, dass die Leidensfähigkeit der Schlüssel ist, der die Tiere der moralischen Gemeinschaft zugehörig macht, liefert der utilitaristische Philosoph Jeremy Bentham: „Die Frage ist nicht: Können sie denken? oder: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?“ In den tierethischen Debatten der neueren Zeit ist die Leidensfähigkeit der Tiere das Kriterium, das am häufigsten bemüht wird.
Fühlen Tiere Schmerzen?
Tierversuche – ja oder nein? Was bringen sie wirklich? Das Problem, ob es moralisch vertretbar ist, Tiere für medizinische Forschungszwecke und Produkttests zu benutzen, kann auf zwei Weisen betrachtet werden. Die eine fragt, ob es richtig ist, dass wir Tiere als bloße Mittel für unsere menschlichen Zwecke gebrauchen; ob es moralisch vertretbar ist, Tieren Schmerzen beizubringen (unter der Annahme, dass sie Schmerzen empfinden können), ihre Rechte zu missachten (unter der Annahme, dass sie Rechte haben), um Arzneimittel zu testen und damit unsere Gesundheit zu verbessern usw. (siehe Seite 104). Die andere Sichtweise ist eine eher praktische. Die Toxizität eines Produkts an einer Maus zu
testen, hat nur dann einen Wert (unter der Annahme, dass eine solche Handlung überhaupt als moralisch gelten kann), wenn Mäuse und Menschen in relevanter physiologsicher Hinsicht hinreichende Ähnlichkeiten aufweisen, um aus den mausspezifischen Daten entsprechende Rückschlüsse auf den Menschen zu ziehen. Das Problem dabei ist, dass die zweite, pragmatische Sichtweise den Einsatz höher entwickelter Säugetiere wie Affen empfiehlt, da diese physiologisch gesehen mit uns Menschen am ehesten verwandt sind. Doch gerade die Tierversuche an Affen stoßen bei Gegnern auf erbitterten Widerstand aus ethischen Gründen.
logie und anderen relevanten Aspekten sind, desto sicherer können wir auf eine Ähnlichkeit im subjektiven Erleben schließen. Wir scheinen uns also auf einigermaßen sicherem Boden zu bewegen, wenn wir in dieser Frage Rückschlüsse auf unsere nächsten Verwandten, die Affen, ziehen. Doch dieser Boden wird sogleich sehr viel unsicherer, wenn es um entfernter verwandte Säugetiere wie Ratten oder Maulwürfe geht. Und je weiter wir auf der Evolutionsleiter hinuntersteigen, desto haltloser wird das Argument – im Falle von anderen Wirbeltieren wie Vögel, Reptilien, Amphibien und Fischen scheint es noch plausibel, bei wirbellosen Tieren jedoch wie Insekten, Schnecken und Quallen wird es entschieden bedenklich. Das soll nicht heißen, dass diese Tiere nicht empfindungs- oder leidensfähig sind. Aber es wäre höchst fragwürdig, eine solche Behauptung auf eine Analogie zu gründen, die vom menschlichen Bewusstsein ausgeht. Die Schwierigkeit ist, dass man nicht weiß, auf welches tragfähige Fundament man entsprechende Behauptungen sonst gründen könnte.
Worum es geht Tierquälerei?
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Tierrechte
26 Haben Tiere Rechte? Heute werden Jahr für Jahr weltweit – nahezu 50 Millionen Tiere für wissenschaftliche Forschungs- und Untersuchungszwecke benutzt; – über 250 Millionen Tonnen Fleisch produziert; – an die 200 Millionen Tonnen Fisch und andere Wassertiere aus Meeren und Flüssen gefischt.
Die Zahlen sind nur grobe Angaben (insbesondere in der Forschung wird ein Großteil gar nicht dokumentiert). Klar aber ist, dass jedes Jahr unzählige Tiere im Interesse der Menschheit benutzt werden. Wobei viele (und die Zahl steigt stetig) nicht von „benutzt“ als vielmehr von „ausgebeutet“ oder „geopfert“ sprechen würden. Viele nämlich betrachten die Nutzung von Tieren zum Gewinn von Nahrung, Kleidung oder zu Forschungszwecken als moralisch unvertretbar und als eine Verletzung der Grundrechte der Tiere.
Grundkonzept der Tierrechte Worauf lässt sich die Aussage, dass Tiere Rechte haben, überhaupt gründen? Ein verbreitetes Argument, das dem Wesen nach utilitaristisch ist, ist das folgende: 1. Tiere können Schmerzen empfinden. 2. Keiner soll einem anderen unnötig Leid und Schmerz zufügen. Daraus folgt, dass 3. wir auch Tieren kein unnötiges Leid zufügen sollen. Vor allem die erste Prämisse ist Gegenstand der neueren Debatten um Tierrechte (siehe Seite 100). Warum sollten Tiere wie Menschenaffen und Affen, die uns Menschen in vielen relevanten Aspekten ähneln, nicht über die Fähigkeit verfügen,
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Fühlen Tiere Schmerzen?
Humes Guillotine
Die Zweck-Mittel-Debatte
Haben Tiere Rechte? Schmerzen ähnlich zu empfinden wie wir es tun? Jedoch erscheint es genauso unwahrscheinlich, dass Tiere wie Schwämme oder Quallen, die nur ein sehr einfaches Nervensystem haben, etwas empfinden können, das entfernt dem menschlichen Schmerz gleichkommt. Die schwierige Frage dabei ist demnach, wo man die Grenze ziehen soll. Und wie so oft, wenn es darum geht, Grenzen zu ziehen (siehe Seite 86), ist es schwer, nicht in Beliebigkeiten abzugleiten. Vielleicht können wir uns ja auf eine eingeschränkte Aussage einigen: „Manche Tiere können Schmerzen fühlen“. Doch in welchem Ausmaß genau, darüber hängt noch ein dickes, beunruhigendes Fragezeichen. Die zweite Prämisse mag weitgehend unanfechtbar scheinen (ohne den Masochisten nahe treten zu wollen). Aber auch hier wieder besteht die Gefahr, dass die Aussage so weit eingeschränkt wird, bis sie letztlich bedeutungslos ist. Es gibt vereinzelt Versuche, diese Behauptung zu untergraben, indem man einen Unterschied macht zwischen Schmerz und Leid. Letzteres, so wird argumentiert, sei eine komplexe Emotion, die sowohl die Erinnerung an vergangene Schmerzerlebnisse als auch die Vorwegnahme künftiger Schmerzerlebnisse beinhaltet. Der Schmerz hingegen sei für sich genommen nicht mehr als ein vorübergehendes Gefühl in der Gegenwart; in der moralischen Betrachtung könne es insofern nur um Leid gehen, aber Tiere (oder manche Tiere) seien lediglich fähig, Schmerz zu fühlen. Selbst wenn wir uns auf eine solche Unterscheidung einlassen, müssen wir fragen, warum Schmerz viel weniger schlimm sein soll als Leid. Der Tag mag kommen, Noch viel problematischer ist jedoch der in der zweiten an dem der Rest der Prämisse gebrauchte Ausdruck „unnötig“. Kritiker werden sich nicht aufhalten lassen, immer wieder zu argumentieren, belebten Schöpfung jene Rechte erwerben wird, die dass es den Preis lohnt, Tieren bis zu einem gewissen Grad Schmerzen zuzumuten, wenn es dem menschlichen Wohle ihm nur von der Hand dient (verbesserter Gesundheitsschutz, Produktsicherheit der Tyrannei vorenthalten usw.). Aus utilitaristischer Sicht fordert das Argument eine werden konnten. Art Schmerzkalkül, welches Tierleid und menschlichen NutJeremy Bentham, 1788 zen in Beziehung setzt; doch die Rechnung – schon schwer genug, wenn man nur das menschliche Leid berücksichtigt, scheint man überhaupt nicht aufstellen zu können, wenn man ihr die Variable „Tierleid“ hinzufügt. Der Angriff auf diese Prämissen zerstört die Schlussfolgerung unausweichlich. Allenfalls könnten wir noch folgern, dass wir einigen Tieren (möglicherweise verschwindend wenigen) kein Leid zufügen sollten, es sei denn, es nützt (und wenn
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Haben Tiere Rechte?
Das Argument der Schiefen Ebene
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Tierrechte vielleicht nur minimal) dem Wohle der Menschheit. Mit einer solchen Schlussfolgerung würde sich aber kaum ein Tierrechtsadvokat zufrieden geben.
Rechte für Tiere? Es gibt viele Begründungen für Tierrechte, die haltbarer und differenzierter sind als die oben genannte Version, und die eine weniger abgeSpeziesismus Die meisten Menschen kämen nicht auf die Idee, andere Artgenossen unter völlig verdreckten Bedingungen zusammenzupferchen und sie dann aufzuessen; oder Chemikalien mit unbekannten Eigenschaften an Kindern zu testen; oder Menschen gentechnisch zu verändern, um biologische Erkenntnisse zu gewinnen. Gibt es Gründe, Tiere auf diese Arten und Weisen zu behandeln? Es muss, so Tierrechtler, irgendeine moralisch relevante Begründung geben, warum die Interessen der Tiere nicht die gleiche Berücksichtigung erfahren sollten wie die der Menschen. Denn ansonsten handele es sich um einen Fall von bloßen Vorurteilen und Doppelmoral, eine Diskriminierung aufgrund der Spezies, was der grundlegende Zug des Speziesismus ist: das grundlegende Fehlen von Respekt für die Würde und Bedürfnisse nichtmenschlicher Wesen, was ebenso wenig vertretbar ist wie die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht oder Rasse. Ist es also falsch, zum Vorteil unserer eigenen Spezies zu handeln? Ein Löwe beispielsweise wird sich anderen Löwen gegenüber stets rücksichtsvoller und bedachter verhalten als etwa gegenüber einem Warzenschwein. Warum sollten wir Menschen also nicht ähnliche „Parteilichkeiten“ zeigen? Argumente dafür sind bereits viele vorgetragen worden: • Menschen haben eine höher entwickelte Intelligenz als Tiere (oder zumindest das Potential dazu);
• räuberisches Verhalten ist natürlich (Tiere in freier Natur fressen andere); • Tiere werden speziell gezüchtet, um verzehrt oder als Versuchstiere gebraucht zu werden (sie würden andernfalls gar nicht existieren); • der Mensch braucht Fleisch als Nahrung (obgleich Millionen gesunder Menschen anscheinend ohne auskommen); • Tiere haben keine Seele (aber sind wir sicher, dass wir Menschen eine haben?) Es ist leicht, gegen diese Begründungen zu argumentieren. Und im Allgemeinen ist es schwierig, Kriterien aufzustellen, die klar und ausnahmslos alle Menschen in sich einschließen, alle Tiere aber ausklammern. Wenn wir beispielsweise entscheiden, dass der höher entwickelte menschliche Intellekt das ausschlaggebende Kriterium sei, würden wir uns dann auf eben dieses Kriterium auch berufen, um ein Kind oder eine geistig zurückgebliebene Person mit einem Intelligenzgrad unter dem eines Schimpansen für wissenschaftliche Experimente zu gebrauchen? Oder wenn wir uns für das Kriterium der „Naturhaftigkeit“ entscheiden, werden wir bald feststellen, dass in der Natur von Tieren (und Menschen) Dinge liegen, die wir uns für uns Menschen nicht wünschen wollen: Es kommt vor, dass Löwen ihrem natürlichen Trieb folgen und die Nachkommen eines Rivalen töten — ein, übertragen auf den Menschen, geradezu verfemtes Verhalten.
Haben Tiere Rechte?
Das 3-„R“-Prinzip Die intensive Debatte über tierisches Wohlergehen und Tierrechte konzentriert sich auf zwei Fragen: Sollten Tiere für Experimente überhaupt benutzt werden? Wenn ja, wie soll der praktische Umgang mit ihnen aussehen? Das Ergebnis führt zu drei allgemeinen Prinzipien, den drei großen „R“. Sie sind mittlerweile als Richtlinien für tiergerechte Versuchsmethoden weithin anerkannt:
Ersetzen (Replace): Wo immer möglich, sollten Tierversuche durch alternative Verfahren ersetzt werden. Vermindern (Reduce): Die Zahl der Versuchstiere sollte auf ein Grad reduziert werden, der für die statistische Datenerhebung ausreichend ist. Verfeinern (Refine): Versuchsmethoden sollten so verfeinert werden, dass sie das Leiden der Tiere vermindern oder gänzlich beseitigen.
schwächte Vorstellung liefern wollen, welche Art von Rechten Tiere wohl genießen könnten. Während der australische Philosoph Peter Singer sich dem Thema von der utilitaristischen Seite nähert, ist eine deontologische Linie, die der Amerikaner Tom Regan verficht, ebenfalls überaus einflussreich. Nach Regan sind Tiere – oder zumindest Tiere oberhalb einer bestimmten Komplexitätsstufe – „Subjekte eines Lebens“; und genau diese Tatsache verleihe ihnen gewisse Grundrechte, die verletzt werden, wenn ein Tier wie ein Stück Fleisch behandelt wird oder als stellvertretendes Versuchskaninchen in Experimenten und für Produkttests dient. Auf diese Weise bleiben Tierrechte von einer Kosten-Nutzen-Analyse verschont, die einer utilitaristischen Sicht mehr schaden als nützen kann. Die Auffassung, Tierrechte auf eine Stufe mit den Menschenrechten zu stellen, ist überaus problematisch. Fraglich sei, so einige Philosophen, ob es überhaupt angemessen oder hilfreich ist, von Rechten zu sprechen. Ein Recht, so das Argument, sei gemeinhin immer auch gebunden an Pflichten seines Rechtsträgers; es setzt dazu eine gewisse Beziehung der Wechselseitigkeit voraus, die so zwischen Mensch und Tier nie bestehen könnte. Zudem, so die Kritiker weiter, laufe das eigentliche Thema (der angemessene und würdevolle Umgang mit Tieren) Gefahr, durch ein provokantes Sprechen von Rechten verschleiert zu werden.
Worum es Menschen? geht Sind Tiere auch nur
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Logik und Bedeutung
27 Argumentformen Argumente sind die Bausteine philosophischer Theorien; Logik ist der Mörtel, der diese Bausteine zusammenhält. Gute Ideen sind wenig wert, wenn sie nicht gestützt werden von guten Argumenten – sie müssen rational begründet sein, und das ist ohne einen festen und schlüssigen logischen Unterbau nicht sauber hinzubekommen. Klar präsentierte Argumente sind bereit für Wertungen und Kritik, und es ist dieser fortwährende Prozess von Resonanz, Überprüfung und Verwerfung, der den philosophischen Fortschritt antreibt. Ein Argument ist ein logisch gültiger und gebilligter Schritt, der von anerkannten Voraussetzungen (Prämissen) zu einem Punkt hinführt, der damit bewiesen oder demonstriert wird (Konklusion). Prämissen sind grundlegende Voraussetzungen, die anerkannt sein müssen, provisorisch zumindest, damit ein Argument auf den Weg gebracht werden kann. Prämissen selbst können auf mehrere Arten begründet werden, auf der Basis von Logik oder anhand empirischer Belege, sie können aber auch die Schlussfolgerungen vorangegangener Argumente sein. Jedoch müssen sie in jedem Fall unabhängig von der Schlussfolgerung gestützt sein, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Der Schritt von der Prämisse zur Konklusion ist eine Frage der Folgerung, deren Tragfähigkeit die Robustheit des Arguments bestimmt.
Die Rolle der Logik Logik ist die Wissenschaft vom folgerichtigen Denken, die die Gültigkeit von Argumenten untersucht, um Grundsätze oder Grundlagen zu schaffen, auf deren Basis „stichhaltige“ Folgerungen abgeleitet werden können. Sie befasst sich von daher nicht mit dem konkreten Inhalt der Argumente, sondern mit deren allgemeiner Struktur und Form. In einem Argument wie „Alle Vögel sind gefiedert; das Rotkehlchen ist ein Vogel; folglich ist das Rotkehlchen gefiedert“, abstrahiert der Logiker die Form „Alle Fs sind G; a ist ein F, folglich ist a ein G“. Die einzelnen Begriffe werden durch Symbole ersetzt und die Tragfähigkeit der Folgerung kann unabhängig vom Inhalt bestimmt werden. Die Lehre der Logik konzentrierte sich ehemals primär auf einfache Folgerungen dieser Art (Syllogismen). Seit
Zeitleiste
ca. 350 v. Chr.
ca. 300 v. Chr.
Argumentformen
Das Sorites-Paradoxon
Argumentformen
Aristotelische und mathematische Logik Bis Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Lehre der Logik nicht viel von sich reden gemacht, folgte größtenteils dem Weg, den Aristoteles mehr als zweitausend Jahre zuvor bereitet hatte. Man war der weit verbreiteten Ansicht, dass sich das System vom folgerichtigen Schließen mit der Aristotelischen Lehre von den Syllogismen erschöpft hätte. Syllogismen sind immer aus drei Sätzen aufgebaut, aus jeweils zwei Prämissen und einer Konklusion. Das wohl berühmteste Beispiel ist das folgende: „Alle Menschen sind sterblich; alle Griechen sind Menschen; alle Griechen sind sterblich.“ Syllogismen wurden vollständig
klassifiziert nach „Form“ und „Figur“, und zwar in der Weise, dass sich gültige und ungültige Typen unterscheiden ließen. Die Grenzen der klassischen Logik hat der deutsche Mathematiker Gottlob Frege erstmals aufgezeigt. Er führte Begriffe wie „Quantoren“ und „Variablen“ ein, die der modernen „mathematischen“ Logik zum Durchbruch verhalfen. (Sie wird deshalb als mathematische Logik bezeichnet, da sie im Gegensatz zur klassischen Lehre in der Lage ist, jede Form von mathematischer Argumentation wiederzugeben.)
Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch entwickelte sich daraus ein hoch verfeinertes und komplexes analytisches Instrument.
Deduktive Argumente Bei oben angeführtem Beispiel („Alle Vögel sind gefiedert …“) handelt es sich um ein deduktives Argument. In diesem Fall folgt die Konklusion logisch aus der Prämisse und das Argument wird als „gültig“ anerkannt. Wenn die Prämissen eines gültigen Arguments wahr sind, dann ist garantiert, dass auch die Konklusion wahr ist und das Argument damit „stichhaltig“. Die Konklusion eines deduktiven Arguments ist in ihren Prämissen bereits enthalten. Mit anderen Worten: die Konklusion geht nicht über ihre Prämissen hinaus oder sagt nicht mehr aus, als durch diese bereits impliziert ist. Anders formuliert, um den zugrunde liegenden logischen Charakter des Arguments aufzuzeigen: Man kann die Prämissen nicht anerkennen und die Konklusion anzweifeln, ohne sich selbst zu widersprechen. Induktive Argumente Der zweite Weg, um von Prämissen zu einer Konklusion zu gelangen, ist die Induktion. In einem typisch induktiven Argument wird von
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Glaube und Vernunft
Wissenschaft und Pseudowissenschaft
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Paradoxon oder Fehlschluss? „Der Gefangene wird bei Tagesanbruch gehängt, spätestens bis kommenden Samstag, und wird im Vorhinein den genauen Tag der Urteilsvollstreckung nicht erfahren.“ Klingt übel, aber der gewiefte Gefangene findet zu einem tröstlichen Gedankengang: „Die Hinrichtung kann nicht am Samstag sein, da ich dies im Vorhinein wissen würde, wenn ich den Freitag überlebe. Folglich ist der spätmöglichste Tag der Freitag. Aber der kann es auch nicht sein, da ich dies im Vorhinein wissen würde, wenn ich den Donnerstag überlebe …“ So rechnet er alle Tage zurück bis zum gegenwärtigen und stellt erleichtert fest, dass die Hinrichtung gar nicht stattfinden kann. Und so kommt es wie ein Schock für ihn, als man ihn am folgenden Dienstag tatsächlich zur Hinrichtung führt. Paradoxon oder Fehlschluss? Nun, vielleicht beides. Die Geschichte, bekannt als Das Parado-
xon der unerwarteten Hinrichtung, ist deshalb paradox, da eine anscheinend fehlerfreie Argu-
mentation zu einem Schluss führt, der ganz offenkundig falsch ist, wie der Gefangene selbst erfahren muss. Paradoxa beinhalten typischerweise scheinbar stichhaltige Argumente, die zu offenkundig widersprüchlichen oder anderweitig unannehmbaren Konklusionen führen. Manchmal gibt es keinen Weg, die Konklusion zu vermeiden, was eine nochmalige Überprüfung der verschiedenen begleitenden Überzeugungen und Annahmen erfordern kann. Es kann auch sein, dass ein Fehlschluss (Denkfehler) im Argument selbst entdeckt wird. So oder so, Paradoxa verlangen philosophische Aufmerksamkeit, da sie ausnahmslos immer auf Unordnungen oder Widersprüchlichkeiten in unseren Begriffen und unserem Denken hinweisen. Einige der berühmtesten Paradoxa (die wir an späterer Stelle noch erörtern werden) erweisen sich als erstaunlich resistent gegen Lösungen und verblüffen Philosophen bis heute.
Einzelbeobachtungen und empirischen Erfahrungen auf ein allgemeines Gesetz oder Prinzip geschlossen. Beispiel: Aus einer Reihe von Beobachtungen, dass Säugetiere lebendgebärend sind, schließt man induktiv (also vom Einzelnen auf das Allgemeine), dass dies auf alle Säugetiere zutrifft. Ein solches Argument kann nie in der Art gültig sein, wie es ein deduktives Argument ist, da die Konklusion nicht notwendigerweise aus ihren Prämissen folgt. Anders ausgedrückt: Es ist möglich, dass die Prämissen wahr sind, die Konklusion aber falsch (wie im gegebenen Beispiel, bei dem sich die Konklusion als falsch erweist, da es auch eierlegende Säugetiere gibt wie etwa das Schnabeltier). Der Grund dafür liegt darin, dass induktive Schlüsse immer über die Prämissen hinausführen, die niemals eine gegebene Konklusion in sich bergen, sondern diese nur stützen oder sie in gewissem Grad wahrscheinlich machen. Insofern sind induktive Argumente Verallgemeinerungen oder Extrapolationen verschiedener Art: vom Einzelnen zum Allgemeinen; vom Beobachteten zum Unbeobachteten; von vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen und Sachverhalten zu künftigen.
Argumentformen
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Induktives Folgern ist allgegenwärtig und unverzichtbar. Im Gegenteil“, fuhr Es wäre unmöglich, unseren Alltag zu leben, ohne beobach- Tweedledee fort, „wenn es tete Muster und Stetigkeiten der Vergangenheit und Gegen- so war, könnte es so sein; wart zu nutzen, um Voraussagen über Sachverhalte in der und wenn es so wäre, Zukunft zu machen. Naturwissenschaftliche Gesetze und Anwürde es so sein, aber da nahmen werden häufig als paradigmatische Fälle der Indukes nicht so ist, ist es nicht tion angesehen (siehe Seite 132). Aber können wir derlei Folgerungen begründet ziehen? Nein, das können wir nicht, so. Das ist Logik. wie der schottische Philosoph David Hume meint. Nach ihm Lewis Carroll, 1871 gibt es keine rationale Basis, die es rechtfertigen würde, uns auf eine Induktion zu verlassen. Induktives Folgern, so Hume, setze einen Glauben an die „Gleichförmigkeit der Natur“ voraus, wonach angenommen wird, dass die Zukunft der Vergangenheit ähneln werde, wenn relativ ähnliche Bedingungen bestehen. Doch welche möglichen Gründe könnte es für eine solche Annahme geben außer induktive? Und falls die angenommene Gleichförmigkeit der Natur nur auf diese Weise begründet werden kann, dann kann sie selbst nicht zur Verteidigung der Induktion benutzt werden (ohne einen Zirkelschluss). In ähnlicher Weise hat es Ansätze gegeben, die Induktion aus ihren vergangenen Erfolgen heraus zu rechtfertigen; und im Prinzip funktioniert sie auch. Doch die Annahme, dass die Induktion auch in Zukunft funktionieren wird, kann nur induktiv aus vergangenen Erfolgen geschlossen werden. Und damit stagniert das Argument. Nach Humes Ansicht können wir nicht umhin, induktiv zu folgern (und er sagt auch nicht, dass wir es bleiben lassen sollten), aber er beharrt darauf, dass wir nur aus Gewohnheit so verfahren und diese Vorgehensweise nicht rational begründet sei. Das sogenannte „Induktionsproblem“, das Hume hinterlassen hat, insbesondere, da es sich auswirkt auf die Grundfeste der Wissenschaft, wird bis heute heftigst diskutiert.
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WorumArgumente? es geht Unfehlbare
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Logik und Bedeutung
28 Das BarbierParadoxon In einem Dorf lebt ein Barbier, der all diejenigen rasiert – und nur diejenigen –, die sich nicht selbst rasieren. Wer rasiert nun den Barbier? Wenn er sich selbst rasiert, tut er es nicht (denn er rasiert ja nur die, die sich nicht selbst rasieren) und wenn er sich selbst nicht rasiert, dann tut er es. Auf den ersten Blick scheint die Kernfrage dieses Paradoxons gar nicht so schwierig zu lösen zu sein. Doch man kann es drehen und wenden, wie man will, man wird schnell merken, dass die Aussage widersprüchlich ist und in sich zusammenfällt. Diese harmlos anmutende Beschreibung von einem Barbier, „der all diejenigen rasiert – und nur diejenigen –, die sich nicht selbst Das Wesen der Philosophie rasieren“, ist de facto logisch unmöglich. Der Barbier ist es, mit etwas zu beginnen, kann nicht gleichzeitig derjenigen Gruppe angehören, was so einfach ist, dass es die sich selbst rasiert und derjenigen Gruppe, die das gar nicht erwähnenswert nicht tut. Folglich kann eine Person, die auf die Beschreibung des Barbiers passt, (logischerweise) nicht scheint, und mit etwas zu enexistieren. Es gibt keinen solchen Barbier: Paradoxon den, das so paradox ist, dass gelöst. es niemand glauben wird. Die Bedeutung des Barbier-Paradoxons liegt aber Bertrand Russell, 1918 nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Form. Der Struktur nach ähnelt es einem anderen, bedeutenderen Problem, das als „Russell-Paradoxon“ (oder „Russell’sche Antinomie“) bekannt ist. Darin geht es nicht um rasierte Dorfbewohner, sondern um mathematische Mengen und ihre Inhalte. Dieses verwandte Paradoxon zu lösen, hat sich als weit schwieriger erwiesen, und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es noch vor einem Jahrhundert die Grundfeste der Mathematik zu unterhöhlen drohte.
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Argumentformen
Das Sorites-Paradoxon
Das Barbier-Paradoxon
„Dieser Satz ist falsch“ Das Problem der Selbstbezüglichkeit eines Satzes, das dem Barbier-Paradoxon und Russells Paradoxon zugrunde liegt, findet sich mit einer Reihe anderer bekannter philosophischer Rätsel in bester Gesellschaft. Das vielleicht berühmteste von allen ist das sogenannte „Lügner-Paradoxon“, dessen Ursprünge im 7. Jahrhundert v. Chr. vermutet werden, als der Kreter Epimenides gesagt haben soll: „Alle Kreter sind Lügner.“ Die einfachste Variante dieses Paradoxons ist die folgende: „Dieser Satz ist falsch“, der, wenn er wahr ist, falsch ist, und wenn er falsch ist, wahr ist. Deutlicher wird das Paradoxon anhand eines Satzpaares: Auf einer Seite eines Blatt Papiers steht: „Der Satz auf der anderen Seite ist falsch.“ Auf der anderen Seite steht: „Der Satz auf der anderen Seite ist wahr.“ In dieser Formulierung ist jeder der [beiden] Sätze offensichtlich nichts Besonderes; deshalb ist es schwer, das Parado-
xon einfach als bedeutungslos abzutun, wie man es bisweilen vorgeschlagen hat. Eine weitere interessante Variante ist das Grelling-Nelson-Paradoxon. Darin geht es um zwei Klassen von Wörtern. Zum einen um autologische Wörter, also Wörter, die selbst die von ihnen besagte Eigenschaft haben. Das Wort „dreisilbig“ beispielsweise fällt in diese Klasse, da es selbst drei Silben hat. Und zum anderen geht es um heterologische Wörter, die selbst nicht die von ihnen besagte Eigenschaft haben. Dazu gehört beispielsweise das Wort „lang“, das selbst ein kurzes Wort ist. Wenn nun jedes Wort der einen oder anderen Klasse angehört, ergibt sich folgendes Problem: Angenommen „heterologisch“ ist ein heterologisches Wort, dann ist es per definitionem kein heterologisches Wort, also ist es autologisch im Widerspruch zur Annahme. Es scheint, als gebe es kein Entkommen aus dem Barbierladen.
Russell und die Mengenlehre Mengen gehören zu den grundlegenden Konzepten der Mathematik, denn sie sind überprüfbare Objekte in reinster Form. Die mathematische Vorgehensweise besteht darin, Gruppen von Elementen (Mengen) zu definieren, die bestimmte Kriterien erfüllen, so etwa die Menge aller reellen Zahlen größer als 1 oder die Menge der Primzahlen. Operationen werden dann so ausgeführt, dass über die in der Menge (oder den zugehörigen Mengen) enthaltenen Elemente weitere Eigenschaften abgeleitet werden. Auch aus philosophischer Sicht sind Mengen durchaus interessant, denn die reine Logik der Mengenlehre könnte als Fundament für die gesamte Mathematik (Zahlen, Relationen, Funktionen) die-
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Klarheit des Gedankens Philosophische Argumente sind oft komplex und müssen mit großer Präzision formuliert werden. Philosophen lassen sich bisweilen etwas fortreißen durch die Erhabenheit ihres eigenen Denkens, sodass der Versuch, ihren Argumenten zu folgen, leicht anmutet wie ein Waten durch tiefe Sümpfe. Lesen Sie selbst: „(So) stieß ich nun auf Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten, dafür aber – wie ich meinte, und was ja auch einleuchtend genug erscheint – ihrerseits wiederum eine Klasse bilden mussten. Und ich fragte mich nun, ob diese Klasse (also die Klasse sämtlicher Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten) sich
selbst als Element enthält oder nicht. Wenn man annimmt, dass sie sich selbst als Element enthält, muss sie natürlich der Definition dieser Klassen entsprechen, nach der sie sich nicht selbst als Element enthalten darf. Und wenn man annimmt, dass sie sich nicht selbst als Element enthält, entspricht das genau der gegebenen Definition, d. h. sie gehört zu den Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten, und muss sich folglich selbst als Element enthalten. Aus beiden Annahmen folgt also zwingend das Gegenteil der Annahme; und wie wir uns auch drehen und wenden, wir kommen aus diesem Widerspruch nicht heraus.“
nen. Und diese Erkenntnis hat zu ehrgeizigen Ansätzen geführt, Mengen genau dafür zu benutzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schickte sich der deutsche Mathematiker Gottlob Frege an, die ganze Arithmetik rein logisch mittels der Mengenlehre zu definieren. Man ging damals von der Annahme aus, dass es keinerlei Einschränkungen für die Bedingungen gäbe, die zur Definition von Mengen benutzt werden konnten. Das Problem dabei, das der britische Philosoph Bertrand Russell 1901 erkannte, kreist um die Frage, ob es Mengen gibt, die sich selbst (als Element) enthalten. Einige Mengen enthalten tatsächlich sich selbst als Element: So ist beispielsweise die Menge der mathematischen Objekte selbst ein mathematisches Objekt. Andere enthalten sich nicht selbst als Element: Die Menge der Primzahlen ist beispielsweise selbst keine Primzahl. Betrachten wir nun die „Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten“. Enthält diese Menge sich selbst als Element? Wenn dies so ist, enthält sie sich nicht selbst; ist es aber nicht so, enthält sie sich selbst als Element. Anders ausgedrückt: Ob diese Menge in sich selbst enthalten ist, ist abhängig davon, dass sie nicht in sich selbst enthalten ist – ein glatter Widerspruch und daher ein (Barbier-ähnliches) Paradoxon. Doch im Gegensatz zum Fall des Barbiers ist es nicht möglich, sich dieser störenden Menge zu entledigen – jedenfalls nicht, ohne ein Loch in die Mengenlehre nach damaligem Verständnis zu reißen.
Das Barbier-Paradoxon
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Die Existenz von Widersprüchen im Kern der MenEinem wissenschaftlichen genlehre, wie Russells Paradoxon es enthüllt, hat ge- Schriftsteller kann kaum etwas zeigt, dass die mathematische Definition und Behand- Unerwünschteres begegnen, als lung von Mengen im Grunde fehlerhaft war. Wenn jedass ihm nach Vollendung einer de beliebige Aussage auf Basis eines Widerspruchs Arbeit eine der Grundlagen seines (logisch) beweisbar wäre, dann folgt (als logische Katastrophe), dass man von jedem einzelnen Beweis, der Baues erschüttert wird. In diese nicht zwingend ungültig ist, nicht wissen kann, dass er Lage wurde ich durch einen Brief gültig ist. Die Mathematik musste auf eine völlig neue des Herrn Bertrand Russell verGrundlage gestellt werden. Der Schlüssel der Lösung setzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte. liegt in der Einführung geeigneter Einschränkungen für die Prinzipien, die die Zugehörigkeit (zu einer Gottlob Frege, 1903 Menge) festlegen. Russell hat das Problem nicht nur aufgedeckt, sondern er war auch einer der Ersten, der sich an einer Lösung versucht hat. Und während sein eigener Versuch nur teilweise erfolgreich war, half er anderen damit auf den richtigen Weg.
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Worum geht Wenn ja, dann nein –es wenn nein, dann ja
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Logik und Bedeutung
29 Der Fehlschluss des Spielers Es fiebert in ihren Köpfen, als Monty und Carlo nur noch zusehen können, wie der Croupier mit dem Rateau die Verlierer-Jetons auf dem Tableau einstreicht. Beide haben die letzten paar Runden nicht gespielt und zugeschaut, um ein Gespür für das Spiel zu bekommen. Fünfmal in Folge hat Rot gewonnen. „Aber jetzt … Wäre doch gelacht,“ sagen sich beide, zunehmend ungeduldiger. „Jetzt muss es doch klappen …“ … denkt Monty und platziert seine Jetons erneut für die nächste Runde: „Fünfmal hintereinander Rot! Das konnte kein sechstes Mal klappen. Die Chancen stehen eher gegen Rot. Nach dem Gesetz des Durchschnitts muss jetzt Schwarz gewinnen.“ Carlo überlegt ebenfalls: „Mann, die Glückssträhne heißt offenbar Rot! Diesmal bin ich dabei. Ist bestimmt wieder Rot.“ „Rien ne va plus … Nichts geht mehr!“, ruft der Croupier. Wer hat größere Chancen zu gewinnen, Monty oder Carlo? Carlo vielleicht? Oder keiner der beiden? Fest steht, dass beide dem sogenannten Spielerfehlschluss (auch Monte-Carlo-Fehlschluss genannt) anheim gefallen sind, so wie wohl schon Abermilliarden Glücksspieler vor ihnen (die ältesten Würfelspiele, die man gefunden hat, reichen zurück bis um 2750 v. Chr.).
„Schwarz gewinnt – ganz sicher!“ Monty hat Recht. Fünfmal in Folge Rot ist schon sehr ungewöhnlich: die Wahrscheinlichkeit (auf einem unmanipulierten Tableau, die ein oder zwei grünen Null-Felder mal unberücksichtigt gelassen) ist 1:32; und die Chancen auf sechsmal Rot hintereinander sind sogar noch geringer.
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ca. 2750 v. Chr. Der Fehlschluss des Spielers
Der Fehlschluss des Spielers Sie liegen bei nur 1:64. Doch diese Wahrscheinlichkeit für eine Serie von fünfmal Rot gilt nur, bevor sich das Rad in Bewegung setzt. Und genau das ist der Denkfehler, den Monty begeht. Denn dieses relativ seltene Ereignis (fünfmal Rot in Folge) ist bereits eingetreten und hat keinerlei Auswirkungen auf die folgenden Spielrunden; für jede neue Spielrunde haben Rot und Schwarz die gleiche Wahrscheinlichkeit, eine 50:50 Chance. Das Rouletterad hat nämlich – genau wie Münzen, Würfel oder Lottokugeln – kein Gedächtnis, aus dem es Ergebnisse früherer Runden in künftige einfließen lassen könnte, um für einen Ausgleich zu sorgen: Die Wahrscheinlichkeit jedes beendeten Spielereignisses oder jeder beendeten Ereignisserie hat in keinster Weise etwas zu tun mit der Wahrscheinlichkeit künftiger Ereignisse. Alle anderen Vorstellungen wären falsch und damit ein Spielerfehlschluss.
Den Denkfehler im Spielerfehlschluss illustriert die folgende Geschichte sehr schön: Ein Mann nimmt auf jedem Flug eine Bombe mit ins Handgepäck und wird geschnappt. „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bombe im Flugzeug ist, ist sehr klein“, erklärt er der Polizei. „Und mit Sicherheit ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zwei Bomben an Bord gibt, fast Null, meinen Sie nicht?“
Die Bank gewinnt! Normalerweise haben Casinos für ihre Glücksspiele eine Art „Hausobergrenze“ eingerichtet, was bedeutet, dass die Chancen immer leicht zugunsten der Bank verteilt sind. Beispielsweise gibt es auf europäischen Roulettetischen ein Feld, das weder rot noch schwarz ist, auf amerikanischen sogar zwei, sodass die Chancen mit Rot oder Schwarz zu gewinnen, etwas geringer
als 50:50 stehen. Ähnlich ist es bei Siebzehnund-Vier, wo es gilt, die Bank zu schlagen. Aber es gilt auch: Die 21 der Bank schlägt die 21 des Spielers. Während es für den einzelnen Spieler immer möglich ist, die Bank zu schlagen, ist es auf den Gesamtlauf des Spiels bezogen nahezu unabwendbar, dass die Bank gewinnt.
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Das Gefangenendilemma
Die dreiteilige Theorie des Wissens
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Logik und Bedeutung
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Ich fühle mich wie ein Fliehender vor dem Gesetz des Durchschnitts. Bill Mauldin, 1945
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„Rot gewinnt – ganz sicher!“ Schneidet Carlo besser ab? Wahrscheinlich nicht. Auch er hat versucht, genau wie Monty, das künftige Ergebnis auf Basis vergangener Spielergebnisse vorherzusagen, die aber keinerlei Auswirkung darauf haben. Und sofern die früheren Ereignisse tatsächlich zufällig sind, dann ist auch er dem Spielerfehlschluss zum Opfer gefallen. Doch der Spielerfehlschluss gilt nur für Ergebnisse, die echt unabhängig von den vorhergegangenen Ergebnissen sind. Wenn, sagen wir mal, ein Pferd vier Rennen in Folge gewinnt, dann könnte man doch davon ausgehen, dass es auch ein fünftes Mal gewinnen wird. Wenn wir aber eine Münze werfen und diese zwanzig Mal in Folge „Kopf“ zeigt, dann schließen wir daraus eher, dass sie gezinkt ist, als dass ein solch unwahrscheinliches Ereignis tatsächlich purer Zufall ist. Auf die gleiche Weise könnte eine Serie von fünfmal hintereinander „Rot“ darauf deuten, dass das Rouletterad manipuliert ist. Das ist natürlich nicht unmöglich, aber fünfmal „Rot“ hintereinander ist so ungewöhnlich auch nicht und für sich genommen sicherlich nicht hinreichend, um eine solche Folgerung zu rechtfertigen. In Ermangelung irgendeines anderen Beweises ist Carlo also ebenso der Gelackmeierte wie Monty.
Lotto und 6 Richtige! Wie stehen die Chancen, dass beim Lotto die gleichen sechs Richtigen ein zweites Mal in Folge gezogen werden? Ungefähr 1:200.000.000.000.000 (200 Billionen). Verschwindend gering also. Und wohl kaum einer wäre so dumm, auf die Zahlen der letzten Woche zu tippen … Na ja, aber eigentlich wäre das auch nicht dümmer, als auf beliebige sechs andere Zahlen zu setzen. Ein klassischer Spielerfehlschluss: Stehen die sechs Richtigen nach einer
Ziehung fest, dann sind die Chancen auf neue sechs Richtige für die folgende Ziehung wieder gleich verteilt und nicht besser oder schlechter zugunsten einer bestimmten Kombination – also eine verlockende Chance von nur 1:14.000.000. Also, liebe Lottospieler, ob Sie Woche für Woche auf die immer gleichen Zahlen setzen oder diese wöchentlich ändern, macht keinen Unterschied – aber Sie könnten genauso gut auf Schatzsuche im eigenen Garten gehen.
Der Fehlschluss des Spielers
Das Gesetz des Durchschnitts Das „Gesetz des Durchschnitts“ wird häufig herangezogen, um den Denkfehler des Spielers zu stützen. Es besagt in groben Zügen, dass ein Ereignis in der Zukunft wahrscheinlicher eintreten wird, wenn es weniger häufig als erwartet in der Vergangenheit eingetreten ist (oder umgekehrt: Es ist weniger wahrscheinlich, dass es in der Zukunft eintreten wird, wenn es häufiger in der Vergangenheit eingetreten ist). Auf dieser Basis gründet die Annahme, dass Ereignisse sich „auf lange Sicht gesehen selbst ausgleichen“. Der Reiz dieses Scheingesetzes rührt teilweise daher, dass es Ähnlichkeiten aufweist mit einem echten statistischen Gesetz – dem „Gesetz der großen Zahlen“. Es besagt Folgendes: Wenn man eine fehlerfreie Münze mit einer geringen Anzahl von Würfen hintereinander wirft, sagen wir zehn Mal, dann kann es sein, dass die Häufigkeit, mit der sie auf „Kopf“ landet,
beträchtlich vom Durchschnitt, der fünf ist, abweicht. Wenn man nun aber die Anzahl der Würfe erhöht, sagen wir auf 1 000, desto näher wird der Anteil der Würfe, bei denen „Kopf“ erscheint, beim Durchschnitt liegen, in diesem Fall bei 500. Je häufiger die Münze geworfen wird, desto höher ist diese Wahrscheinlichkeit. In einer Reihe von Zufallsereignissen mit gleicher Wahrscheinlichkeit stimmt es also, dass die Ereignisse sich selbst ausgleichen, wenn man die Serie nur lange genug fortsetzt. Allerdings hat dieses statistische Gesetz keinerlei Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines bestimmten Einzelereignisses. Denn auch hier gilt: Ein augenblickliches Ereignis hat keinerlei Erinnerung an eine vorangegangene Abweichung vom Durchschnitt und keinerlei Einfluss auf das Ergebnis, um ein mögliches bestehendes Ungleichgewicht zu korrigieren. Kein Trost also für den Glücksspieler!
Worum es geht Gegen alle Wahrscheinlichkeit
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Logik und Bedeutung
30 Das SoritesParadoxon Stellen Sie sich vor (sofern Sie sich das vorstellen müssen), Sie hätten einen Haufen Haare auf dem Kopf. Das bedeutet, dass sie wahrscheinlich rund 100.000 einzelne Haare haben. Nun ziehen Sie eines davon heraus. Haben Sie jetzt eine Glatze? Natürlich nicht. Ein einzelnes Haar macht keinen Unterschied. 99.999 Haare ist immer noch ein ganzer Haufen voll. In der Tat sind wir uns wohl alle einig, dass wir nicht gleich eine Glatze haben (sofern wir nicht sowieso schon eine haben), wenn wir nur ein einziges Haar herausreißen. Trotzdem – wenn wir noch eins und noch eins und noch eins herausziehen … und das nur lange genug tun, dann sind irgendwann keine Haar mehr übrig und wir haben tatsächlich eine Glatze. Insofern bewegen wir uns offenbar von einem Zustand der unbestrittenen Nicht-Kahlköpfigkeit hin zu einem Zustand der unbestrittenen Kahlköpfigkeit, indem wir eine Reihe von Schritten unternehmen, die für sich allein genommen nie und nimmer die gleiche Wirkung haben können. Aber wann wird aus einem Haarschopf eine Glatze? Wann tritt diese Wende ein? Dies ist nur eine Version eines berühmten Rätsels, das auf den antiken griechischen Logiker Eubulides von Milet zurückgehen soll und als Sorites-Paradoxon bekannt ist. „Sorites“-Paradoxien beziehen ihren Namen vom griechischen Wort soros (Haufen), da das ursprüngliche Rätsel am Beispiel eines Sandhaufens formuliert worden ist. Additiv durchgeführt (durch Hinzufügung von einzelnen Sandkörnern), also nicht subtraktiv wie eben im Beispiel mit der Glatze (durch Wegnahme von einzelnen Haaren), erscheint das Argument wie folgt: 1 Sandkorn ist kein Haufen. Wenn 1 Sandkorn kein Haufen ist, dann sind 2 Sandkörner auch kein Haufen. Wenn 2 Sandkörner kein Haufen sind, dann sind 3 Sandkörner auch kein Haufen. (und so fort …)
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Argumentformen
Das Sorites-Paradoxon
Das Sorites-Paradoxon Wenn 99 999 Sandkörner kein Haufen sind, dann sind 100 000 Sandkörner auch kein Haufen. 100 000 Sandkörner sind demnach kein Haufen! Spätestens jetzt würde wohl jeder stutzen! Was ist hier falsch gelaufen?
Das Problem der Unschärfe Konfrontiert mit einem derart unbefriedigenden Ergebnis bleibt nur, das Argument, das zu diesem Ergebnis geführt hat, noch einmal Schritt für Schritt zurückzuverfolgen. Irgendwo muss sich der Fehler doch finden lassen. Ein Denkfehler vielleicht? Oder vielleicht steckt der Fehler in den Prämissen, auf denen es aufgebaut ist? Doch so alt das Paradoxon ist, es gibt noch immer keinen Konsens darüber, wie es am besten anzugehen ist. Dabei hat es bereits jede Menge Lösungsansätze gegeben. Ein viel beschrittener Weg, das Paradoxon aufzulösen, ist zu behaupten, dass es an irgendeinem Punkt eine Grenze geben muss, an dem das Hinzufügen eines weiteren Sandkorns den Unterschied ausmacht; dass es eine genaue Anzahl von Sandkörnern gibt, die die Grenze zwischen einem Haufen und einem Nicht-Haufen markiert. Aber wenn es eine solche Grenze gibt, dann können wir mit Sicherheit nicht eindeutig sagen, wo diese liegt, und insofern bleibt jede vorgeschlagene Trennlinie hoffnungslos willkürlich: Wieso sollten 1001 Sandkörner einen Haufen bilden und 999 nicht? Das wäre in der Tat ein Schlag gegen den gesunden Menschenverstand und die allgemeine Intuition. Tödliche Logik Raucher mit Vogel-Strauß-Tendenzen sind nicht selten empfänglich für die Art von Fehlschluss, die dem Sorites-Paradoxon zugrunde liegt. Der Raucher denkt, nicht unplausibel: „Die nächste Zigarette wird mich schon nicht umbringen.“ Kaum gedacht, macht er auch schon unbeschwert den nächsten Schritt mit dem Gedanken „die Zigarette nach der nächsten wird mich
schon nicht umbringen.“ Und so weiter und so fort, aber leider nicht ad infinitum. Die wahrscheinliche Wahrheit, dass eine einzelne Zigarette niemanden umbringt (auch wenn die Summe der gerauchten Zigaretten dies sehr wahrscheinlich tut), stellt einen Pyrrhussieg für den verstorbenen Raucher dar.
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Das Barbier-Paradoxon
„Der König von Frankreich hat eine Glatze“
Das Argument der Schiefen Ebene
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Logik und Bedeutung
Die unscharfe Logik (Fuzzylogik) Die klassische Logik ist bivalent (zweiwertig), was bedeutet, dass nur zwei Wahrheitswerte erlaubt sind: Jede Aussage muss entweder wahr oder falsch sein. Doch die innere Unschärfe vieler Begriffe, die das Sorites-Paradoxon offenbart, deutet darauf, dass diese Bedingung zu streng ist, wenn die Logik die ganze Bandbreite und Komplexität der natürlichen Sprache erfassen soll. Die unscharfe Logik wurde zunächst von dem amerikanischen Computerwissenschaftler Lofti Zadeh entwickelt, um Unschärfen und Wahrheits-
grade in die Logik einzuführen. Die Wahrheit einer logischen Aussage wird präsentiert als ein Kontinuum von 0 (falsch) bis 1 (wahr). Wenn also beispielsweise eine bestimmte Aussage „teilweise wahr“ oder „mehr oder weniger wahr“ ist, könnte sie als „wahr“ mit einem Grad 0,8 repräsentiert sein oder als „falsch“ mit einem Grad 0,2. Verwendung findet die unscharfe Logik heute insbesondere im Forschungsbereich der Künstlichen Intelligenz, wo „intelligente“ Kontrollsysteme auf Ungenauigkeiten und Nuancen der natürlichen Sprache reagieren müssen.
Vielversprechender scheint es da, eine dem Argument zugrunde liegende Annahme genauer zu betrachten: Die Idee, dass der Prozess der Haufenkonstruktion, durch die ein Nicht-Haufen zu einem Haufen wird, vollständig und reduktiv zerlegt werden kann in eine Reihe von einzelnen Sandkorn-Additionen. Klarerweise gibt es eine Anzahl dieser diskreten Additionsschritte, aber ebenso klar scheint es, dass diese Schritte nicht den gesamten Prozess der Haufenbildung vollständig bestimmen. Diese fehlerhafte Analyse übersieht, dass der Übergang von einem Nicht-Haufen zu einem Haufen ein Kontinuum darstellt, und dass es daher keinen exakten Punkt gibt, der eindeutig als Wendepunkt ausgemacht werden Wenn die Komplexität kann (ähnliche Probleme in Bezug auf die Unschärfe, siehe zunimmt, verlieren präzise Seite 87). Dies wiederum sagt uns eine Menge über die Aussagen an Sinn und Vagheit (Unschärfe) vieler Begriffe, auf die das Soritessinnvolle Aussagen an Paradoxon angewendet werden kann – nicht nur auf Begriffe wie Haufen und Sandkörner, sondern auch auf lang, Präzision. Lofti Zadeh, 1965 groß, reich, dick und zahllose weitere. Alle diese Begriffe sind im Grunde genommen vage, ohne eine klare Trennlinie, die sie von ihrem jeweiligen Gegenteil abgrenzen würde – also von kurz, klein, arm, dünn etc. Die wichtige Folgerung daraus ist, dass es immer auch Grenzfälle gibt, wo sich Begriffe nicht eindeutig anwenden lassen. Während es beispielsweise Menschen gibt, die eindeutig glatzköpfig sind, und andere, die das eindeutig nicht sind, gibt es viele dazwischen, die man je nach Kontext oder sonstigen Umständen als das eine
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Das Sorites-Paradoxon
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oder das andere bezeichnen könnte. Diese innewohnende Es gibt keine ganzen Unschärfe bedeutet, dass es nicht immer angemessen ist, ei- Wahrheiten, alle Wahrnen Satz wie etwa „X ist glatzköpfig“ als eindeutig wahr heiten sind Halbwahroder falsch zu bezeichnen; vielmehr gibt es Grade von Wahrheiten. Erst der Versuch, heit, was sogleich eine Spannung erzeugt zwischen unscharsie wie ganze Wahrheiten fen Begriffen, die in der natürlichen Sprache vorkommen, und der klassischen Logik, die hingegen zweiwertig ist (denn zu behandeln, macht es teuflisch! jede Aussage muss entweder wahr oder falsch sein). Alfred North Whitehead, 1953 Das Konzept der Unschärfe besagt, dass die klassische Logik überholt werden muss, wenn sie die Nuancen der natürlichen Sprache vollständig erfassen will. Aus diesem Grund ging die Entwicklung in Richtung von unscharfen („fuzzy“) oder mehrwertigen Logiken (siehe Kasten).
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Worum bilden es geht Wie viele Sandkörner einen Haufen?
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Logik und Bedeutung
31 „Der König von Frankreich hat eine Glatze“ Angenommen, ich erzähle Ihnen „Der König von Frankreich hat eine Glatze“. Sie würden mich wahrscheinlich für verrückt erklären oder einfach nur für nicht auf dem neuesten Stand. Aber ist das, was ich sage, tatsächlich falsch? Wenn es falsch ist, dann müsste das nach einem anerkannten Gesetz der Logik bedeuten, dass das Gegenteil wahr ist – „Der König von Frankreich hat keine Glatze“. Aber das klingt auch nicht viel besser. Oder aber diese beiden Aussagen sind weder wahr noch falsch – sie sind einfach nur barer Unsinn. Trotzdem, auch wenn sie komisch klingen mögen, so ganz sinnlos scheinen sie nicht zu sein. Man mag sich vielleicht wundern, aber Philosophen rätseln tatsächlich über solche Dinge. Im Laufe der vergangenen einhundert Jahre hat sich so manch ein Denker über den König von Frankreich seinen philosophischen Kopf zerbrochen, und das, obwohl das Land seit mehr als zwei Jahrhunderten gar keinen König mehr hat. Das Rätseln über diese und andere ähnliche Fragen inspirierte den britischen Philosophen Bertrand Russell zu seiner Kennzeichnungstheorie, die er erstmals in seiner einflussreichen Schrift On Denoting 1905 (Über das Kennzeichen, 1905) vorgestellt hat. Diese Theorie gründet, wie so viele andere Werke englischsprachiger Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, auf dem Glauben, dass eine gewissenhafte Analyse der Sprache und ihrer zugrunde liegenden Logik der sicherste, vielleicht sogar der einzige Weg sei, Erkenntnisse über die Welt zu erlangen, welche mittels der Sprache beschrieben werden können.
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Argumentformen
Das Sorites-Paradoxon
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Folglich wird aus „Der Vater von Karl II. wurde enthauptet“: „Es ist nicht immer falsch, dass x Karl II. gezeugt hat und dass x hingerichtet wurde“ und dass „wenn y Karl II. gezeugt hat, y identisch ist mit x“ für y immer wahr ist. Bertrand Russell, 1905
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Klar, wenn man es recht bedenkt …
Zwei Fallstricke In seiner Kennzeichnungstheorie analysiert Russell eine bestimmte Kategorie sprachlicher Ausdrücke, die als definite Kennzeichnungen bezeichnet werden. Ein paar Beispiele: „der erste Mensch auf dem Mond“; „die kleinste Primzahl“; „der höchste Berg der Welt“; „die derzeitige Königin von England“. Die grammatikalische Struktur der Sätze, in denen derlei Satzglieder vorkommen – wie „Der erste Mensch auf dem Mond war Amerikaner“ – ähnelt den sogenannten Subjekt-Prädikat-Sätzen wie: „Neil Armstrong ist Amerikaner.“ Im letzteren Beispiel ist „Neil Armstrong“ ein Eigenname, der bezugnehmend (referenziell) ist in dem Sinne, dass er sich auf ein bestimmtes Objekt bezieht oder dieses kennzeichnet (in diesem Falle ein bestimmtes menschliches Wesen), und diesem dann eine Eigenschaft zuschreibt (in diesem Falle die, „Amerikaner zu sein“). Trotz ihrer oberflächlichen Ähnlichkeit mit Eigennamen ergeben sich eine Reihe von Problemen, die dann entstehen, wenn man definite Kennzeichnungen behandelt, als seien sie bezugnehmende Satzglieder. Im Versuch, für derlei Rätsel eine Lösung zu finden, stellten sich Russell vor allem zwei Probleme in den Weg: 1. Das Problem der informativen Identitätssätze Betrachten wir folgendes Prinzip: Wenn A und B identisch sind, kann jede Eigenschaft von A auch Eigenschaft von B sein, und A kann in jedem Satz, der B enthält, an die Stelle von B treten ohne seinen Wahrheits- oder Falschheitsgehalt zu beeinflussen. So weit so gut: Nun möchte George IV gerne wissen, ob Sir Walter Scott der Autor des historischen Romans Waverley war. Da Scott in der Tat der Autor dieses Romans war, können wir der „Autor von Waverley“ durch „Scott“ ersetzen und somit feststellen, dass George IV gerne wissen wollte, ob Scott Scott war. Aber das scheint ganz und gar nicht das zu sein, was George IV wirklich wissen wollte. „Scott ist der Autor von Waverley“ ist informativ auf eine Weise, wie es „Scott ist Scott“ nicht ist.
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Der ontologische Gottesbeweis
Das Barbier-Paradoxon
„Der König von Frankreich hat eine Glatze“
Der Käfer in der Schachtel
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Logik und Bedeutung
„Existenz“-Angst Viele definite Kennzeichnungen versagen darin,
etwas zu kennzeichnen. Zum Beispiel, wenn wir sagen: „Die höchste Primzahl existiert nicht.“ Dabei ist es absolut absurd, von etwas zu behaupten, dass es nicht existiert. Das ist in etwa so, als würde man sagen, dass etwas, das existiert, nicht existiert – ein glatter Widerspruch. Russells erneute Analyse solcher Sätze erklärt, wie derlei nicht-kennzeichnende Ausdrücke trotzdem Sinn
ergeben, ohne uns unliebsamen metaphysischen Ballast wie nicht-existente Entitäten aufzunötigen. Das umstrittenste Beispiel eines solchen (möglichen) Ballasts ist der Begriff Gott; die Russell‘sche Analyse deckt auf, wo die offensichtlichsten Mängel in einem der bedeutendsten Argumente für die Existenz Gottes liegen (siehe „Der ontologische Gottesbeweis“; Seite 160)
2. Die Wahrung der Gesetze der Logik Nach dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten (einem Gesetz der klassischen Logik) gilt: wenn „A ist B“ falsch ist, dann muss „A ist nicht B“ wahr sein. Folglich gilt: Wenn die Aussage „Der König von Frankreich hat eine Glatze“ falsch ist (was im 21. Jahrhundert durchaus so zu sein scheint), dann muss „Der König von Frankreich hat keine Glatze“ wahr sein. Aber auch das erscheint falsch. Wenn sowohl eine Aussage als auch die Verneinung derselben falsch sind, dann scheint die Logik auf fatale Weise unterminiert zu werden.
Russells Lösung Nach Russell ist die Lösung simpel: Man müsse nur aufhören, die verwendeten definiten Kennzeichnungen zu behandeln, als seien sie verkleidete, bezugnehmende Satzglieder – ein trügerischer Schein: Die oben genannten Beispielsätze haben zwar die grammatikalische Form von Subjekt-Prädikat-Sätzen, aber nicht deren logische Struktur; doch eben diese logische Struktur sollte bestimmen, ob ein Satz wahr oder falsch ist und jegliche Folgerung untermauern, die wir daraus ziehen mögen. Russell plädiert dafür, dieses referenzielle Subjekt-Objekt Schema aufzugeben und schlägt stattdessen vor, dass Sätze, die definite Kennzeichnungen beinhalten, als „existenziell quantifizierte“ Sätze behandelt werden sollen. Beispiel: Ein Satz hat die allgemeine Form „F ist G“. Er kann demgemäß in drei einzelne Behauptungen zerlegt werden: „Es gibt ein F“; „Es gibt genau ein Ding, das F ist“; „Ist irgendetwas ein F, dann ist es G“. Mit dieser Art der Analyse löst Russell kurzerhand all die Rätsel, die sich um die gekrönten Häupter Europas ranken:
„Der König von Frankreich hat eine Glatze“
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Würden wir all die Dinge aufzählen, die kahlköpfig sind, und dann die Dinge, die nicht kahlköpfig sind, dann dürfte der gegenwärtige König von Frankreich weder in der einen noch in der anderen Aufzählung vorkommen. Hegelianer, welche die Synthese lieben, würden daraus vermutlich schließen, dass er eine Perücke trägt. Bertrand Russell, 1905
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1. „Scott ist der Autor von Waverley“ wird nach der Russell’schen Analyse zerlegt in: „Es gibt eine Entität, nur eine einzige Entität, die der Autor von Waverley ist, und diese Entität ist Scott.“ Es ist ganz eindeutig eine Sache für George IV sich zu fragen, ob das wahr ist, eine ganz andere Sache hingegen, sich über die nichtssagende Identitätsaussage zu wundern, die durch das bezugnehmende Modell impliziert wird. 2. „Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze“ wird nach der Russell’schen Analyse zerlegt in: „Es gibt eine Entität, die allein derzeit der König von Frankreich ist, und diese Entität hat eine Glatze“ – und dieser Satz ist falsch. Die Verneinung dessen ist nicht, dass der König von Frankreich nicht glatzköpfig ist (was ebenso falsch ist), sondern: „Es gibt keine solche Entität, die allein derzeit der König von Frankreich ist, und diese Entität hat eine Glatze“. Diese Aussage ist wahr und damit das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten gewahrt.
Worum es Logik geht Sprache und
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Logik und Bedeutung
32 Der Käfer in der Schachtel „Angenommen, es hätte jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir „Käfer“ nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Anderen schauen, und jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, dass jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, dass sich ein solches Ding fortwährend verändert. – Aber wenn nun das Wort „Käfer“ im Sprachgebrauch dieser Leute doch etwas bedeutete? – So würde er nicht als Bezeichnung eines Dings gebraucht. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel, auch nicht einmal als ein Etwas, denn die Schachtel könnte auch leer sein. … Es hebt sich weg, was immer es ist.“ Was meinen Sie, wenn Sie „Schmerz“ sagen? Ist doch klar, mögen Sie denken: Sie beziehen sich damit auf ein bestimmtes Gefühl, auf eines unter vielen in Ihrer subjektiven Erfahrung. Doch der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein behauptet, dass Sie genau das nicht tun – nicht tun können. Warum? Das versucht er anhand der Analogie vom „Käfer in der Schachtel“ zu erklären. Stellen Sie sich Ihre innere Erfahrung als Schachtel vor; was immer darin ist, Sie nennen es „Käfer“. Jeder hat so eine Schachtel, aber jeder kann nur immer in seine eigene hineinsehen, nie in die des Anderen. Jeder gebraucht das Wort „Käfer“, wenn er über den Inhalt in seiner Schachtel spricht. Doch es ist durchaus möglich, dass die verschiedenen Schachteln verschiedene Dinge enthalten oder auch gar nichts. Mit dem Wort „Käfer“ bezeichnet jeder nur das, „was immer es ist in seiner Schachtel“. Der tatsächliche Inhalt wird damit unwichtig und hat nichts zu tun mit der Bedeutung des Wortes; der Käfer selbst, was immer er sein mag, „hebt sich (aus der Betrachtung) weg“. Wenn wir darüber sprechen, was in unserem Inneren vorgeht, benutzen wir die Sprache, die wir durch öffentlichen Austausch erlernt haben und die einem
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ca. 375 v. Chr.
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Was ist Kunst?
Argumentformen
Der Käfer in der Schachtel öffentlichen Regelsystem folgt. Die inneren, privaten Empfindungen, die sich der Überprüfung durch andere Menschen entziehen, können keine Rolle in diesen wesentlich öffentlichen Aktivitäten spielen. Was immer diese Empfindungen sind, sie haben nichts zu tun mit dem Sinn von Wörtern wie „Schmerz“.
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Sieh den Satz als Instrument an, und seinen Sinn als seine Verwendung. Ludwig Wittgenstein, 1953
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Das Privatsprachenargument Die Analogie vom „Käfer in der Schachtel“ wurde von Wittgenstein eingeführt, um eines der einflussreichsten philosophischen Argumente des 20. Jahrhunderts zu beschließen, das sogenannte Privatsprachenargument. Vor Wittgenstein war die allgemein verbreitete (auf dem gesunden Menschenverstand beruhende) Ansicht die, dass jedes Wort seine Bedeutung erhält, indem es ein Ding der Welt repräsentiert. Das heißt, Wörter sind „denotativ“, sie sind Namen oder Bezeichnungen, die Dinge benennen, indem sie diesen quasi angeheftet werden. Wörter für Empfindungen wie Schmerz, so die Theorie, lernen wir in einer Art Innenschau, in der wir ein bestimmtes mentales Ereignis oder Erlebnis mit einem bestimmten Wort identifizieren und verknüpfen. Für Philosophen wie Descartes und Locke, die dem „Weg der Ideen“ folgten (siehe Seite 12), demzufolge alle unsere Wahrnehmungen der wirklichen Welt durch innere Bilder oder „Ideen“ repräsentiert werden, muss letztlich die Bedeutung aller Sprache auf einem inneren Prozess beruhen, bei dem jedes Wort einem mentalen Objekt angepasst wird. Auf diese Weise aber, und das ist der springende Punkt in Wittgensteins Privatsprachenargument, können die Wörter niemals ihre Bedeutung erlangen. Stellen Sie sich vor (und Wittgenstein lädt uns dazu ein), Sie beschließen, jedes Auftreten einer bestimmten Empfindung in einem Tagebuch festzuhalten, indem Sie den Buchstaben E aufschreiben, wobei E ein rein privates Zeichen darstellt und soviel bedeutet wie „meine augenblickliche Empfindung“. Wie aber können Sie fortan erkennen, ob Sie das Zeichen im richtigen Sinne gebraucht haben? Schon beim ersten Gebrauch war die Bezeichnung alleine deshalb richtig, weil Sie bestimmt haben, dass sich dieses Zeichen auf diese private Empfindung beziehen soll, und für alle danach folgenden Empfindungen wird es ebenfalls richtig, sobald Sie sich wieder für seinen Gebrauch entscheiden. Anders ausgedrückt: Sie können entscheiden, wie Sie möchten. Wenn Ihnen das Zeichen richtig erscheint, dann ist es richtig; doch „das heißt nur, dass wir hier nicht von ‚richtig’ sprechen können“. Es gibt kein unabhängiges „Kriterium für die Richtigkeit“, schließt Wittgenstein. Es gibt nichts
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Der Schleier der Wahrnehmung
„Der König von Frankreich hat eine Glatze“
Der Käfer in der Schachtel
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Logik und Bedeutung
Der Fliege aus der Flasche helfen Wittgensteins Privatsprachenargument fand bis weit über die Sprachphilosophie hinaus ein Echo. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die Sprache im Zentrum vieler philosophischer Werke, da man weithin annahm, dass Sprache die Grenzen des Wissens umschreibt. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – wie es der junge Wittgenstein einmal formuliert hat. Diese neue und wichtige Veränderung im Verständnis der Sprache gab der Philosophie insgesamt einen gewaltigen Ruck. Eine ebenso große Stoßwirkung aber hatte Wittgensteins Werk auch auf Stil und Vorgehensweise der Philosophie. Wittgenstein ahnte, dass viele Dinge der modernen Philosophie falsch aufgefasst wurden, was auf einem fundamentalen Missverständnis der Sprache basierte –
auf fehlerhaftem Denken, wie es das Privatsprachenargument aufgedeckt hat. Philosophen, so dachte er, messen bestimmten Ausdrucksformen zu viel Bedeutung bei und vergessen darüber den Gebrauch von Sprache im realen sozialen Wechselspiel. Sie gewöhnen sich daran, zu abstrahieren und zu verallgemeinern, um erkannte Probleme zu isolieren, die sie dann zu lösen versuchen; doch im Grunde schaffen sie sich die Probleme selbst, nur weil „die Sprache Urlaub macht“. Und so ist Wittgenstein berühmt für seinen Rat, nach „Therapien“ (durch Philosophie) zu suchen, nicht nach Theorie. Philosophen, so sagt er bildhaft, seien wie Fliegen in einem Fliegenglas; und seine Aufgabe sah er darin, „der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen“.
außerhalb der eigenen privaten, subjektiven Erfahrung, das als Standard für die Richtigkeit des Gebrauchs eines Wortes dienen könnte; ein bisschen so, als riefe jemand laut und beharrlich „Ich weiß aber, wie groß ich bin!“ – und legte sich zum Beweis die Hand auf den Kopf. Da es keinen Weg jenseits von Willkür gibt zu sagen, ob ein Privatzeichen, welcher Art auch immer, in richtiger Weise gebraucht worden ist oder nicht, kann ein solches Zeichen auch keine Bedeutung haben. Und eine Sprache, die aus solchen Zeichen besteht (eine „Privatsprache“), würde selbst für ihren eigenen Sprecher sinnlos und unverständlich sein.
Bedeutung durch Gebrauch Wörter erlangen ihre Bedeutung also nicht auf dem Wege eines „inneren mentalen Prozesses“ (und können dies auch nicht). Wie aber gelangen sie dann überhaupt zu einer Bedeutung? Nachdem er die Unmöglichkeit einer Privatsprache demonstriert hat, beharrt Wittgenstein auf der Notwendigkeit einer öffentlichen Sprache und darauf, dass Wörter nur „im Strom des Lebens“
Der Käfer in der Schachtel eine Bedeutung haben. Die Bedeutung eines Wortes, so sagt er, sei bei weitem kein verborgener mysteriöser Prozess in unserem Innern, sondern liege an der Oberfläche, in seinem Gebrauch in der Sprache. Der Fehler liegt darin zu meinen, dass wir Gebrauch und Zweckbestimmtheit der Sprache erkennen müssten, um dann tiefer vorzudringen und ihre Bedeutung zu ergründen. Die Bedeutung ist etwas, das zwischen den Sprachteilnehmern bekannt und eingeführt ist: Eine Übereinkunft über die BedeuWenn ein Löwe sprechen tung eines Wortes ist im Grunde eine Übereinkunft über dessen Gebrauch. Sprache ist öffentlich, nahtlos könnte, wir könnten ihn nicht verstehen. verwoben mit dem Stoff unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens; eine Sprache zu teilen heißt, eine Ludwig Wittgenstein, 1953 gemeinsame Kultur zu teilen, gemeinsame Glaubensvorstellungen und Annahmen sowie eine gemeinsame Weltanschauung. Um seine Idee von der „Bedeutung eines Wortes als sein Gebrauch in der Sprache“ genauer darzulegen, führt Wittgenstein den Begriff des „Sprachspiels“ ein. Die Beherrschung einer Sprache besteht in der Fähigkeit, Wörter und sprachliche Äußerungen in verschiedenen Kontexten gekonnt und sinnreich zu gebrauchen – in einem eng definierten Fach- und Berufsbereich ebenso wie auf dem weiten sozialen Gebiet. Jeder dieser Kontexte, ob breit oder eng, legt ein anderes Sprachspiel fest, bei dem bestimmte sprachliche Regeln zum Zuge kommen. Diese Regeln sind nicht richtig oder falsch, sondern können innerhalb einer bestimmten Verwendungssituation mehr oder weniger passend (richtig) sein.
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Wissenschaft
33 Wissenschaft und Pseudowissenschaft Fossilien sind die Überreste oder Spuren von Lebewesen aus der Vergangenheit, die nach ihrem Tod versteinerten und im Gestein erhalten blieben. Bis heute sind Zehntausende von unterschiedlichen Fossilien gefunden worden … 1 …von primitiven Bakterien, die vor 3,5 Milliarden Jahren gelebt haben, bis zu Frühmenschen, die erstmals vor etwa 200 000 Jahren in Afrika aufgetaucht sind. Fossilien und ihre Lage innerhalb aufeinanderfolgender Gesteinsschichten sind eine wahre Schatztruhe voller Information zur Entwicklung des Lebens auf der Erde, und sie zeigen, wie spätere Formen sich aus früheren entwickelt haben. 2 …von einfachen Bakterien bis zu frühen Menschen. All diese ausgestorbenen Lebewesen wurden zusammen mit all den Lebewesen, die heute leben, vor etwa 6 000 Jahren innerhalb eines Zeitraums von sechs Tagen von Gott geschaffen. Die meisten der fossilierten Tiere starben in einer verheerenden weltweiten Flut, die etwa 1 000 Jahre später auftrat. Zwei absolut gegensätzliche Sichtweisen darüber, wie Fossilien entstanden sind und was sie uns erzählen. Erstere ist eine recht gängige Ansicht, wie sie uns etwa Geologen oder Paläontologen präsentieren mögen, die der Mehrheitsmeinung folgen. Letztere Sichtweise könnte von New-Earth-Kreationisten stammen, nach denen der biblische Bericht über die Erschaffung der Welt, wie ihn uns das Buch Genesis übermittelt, wortwörtlich wahr ist. Keine der beiden Seiten kann sich mit der Sichtweise der jeweils anderen Seite anfreunden: Der Kreationist glaubt, der orthodoxe Wissenschaftler irre sich in entscheidenden Punkten radikal, zuallererst, wenn er die Evolutionstheorie der natürlichen Selektion akzeptiere. Der orthodoxe Wissenschaftler sieht den Kreationisten als religiösen Eiferer, womöglich mit politischen
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Argumentformen
Ockhams Rasiermesser
Wissenschaft und Pseudowissenschaft
Wenn du in einem Loch sitzt… Die genaue zeitliche Abfolge der Evolution verlangt, dass es nie irgendwelche geologischen „Umkehrungen“ geben darf (Fossilien, die in den falschen Gesteinsschichten auftauchen). Dies ist eine ganz und gar überprüfbare und gegebenenfalls widerlegbare Hypothese: Wir brauchen nur ein einziges Dinosaurierfossil in derselben Gesteinsschicht zu finden wie ein menschliches Fossil oder Artefakt, und die Evolution ist erledigt. Tatsächlich fand man unter den Millionen ausgegrabenen Fossilien keine einzige solcher „Umkehrungen“: Eine starke Bestätigung der Theorie. Für den Kreationisten ist eben diese Be-
weislage sehr unangenehm. Unter den vielen verzweifelten Versuchen, die Beweise „weg“ zu erklären, ist ein Vorschlag die „Hydraulische Sortierung“, bei der die jeweilige Dichte, Form und Größe der Körper angeblich zu unterschiedlichen Sinkgeschwindigkeiten führten und so unterschiedliche Tiere in verschiedene Schichten sortierten. Eine andere Idee ist, dass schlauere Tiere eher in der Lage waren, auf höheres Gelände zu entkommen und auf diese Weise dem Ertrinken länger entgehen konnten. Wenn du in einem geologischen Loch sitzt …
Motiven, und ganz sicher auf dem Holzweg, wenn dieser meint, er betreibe ernstzunehmende Wissenschaft. Denn der Kreationismus ist nach Ansicht der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung völliger Unsinn, der im Gewand der Wissenschaft – oder „Pseudowissenschaft“ – daherkommt.
Wissenschaft ist wichtig Was genau ist Wissenschaft? Offensichtlich benötigen wir auf diese Frage eine Antwort, wenn wir Blender und echte Wissenschaftler auseinanderhalten wollen. Auf jeden Fall ist die Frage wichtig – die Wissenschaft hält den eigenen Anspruch so hoch, dass er kaum noch übersteigert werden kann. Das Leben der Menschen hat im Laufe weniger hundert Jahre nie geahnte Veränderungen erfahren: Verheerende Krankheiten wurden ausgemerzt; Reisen, die einst Wochen gedauert hätten, schaffen wir heute in Stunden; Menschen sind auf dem Mond gelandet; die subatomare Struktur der Materie wurde entschlüsselt. Diese sowie eine Myriade weiterer erstaunlicher Errungenschaften verdanken wir der Wissenschaft. Die verändernde Macht der Wissenschaft ist so groß, dass allein schon der Anspruch, etwas sei „wissenschaftlich“, oft dazu dienen soll, kritische Analysen
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Glaube und Vernunft
Wissenschaft und Pseudowissenschaft
Paradigmenwechsel
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Wissenschaft oder Einschätzungen von vornherein abzuwenden. Doch nicht alle Entwicklungen der etablierten Wissenschaften stehen über aller Kritik, und einige Behauptungen aus den wissenschaftlichen Randgebieten (oder aus der Pseudowissenschaft jenseits dieser Randgebiete) können trügerisch sein, nur eigenen Zwecken dienlich oder schlicht gefährlich sein. Es ist also von größter Bedeutung, wahre Wissenschaft als solche erkennen zu können.
Die hypothetische Methode Die „wissenschaftliche Methode“ ist hypothetisch – so die übliche Auffassung. Sie geht aus von Daten, die durch Beobachtung oder anderweitig gewonnen wurden, und begibt sich dann auf das Feld der Theorie im Versuch, Hypothesen zu erstellen, welche die fraglichen Daten erklären können. Eine erfolgreiche Hypothese hält weiteren Überprüfungen stand und ermöglicht Vorhersagen, zu denen man anderweitig nicht gekommen wäre. Der Weg führt dabei von der empirischen Beobachtung zur Verallgemeinerung, und wenn diese gut ist und weitere Untersuchungen übersteht, mag sie letztlich als universelles „Naturgesetz“ anerkannt werden, von dem erwartet wird, es werde sich unter gleichen Umständen jedes Mal als gültig erweisen, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Eine Schwierigkeit für diese Sicht von Wissenschaft stellt das sogenannte „Induktionsproblem“ dar, wie David Hume vor über 250 Jahren erkannt hat (Seite 111).
Widerlegung (Falsifizierung) Eine bedeutende Antwort auf das Induktionsproblem gab der in Österreich geborene Philosoph Karl Popper. Kurz gesagt akzeptierte er, dass das Problem nicht zu lösen sei, und beschloss vielmehr, es zu umgehen. Er schlug vor, keine Theorie solle je als bewiesen angesehen werden, egal wie sehr die Beweise sie stützten; vielmehr akzeptieren wir eine Theorie so lange, bis sie widerlegt ist. Wenn also eine Millionundeine Beobachtungen von weißen Schafen die allgemeine Hypothese nicht belegen können, dass alle Schafe weiß seien, reicht die Beobachtung eines einzigen schwarzen Schafes aus, um sie zu widerlegen.
Falsifizierbarkeit (Widerlegbarkeit) war in Poppers Augen das Kriterium zur Unterscheidung wahrer Wissenschaft von Blendern. Eine „gehaltvolle“ wissenschaftliche Theorie geht Risiken ein, macht mutige Voraussagen, die überprüft werden können, und von denen man gegebenenfalls zeigen kann, dass sie falsch sind. Eine Pseudowissenschaft dagegen bleibt auf der sicheren Seite und belässt die Dinge vage in der Hoffnung, einer Bloßstellung zu entgehen. Der sogenannte Falsifikationismus hat auch heute noch Einfluss, obgleich viele nicht akzeptieren mögen, dass er die Induktion aus der wissenschaftlichen Methodologie ausschließt.
Wissenschaft und Pseudowissenschaft Die Unterbestimmtheit beweisgestützter Theorien Im Wesentlichen kann man auf anderem Weg dasselbe beschreiben, wenn man konstatiert, eine wissenschaftliche Theorie sei durch die zur Verfügung stehenden Belege immer „unzureichend bestimmt“: Die Beweise allein reichen nie aus, um eine Theorie einer anderen abschließend vorzuziehen. In der Tat können wir immer eine beliebige Zahl alternativer Theorien aufstellen, um eine gegebene Datenlage zu erklären oder sie dieser „anzupassen“. Dann fragt man sich allerdings, ob nicht die verschiedenen Bedingungen und Zusatzannahmen, die man benötigt, um eine solche Theorie „wasserdicht“ zu machen, mehr sind als die Theorie aushält. Ein solcher Prozess der Anpassung und Justierung ist ein wichtiger Bestandteil wissenschaftlicher Methodologie. Wenn aber das Gewicht der Beweise, die einer Theorie entgegenstehen, zu groß wird, mag es (rational) keine andere Wahl mehr geben, als diese Theorie zu verwerfen. Das Problem für den Kreationismus liegt in einer wahren Flut an Beweisen, die ihm entgegenschwappt. Zwei Beispiele nur: • Radiometrische und andere Datierungsmethoden, welche die Geologie, Anthropologie und Planetenwissenschaft unterfüttern, müssen komplett außen vor bleiben, um einer New-Earth-Chronologie gerecht werden zu können. • Die geschichtete Anordnung der Fossilien innerhalb des Gesteins und das eindrucksvolle Fehlen von Umkehrungen (die falschen Fossilien tauchen am falschen Ort auf) – allesamt überwältigende Beweise für die Evolution – verlangen dem Kreationisten außergewöhnliche Verrenkungen ab. Der Kreationismus erzeugt zudem einen ganzen Berg eigener Probleme. Beispielsweise bräuchte man für eine weltweite Flut eine sehr große Wasserquelle, und bis jetzt war kein Vorschlag hierzu auch nur annähernd plausibel (Einschlag eines Eismeteors, Dampfschicht über der Atmosphäre, unterirdischer Speicher usw.). Dem Kreationismus wird oft entgegengehalten, er riskiere nichts – er postuliere nicht die für echte Wissenschaft typischen, mutigen und überprüfbaren bzw. widerlegbaren Annahmen. Vielleicht wäre es fairer zu sagen, dass der Kreationismus eine Anzahl von phantastisch riskanten Behauptungen aufstellt, die durch keinerlei Belege gestützt werden.
Worum es Hypothesen geht Beweise widerlegen
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Wissenschaft
34 Paradigmenwechsel „Wenn ich weiter gesehen habe als andere, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.“ Dieser berühmte Satz, den Isaac Newton an seinen Forscherkollegen Robert Hooke schrieb, umfasst sehr schön eine damals weit verbreitete Sicht des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Weiterentwicklung der Wissenschaft, so die Annahme, sei ein kumulativer Prozess, in welchem jede Wissenschaftsgeneration auf den Entdeckungen ihrer Vorgänger aufbaut: ein gemeinschaftlicher Marsch – stufenweise, methodisch, unaufhaltbar – hin zu einem größeren Verständnis der Naturgesetze, die das Universum regieren. Ein gängiges und ansprechendes Bild vielleicht, das jedoch nach Ansicht des amerikanischen Philosophen und Historikers Thomas S. Kuhn in die Irre führt. In seinem überaus einflussreichen Werk von 1962 Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen beschreibt Kuhn eine weitaus holprigere und sprunghaftere wissenschaftliche Entwicklung, eine Wissenschaftsgeschichte geprägt von einem schubweisen, unbeständigen Fortschritt, der immer wieder unterbrochen war von revolutionären Krisen, die als Paradigmenwechsel bezeichnet werden.
Normale und revolutionäre Wissenschaft In einer Phase der sogenannten „Normalwissenschaft“, so Kuhn, operiert eine Gemeinschaft gleichgesinnter Wissenschaftler innerhalb eines bestimmten „Paradigmas“, eines konzeptuellen Rahmens oder Weltbildes. Ein Paradigma ist eine umfangreiche und flexibel definierte Sammlung gemeinsam getragener Ideen und Annahmen. Dazu gehören verbreitete Methoden und Praktiken, implizite Leitlinien für brauchbare Forschungsthemen und Experimente, erprobte Techniken und anerkannte Standards der Beweisführung, weithin unumstrittene Interpretationen, die von einer Generation an
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Ockhams Rasiermesser
Wissenschaft und Pseudowissenschaft
Paradigmenwechsel
Wissenschaftliche Wahrheit und wissenschaftlicher Relativismus Ein zentraler Gesichtspunkt in Kuhns Bild des wissenschaftlichen Wandels ist, dass dieser kulturell eingebettet ist in eine Unzahl historischer und anderer Faktoren. Obgleich Kuhn daran gelegen war, sich selbst von einer relativistischen Lesart seiner Arbeit zu distanzieren, wirft eine solche Sicht der Wissenschaftsentwicklung doch Zweifel auf an der ganzen Vorstellung von wissenschaftlicher Wahrheit und der Idee, das Ziel von Wissenschaft sei, auf objektive Weise wahre Fakten über die Natur der Welt zu entdecken. Denn was für einen Sinn ergibt es, von objektiver Wahrheit zu sprechen, wenn jede wissenschaftliche Gemeinschaft ihre eigenen Ziele und Normen von Beleg und Beweis festlegt; wenn sie
alles durch ein Netz bereits bestehender Annahmen und Überzeugungen filtert; wenn sie ihre eigenen Entscheidungen darüber trifft, welche Fragen sie erörtern und was sie als gute Antwort gelten lassen will? Nach gängiger Ansicht hängt die Wahrheit einer wissenschaftlichen Theorie davon ab, wie gut sie sich bei neutraler und objektiver Beobachtung der Welt bewährt. Doch wie Kuhn und andere gezeigt haben, gibt es keine „neutralen Fakten“. Es gibt keine klare Linie zwischen Theorie und empirischen Daten. Jedwede Beobachtung ist „theoriebefrachtet“ – überwuchert von einer dicken Schicht bestehender Überzeugungen und Theorien.
die nächste weitergegeben werden und so fort. Wissenschaftler, die im Rahmen eines Paradigmas arbeiten, sind nicht sonderlich interessiert daran, sich in unbekannte Gefilde vorzuwagen oder neue Wege zu gehen. Sie befassen sich überwiegend mit Rätseln, die sich in ihrem konzeptuellen Rahmen ergeben, bügeln Anomalien aus, wo immer sie auftauchen, dehnen die Grenzen ihres Wissensgebietes schrittweise aus und sichern sie. Eine Phase der Normalwissenschaft kann sich viele Generationen lang fortsetzen, sich gar über etliche Jahrhunderte erstrecken, doch letztlich erzeugen die Bemühungen der Wissenschaftler innerhalb einer Forschungsgemeinschaft eine Masse an Problemen und Anomalien, die ein bestehendes Paradigma langsam aber sicher zu unterhöhlen und in Frage zu stellen beginnen. Dies löst schließlich eine Krise aus, die einige anspornt, über den bestehenden Rahmen hinauszublicken und mit dem Entwurf eines neuen Paradigmas zu beginnen, welches einen Wechsel oder eine Abwanderung von Wissenschaftlern aus dem alten in ein neues Paradigma nach sich zieht – auch dies kann Jahre oder Jahrzehnte dauern. Kuhns Lieblingsbeispiel für
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Paradigmenwechsel überall Der Begriff „Paradigmenwechsel“ ist insofern ungewöhnlich unter den technischen oder akademischen Fachbegriffen, als er leicht und mühelos seinen Weg ins allgemeine Bewusstsein gefunden hat. Die Vorstellung eines radikalen Wandels der Art und Weise, wie Menschen denken und die Dinge betrachten, ist so suggestiv, bringt derart mühelos andere Saiten zum Schwingen, dass der Terminus Eingang fand in die unterschiedlichsten Zusammenhänge. So etwa markiert die
Erfindung des Schießpulvers einen Paradigmenwechsel in der Militärtechnologie; Penicillin in der Medizin; Düsentriebwerke in der Luftfahrt; Mobiltelefone in der Gesellschaft; Graphit-Schläger im Tennis, und so fort. Der Begriff findet sich heute sogar als Standardausdruck in Marketing-Handbüchern. Ironischerweise stellt Kuhns Werk selbst einen Paradigmenwechsel dar, und zwar im Hinblick auf die philosophische Betrachtung des wissenschaftlichen Fortschritts.
einen solchen Wechsel war der traumatische Übergang vom Ptolemäischen Weltbild mit der Erde als Mittelpunkt hin zum heliozentrischen Weltbild des Kopernikus. Ein anderer richtungsweisender Paradigmenwechsel war die Ersetzung der Newton’schen Mechanik durch die Quantenphysik und die relativistische Mechanik im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Das übertriebene Bild, das Kuhn von wissenschaftlichen Unterbrechungen und Verschiebungen zeichnete, führte dazu, dass es als historische These umstritten blieb, sich nichtsdestotrotz unter Wissenschaftsphilosophen als sehr Kelvins Übermut einflussreich erwiesen hat. Besonders interessant Von ihrer Natur her eignen sich Paradigwar die Behauptung, unterschiedliche Paradigmen menwechsel dazu, Leute auf dem falseien gar nicht miteinander vergleichbar – grundschen Fuß zu erwischen. Im Jahr 1900 legende Unterschiede in der ihnen zugrunde liegenerklärte der britische Physiker Lord Kelden Logik bedeuten, dass Ergebnisse, die in einem vin in einem sonderbaren Moment der Paradigma erzielt wurden, tatsächlich unvereinbar Hybris: „In der Physik gibt es nun nichts sind mit einem anderen Paradigma (oder innerhalb neues mehr zu entdecken. Was bleibt, davon nicht überprüfbar). Während wir beispielsist genaueres und immer genaueres weise ja erwarten würden, dass die „Atome“ des Messen.“ Nur wenige Jahre später hatgriechischen Philosophen Demokrit nicht verten Einsteins spezielle und allgemeine glichen werden können mit jenen, die Ernest Relativitätstheorie und die QuantentheoRutherford gespalten hat, so besagt die Nicht-Verrie ganz und gar den Thron erobert, den gleichbarkeit, dass Ernest Rutherfords Atome wiedie Newton’sche Mechanik über zwei derum verschieden sind von jenen, die die moderne Jahrhunderte lang innegehabt hatte. Quantenmechanik beschreibt. Diese logische Diskontinuität innerhalb der großartigen Architektur
Paradigmenwechsel
Die Uneinigkeit in der Wissenschaft Lange nahm man an, Wissenschaft sei ein weitgehend einheitliches Bestreben. Es schien plausibel, von einer „wissenschaftlichen Methode“ zu sprechen – einem einzigen, wohldefinierten Set von Vorgehensweisen und Methoden, die grundsätzlich in vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Anwendung finden konnten. Es schien plausibel, über die Aussicht einer großen Vereinigung der Wissenschaften zu spekulieren, in der alle Gesetze und Prinzipien irgendwie zu einer alles umfassenden, erschöpfenden und in sich konsistenten Struktur zusammenkommen
würden. Den Schlüssel zu einem solchen Zusammenkommen sehen viele in einer reduktionistischen Beschreibung der Wissenschaften nach der Vorstellung, alles könne letztlich physikalisch erklärt werden. Neuere Arbeiten hingegen bewirken eine weit größere Würdigung der kulturellen und sozialen Einbettung der Wissenschaften und heben die grundlegende Uneinigkeit in den Wissenschaften hervor. Und damit kam die Erkenntnis, dass die Suche nach einer einzigen wissenschaftlichen Methode wohl eine Schimäre ist.
der Wissenschaft lief der Sichtweise, wie sie vor Kuhn vorgeherrscht hatte, geradewegs entgegen. Lange Zeit ging man davon aus, dass das Gebäude der wissenschaftlichen Kenntnis fortlaufend und rational auf den Fundamenten aufgebaut war, die frühere Wissenschaftlergenerationen gelegt hatten. Und nun hatte Kuhn diese Vorstellung von einer gemeinschaftlichen Entwicklung hin zu einer einzigen wissenschaftlichen Wahrheit mit einem Schlag beiseite gefegt und eine Landschaft geschaffen, die durchsetzt war von mannigfaltigen, bereichsspezifischen und oft widerstreitenden wissenschaftlichen Zielen und Methoden.
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Ich bezweifle beispielsweise nicht, dass Newtons Mechanik eine Verbesserung darstellt gegenüber der von Aristoteles und die von Einstein wiederum eine Verbesserung gegenüber der von Newton. Doch ich kann in ihrer Abfolge keine kohärente Richtung einer ontologischen Entwicklung erkennen. Thomas Kuhn, 1962
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Worum es geht Wissenschaft – Evolution und Revolution
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35 Ockhams Rasiermesser Kornkreise sind geometrische Figuren, entstanden aus niedergewalztem Getreide wie Weizen, Gerste, Roggen und dergleichen. Formen und Anordnungen dieser Kreise, die oft weit ausgedehnt und äußerst komplex sind, fand man seit den 1970er Jahren überall auf der Welt in zunehmender Zahl. Auch die Medien berichteten ausführlich darüber, was erste Spekulationen über ihre Entstehung entfachte. Hier zwei der beliebtesten Theorien: 1. Die Kreise kennzeichnen die Landeplätze von außerirdischen Raumschiffen, von UFOs, welche markante Muster auf dem Boden hinterlassen haben. 2. Die Kreise stammen von Menschen, die sich einen Schabernack erlauben und des Nachts mit Seilen und anderen Werkzeugen losziehen, um die geometrischen Gebilde zu schaffen und damit Medieninteresse und Spekulationen anzuheizen. „Ockhams Rasiermesser“ ist benannt nach Wilhelm von Ockham (William of Occam), einem englischen Philosophen aus dem 14. Jahrhundert. Der „Rasierer“ ist als Metapher zu verstehen, der in einer Theorie alle unnötigen Annahmen wegrasiert.
Zeitleiste
Beide Erklärungen scheinen der vorhandenen Beweislage gerecht zu werden. Wie also entscheiden wir, welcher der beiden oder der vielen anderen zur Verfügung stehenden Theorien wir glauben wollen? Können wir in Ermangelung weiterer Informationen überhaupt eine rationale Wahl für eine Theorie aus vielen konkurrierenden treffen? Nach dem Prinzip, das als Ockhams Rasiermesser bekannt ist, können wir dies in der Tat: Wo zwei oder mehr Hypothesen zur Erklärung desselben Sachverhalts geboten sind, ist die einfachste zu bevorzugen – diejenige, die die wenigsten unbe-
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Argumentformen
Ockhams Rasiermesser
Ockhams Rasiermesser
Pferde, nicht Zebras Ärzte, insbesondere junge, sind schnell versucht, ein seltenes und exotisches Leiden zu diagnostizieren, wo eine banale „Erklärung“ viel naheliegender wäre. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, hören US-amerikanische Studenten bisweilen die warnenden Worte: „Wenn Sie Hufgeklapper hören, dann erwarten Sie nicht, ein Zebra zu sehen.“ Will heißen, fast immer ist die nahelie-
gendere Diagnose die richtige. Doch wie in ähnlichen Anwendungen von Ockhams Rasiermesser gilt auch hier: Die einfachere Erklärung ist nicht unbedingt immer die richtige. Und wenn einer der ärztlichen Zunft sich mit Pferden auskennt, dann ein Pferdearzt. Wer als Arzt in Afrika tätig ist, müsste diesen Aphorismus allerdings etwas ändern.
stätigten Annahmen macht. Zurück zu unseren Beispielen: Theorie 1 setzt die Existenz von UFOs voraus – eine Annahme, für die es keine klaren Belege gibt. Theorie 2 macht keine Annahmen über übernatürliche Aktivitäten; sie vermutet lediglich die Art von menschlichem Schabernackverhalten, das im Laufe der Geschichte immer mal wieder vorgekommen ist. Und so sind wir rational vollkommen berechtigt zu glauben – zumindest vorübergehend und dabei immer offen für neue Belege –, dass die Kornkreise das Werk menschlicher Scherzbolde sind. In der Tat trifft Ockhams Rasiermesser hier genau auf den Punkt. Mittlerweile wissen wir, dass Theorie 2 die richtige ist, da die beteiligten Scherzbolde es eingestanden haben. Doch schneidet das Rasiermesser immer so verlässlich wie hier?
Ambitionen und Grenzen Auch bekannt als das Sparsamkeitsprinzip ist Ockhams Rasiermesser im Kern eine Art Vorschrift, nicht unnötig nach einer komplizierten Erklärung zu suchen, wo eine einfache zu haben ist. Wo sich mehrere alternative Erklärungen anbieten, sollte man (sofern auch sonstige Aspekte gleich gut erscheinen) stets die einfachste vorziehen. Ockhams Rasiermesser wird gelegentlich kritisiert: Es leiste nicht, wozu es eigentlich gedacht ist. Doch empirische Theorien sind immer „unterbestimmt“ durch die Daten, auf denen sie fußen (siehe Seite 135), und somit bestehen immer mehrere mögliche Erklärungen für einen gegebenen Sachverhalt. Das Prinzip nimmt nicht für sich in Anspruch, dass eine einfachere Erklärung korrekt ist, sondern lediglich, dass diese mit größerer Wahrscheinlichkeit zutrifft und daher vorzuziehen ist, solan-
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Das Leib-SeeleProblem
Wissenschaft und Pseudowissenschaft
Der Geist der Anderen
Paradigmenwechsel
Das Gehirn im Tank
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Wissenschaft
Das KISS-Prinzip Ockhams Rasiermesser treibt seine Blüten auch im Bereich des Ingenieurwesens und anderen technischen Bereichen, wo es als das „KISS-Prinzip“ zutage tritt. Bei der Entwicklung von Computerprogrammen neigt man dazu, diese besonders komplex zu gestalten und mit einem verwirrenden Aufgebot an Schnickschnack aufzuwarten, der prompt von 95 Prozent der Endnutzer ignoriert wird. KISS, das Prinzip, das solche technischen Exzesse vermeiden soll, steht für „Keep It Simple, Stupid“ – „Halte es einfach, Dummerchen“.
ge, bis Grund besteht, eine ausgefeiltere Alternative zu wählen. Es handelt sich im Grunde um eine Faustregel oder um eine methodologische Vorschrift, die besonders wertvoll ist (sollte man annehmen), um in den frühen Phasen einer Untersuchung Orientierung zu bieten.
Das Rasiermesser in Aktion Ob-
wohl es im Allgemeinen nicht explizit anerkannt ist, zieht man Ockhams Rasiermesser in wissenschaftlichen und anderen rationalen Debatten immer wieder gerne heran. Viele dieser Debatten finden sich in diesem Buch. Das Problem vom „Gehirn im Tank“ (siehe Seite 4) eröffnet zwei konkurrierende Szenarien, die offenbar beide kompatibel sind mit den zur Verfügung stehenden Fakten: Wir sind wirkliche Menschen in einer wirklichen Welt, oder wir sind Gehirne im Tank. Ist es vernünftiger, ersteres eher zu glauben als letzteres? Ja, sagt Ockhams Rasiermesser, denn erstere Annahme ist viel einfacher: eine einzige wirkliche Welt, anstelle einer virtuellen Welt, die ein Tank erschaffen hat mitsamt der Apparaturen, den verrückten Wissenschaftlern usw. Doch hier wird das Problem wie so oft bloß verschoben, nicht gelöst: Denn wie können wir wissen, welches Szenario das einfachere ist? Wir könnten beispielsweise darauf beharren, dass es auf die Anzahl der physikalischen Objekte ankommt und insofern die virtuelle Welt einfacher ist als die wirkliche. Auch das Problem des Fremdpsychischen (siehe Seite 44), die Frage, wie wir wissen sollen, ob andere Menschen wirklich ein Bewusstsein haben, wird bisweilen in ähnlicher Weise wie mit einem Rasiermesser entfernt: Alle anderen Erklärungsarten sind möglich, aber es ist vernünftig zu glauben, dass andere Menschen genauso ein Bewusstsein haben wie wir selbst, denn indem wir ihnen ein bewusstes Denken zuschreiben, eröffnen wir uns die einfachste Erklärung ihres Verhaltens. Aber was hat denn nun als einfach zu gelten? Einmal mehr macht diese Frage unser Rasiermesser ganz schön stumpf. Ockhams Rasiermesser wird oft eingesetzt gegen eine Reihe dualistischer Ansätze mit dem Grund, dass es einfacher ist, nicht eine weitere Ebene der Realität, eine weitere Erklärungsebene usw. einzuführen. Unnötige Komplexität – die voneinander verschiedene mentale und physikalische Bereiche postuliert und dann darum kämpfen muss, diese irgendwie zu verbinden – bildet den Angriffspunkt mancher
Ockhams Rasiermesser
Buridans Esel Ockhams Rasiermesser vernünftig benutzt, sollte die rationale Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden Theorien eigentlich erleichtern. Das Gleichnis von „Buridans Esel“, das vermutlich zurückgeht auf Wilhelm von Ockhams Schüler Jean Buridan, illustriert die Unmöglichkeit einer logischen Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Lösungen: Ein Esel steht genau in der Mitte zwischen zwei völlig gleichen Heuhaufen und kann keinen vernünftigen Grund finden, sich für
einen der beiden Heuhaufen zu entscheiden. Und so verharrt er und verhungert. Der Fehler des Esels besteht darin anzunehmen, es gäbe keinen Grund, das eine statt des anderen zu machen. Er glaubt es sei irrational zu wählen und somit rational nichts zu tun. Tatsächlich ist es natürlich vernünftig, etwas zu tun, selbst wenn dieses Etwas nicht durch eine rationale Wahl bestimmt werden kann.
Kritik am Cartesischen Dualismus von Geist und Körper. Das Rasiermesser mag eine Ebene der Realität wegschneiden, aber woher sollen wir wissen, welche der Ebenen wir nun entfernen sollen. Die Physikalisten – diejenigen, die annehmen, letztlich sei alles (einschließlich wir Menschen) physikalisch erklärbar – bilden heute die große Mehrheit, doch es wird immer ein paar George Berkeleys geben, die den anderen, den idealistischen Weg gehen (siehe Seite 15).
Ein stumpfes Rasiermesser? Die Idee der Einfachheit kann man unterschiedlich interpretieren. Richtet sie sich gegen das Einführen ungerechtfertigter Entitäten oder ungerechtfertigter Hypothesen? Das sind nämlich zwei sehr unterschiedliche Dinge: die Zahl und Komplexität von Hypothesen auf ein Minimum beschränkt zu halten, wird gelegentlich als „Eleganz“ bezeichnet; die Zahl und Komplexität von Entitäten zu minimieren oft als „Sparsamkeit“. Und beides kann in entgegengesetzte Richtungen laufen: Eine andernfalls unbekannte Entität einzuführen, einen Planeten etwa oder ein subatomares Teilchen, könnte dem Abriss vieler theoretischer Hilfsgerüste stattgeben. Aber ist es überhaupt vernünftig zu erwarten, dass uns Ockhams Rasiermesser eine sichere Orientierung geben kann, wo es eine so grundlegende Unsicherheit über seine Bedeutung gibt?
Worum eseinfach! geht Immer schön
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Ästhetik
36 Was ist Kunst? „Ich bin ja einiges gewohnt von den Cockneys in London, habe schon viel heimische Frechheiten gesehen und gehört; doch nie hätte ich gedacht, dass irgend so ein Laffe die Frechheit besitzt, dem Publikum einen Topf Farbe ins Gesicht zu schleudern und dafür auch noch zweihundert Guineen zu verlangen.“ So formulierte der Kunstkritiker John Ruskin im Viktorianischen England seine Verachtung für das phantasmagorische Gemälde Nocturne in Black and Gold von James McNeill Whistler aus dem Jahre 1875. Whistler verklagte Ruskin daraufhin wegen Beleidigung, errang vordergründig zwar nur einen nominellen Sieg (als Entschädigung wurde ihm gerade mal ein Viertel-Penny zugesprochen), doch eigentlich bot ihm der Prozess weit mehr: eine Plattform, von der aus er das Recht der Künstler auf freien Ausdruck reklamieren konnte, und zwar ungehindert von Beschränkungen seitens der Kritiker, sowie einen Schlachtruf des Ästhetizismus kundtun konnte: „l‘art pour l‘art“ – „Kunst um der Kunst willen“. Ruskins völliges Unverständnis gegenüber Whistlers Werk ist nichts Ungewöhnliches. Jedes neue Zeitalter erlebt erbitterte Schlachten zwischen Künstlern und Kritikern, wobei letzteren, die nicht selten ein Spiegel des konservativen Publikumsgeschmacks sind, oft ein Schrei der Abscheu und Verachtung entfährt ob der Exzesse einer neuen und selbstbewussten Künstlergeneration. Auch in der heutigen Zeit erleben wir ein unentwegtes, kritisches Händeringen in Anbetracht neuester künstlerischer Gräueltaten: ein eingelegter Hai, eine uringetränkte Leinwand, ein ungemachtes Bett. Dieser Konflikt ist zeitlos und ohne Lösung, denn sein Motiv ist ein grundlegender Dissens über die sehr grundsätzliche Frage: Was ist Kunst?
Von der darstellenden zur abstrakten Kunst Die Vorstellungen von Ruskin und Whistler davon, welche Eigenschaften ein Kunstwerk ausmachen, haben fast nichts oder gar nichts gemeinsam. Philosophisch formuliert, sind sich die bei-
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Platons Höhle / Was ist Kunst?
Tugendethik
Was ist Kunst?
Das Auge des Betrachters Die zugleich grundlegendste und natürlichste Frage in der Ästhetik ist, ob Schönheit (oder irgendein anderer ästhetischer Wert) wirklich „in“ den Dingen oder den Dingen innewohnend ist, denen sie zugeschrieben wird. Realisten (oder Objektivisten) machen geltend, Schönheit sei eine wirkliche Eigenschaft, die ein Ding besitzen könne, und die Tatsache, dass es diese besitze, sei vollkommen unabhängig von irgendjemandes Überzeugungen über es oder Reaktionen auf es; Michaelangelos David wäre schön, auch wenn kein Mensch existierte, ihn als schön zu beurteilen – und selbst, wenn alle ihn hässlich fänden. Ein Anti-Realist (oder Subjektivist) glaubt, ein ästhetischer Wert sei notwendigerweise gebunden an die Urteile und Reaktionen der Menschen. Wie in der hierzu parallelen Frage, ob ein moralischer Wert objektiv oder subjektiv sei (siehe S. 52), könnte die schiere Seltsamkeit der Tatsa-
che, dass Schönheit „unabhängig vom menschlichen Betrachter dort draußen in der Welt“ existieren soll, uns zu einer anti-realistischen Sicht zwingen – dazu zu glauben, Schönheit liege in der Tat im Auge des Betrachters. Nun stützt unsere Intuition jedoch stark das Gefühl, etwas mehr sei schon dran an der Schönheit eines Dinges als die bloße Tatsache, dass wir es schön finden. Ein wenig Unterstützung bekommt diese intuitive Annahme von Kants Vorstellung einer universellen Gültigkeit: Ästhetische Urteile fußen wirklich gänzlich auf unseren subjektiven Reaktionen und Gefühlen; doch sind solche Reaktionen und Gefühle so eingebettet in die menschliche Natur, dass sie universelle Gültigkeit besitzen – wir können also vernünftigerweise annehmen, jedes ordentlich beschaffene menschliche Wesen werde sie teilen.
den gänzlich uneins über die Natur des ästhetischen Werts, dessen Analyse den Kern jener Philosophierichtung bildet, die als Ästhetik bekannt ist. Die Griechen vertraten die Ansicht, Kunst sei ein Spiegel oder eine Wiedergabe der Wirklichkeit. Für Platon lag die letzte Wirklichkeit in einem Reich vollkommener und unveränderlicher „Ideen“ oder „Formen“ – unauflösbar verbunden mit den Konzepten der Tugend und der Schönheit (siehe Seite 8). Er sah Kunstwerke als reine Reflexion oder schlechte Imitation dieser Konzepte an, als minderwertig und als ein unverlässlicher Pfad zur Wahrheit. Damit verstieß er Dichter und andere Künstler aus seiner „idealen Republik“. Aristoteles teilte diese Auffassung von Kunst als Wiedergabe, stand ihren Werken jedoch positiver gegenüber. Er sah sie als Vervollständigung dessen, was in der Natur nur teilweise verwirklicht war und gestand ihnen damit zu, Einsichten in das universale Wesen der Dinge zu eröffnen.
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Die Buh-Hurra-Theorie
Der intentionale Fehlschluss
Der Käfer in der Schachtel
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Ästhetik
Die institutionelle Theorie „Man fragte mich Dinge wie ‚Ist es Kunst?’ Und ich sagte: ‚Nun, wenn es keine Kunst ist…, was zum Teufel tut es dann in der Kunstgalerie und wieso kommen die Leute, um es sich anzuschauen?’“ In dieser Bemerkung des britischen Künstlers Tracey Emin hallt die in den 1970er Jahren viel diskutierte „institutionelle Theorie“ wider. Diese Theorie macht geltend, Kunstwerke als solche qualifizierten sich allein durch das Verdienst, diesen Titel von anerkannten Kennern aus der Welt der Kunst verliehen bekommen zu haben (von
Kritikern und Galerieführern oder den Künstlern selbst etc.). Obgleich einflussreich, ist die institutionelle Theorie doch mit etlichen Schwierigkeiten behaftet, nicht zuletzt mit der, höchst uninformativ zu sein. Wir möchten wissen, warum Kunstwerke als wertvoll erachtet werden. Kunstkenner müssen Gründe dafür haben, die Urteile zu treffen, die sie treffen. Haben sie diese nicht, was interessiert uns dann ihre Meinung? Und haben sie welche, wären wir weit besser informiert, wenn wir sie wüssten.
Die Auffassung von Kunst als Darstellung und ihre enge Verknüpfung mit der Schönheit hielten sich bis weit in die Moderne, bis sich eine Gruppe von Denkern des 20. Jahrhunderts dagegen auflehnte und einen „formalistischen“ Ansatz der Kunstbetrachtung vorschlug, bei dem Linienführung, Farbe und andere formale Eigenschaften im Vordergrund standen, und sämtliche anderen Überlegungen, einschließlich der Aspekte der Darstellung, in den Hintergrund traten oder außer Acht blieben. So erhob man die Form über den Inhalt und ebnete damit den Weg für den Abstraktionismus, der forthin in der westlichen Kunst eine größere Rolle spielte. In einer anderen einflussreichen Abwendung von der darstellenden Kunst wies der Expressionismus zugunsten von Übertreibung und Verzerrung alles zurück, was einer genauen Wiedergabe der äußeren Welt gleichkam. Die Künstler verwendeten gewagte unnatürliche Farben, um ihren inneren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Instinktiv und bewusst nicht naturalistisch, sah man einen solchen Ausdruck der subjektiven Gefühle und Erfahrungen des Künstlers als ein Gütesiegel für wahre Kunst.
Familienähnlichkeiten Ein ewiges Thema der westlichen Philosophie seit Platon ist das Streben nach Definitionen. Die sokratischen Dialoge stellen typischerweise eine Frage – was ist Gerechtigkeit, was ist Wissen, was ist Schönheit – und fahren dann fort, um durch eine Reihe von Fragen und Antworten zu zeigen, dass die Dialogpartner (trotz ihres angeblichen Wissens) in Wahrheit keine klare Vorstellung von den betreffenden Begriffen haben. Stillschweigend wird angenommen, wahres Wissen über eine Sache hänge davon ab, dass man sie definieren könne, und genau dies vermögen all jene nicht, die sich in eine Diskussion mit Sokrates, Platons Wortführer, einlassen. Dies jedoch stellt uns vor ein Paradoxon, da jene,
Was ist Kunst?
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die keine Definition eines gegebenen Konzepts bieten Wir sehen ein kompliziertes können, gewöhnlich sehr wohl in der Lage sind zu be- Netz von Ähnlichkeiten (…) schreiben, was es nicht ist. Und das setzt sicherlich vo- Ich kann diese Ähnlichkeiten raus, dass sie auf irgendeiner Ebene wissen, was es ist. nicht besser charakterisieren Das Konzept der Kunst konfrontiert uns mit genau so als durch das Wort ‚Familieneinem Fall: Wir scheinen zu wissen, was Kunst ist, haben jedoch unsere liebe Mühe, wenn wir die notwendi- ähnlichkeiten‘; denn so übergen und hinreichenden Bedingungen bestimmen wollen, greifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die Kunst ausmachen. Ratlos wie wir sind, ergibt sich ganz natürlich die Frage, ob die Suche nach einer Defi- die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen. nition nicht an und für sich und von vornherein ein Missverständnis ist: eine aussichtslose Jagd, irgendetLudwig Wittgenstein, 1953 was festzunageln, was partout nicht kooperieren will. Einen Weg aus diesem Labyrinth weist uns Wittgenstein mit seinem Konzept der Familienähnlichkeit, das er in seinen posthum veröffentlichten Philosophischen Untersuchungen erklärt. Nehmen wir das Wort „Spiel“. Wir alle haben eine klare Vorstellung davon, was Spiele sind: Wir können Beispiele geben, verschiedene Spiele vergleichen, Grenzfälle entscheiden und so fort. Doch die Schwierigkeiten entstehen, wenn wir versuchen, tiefer zu graben und nach einer Kernbedeutung oder Definition suchen, die jeden Einzelfall einschließt. Denn es gibt keinen solchen gemeinsamen Nenner; es gibt viele Dinge, die Spiele gemeinsam haben, aber es gibt kein einzelnes Merkmal, das allen Spielen gemein wäre. Kurz gesagt, es gibt gar keine verborgenen Tiefen oder Kernbedeutungen: Unser Verständnis des Wortes ist nichts mehr und nichts weniger als unsere Fähigkeit, es in einem weiten Spektrum von Fällen korrekt zu verwenden. Wenn wir annehmen, dass „Kunst“ genau wie „Spiel“ ein FamilienähnlichkeitsWort ist, lösen sich die meisten Schwierigkeiten, die wir eben noch hatten, in Luft auf. Kunstwerke haben vieles mit anderen Kunstwerken gemeinsam: Sie mögen die inneren Gefühle eines Künstlers ausdrücken, sie mögen das Wesen der Natur herausdestillieren; sie mögen uns bewegen, ängstigen oder schockieren. Wenn wir jedoch versuchen, ein Merkmal aufzuspüren, das allen gemeinsam ist, dann suchen wir vergebens. Bei jedem Versuch, Kunst zu definieren, einen in seinem Kern fließenden und dynamischen Begriff festzunageln, sind wir zum Scheitern verurteilt.
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Worum esWerte geht Ästhetische
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37 Der intentionale Fehlschluss Viele zählen Richard Wagner zu den größten Komponisten, die es je gegeben hat. Sein kreatives Genie ist kaum anzuzweifeln: Der stetige Pilgerstrom zu seinem „Schrein“ in Bayreuth bezeugt sein enormes Talent und seine anhaltende Anziehungskraft. Ebenso wenig steht zu bezweifeln, dass Wagner ein außergewöhnlich unangenehmer Mann war: von unglaublicher Arroganz und Selbstbesessenheit, ohne viele Skrupel, andere auszubeuten sowie treuebrüchig gegen jene, die ihm am nächsten standen … die Liste seiner Schwächen und Laster ließe sich endlos fortsetzen. Und überhaupt waren seine Ansichten noch abstoßender als seine Persönlichkeit: intolerant, rassistisch, überaus antisemitisch. Er war ein eifriger Befürworter „rassischer Säuberung“, der die Vertreibung der Juden aus Deutschland forderte. Wie weit ist all dies nun von Belang? Spielt unser Wissen um Wagners Charakter, Veranlagung, Überzeugungen etc. irgendeine Rolle für unser Verständnis und unsere Anerkennung für seine Musik? Wir könnten annehmen, solche Überlegungen seien relevant, soweit sie seine musikalischen Werke durchdringen oder beeinflussen; zu wissen, was ihn antrieb, ein bestimmtes Werk zu schaffen, welche Absichten hinter dessen Erschaffung lagen, könnte uns eine umfassendere Einsicht in Sinn und Bedeutung seiner Werke eröffnen. Aber folgen wir einer einflussreichen kritischen Theorie, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wurde, so sollte sich die Interpretation eines Werkes allein auf dessen objektive Eigenschaften konzentrieren und sämtliche äußeren oder extrinsischen Faktoren (wie etwa biografische oder historische usw.), die den Autor des Werkes betreffen, sollten strikt außer Acht bleiben. Der (vorgebliche) Fehler anzunehmen, Bedeutung und Wert eines Werkes könnten durch solche Faktoren festgelegt werden, wird als „intentionaler Fehlschluss“ bezeichnet.
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Der intentionale Fehlschluss Öffentliche Arbeiten Obgleich die Vorstellung mittler-
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Man muss die persön-
weile in anderen Gebieten Einzug gehalten hat, liegt der Urlichen Absichten des sprung des „intentionalen Fehlschlusses“ in der Literaturkritik. Künstlers nicht kennen. Erstmals benutzt wurde der Begriff 1946 in einem Aufsatz von Sein Werk sagt alles. William Wimsatt und Monroe Beardsley, zwei Mitgliedern der Susan Sontag, 1933 Schule des New Criticism, die in den 1930ern in den USA entstanden war. Diesen New Critics ging es primär darum, Gedichte und Texte als unabhängige, autarke Werke zu betrachten: Ihre Bedeutung sollte ausschließlich aus den Worten selbst erschlossen werden; Absichten des Autors, geäußerte oder vermutete, waren im Zuge der Interpretation irrelevant. War ein Werk erst einmal in die Welt gesetzt, wurde es zu einem öffentlichen Objekt, zu dem niemand, auch nicht der Autor, einen privilegierten Zugang hatte. Auf den intentionalen Fehlschluss aufmerksam zu machen, war nicht allein eine theoretische Angelegenheit: Es war vielmehr gedacht als Ausgleich zu vorherrschenden Tendenzen in der Literaturkritik. Gewiss, als normaler Leser greifen wir tatsächlich auf alle Arten von äußeren Faktoren zurück, wenn wir einen Text interpretieren. Es erscheint schlicht unplausibel zu meinen, dass wir als Leser völlig unbeeinflusst davon blieben, wenn wir bei einer Lektüre über den Sklavenhandel wissen, ob der Autor Afrikaner oder Europäer ist. Ob dieses Wissen diese Wirkung
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Kann unmoralische Kunst gut sein? Eine seit langem geführte Debatte in der Philosophie dreht sich um die Frage, ob moralisch schlechte Kunst für sich selbst genommen (als Kunst) gut sein kann. Dabei konzentriert man sich meist auf Personen wie Leni Riefenstahl, die deutsche Filmemacherin, deren Dokumentarfilme Triumph des Willens (über die Nürnberger Kundgebungen) und Olympia (über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin) im Kern Nazipropaganda darstellten, die aber dennoch weithin als technisch und künstlerisch brillante Werke gelten. Die
alten Griechen hätten diese Frage sogleich verworfen, denn für sie waren Fragen der Schönheit und moralischen Tugend unauflöslich miteinander verknüpft. Für Menschen der Moderne jedoch ist diese Frage sehr viel problematischer. Künstler selbst sind vergleichsweise eher nachsichtig, so wie der Poet Ezra Pound, der sagt: „Gute Kunst, so ‚unmoralisch’ sie auch sei, ist eine ganz und gar tugendhafte Angelegenheit. Gute Kunst kann nicht unmoralisch sein. Mit guter Kunst meine ich Kunst, die wahres Zeugnis ablegt.“
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Ästhetik haben sollte, ist natürlich eine andere Frage, aber wir sollten gegenüber Ideen vorsichtig sein, die uns so weit von den üblichen Gewohnheiten entfernen. Es bleibt in der Tat fraglich, ob es überhaupt möglich ist, geschweige denn wünschenswert, zwischen dem Bewusstsein eines Autors und dessen Werken so rigoros zu unterscheiden. Die Handlungen einer Person zu verstehen, schließt notwendigerweise
Schwindel, Fälschungen, Ramsch Die Gefahren des intentionalen Fehlschlusses mahnen uns, in der Beurteilung eines Kunstwerks die Absichten seines Schöpfers zu ignorieren. Doch sähen wir uns gezwungen, ein vermeintliches Kunstwerk isoliert zu betrachten, unabhängig von den Absichten seines Schöpfers, würden wir uns möglicherweie schwer damit tun, einige Unterscheidungen beizubehalten, die zu verlieren uns traurig stimmen oder uns zumindest überraschen würde. Angenommen, ein Fälscher erschafft einen perfekten Picasso – ganz im Stil des Meisters, fehlerlos bis zum letzten Pinselstrich, für Experten als Fälschung nicht erkennbar. Normalerweise würden wir eine solche Kopie abwerten, so gut sie auch sein mag, denn es handelt sich nun mal nicht um ein Werk des Meisters. Es ist eine sklavische Imitation, ohne Originalität und Schöpfergeist. Doch ist das Werk erst von seinen Wurzeln getrennt, sind solche Überlegungen dann nicht bloß heiße Luft? Ein Zyniker mag sagen, heiße Luft sei zu milde ausgedrückt: Ein Original einer perfekten Kopie vorzuziehen, das ist eine unerquickliche Mischung aus Snobismus, Neid und Fetischismus. Der intentionale Fehlschluss wirkt hier als Gegengift, als eine Erinnerung an den wahren Wert der Kunst. Und wenn es gar keine Absichten zu ignorieren gibt – weil es keinen Schöpfer gibt? Angenommen, Abermillionen zufälliger Wellenschläge
des Meeres würden ein Stück Holz zu einer wunderschönen Skulptur formen, perfekt in Farbe, Maserung, Symmetrie und so fort. Wir würden ein solches Stück sehr schätzen, doch wäre es ein Kunstwerk – oder überhaupt Kunst? Klar scheint, es ist kein Artefakt. Was also ist es? Und welchen Wert hat es? Dass es kein Erzeugnis menschlicher Kreativität ist, ändert unsere Betrachtungsweise. Aber ist das nicht verkehrt, wenn die Herkunft der Skulptur keine Rolle spielt? Zu guter Letzt nehmen wir an, der größte Künstler unserer Zeit wählt sorgsam einen Putzeimer und einen Schrubber aus und stellt beides zusammen in einer führenden Galerie aus. Dann kommt die Putzkraft vorbei und stellt zufällig ihren identischen Eimer und Schrubber neben dem „Kunstwerk“ ab. Der künstlerische Wert liegt in diesem Falle nun gerade im Prozess des Auswählens und Ausstellens. Nichts sonst unterscheidet die beiden Eimer und Schrubber. Betrachten wir aber ausschließlich die objektiven Eigenschaften der beiden Eimer und Schrubber, stellt sich die Frage: Gibt es da wirklich irgendeinen Unterschied? Nach diesen Ausführungen sollten wir unsere Einstellungen zur Kunst vielleicht noch einmal überdenken. Denn es besteht die reelle Gefahr, von des Kaisers neuen Kleidern geblendet zu werden.
ein, Annahmen über deren zugrunde liegenden Absichten zu machen. Könnte also die Interpretation eines Kunstwerks nicht ebenso von ähnlichen Annahmen und Schlussfolgerungen abhängen? Am Ende ist die Vorstellung nur schwer zu schlucken, dass die Bedeutung, die ein Autor oder Künstler in sein Werk hineingelegt hat, völlig irrelevant sein soll für dessen wirkliche Bedeutung.
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Der intentionale Fehlschluss
Das Gedicht ist weder das Eigentum des Kritikers noch des Autors (es wird im Moment seiner Fertigstellung vom Autor getrennt und geht in die Welt, seiner Verfügungsgewalt und seiner Kontrolle entzogen). Das Gedicht gehört der ÖffentDer affektive Fehlschluss Bei der Beurteilung lichkeit. eines Textes oder eines Kunstwerks – vor allem, wenn William Wimsatt und Monroe Beardsley,
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es sich um ein komplexes, abstraktes oder anderweitig 1946 anspruchsvolles Werk handelt – erwarten wir, dass es je nach Publikum unterschiedlich aufgenommen und bewertet wird. Wir erwarten, dass jeder Rezipient seine eigene Deutung finden wird und dem Werk damit gewissermaßen jeweils eine andere Bedeutung zuweist. Insofern scheint die Tatsache, dass ja nicht alle diese Bedeutungen in der Absicht des Autors oder Künstlers gelegen haben können, die Vorstellung des intentionalen Fehlschlusses zu stützen. Jedoch waren die New Critics, in ihrer unbeirrbaren Konzentration auf die Worte selbst, nicht weniger bedacht darauf, in ihrer Beurteilung eines literarischen Werks die Reaktionen und Resonanzen des Lesers außen vor zu halten. Den Fehler, die Publikumswirkung eines Werkes mit seiner Bedeutung zu verwechseln, bezeichneten sie als „affektiven Fehlschluss“. In Anbetracht der zahllosen subjektiven Reaktionen ganz unterschiedlicher Leute scheint es nicht gerade hilfreich, diese zu eng mit der Bedeutung eines Werkes zu verbinden. Aber einmal mehr stellt sich die Frage, ob unsere eigene Einschätzung der vorgeblich objektiven Eigenschaften eines Werkes nicht doch von seiner Fähigkeit beeinflusst sein könnte, unterschiedliche Reaktionen bei seinem Publikum hervorzurufen?
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38 Der teleologische Gottesbeweis „Seht euch um in der Welt; betrachtet das Ganze und jeden Teil; Ihr habt darin nichts als eine einzige große Maschine, die in eine unendliche Anzahl kleinerer Maschinen geteilt ist, deren jede wiederum bis zu einem Grade Unterteilungen gestattet, die menschliche Sinne und Fähigkeiten nicht mehr zu verfolgen und zu erklären vermögen. Alle diese verschiedenen Maschinen und selbst ihre kleinsten Teile sind einander mit einer Genauigkeit angepasst, die jedermann, der sie jemals betrachtet hat, in staunende Bewunderung versetzt. Die wunderbare Angemessenheit von Mitteln und Zwecken in der ganzen Natur gleicht ganz genau, wenn sie auch weit darüber hinausgeht, den Hervorbringungen menschlicher Kunst, menschlicher Arbeit, Weisheit und Einsicht … … Da also die Wirkungen einander gleichen, werden wir nach allen Regeln der Analogie zu dem Schluss geführt, dass auch die Ursachen einander gleichen und dass der Urheber der Natur dem Geist des Menschen einigermaßen ähnlich ist, freilich im Besitz viel größerer Fähigkeiten, entsprechend der Größe des Werkes, das er hervorgebracht hat. Durch dieses Argument a posteriori und durch dieses Argument allein beweisen wir das Dasein einer Gottheit und zugleich ihre Ähnlichkeit mit dem menschlichen Geist und menschlicher Vernunft.“ Diese kurze Darlegung des teleologischen Gottesbeweises (auch teleologisches Argument oder Design-Argument; siehe Kasten) für die Existenz Gottes, wird von Kleanthes vorgetragen, der David Hume in seiner 1779 posthum veröffentlichten Schrift Dialog über natürliche Religion als Sprachrohr dient. Humes Absicht ist es, das Argument aufzustellen, um es sogleich wieder zunichte zu machen, was ihm, wie viele finden, sehr wirksam gelungen ist. Doch das Argument hat nicht nur Humes Vernichtungsschläge überdauert, sondern es tritt bis heute in veränderter Ge-
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Der teleologische Gottesbeweis
Das Problem des Bösen
Der teleologische Gottesbeweis stalt immer wieder auf, was sehr für seine großartige Standfestigkeit und intuitive Anziehungskraft spricht. Während es im 18. Jahrhundert möglicherweise den größten Einfluss hatte, lassen sich seine Ursprünge bis in die Antike zurückverfolgen. Doch aus der Mode gekommen ist es nie.
Vom Zweck in der Welt Der Begriff „teleologisch“ ist abgeleitet vom griechischen Wort telos, was „Ziel“ oder „Zweck“ bedeutet, denn die Grundidee des Arguments ist die, dass der Zweck, den wir (scheinbar) in den Funktionsweisen der Natur erkennen, Beweis für die Existenz eines zweckorientierten Akteurs ist, der für all das verantwortlich ist.
Wie funktioniert der Beweis? Die Beständigkeit des teleologischen Arguments fußt auf der weit verbreiteten Vorstellung, dass die Schönheit, Ordnung und Komplexität der Welt sowie die Zielgerichtetheit, die wir darin beobachten, nicht einfach nur Produkte des Zufalls oder geistloser, natürlicher Abläufe sein können. Es muss – so glaubt man – einen Akteur geben, der über einen unfassbar großen Geist sowie die Fähigkeit verfügt, all diese wundervollen Dinge der Natur, die so ausnehmend genial erdacht und gestaltet sind, zu planen und entstehen zu lassen, damit sie letztlich ihre diversen Zwecke erfüllen. Nehmen wir beispielsweise das menschliche Auge: Es ist so ausgeklügelt konstruiert und erfüllt seine Zwecke so unglaublich gut, dass es genau dafür erschaffen sein muss. Der Beweis führt zunächst etliche bemerkenswerte Erscheinungen in der Natur auf und schreitet dann weiter auf dem Wege der Analogie zu menschlichen Werken, die eindeutig die Handschrift ihrer Erschaffer tragen. Genauso wie zum Beispiel eine Uhr für einen bestimmten Zweck planvoll erdacht und zusammengebaut ist und uns auf die Existenz eines Uhrmachers schließen lässt, führen uns die zahllosen Erscheinungen der Natur, die ihren offenkundigen Zwecken dienen, zu dem Schluss, dass auch hier ein genialer Werkmeister dahinter stecken muss: ein Baumeister der Natur, welcher der großen Aufgabe gewachsen ist, die Wunder des Universums zu gestalten. Und der einzige Baumeister, der über die Mächte verfügt, eine solche Aufgabe zu erfüllen, ist Gott. Schwächen des Beweises Trotz seiner beständigen Wirkung hat es etliche äußerst ernstzunehmende Einwände gegen den Beweis gegeben, sowohl von Hume als auch von anderen. Zu den wirkungsvollsten gehören die folgenden:
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Der ontologische Gottesbeweis
Der kosmologische Gottesbeweis
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Der göttliche und der blinde Uhrmacher In seinem Werk Natural Theology von 1802 (deutsch: Natürliche Theologie, 1837) bringt der englische Theologe William Paley eine der berühmtesten Auslegungen des teleologischen Arguments vor: Würde man auf irgendeinem Acker zufällig eine funktionierende Uhr auf dem Boden finden, so würde man aufgrund der präzisen Anordnung ihrer Einzelteile zwangsläufig darauf schließen, dass sie von einem Uhrmacher gemacht und konstruiert worden sein muss. Und so
wie die Uhr entstehen auch all die wundersamen Erfindungen der Natur nach dem präzisen Konstruktionsplan eines Uhrmachers – und dieser Macher ist Gott. In Anspielung auf Paleys Bild beschreibt der britische Biologe Richard Dawkins den Prozess der natürlichen Selektion als demnach „blinden“ Uhrmacher. Blind deshalb, da er die komplexen Strukturen der Natur ohne jegliche Voraussicht, Zweck- oder Zielgerichtetheit gestaltet.
• Ein Analogieargument funktioniert, indem es behauptet, dass sich zwei Dinge hinsichtlich gewisser bekannter Merkmale ausreichend ähneln, um daraus die Annahme zu rechtfertigen, dass sie sich auch hinsichtlich anderer, unbekannter Merkmale ähnlich sind. Physiologie und Verhalten von Mensch und Schimpanse beispielsweise ähneln sich ausreichend, um von der Annahme ausgehen zu können (obgleich wir es nicht sicher wissen können), dass Schimpansen ebenso wie wir Menschen ein Schmerzempfinden haben. Die Stärke eines Analogiearguments ist abhängig vom Grad der relevanten Ähnlichkeit zwischen den beiden Vergleichsobjekten. Doch ähnliche Merkmale zwischen vom Menschen geschaffenen Objekten (z. B. Kameras) und natürlichen (z. B. den Augen von Säugetieren) gibt es tatsächlich nur relativ wenige. Und daher stehen jegliche Schlüsse, die wir hier durch Analogien ziehen, auf dementsprechend wackeligen Beinen. • Der teleologische Gottesbeweis scheint anfällig für eine Endlosrekursion, das heißt, er droht hinauszulaufen auf ein Rückschreiten in einer unendlichen Reihe. Wenn diese wundersame Schönheit und Organisation des Universums einen Baumeister verlangt, wie viel mehr bräuchte es, um dieses Universum plus diesen Baumeister zu erschaffen? Wenn wir einen Baumeister brauchen, dann scheint es, als bräuchten wir auch einen Über-Baumeister, und für diesen wiederum einen Über-Über-Baumeister und so weiter … Während der kosmologische Gottesbeweis eine solche Rekursion von Grund auf leugnet (siehe Seite 156), erscheint sie im teleologischen Gottesbeweis schlicht teuflisch. • Das wichtigste Verdienst des teleologischen Gottesbeweises ist, dass er erklärt, wie all diese Wunder der Natur (wie das menschliche Auge) in ihr Dasein berufen worden sind, wo sie so überaus zweckmäßig funktionieren. Doch genau diese Wunder und ihre Zweckmäßigkeit lassen sich auch mit der Darwin’schen Theorie
Der teleologische Gottesbeweis
Kosmischer Feinschliff Einige moderne Varianten des teleologischen Arguments beruhen auf der schieren Unwahrscheinlichkeit, dass alle Bedingungen des Universums exakt so waren, wie sie hatten sein müssen, damit sich Leben entwickeln konnte. Wäre nur eine einzige der zahllosen Variablen in der Entstehung des Lebens (etwa die Erdanziehungskraft und die anfängliche Hitze des sich ausdehnenden Universums) in einem Detail anders gewesen, dann hätte es von vornherein kein Leben gegeben. Kurzum, es scheint so etwas wie einen kosmischen Feinschliff zu geben, der so präzise ist, dass wir annehmen müssen, er wäre das Werk eines ungemein mächtigen Fein-
schleifers. Aber unwahrscheinliche Dinge treten ein, immer wieder. Es ist zwar enorm unwahrscheinlich, dass Sie den Lottojackpot knacken, aber es ist möglich; und wenn Sie ihn knacken, würden Sie nicht davon ausgehen, dass irgendwer ihn zu Ihren Gunsten manipuliert hat -– Sie würden sich schlicht und einfach als Glückspilz betrachten. Ebenso enorm unwahrscheinlich mag es sein, dass sich Leben überhaupt entwickelt hat. Aber eben weil es sich entwickelt hat, sind wir heute hier, um zu bemerken, wie unwahrscheinlich dies doch war … und um aus dieser Unwahrscheinlichkeit fehlerhafte Schlüsse zu ziehen.
der Evolution durch natürliche Auslese erklären, und zwar ganz ohne den übernatürlichen Erfindungsgeist eines genialen Baumeisters. Der göttliche Uhrmacher hat seine Stelle offenbar an den demnach „blinden“ Uhrmacher verloren. • Selbst wenn man den teleologischen Gottesbeweis zulässt, gibt es Grenzen. Viele der in der Natur vorkommenden „Artefakte“ könnten sehr wohl auch ein Gemeinschaftswerk vermuten lassen, für das es ein ganzes Gremium an Göttern bräuchte. Und wieso sollten wir in unseren Vorstellungen nur auf einen Gott beschränkt bleiben? Fast jedes Objekt der Natur, so Ehrfurcht gebietend es sein mag, ist im Detail betrachtet weit weniger vollkommen. Doch deuten unvollkommene Entwürfe nicht auf einen unvollkommenen (weil nicht allmächtigen) Schöpfer hin? Im Großen und Ganzen lässt die Summe des Bösen in der Welt Zweifel aufkommen an der Moral ihres Schöpfers. Und wieso eigentlich sollten wir annehmen, dass dieser Schöpfer, egal wie gut er seine Sache gemacht hat, heute noch lebendig ist?
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39 Der kosmologische Gottesbeweis Frage: Warum gibt es überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts? Antwort: Gott So lauten der Beginn und das Ende des „kosmologischen Gottesbeweises“ (oder des kosmologischen Arguments). Dazwischen gibt es nicht viel: eines der klassischen Argumente für die Existenz Gottes und zugleich eines der einflussreichsten und auch (wie einige sagen würden) zweifelhaftesten in der Geschichte der Philosophie. Der „kosmologische Gottesbeweis“ ist nicht ein einziges Argument, sondern vielmehr ein Typus oder eine Familie von Argumenten. Aber alle Varianten sind in ihrer Form vergleichbar und ähnlich motiviert. Sie sind alle empirisch verankert und (in der bekanntesten Version) auf die scheinbar einwandfreie Beobachtung gestützt, dass alles Existierende durch Etwas verursacht ist (siehe Kasten). Und dieses Etwas ist selbst wiederum durch Etwas verursacht, und so weiter und so weiter. Um zu vermeiden, in einer unendlichen Kette zu landen, müssen wir eine Ursache finden, die selbst nicht durch Etwas verursacht ist: die erste und nicht-verursachte (oder selbst-verursachte) Ursache von allem Bestehenden – und das ist Gott.
Wieso gibt es nicht Nichts ? Seine Vorzüge mal beiseite gelassen, so muss man einräumen, dass der kosmologische Gottesbeweis eine Antwort auf die vielleicht natürlichste, elementarste und tiefgründigste Frage ist, die wir überhaupt stellen können: Warum also gibt es überhaupt Etwas? Es hätte auch vielmehr Nichts geben können. Aber es gibt Etwas. Warum? Wie alle anderen klassischen Argumente für die Existenz Gottes, hat auch der kosmologische Gottesbeweis seine Ursprünge in der Antike und bildet die Grundlage für die ersten drei der Fünf Wege (Quinque Viae) von Thomas von Aquin – fünf Argumente, die ihm als Beweis für die Exis-
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Argumentformen
Der ontologische Gottesbeweis
Der kosmologische Gottesbeweis tenz Gottes dienen. „Warum gibt es Etwas?“: Diese Frage führt uns direkt zum Urknall, jener umwälzenden Explosion im All vor etwa 13 Milliarden Jahren, aus der das Universum entstanden ist – und Energie, Materie und sogar die Zeit selbst. Aber das bringt uns nicht viel weiter – es nötigt uns bloß, die Frage noch einmal zu stellen: Was (oder Wer) hat den Urknall verursacht?
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Ein Argument liefern zu wollen für eine erste Ursache überhaupt, steht im Widerspruch zu unserer Erfahrung. J. S. Mill, 1870
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Oder ist alles doch nur erfunden? Der kosmologische Gottesbeweis hat deshalb eine so große Wirkkraft, da er eine sehr gute Frage stellt. Zumindest eine, die aussieht, als wäre sie eine gute Frage, und eine sehr natürliche dazu: Warum existieren wir (und der Rest des Universums)? Aber hat der kosmologische Gottesbeweis auch eine gute Antwort parat? Es gibt eine Reihe von Gründen, dies zu bezweifeln. • Die plausibel erscheinende Prämisse, auf die das kosmologische Argument gestützt ist –, dass alles durch etwas verursacht ist –, basiert auf unseren Erfahrungen mit den Dingen dieser Welt (oder des Universums). Doch das Argument fordert uns auf, die Idee weiter zu fassen und auf etwas zu richten, das per definitionem außerhalb unserer Erfahrung liegt, weil außerhalb des Universums – auf et-
Kosmologische Varianten Die Varianten des kosmologischen Gottesbeweises unterscheiden sich vor allem in der Art und Weise, wie sie die Dinge im Mittelpunkt der Betrachtungen miteinander in Beziehung setzen. So etwa stellt die bekannteste Variante, die bisweilen als das Argument der ersten Ursache (causa prima) bezeichnet wird, eine kausale Beziehung her (alles ist durch etwas verursacht). Andere Versionen nehmen andere Beziehungen an – Beziehungen der Abhängigkeit, der Zufälligkeit, der Erklärung oder Verständlichkeit. Die Reihe solcher Beziehungen, so das Argument, kann
nicht unendlich fortgesetzt werden. Und damit die Reihe beendet werden kann, kann der Ausgangspunkt (d. h. Gott) bestimmte Eigenschaften nicht haben. Anders als die Dinge der Welt ist er: nicht-verursacht (oder selbstverursacht), unabhängig von allen Dingen; nicht zufällig (d. h., er existiert notwendigerweise); selbst-erklärend und unmittelbar – ohne Bezug auf andere Dinge – verständlich. (Der Einfachheit halber ist in diesem Kapitel das Argument lediglich für die Kausalrelation dargestellt.)
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Der kosmologische Gottesbeweis
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Der Gott der Lücken Zu Zeiten, da die Menschen keine anderen Erklärungen hatten für Naturereignisse, die ihre menschliche Fassungskraft und Einsicht überstiegen, schrieben sie beispielsweise Wetterphänomene wie Blitz und Donner dem allgewaltigen Wirken oder auch den Launen Gottes oder der Götter zu. Mit dem Fortschritt der Wissenschaften erweiterte sich auch das menschliche Wissen und so wurden viele dieser althergebrachten Erklärungen widerlegt oder ersetzt. Noch bevor Darwin die Evolution der Arten durch natürliche Selekti-
on beschrieben hat, diente Gott als Lückenfüller, mit dessen Hilfe man die faszinierende Ordnung in der Natur erklären konnte (siehe Seite 152). Im Falle des kosmologischen Gottesbeweises ist Gott in die äußersten Winkel der menschlichen Fassungskraft zurückgewichen – bis zum Anbeginn des Universums und der Zeit. Dahinter fest verschanzt, ist es gut möglich, dass Gott jenseits aller wissenschaftlichen Reichweite bleibt. Doch um welchen Preis? Das Königreich des Himmels ist damit wahrhaft zusammengeschrumpft.
was, was auch immer, das dieses Universum ins Leben gerufen hat. Natürlich kann unsere Erfahrung hier nichts beitragen oder erhellen, und es ist alles andere als klar, ob das Konzept überhaupt schlüssig ist: das Universum bezeichnet gemeinhin die Gesamtheit aller Dinge, die existieren (alles Seiende), und sein Beginn (sofern es einen gegeben hat) markiert auch den Beginn der Zeit. • Oberflächlich betrachtet, widerspricht die grundlegende Prämisse des Arguments (dass alles durch etwas verursacht ist) seiner Folgerung (nämlich, dass etwas keine Ursache hat – nämlich Gott). Um diesen Widerspruch zu umgehen, muss Gott außerhalb des Rahmens „alles Seienden“ liegen, was soviel heißen muss wie „aller Dinge der Natur“. Mit anderen Worten, Gott muss übernatürlich sein. Das mag ein befriedigendes Fazit für alle jene sein, die ohnehin bereits an das glauben, worauf das Argument hinausläuft. Für alle anderen, die es noch zu überzeugen gilt, bleibt es ein Rätsel und nährt die Vermutung, dass die Basis des Arguments im Wesentlichen inkohärent und unverständlich ist. • Das Argument baut auf die Vorstellung, dass ein unendlicher Regress der Ursachen nicht hinnehmbar ist: Die Kette muss irgendwo enden, und dieses Irgendwo ist Gott, der nicht-verursacht (oder selbst-verursacht) ist. Doch ist die Idee einer unendlichen Kausalkette, die impliziert, dass das Universum keinen Anfang hatte, wirklich schwerer zu verdauen als ein übernatürliches Etwas, das außerhalb der Zeit liegt? • Selbst wenn wir zulassen, dass die Kausalkette irgendwo enden muss, warum kann dann dieses Etwas, das nicht-verursacht oder selbst-verursacht ist, nicht das
Der kosmologische Gottesbeweis Universum selbst sein? Wenn die Idee der Selbst-Verursachung anerkannt ist, dann wird Gott überflüssig. • Der kosmologische Gottesbeweis zwingt uns, Gott eine ganze Reihe von überaus besonderen Eigenschaften zuzuschreiben: dass er nicht-verursacht (oder selbstverursacht) ist, dass er notwendigerweise existent ist und so fort. Diese Eigenschaften sind für sich selbst aber höchst zweifelhaft und schwer zu erklären. Was das Argument nicht beweist (selbst wenn man zulässt, dass es überhaupt irgendetwas beweist), ist, dass Gott all die (übernatürlichen) Eigenschaften besitzt, die mit der üblichen theistischen Interpretation in Einklang stehen: Allmächtigkeit, Allwissenheit, Allgütigkeit usw. Der Gott, der aus dem kosmologischen Argument ersteht, ist ein sehr befremdlicher und geschwächter.
Was also hat das Universum verursacht? Der springende Punkt beim kosmologischen Gottesbeweis ist folgender: Wenn die Antwort auf die Frage „Was hat das Universum verursacht?“ X lautet (Gott, zum Beispiel, oder der Urknall), dann ist es immer noch möglich weiter zu fragen „Ja, aber was hat X verursacht?“ Und wenn die Antwort darauf Y lautet, dann folgt sogleich Das Universum ist die nächste Frage „Was hat Y verursacht?“ Es gibt nur einen Weg, um diese Endlosfrage (und damit die Endloskette) ein einfach da, und das für allemal zu unterbrechen, nämlich den, in einer Grundan- ist alles. nahme darauf zu beharren, dass X (oder Y, oder Z) als solBertrand Russell, 1964 ches radikal andersartig ist und diese Frage nicht sinnvoll gestellt werden kann. Und das verlangt, dass X etliche seltsame Eigenschaften zugeschrieben werden. Wer sich mit dieser Folgerung nicht so recht abfinden will, dem gefällt die Idee der unendlichen Kausalkette, die das Argument impliziert, möglicherweise sehr viel besser, nämlich die Idee, dass das Universum keinen Anfang hat. Oder man sieht es wie Bertrand Russell, nach dem das Universum letztlich unverständlich bleibt – eine nackte Tatsache, über die sich nicht schlüssig räsonieren lässt. Zugegeben, eine unbefriedigende Antwort, aber im Grunde auch nicht schlechter als all die anderen, die es auf diese höchst widerspenstigen Fragen gibt.
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40 Der ontologische Gottesbeweis Schließen Sie die Augen und denken Sie an eine Cashew-Nuss. An eine köstliche Nuss, die größte, die man sich vorstellen kann – drall und reif, sichelförmig geschwungen, fein geröstet und gesalzen, schwebt sie vor Ihren geistigen Geschmacksknospen … und jetzt … stellen Sie sich vor, wie sie im Mund zerbröselt und langsam zu einem köstlichen, milchig süßen Brei zergeht. Mmmh! Lecker! Beim Gedanken an all die typischen Eigenschaften einer Cashew-Nuss läuft Ihnen förmlich das Wasser im Munde zusammen, stimmt’s? Und jetzt die gute Nachricht. Es gibt so eine Nuss: die Nuss der Nüsse in höchster Vollkommenheit. Ja, die gibt es wirklich! Was wir uns gedanklich ausgemalt haben, ist die größte denkbare Cashew-Nuss. Aber eine Nuss, die in Wirklichkeit existiert, ist sicherlich größer als eine, die nur in unserer Vorstellung existiert. Aber wenn die Nuss nur in unserer Vorstellung existiert, dann können wir uns auch eine noch größere Nuss denken – und zwar eine, die in unserer Vorstellung und in der Wirklichkeit existiert. Und wenn dem so ist, dann können wir uns auch eine größere Nuss als die größte denkbare Nuss vorstellen: ein Widerspruch. Demnach existiert die Nuss, die wir uns vorstellen – die größte denkbare Nuss – wirklich: die unschlagbare Nuss muss existieren, andernfalls wäre sie nicht unschlagbar.
Von der Nuss zu Gott Was bei der Nuss funktioniert, funktioniert auch bei Gott. So jedenfalls meint es der Heilige Anselm, der Gottesgelehrte aus dem 11. Jahrhundert, auf den diese klassische Formulierung des ontologischen Gottesbeweises zurückgeht, eines der einflussreichsten Argumente für die Existenz Gottes. Nun kaute Anselm zwar keine Cashew-Nüsse, sondern ging von einer (für ihn) unumstrittenen Definition aus: Gott sei „das, worüber hinaus Größeres nicht gedacht
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Der teleologische Gottesbeweis
Das Problem des Bösen
Der ontologische Gottesbeweis
Der ontologische Gottesbeweis
Modallogik und mögliche Welten Anselms zweite Formulierung des ontologischen Gottesbeweises ähnelt so ziemlich der ersten, nur ist der Begriff „Existenz“ nun ersetzt durch „notwendige Existenz“. Gott kann unmöglich als
nicht existent gedacht werden, so die Idee, ohne dass dies zu einem logischen Widerspruch führen würde. Die Idee von der notwendigen Existenz hat viele neuere Versuche angeregt (besonders die von Alvin Plantinga sind zu nennen), den ontologischen Gottesbeweis mittels der Modallogik, die sich mit den Modalbegriffen möglich und notwendig und den damit denkbaren logisch möglichen Welten befasst, neu zu bearbeiten. Beispiel: Nehmen wir mal an, „größtmöglich“ sei definiert als „existent und allmächtig (etc.) in allen möglichen
Welten“; lassen wir außerdem gelten, dass es zumindest möglich sei, dass ein „größtmögliches“ Wesen existiert (das heißt, es gibt auch eine mögliche Welt, in der ein solches Wesen existiert). Doch dass ein solches Wesen in einer möglichen Welt existiert, schließt mit ein, dass es in allen Welten existiert und somit (notwendigerweise) existieren muss. Allerdings ergibt sich diese Folgerung nur, weil wir uns auf die Vorstellung eingelassen haben, dass ein „größtmögliches Wesen“ in irgendeiner vorstellbaren Welt existieren könnte. Wenn wir nun diese Möglichkeit aber leugnen, dann hieße das, dass ein „größtmögliches Wesen“ sich selbst widersprechend ist. Gott als das „größtmögliche Wesen“ – ergibt das möglicherweise gar keinen Sinn?
werden kann“. Nun können wir Gott ohne Weiteres als solch ein Wesen begreifen, und somit muss Gott auch als Vorstellung in unserem Denken existieren. Doch wenn er nur in unserer Vorstellung existiert, dann können wir uns auch ein noch größeres Wesen denken – und zwar eines, das in unserer Vorstellung und in der Wirklichkeit existiert: ein Widerspruch. Demnach muss Gott auch in der Wirklichkeit existieren und nicht nur in unserer Vorstellung. Im Unterschied zur empirischen Basis des teleologischen und des kosmologischen Gottesbeweises, schickt sich der ontologische Beweis an, a priori und als eine Sache der logischen Notwendigkeit zu beweisen, dass Gottes Existenz nicht ohne Widerspruch geleugnet werden kann – dass die bloße Vorstellung von Gott dessen Existenz impliziert. In etwa so, wie wir wissen, dass ein Viereck vier Seiten hat, weil wir ein Verständnis des ihm zugrunde liegenden Begriffs haben, wissen wir auch, so argumentiert Anselm, dass Gott existiert, weil wir ein Verständnis von dem Begriff bzw. der Vorstellung „Gott“ haben.
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Ist die Idee von Gott inkohärent? Alle Varianten des ontologischen Gottesbeweises nähren die Idee, dass es möglich sei, uns ein Wesen vorzustellen, über das hinaus kein Größeres gedacht werden kann. Wenn dies aber nicht möglich ist – wenn sich die Gottesidee als unverständlich oder inkohärent erweist –, dann bricht der ganze Beweis in sich zusammen. Sofern das Argument die Existenz Gottes beweisen soll, wie er traditionellerweise vorgestellt wird (als allwissend und allmächtig), müssen diese Eigenschaften einzeln betrachtet kohärent und zusammen betrachtet widerspruchsfrei sein. Jede einzelne Eigenschaft muss im höchstmöglichen Ma-
ße im Wesen Gottes vorhanden sein. Ob das möglich ist, bleibt mehr als fraglich. Ein allmächtiger Gott muss beispielsweise fähig sein, Wesen mit einem freien Willen zu erschaffen; ein allwissender Gott aber schließt diese Möglichkeit per se aus. Es scheint also ganz so, als könnten Allwissenheit und Allmächtigkeit nicht gleichzeitig in ein und demselben Wesen vorhanden sein – da hat das traditionelle Gottesverständnis wahrlich „eine harte Nuss“ zu knacken. Ähnliche Bedenken darüber, ob die traditionelle Gottesidee kohärent sei, liegt dem Problem des Bösen zugrunde (siehe Seite 164).
Ontologische Kritik Wie der kosmologische Beweis, besteht auch das ontologische Argument aus einer Familie von Argumenten, die eine Grundidee gemeinsam haben. Und alle sind sie gleichermaßen bestrebt, Gottes Existenz als eine logische Notwendigkeit zu beweisen. Aber funktionieren sie auch? Die Sache gestaltet sich insofern kompliziert, als die verschiedenen Varianten des Arguments für verschiedene Arten von Kritik zugänglich sind. Selbst Anselm hat innerhalb ein und desselben Werks gleich zwei verschiedene Versionen präsentiert. Die oben angeführte Version – Anselms erste Formulierung des Arguments mit seiner klassischen Aussage – ist zwei Angriffslinien ausgesetzt. Einer der ersten Kritiker Anselms war ein Zeitgenosse namens Gaunilo, ein Mönch der Abtei Marmoutier in Frankreich. Gaunilo brachte vor, dass ein ontologisches Argument gebraucht werden könne, um die Existenz von etwas x-Beliebigem zu beweisen. Man könne auch, so sein Beispiel, den Begriff einer vollkommenen Insel bilden und analog zu Anselms Beweis folgern, dass deren Vortrefflichkeit ihre Existenz beweise. Das Argument funktioniert nicht nur für vollkommene Inseln und CashewNüsse, sondern ebenso gut auch für nicht-existente Dinge wie Meerjungfrauen und Zentauren. Fest steht, wenn irgendeine Argumentform die Existenz nicht-existenter Dinge beweisen kann, dann hat das Argument ein echtes Problem. Um sich dieser Angriffslinie zu erwehren, muss der Verteidiger des ontologischen Gottesbeweises erklären, warum Gott ein Sonderfall ist – inwiefern er sich in relevanter Hinsicht von den Cashew-Nüssen unterscheidet. Einige beharren darauf, dass die Eigenschaften oder „Vollkommenheiten“, in denen Gottes Größe begründet ist, im wörtlichen Sinne ver-
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vollkommnungsfähig sind (also prinzipiell imstande, VervollDenn wenn es auch kommnung in höchstem Maße zu erlangen), und zwar in einer nur allein im Verstande Weise, wie es die Eigenschaften einer großen Cashew-Nuss ist, kann gedacht werden, nicht sind. Wenn Gott die Macht hat, alles zu vollbringen, was dass es auch in Wirklichkeit denkbar (vorstellbar) vollbracht werden kann, dann ist er allexistiert, was größer ist. mächtig in einem Maße, das logisch nicht überstiegen werden Anselm von Canterbury, 1078 kann; wo eine dralle Cashew-Nuss eine große Cashew-Nuss ist, ist eine noch drallere und folglich noch größere immer noch denkbar. Insofern ist schon allein die Vorstellung einer größten denkbaren CashewNuss inkohärent – im Gegensatz zu Gott, dem größten denkbaren Wesen. Die logische Folge daraus ist, wenn Anselms Argument funktionieren soll, so muss seine Vorstellung von Gott gänzlich aus solchen innerlich vervollkommnungsfähigen Eigenschaften geformt sein. Ironischerweise droht die offenkundige Unvereinbarkeit eben dieser Eigenschaften zu einer gleichfalls inkohärenten Vorstellung von Gott zu führen und unterhöhlt damit alle Varianten des ontologischen Gottesbeweises (siehe Kasten). Gaunilo findet vor allem die sprachliche Verpackung des Arguments problematisch. Er hält es für möglich, dass Anselm Gott faktisch in die Existenz hineindefiniert. Eine ähnliche Vermutung liegt einem berühmten Einwand gegen das Argument zugrunde, den Kant 1781 in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft formuliert. Der Einwand zielt auf die Implikation (deutlich dann in Descartes’ einflussreicher Neuformulierung), Existenz sei eine Eigenschaft oder ein Prädikat wie andere auch, die man Dingen zuschreiben könne. Kants Punkt – vollständig bestätigt von der Logik des 20. Jahrhunderts (siehe Seite 112) – ist der folgende: Zu sagen, dass Gott existiert, fügt ihm nicht die Eigenschaft des Daseins hinzu (ähnlich wie die Eigenschaften der Allmacht und Allwissenheit), sondern behauptet lediglich, dass es tatsächlich einen Fall dieser allgemeinen Vorstellung gibt, welchem diese Eigenschaften innewohnen; doch die Wahrheit dieser Aussage kann niemals a priori bestimmt werden, ohne zu berücksichtigen, welche Dinge es tatsächlich in der realen Welt gibt. Existenz ist also keine Eigenschaft, sondern eine Vorbedingung dafür, Eigenschaften zu haben. Hier stolpert Anselm (wie Descartes) in eine logische Falle, deren Eigentümlichkeit deutlich wird, wenn man sich die folgende Behauptung auf der Zunge zergehen lässt: „Cashew-Nüsse, die existieren, schmecken besser als die, die nicht existieren.“ Anselm macht einen unerlaubten Gedankensprung von der begrifflichen Ebene zur Ebene des Seins. Er nimmt zunächst an, dass Existenz eine Eigenschaft sei, welche ein Ding haben kann oder nicht; und daraus schließt er, dass es besser sei, eine solche Eigenschaft zu haben, um am Ende zu folgern, dass Gott, als das größte denkbare Wesen, diese notwendigerweise haben muss. Doch das ganze Gedankengebäude fällt sofort in sich zusammen, wenn man der Existenz den Status als Prädikat oder Eigenschaft verweigert.
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41 Das Problem des Bösen Hungersnöte, Morde, Erdbeben, Seuchen – Katastrophen, die Millionen von Menschen die Zukunft zerstören, Jung und Alt sinnlos und qualvoll dahinraffen, Kinder verwaist und hilflos zurücklassen … Könnte man all dieses Elend mit einem einzigen Fingerschnippen beenden, wohl jeder mit einigermaßen Herz würde es tun. Doch es soll ein Wesen geben, dem dies im Nu gelingen könnte, ein Wesen, dessen Macht, Kenntnis und moralische Güte keine Grenzen kennt: Gott. Das Böse ist überall. Aber wie kann es Seite an Seite existieren mit einem Gott, der per definitionem über die Macht und Fähigkeit verfügt, allem Bösen ein Ende zu bereiten? Diese heikle Frage bildet den Kern des sogenannten „Problems des Bösen“.
Die von einer großen Dürre verursachte Hungersnot in Äthiopien (1984–1985), verschärft durch politische Unruhen, führte zum elenden Tod von schätzungsweise über einer Million Menschen.
Das „Problem des Bösen“ ist zweifelsohne die härteste Herausforderung, mit der all jene zu kämpfen haben, die allen Ungläubigen die Existenz Gottes weismachen wollen. „Wie kann Gott all das geschehen lassen?“ – ist die wohl natürlichste Frage, die man sich angesichts von Not und Elend in dieser Welt stellen mag. Doch auf diese Frage eine Antwort zu finden, mag den Glauben so manch eines Betroffenen ernsthaft auf die Probe stellen.
Ist Gott unwissend, ohnmächtig, böswillig oder gar nicht existent? Das „Problem des Bösen“ ergibt sich als di-
rekte Konsequenz jener Eigenschaften, die Gott innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition beigemessen werden. Diese Eigenschaften gehören zu der herkömmlichen Vorstellung von Gott, und keine von ihnen kann ausgelassen oder verändert werden, ohne dieser Vorstellung verheerenden Schaden zuzufügen. Im traditionellen theistischen Verständnis sieht diese Vorstellung folgendermaßen aus:
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Der teleologische Gottesbeweis
Das Problem des Bösen
Die Verteidigung der Willensfreiheit
Das Problem des Bösen
Was ist das Böse? Auch wenn dieses Thema gemeinhin als das „Das Problem des Bösen“ bezeichnet wird, ist der Begriff das „Böse“ nicht ganz passend. In diesem Kontext bezieht sich das Wort sehr weit gefasst auf all die schlechten Dinge, die uns Menschen widerfahren können und die auf der einen Seite viel zu alltäglich sind, um nach allgemeinem Verständnis als „böse“ gelten zu können. Die hier thematisierten Leiden und Schmerzen sind sowohl auf menschliche als auch auf
natürliche Ursachen zurückzuführen. Man spricht üblicherweise vom „moralisch Bösen“, um das Leid zu erfassen, das durch unmoralische Handlungen Einzelner (Mord, Verleumdung usw.) verursacht ist; und vom „natürlich Bösen“, um das Leid zu erfassen, das durch Faktoren verursacht ist, die außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen (Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Seuchen, die nicht von menschlichen Handlungen bewirkt sind).
1. Gott ist allwissend: Er weiß alles, was logisch möglich gewusst werden kann. 2. Gott ist allmächtig: Er ist fähig, alles zu tun, was logisch möglich getan werden kann. 3. Gott ist allgütig: Er tut in seiner grenzenlosen Güte alles Gute, was vorstellbar getan werden kann. Mit Bezug auf das „Problem des Bösen“ lassen sich aus diesen drei grundlegenden Eigenschaften folgende Schlüsse ziehen: 4. Wenn Gott allwissend ist, dann ist er sich all des Elends und Leids dieser Welt vollauf bewusst. 5. Wenn Gott allmächtig ist, dann ist er fähig, alles Elend und Leid zu verhüten. 6. Wenn Gott allgütig ist, dann ist es sein Wunsch und Wille, Elend und Leid zu verhüten.
Im Januar 2007 starb in Michigan, USA, der siebenjährige Joshua DuRussel, nachdem Ärzte knapp ein Jahr zuvor in seinem Stammhirn einen seltenen und nicht operablen Tumor festgestellt hatten, der unaufhaltsam sein Gehirn zerstörte. Aus seiner Schule hieß es offiziell, der tierliebe Baseballspieler habe „schwer gekämpft, nie die Hoffnung aufgegeben und sich nie beklagt“.
Wenn die Aussagen 4 bis 6 wahr sind, und wenn Gott existiert (wie durch die Aussagen 1 bis 3 definiert), dann folgt, dass es kein Leid und Schmerz geben kann, denn Gott wird in seinem Sinne walten und alles Übel von der Welt abwenden. Aber ganz offenkundig ist die Welt voller
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Am 8. Oktober 2005 kam es zu einem katastrophalen Erdbeben in der von Pakistan verwalteten Region von Kaschmir, das zahlreiche Städte und Dörfer zerstörte. Nach offiziellen Angaben fanden rund 75 000 Menschen den Tod; über 100 000 weitere wurden verletzt und mehr als drei Millionen obdachlos.
Not und Elend, Leid und Schmerz, also müssen wir entweder schließen, dass Gott entweder nicht existiert, oder dass er nicht über eine oder mehrere der in Aussage 1 bis 3 genannten Eigenschaften verfügt. Kurz gesagt, das „Problem des Bösen“ scheint zu beinhalten (auch wenn das dem Theisten ganz und gar nicht gefallen mag), dass Gott nicht um alles weiß, was in der Welt geschieht, sich nicht darum kümmert, er nichts dagegen zu machen vermag – oder gar nicht existiert!
Philosophische Winkelzüge Versuche, diese verhee-
renden Folgerungen zu umgehen, müssen das oben genannte Argument in Teilen unterlaufen. Zu leugnen, dass es letztlich überhaupt so etwas wie das Böse gibt, wie es Anhänger der Christlichen Wissenschaft tun, löst das Problem zwar auf einen Streich, ist als Mittel aber nicht jedem recht. Auch wenn man alle drei Gott zugeschriebenen Eigenschaften aufgibt (und seine Allwissenheit, Allmacht und moralische Güte begrenzt), ist das für die meisten Theisten nur schwer hinzunehmen. Insofern ergeht sich die übliche Strategie in Erklärungsversuchen darüber, wie das Böse und Gott (mit all seinen unberührten Eigenschaften) de facto nebeneinander existieren können. Solche Versuche greifen sehr häufig AussaZwei Probleme des „Bösen“
Das „Problem des Bösen“ kann in zwei völlig verschiedenen, wenngleich verwandten Versionen auftreten. In der logischen Version (grob dargestellt im ersten Teil dieses Kapitels) wird durch ein deduktives Argument aufgezeigt, dass das Böse und Gott unmöglich nebeneinander existieren können: Es wird behauptet, dass das Wesen Gottes mit dem Auftreten des Bösen unvereinbar und der Glaube an Gott daher irrational sei. Die auf Belegen basierende Version des „Problems des Bösen“ hingegen ist im Grunde eine Umkehrung des teleologischen Gottesbeweises (siehe Seite 152), da sie endlose Schreckensszenarien nutzt, um daraus zu folgern, dass das Böse sehr unwahr-
scheinlich das Werk eines allmächtigen und allliebenden Gottes ist. Diese zweite Version (die lediglich darauf abzielt zu zeigen, dass die Existenz Gottes sehr unwahrscheinlich ist) ist zwar weniger ambitioniert als die logische Version, ist aber sehr viel schwieriger zu entkräften. Die logische Version kann formal widerlegt werden, indem man zeigt, dass ein Nebeneinander von Gott und dem Bösen möglich ist, egal für wie unwahrscheinlich man dies halten mag. Die auf Belegen basierende Version dagegen stellt eine größere Herausforderung für den Theisten dar, insofern er erklären muss, wie ein für den Menschen höheres Wohl aus all dem Bösen dieser Welt erstehen solle.
Das Problem des Bösen ge 6 an, indem behauptet wird, dass es „moralisch hinreichende Gründe“ gibt, warum Gott nicht immer beschließen mag, Leid und Schmerz aus der Welt zu schaffen. Dieser Im März 2005 fand man in FloIdee liegt im Weiteren die Annahme zugrunde, dass eben dierida, USA, die halb verweste se göttliche Entscheidung in gewissem Sinne und auf lange Leiche der neunjährigen JessiSicht in unser aller Interesse liege. Kurzum, das Böse in der ca Lunsford in einem kleinen Welt hat letztlich sein Gutes: Es ergeht uns besser als wenn Erdloch. Sie war dort erstickt, es das Böse nicht gäbe. nachdem der 46-jährige verurAber welche besseren Dinge können wir erwarten, die uns teilte Sexualstraftäter John den Preis der menschlichen Not kosten? Die wahrscheinlich Couey sie entführt und woschlagkräftigste Replik auf das „Problem des Bösen“ ist die chenlang immer wieder versogenannte „Verteidigung der Willensfreiheit“ (freewill gewaltigt hatte. defence). Danach ist das Leid der Preis, den wir bezahlen müssen (und der es wert ist) für die Freiheit, über unsere Handlungen selbst entscheiden zu können (siehe Seite 168). Eine weitere wichtige Idee ist die, dass wahre moralische Eigenschaften und Tugenden auf dem Amboss des menschlichen Leids geschmiedet werden: Nur indem er Not und Leid überwindet, den Unterdrückten zur Seite steht und sich den Tyrannen widersetzt usw., kann der wahre Held oder Heilige erstrahlen. Bemühungen, das „Problem des Bösen“ zu umgehen, verlaufen sich vor allem dann, wenn sie die willkürliche Verteilung und das schiere Ausmaß des menschlichen Leids zu erklären versuchen. Wie oft müssen Unschuldige leiden, während die „Bösen“ ungeschoren davon kommen. Wie oft scheint unfassbares Leid das Maß zu übersteigen, das für die moralische Charakterbildung nötig wäre. Angesichts des ganzen Elends dieser Welt bleibt dem Theisten als letzter Ausweg nur noch, sich darauf zu berufen, dass „Gottes Wege rätselhaft sind“ – dass es unverfroren, überheblich und anmaßend sei, wenn wir als schwache Menschenwesen die Zwecke und Absichten eines allmächtigen und allwissenden Gottes in Zweifel ziehen. Dass es ungebührlich sei, Gründe finden zu wollen, um das Walten des göttlichen Willens erklären zu können. Das jedoch ist ganz klar ein Appell an den Gottesglauben, der sehr wahrscheinlich an all jenen vorbeigehen wird, die nicht ohnehin schon gläubig sind.
Worum esBöses gehtzu? Warum lässt Gott
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42 Die Verteidigung der Willensfreiheit Das allgegenwärtige Böse in der Welt stellt für die theistische Idee von der Existenz eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes die wohl schwerste Herausforderung dar. Doch, so sagen die Theisten, das Böse existiert, weil wir Menschen frei sind, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Der freie menschliche Wille ist eine göttliche Gabe von enormem Wert, aber Gott hätte uns diese Gabe nicht verleihen können, ohne nicht gleichzeitig zu riskieren, dass wir sie missbrauchen. Also können wir Gott nicht verantwortlich machen für das Böse, das geschieht, denn das Böse ist unsere Schuld allein, und es sollte nicht benutzt werden, um Gottes Existenz in Zweifel zu ziehen. Die offenkundige Existenz des Bösen – die tagtäglichen Dramen von Schmerz und Leid, die uns umgeben, lassen vermuten, dass Gott, so es ihn überhaupt gibt, weit entfernt ist von jenem vollkommenen Wesen, das die jüdisch-christliche Tradition beschreibt. Vielmehr vermuten wir ein Wesen, das entweder nicht willens oder nicht fähig ist, all die Schrecken von uns abzuwenden, und daher unsere Verehrung kaum verdient, geschweige denn unsere Anbetung. Alle Versuche, diese Herausforderung abzuwenden, müssen zeigen, dass es tatsächlich hinreichende Gründe gibt, warum ein moralisch vollkommener Gott beschließen könnte, das Böse in der Welt zuzulassen. Die bekannteste und einflussreichste Antwort, welche die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte hierzu entwickelt hat, ist die sogenannte Verteidigung der Willensfreiheit (freewill defence). Die Freiheit, Entscheidungen treffen zu können, ermöglicht es uns, ein Leben von wahrem moralischem Wert zu leben und in eine tiefe, von Liebe und Vertrauen geprägte Beziehung mit Gott zu treten. Doch diese Freiheit können wir auch missbrauchen, um falsche Entscheidungen zu treffen – ein Risiko, das es nach dieser Darstellung
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Die Verteidigung der Willensfreiheit
Die Verteidigung der Willensfreiheit offenbar wert ist, und ein Preis, der sich lohnt. Doch Gott hätte die Möglichkeit der moralischen Falschheit nicht beseitigen können, ohne uns damit einer ungleich größeren Gabe zu berauben – der Fähigkeit zu moralischer Größe. Obwohl sich die Position hartnäckig hält und bis heute eine beständige Wirkung zeigt, ist sie doch mit erheblichen Problemen behaftet.
Das natürlich Böse Das vielleicht offensichtlichste Problem ist die Existenz des natürlich Bösen in der Welt. Selbst wenn wir gelten lassen, dass der freie Wille ein so wertvolles Gut ist, dass es den Preis des moralisch Bösen wert ist – welches entsteht, wenn der Mensch seine Freiheit für falsche Entscheidungen nutzt –, stellt sich die Frage, welchen möglichen Sinn das natürlich Böse haben soll? Inwiefern würde Gott unseren freien Willen untergraben oder schmälern, wenn er das HI-Virus, Hämorrhoiden, Moskitos, Überschwemmungen und Erdbeben auf einen Schlag ausmerzen würde. Die Ernsthaftigkeit des Problems wird in einigen theistischen Antworten dazu deutlich: Naturkatastrophen, Krankheiten, Seuchen usw. seien im wahrsten Sinne des Wortes das Werk des Teufels sowie einer Reihe weiterer gefallener Engel und Dämonen, heißt es. Solch großes Elend sei Gottes „gerechte“ Strafe für Adam und Evas Erbsünde im Paradies. Letztere Aussage führt alles natürlich Böse auf den ersten Fall von moralisch Bösem zurück und sucht damit Gott von allem Vorwurf zu entbinden. Doch scheint diese Erklärung nicht überzeugend. Denn ist es nicht eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit von Gott, den Ur-, Ur-, Ur(…)-Enkeln der eigentlichen Übeltäter die Strafe für den allerersten Sündenfall aufzubürden? Und was sollen wir, die wir durch die Handlungen unserer (fernsten) Willensfreiheit in der Popkultur Im Film Minority Report spielt Tom Cruise den Polizeichef John Anderton in der Abteilung „Precrime“ der Washingtoner Polizei. Anderton nimmt Mörder fest, noch bevor sie die Morde tatsächlich begehen, da ihre Straftaten angeblich mit absoluter Sicherheit vorausgesehen werden. Als An-
derton selbst unter Verdacht gerät, flüchtet er. Er selbst glaubt von sich nicht, eines Mordes fähig zu sein. Am Ende scheitert das Projekt Precrime und mit ihm der Determinismus … und lässt den Glauben des Zuschauers an den freien Willen unbeschadet.
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Der ontologische Gottesbeweis
Glaube und Vernunft
Straftheorien
Ist es (moralisch) schlecht, Pech zu haben?
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Religion
Sind wir wirklich frei? In der Debatte um die Willensfreiheit geht es vor allem um eine Frage: Wie kann unsere Vorstellung, dass der Mensch in seinen Handlungen frei ist und seine Geschicke selbst in der Hand hält, zusammengeführt werden mit dem deterministischen Verständnis der Wissenschaft, wonach diese Handlungen (wie auch alle anderen Ereignisse) nach feststehenden Gesetzen ablaufen? Kurz gesagt, der Determinismus geht davon aus, dass jedes Ereignis eine ihm vorausgehende Ursache hat. Jeder Zustand ist bedingt oder determiniert durch einen vorangegangenen Zustand, welcher wiederum selbst das Ergebnis einer Folge weiterer vorangegangener Zustände ist. Doch wenn all unsere Handlungen und Entscheidungen auf diese Weise bestimmt sind (durch eine Abfolge von Ereignissen, die unendlich zurückreichen, gar bis in eine Zeit, da wir selbst noch gar nicht geboren waren), wie können wir uns dann als die wahren Akteure unserer Handlungen und Entscheidungen betrachten? Und wie können wir überhaupt und in begreiflicher Weise dafür verantwortlich gemacht werden? Der Determinismus scheint die Idee der Willensfreiheit zu bedrohen und damit auch unsere Stellung als moralische Wesen. Die Frage ist zutiefst bedeutsam und hat ein breites Spektrum philosophischer Antworten erbracht. Einige wichtige davon seien hier genannt: • Starker Determinismus Nach dieser Position ist der Determinismus alleine wahr und mit der Willensfreiheit unvereinbar. Unsere Handlungen sind ursächlich determiniert und die Idee eines freien Willens in dem Sinne, dass wir so oder anders handeln könnten, ist illusorisch. Moralische Missbilligung oder Belobigung im normalen Verständnis haben hier keinen Platz.
• Schwacher Determinismus Nach dieser Position ist der Determinismus zwar wahr, mit dem freien Willen aber vereinbar. Die Tatsache, dass wir anders gehandelt hätten, wenn wir uns anders entschieden hätten, liefert eine befriedigende und hinreichende Idee von der Handlungsfreiheit. Dass eine Entscheidung ursächlich determiniert ist, spielt keine Rolle; wichtig ist nur, dass sie nicht unter Zwang oder entgegen unserem Wollen erfolgt ist. Eine Handlung, die in diesem Sinne frei ist, kann moralisch bewertet werden. • Libertarianismus Diese Position hält den Determinismus für unvereinbar mit dem freien Willen und ist daher eine Absage an den Determinismus. Die Ansicht des schwachen Determinismus, dass wir auch anders hätten handeln können, ist gehaltlos, denn eine solche Entscheidung nicht zu treffen, ist selbst wiederum kausal determiniert (oder wäre es, ließe man den Determinismus als wahr gelten). Libertarier sind daher der Meinung, dass es Willensfreiheit gibt und der Determinismus folglich falsch ist. Das Problem der Libertarier besteht in der Frage, wie eine Handlung indeterminiert sein kann – insbesondere, wie ein unverursachtes Ereignis nicht zufällig sein kann? Denn Zufälligkeit wäre der Idee der moralischen Verantwortung nicht minder schädlich als der Determinismus. Diese Fragen lassen ein tiefes Loch im Kern des Libertarianismus vermuten. Die Libertarier haben andere Erklärungen für das menschliche Handeln verworfen und an deren Stelle nichts als einen großen, schwarzen Fleck gemalt.
Die Verteidigung der Willensfreiheit
Quantentheorie – die Rettung? Die meisten Philosophen konnten der Idee des Determinismus nur schwerlich widerstehen. Und so haben sie es entweder akzeptiert, dass der freie Wille illusorisch sei, oder sie waren eifrig bemüht, einen Ausgleich zu finden. Gleichzeitig bemühten sich die Libertarier um Erklärungen, wie Ereignisse ohne Ursache (indeterminiert) entstehen könnten, die aber sehr „spontan ausgedacht“ oder einfach nur abwegig anmuteten. Aber kommt ihnen hier nicht die Quantentheorie
zu Hilfe? Nach ihr sind Ereignisse auf subatomarer Ebene indeterminiert, dem puren Zufall unterworfen, sie „passieren einfach“. Eröffnet das nicht einen Weg, den Determinismus zu umgehen? Nicht wirklich. Kern der in der Quantenphysik postulierten Indeterminiertheit ist die Zufälligkeit; doch die Vorstellung, unsere Handlungen und Entscheidungen seien auf einer tieferen Ebene zufällig, trägt nichts dazu bei, die Idee der moralischen Verantwortlichkeit zu retten.
Urahnen ohnehin schon verurteilt sind, von einem freien Willen dann überhaupt haben? Doch lassen wir die Probleme des natürlich Bösen einmal beiseite. Die Verteidigung der Willensfreiheit bricht unausweichlich einen größeren philosophischen Sturm los, der ein weiteres Problem gebiert – das Problem des freien Willens selbst. Die Verteidigung der Willensfreiheit geht davon aus, dass unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, im wirklichen und vollen Sinn frei ist: Wenn wir entscheiden, etwas zu tun, dann wird diese Entscheidung nicht bestimmt oder verursacht von irgendeinem Faktor außerhalb unserer Person. Wir haben immer die Möglichkeit, auch anders zu handeln; das liegt ganz bei uns. Diese sogenannte „libertäre“ Darstellung der Willensfreiheit stimmt sehr gut mit unseren alltäglichen Erfahrungswelten, in denen wir agieren und entscheiden, überein. Sie sei aber, wie viele Philosophen mutmaßen, aus Sicht des Determinismus unmöglich aufrecht zu erhalten. Und wenn diese libertäre Darstellung, die der Verteidigung der Willensfreiheit unterliegt, nicht haltbar ist, dann fällt die ganze Verteidigung selbst natürlich sofort in sich zusammen.
es geht DieWorum Freiheit, Falsches zu tun
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Religion
43 Glaube und Vernunft Trotz einiger heroischer Versuche in jüngerer Zeit, die traditionellen Argumente für die Existenz Gottes neu zu beleben, rechnen die meisten Philosophen nicht mit einer erfolgreichen Wiederbelebung. Die meisten Gläubigen jedoch lassen sich von so einer Folgerung nicht beeindrucken. Ihr Glaube ist nicht abhängig von derartigen Argumenten und würde durch ihre Widerlegung auch nicht erschüttert. Für Gläubige sind die üblichen Regeln des rationalen Diskurses auf religiöse Fragen sowieso nicht anwendbar. Abstrakte philosophische Spekulationen und Überlegungen würden sie ohnehin nicht vom Glauben überzeugen, ebenso wenig wie sie sie dazu bringen würden, sich vom Glauben loszusagen. Die bloße Annahme, vernunftmäßige Anstrengungen könnten Gottes Zwecke durchsichtig oder uns begreiflich machen, ist in ihren Augen pure Arroganz. Der Glaube an Gott ist letztlich keine Sache der Vernunft, sondern der Gläubigkeit. Glaube mag blind sein, eine belanglose Sache ist er aber nicht. Jene, die den Glauben über die Vernunft erheben, die sogenannten „Fideisten“, sehen darin einen alternativen Pfad zur Wahrheit und im Falle des religiösen Glaubens den rechten Weg schlechthin. Nichtsdestotrotz verlangt die religiöse Überzeugung, die letztlich durch Gottes Einflussnahme auf die Seele erlangt wird, einen freiwilligen und bewussten Willensakt seitens des Gläubigen; Glaube verlangt einen Sprung, aber es ist kein Sprung ins Dunkle. Philosophen dagegen streben danach, mögliche Argumente zugunsten des religiösen Glaubens rational zu bewerten. Sie prüfen mögliche Beweise, wägen ab und kommen auf dieser Basis dann zu einem Schluss. Fideisten und Philosophen scheinen sich mit gänzlich unterschiedlichen Entwürfen zu befassen. Angesichts scheinbar weniger oder gar keiner Gemeinsamkeiten stellt sich die Frage, ob es überhaupt eine Aussicht auf eine Einigung oder Verständigung geben kann.
Zeitleiste
ca. 375 v. Chr.
ca. 300 v. Chr.
Die Theorie des Göttlichen Moralgebots
Das Problem des Bösen
Glaube und Vernunft
Abraham und Isaak Die unüberbrückbare Kluft zwischen Glaube und Vernunft veranschaulicht die biblische Geschichte von Abraham und Isaak sehr schön. Abraham, dessen bedingungsloser Gehorsam gegenüber Gottes Geboten sogar soweit geht, den eigenen Sohn zu opfern, wird als archetypisches und paradigmatisches Beispiel des religiösen Glaubens hochgehalten. Vom religiösen Kontext gelöst und rational betrachtet, erscheint Abrahams Verhal-
ten jedoch völlig gestört. Jede Alternative in dieser Situation wäre allemal besser und glaubhafter gewesen als die, die er gewählt hat (bin ich irre/habe ich mich verhört/will Gott mich prüfen/ist der Teufel in Gottes Gewand am Werk/kann ich das schriftlich haben?). Abrahams Verhalten ist dem rational geneigten Nichtgläubigen schlicht und einfach schleierhaft.
Glaubensbilanz Die Fideisten kehren ihre Ansicht,
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Wer anfängt, das Christen-
dass religiöser Glaube keiner rationalen Begründung zu- tum mehr zu lieben als die gänglich ist, in eine positive Aussage: Wenn ein (vollstänWahrheit, wird weitermachen, dig) rationaler Weg offen stünde, bräuchte es keinen Glauseine eigene Kirche oder ben. Da aber die Vernunft versagt, eine Rechtfertigung zu liefern, springt der Glaube ein, diese Lücke zu füllen. Der Konfession mehr zu lieben als das Christentum und damit dazu notwendige Willensakt auf Seiten des Gläubigen fügt der Aneignung des Glaubens einen moralischen Wert enden, sich selbst mehr zu hinzu. Und eine religiöse Hingabe, die ihren Sinn nicht in lieben als alles andere. Frage stellt, wird zumindest von jenen, die sie teilen, als Samuel Taylor Coleridge, 1825 aufrichtige Frömmigkeit geehrt. Der Glaube hat durchaus seinen Reiz: Er verleiht dem Leben einen klaren Sinn; er spendet Trost in Zeiten der Kümmernis und gibt die feste Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod und so fort. Der religiöse Glaube bedient allerhand menschliche Grundbedürfnisse und Ängste. Viele werden durch ihn geläutert und gar zu besseren Menschen, indem sie eine religiöse Lebensweise annehmen. Gleichzeitig haben religiöse Symbole sowie Prunk und Zier nahezu unbegrenzte künstlerische Inspiration und kulturelle Bereicherung geliefert. Viele der Punkte, die Fideisten als Plus für den Glauben verbuchen würden, stellen die atheistischen Philosophen auf die Minus-Seite. Zu den kostbarsten Grundsätzen des säkularen Liberalismus, der mit J. S. Mill seinen wohl einflussreichsten
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Glaube und Vernunft
Wissenschaft und Pseudowissenschaft
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Religion
Die Pascal’sche Wette Mal angenommen, uns sind die Beweise für Gottes Existenz schlicht nicht beweiskräftig genug. Was nun? Dann können wir an Gott glauben oder es bleiben lassen. Wenn wir uns entscheiden, an ihn zu glauben, und damit richtig liegen (er also existiert!), dann erlangen wir ewig währende Glückseligkeit; wenn nicht, verlieren wir nur wenig. Auf der anderen Seite, wenn wir uns entscheiden, nicht an Gott zu glauben, und damit richtig liegen (weil er nicht existiert!), verlieren wir nichts, gewinnen aber auch nicht viel dazu. Liegen wir aber falsch, dann ist unser Verlust immens – bestenfalls kommen wir nicht in den Genuss der ewigen Glückseligkeit, schlimmstenfalls erleiden wir ewige Verdammnis. Es gibt also viel zu gewinnen, und wenig zu verlieren: Schön blöd also, wer nicht auf Gottes Existenz wettet. Dieses
geniale Argument für den Glauben an Gott ist als „Pascal‘sche Wette“ bekannt. Blaise Pascal hat es ersonnen und in seinen 1670 erschienenen Pensées vorgetragen. Es mag genial sein, tatsächlich ist es aber auch fehlerhaft. Ein offensichtliches Problem besteht darin, dass es voraussetzt, wir könnten frei entscheiden, was wir glauben – aber Glaube funktioniert so nicht. Schlimmer noch, das Argument liefert von vornherein nicht genügend Informationen über Gott, um die Wette ordentlich abschließen zu können. Eine richtige Wette hängt nämlich von detaillierten Kenntnissen über Gottes Vorlieben und Abneigungen ab. Was, wenn Gott überhaupt nicht will, dass man an ihn glaubt und ihn verehrt und gegen alle, die aus Eigennutz auf Risiko spielen, eine große Abneigung hegt?
Vertreter hat, zählen die Freiheit der Gedanken und die Meinungsfreiheit, was sich nur schlecht verträgt mit kritikloser Hinnahme, wie sie von frommen Gläubigen gepflegt und besungen wird. Blinde Hingabe, vom Fideisten Wägen wir Gewinn und hoch geschätzt, hat für den Nichtgläubigen leicht etwas Verlust ab, wenn wir uns von naiver Vertrauensseligkeit und Aberglaube. Bereitwilfür die Wette entscheiden, lige Akzeptanz von Autorität kann dazu führen, skrupeldass Gott ist. Schätzen wir losen Sekten oder kultischen Gemeinschaften zu verfallen, diese beiden Fälle ein: was mitunter in Fanatismus und Zelotismus umschlagen Wenn ihr gewinnt, so kann. Seinen Glauben in Andere zu setzen, ist dann begewinnt ihr alles, und wenn wundernswürdig, wenn diese Anderen selbst bewundernsihr verliert, so verliert ihr würdig sind. Doch wenn die Vernunft außen vor bleibt, ist allen Arten von Ausschweifungen schnell Tür und Tor genichts: Wettet also, ohne zu öffnet. Es ist wohl kaum zu leugnen, dass zu bestimmten zögern, dass er ist. Zeiten in etlichen Religionen die Vernunft durch IntoleBlaise Pascal, 1670 ranz, Bigotterie, Fanatismus, Sexismus und Schlimmeres ersetzt worden ist.
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Glaube und Vernunft
John Stuart Mill über vernunftmäßige Freiheit In seinem Werk Über die Freiheit (1859) warnt John Stuart Mill in einer leidenschaftlichen Verteidigung der Rede- und Meinungsfreiheit vor den Gefahren einer Kultur der geistigen Unterdrückung, in der das kritische Hinterfragen allgemein anerkannter Meinungen niedergedrückt und „die aktivsten und neugierigsten Geister“ Angst haben müssen, sich dem „freien und gewagten Nachdenken über bedeutendste Gegenstände“ hinzugeben. Geistige Entwicklung wird eingeengt, die Ver-
nunft eingeschüchtert, und die Wahrheit selbst ist nur schwach verwurzelt: „Wahre Meinung braucht … als eine vorgefasste Meinung einen Glauben, der unabhängig von Argumenten und beweisfest ist – dies ist aber nicht die Weise, in der ein vernunftbegabtes Wesen über die Wahrheit entscheiden sollte. Eine so besessene Wahrheit ist nur ein Aberglaube mehr, der sich zufällig an Worte klammert, die eine Wahrheit ausdrücken.“
In einer Bilanz müssen immer beide Seiten betrachtet werden, Plus und Minus, und oft erscheint ein Aktivposten auf der einen Seite als Passivposten auf der anderen. Insoweit unterschiedliche Abrechnungsmethoden gebraucht werden, bleibt die Abrechnung selbst sinn- und Ich glaube, also zwecklos. Und genau diesem Eindruck kann man sich nur verstehe ich. schwer erwehren, wenn Gläubige und Nichtgläubige mitei- Augustinus von Hippo, nander diskutieren. Meist reden sie aneinander vorbei, ca. 400 n. Chr. schaffen es nicht, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden und nähern sich einander keinen Millimeter an. Atheisten ergehen sich zu ihrer eigenen Befriedigung darin zu beweisen, dass Glaube irrational sei. Die Gläubigen hingegen befinden solch vermeintliche Beweise als irrelevant und am Thema vorbei. Glaube ist letztendlich irrational (nicht rational); er setzt sich stolz und trotzig in Opposition zur Vernunft – und in gewissem Sinne ist genau das der springende Punkt.
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Worum es geht Glaubenssprünge
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Politik, Gerechtigkeit und Gesellschaft
44 Positive und negative Freiheit Freiheit – das ist etwas, worüber wir uns fast alle einig sind. Freiheit ist bedeutend, etwas Gutes und eines der wichtigsten politischen Ideale – vielleicht das allerwichtigste überhaupt. Freiheit – das ist aber auch etwas, worüber wir uns fast alle uneinig sind. Wie viel davon sollten wir haben? Sind Einschränkungen nötig, damit die Freiheit gedeihen kann? Wie bringen wir Ihre Freiheit, etwas zu tun, in Einklang mit meiner, etwas anderes zu tun?
Heikle Fragen, deren Diskussion zudem erschwert wird durch die grundsätzliche Uneinigkeit über das Wesen der Freiheit an sich. Da lauert der Verdacht, dass es „die“ Freiheit gar nicht gibt. Das Wort mag in seiner Bedeutung nicht nur unterschiedlich gefärbt sein, es mag sich auch auf eine ganze Reihe recht unterschiedlicher, wenn auch verwandter Vorstellungen beziehen. Um etwas Licht in dieses Dunkel zu bringen, kommen wir an einem einflussreichen Philosophen des 20. Jahrhunderts nicht vorbei. Isaiah Berlin wurde vor allem durch seine wichtige Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit bekannt, die er in den Mittelpunkt seiner Diskussionen stellt.
Zwei Auffassungen von Freiheit George sitzt da mit einem Glas Brandy vor sich. Niemand hält ihm eine Pistole an den Kopf und sagt ihm, er solle trinken. Es gibt keinen Zwang und auch keinen Hinderungsgrund – nichts zwingt ihn zu trinken, nichts hält ihn davon ab. Er ist frei zu tun und zu lassen, wie es ihm beliebt. Doch George ist Alkoholiker. Er weiß, dass es schlecht ist für ihn, er könnte sogar daran sterben. Er könnte seine Freunde verlieren, seine Familie, seine Kinder, seine Arbeit, seine Würde, seine Selbstachtung … doch er kann nicht anders. Er streckt die zittrige Hand nach dem Glas aus … und hebt es an seine Lippen.
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ca. 1260 Handlungen und Unterlassungen
Positive und negative Freiheit Diese kleine Szene illustriert zwei sehr unterschiedliche Arten von Freiheit. Oft begreifen wir Freiheit als Abwesenheit äußerlicher Einschränkungen oder Zwänge: Du bist frei, solange dich nichts hindert zu tun, was du willst. Berlin bezeichnet dies als „negative Freiheit“; negativ insofern, als Freiheit hier definiert ist durch das, was nicht da ist – es gibt keinerlei Einschränkungen oder Behinderungen von außen. In diesem Sinne ist George, der Trinker, vollkommen frei. Doch George kann nicht anders. Er verspürt den Zwang zu trinken, auch wenn er weiß, dass es besser für ihn wäre, es bleiben zu lassen. Er ist nicht Herr seiner selbst und hält sein Schicksal nicht vollkommen in eigenen Händen. Soweit er getrieben ist zu trinken, hat er keine Wahl und ist nicht frei. Was George fehlt, ist das, was Berlin als „positive Freiheit“ bezeichnet – positiv insofern, als Freiheit hier definiert ist durch das, was im Handelnden selbst liegen muss (Selbstkontrolle, Eigenverantwortung, die Fähigkeit, im Einklang mit den wohlverstandenen, eigenen Interessen zu handeln). In diesem Sinne ist George ganz eindeutig nicht frei.
Negative Freiheit Im negativen Sinne frei sind wir nach Berlin, soweit uns niemand daran hindert zu tun, was und wie wir wollen. Doch indem wir unsere Freiheit ausüben, treten wir Anderen unausweichlich auf die Füße. Übe ich beispielsweise meine Freiheit aus und trällere im Bad laut unter der Dusche, so versage ich dem Anderen die Freiheit, einen ruhigen Abend zu genießen. Niemand kann uneingeschränkte Freiheit genießen, ohne in die Freiheit Anderer einzugreifen. Das gesellschaftliche Zusammenleben braucht also ein gewisses Maß an Kompromiss. Der Standpunkt, den die klassischen Liberalen hierzu einnehmen, definiert sich über das sogenannte „Schadensprinzip“. Aufgestellt hat dieses Prinzip John Stuart Mill, einer der einflussreichsten liberalen Denker des Viktorianischen England. In seinem Werk Über die Freiheit legt er fest, dass es jedem Einzelnen erlaubt sein solle, in jeglicher Weise zu handeln, die Anderen keinen Schaden zufügt. Nur dort, wo Schaden verursacht wird, hat die Gesellschaft das Recht einzugreifen und Schranken zu setzen. Auf etwa die gleiche Art lässt sich ein Bereich von privater Freiheit definieren, der unantastbar und geschützt ist gegen äußere Einmischungen oder Autoritäten. In diesem Bereich ist es jedem Einzelnen erlaubt, seinen persönlichen Vorlieben und Neigungen unbehindert nachzugehen. Auch im politischen Sinne ist jeder frei, diverse unantastbare Rechte oder Freiheiten auszuüben (freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Gewissensfreiheit usw.).
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Der Käfer in der Schachtel
Positive und negative Freiheit
Das Differenzprinzip
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Politik, Gerechtigkeit und Gesellschaft Während dieses von den Liberalen hochgehaltene negative Verständnis von Freiheit allgemein überwiegt, zumindest in den westlichen Ländern, bleiben viele heikle Fragen offen. So könnten wir uns fragen, ob die Freiheit, die einer genießt, der weder über die Fähigkeiten noch die Mittel verfügt, zu tun, was er „frei“ ist zu tun, auch wirklich ihren Namen verdient. Es ist der Schatten der Freiheit, der jeden Bürger der USA darin frei sein lässt, Präsident zu werden. Und tatsächlich, es gibt kein gesetzliches oder verfassungsmäßiges Hindernis; insoweit ist jeder amerikanische Bürger frei, Präsident zu werden. In Wirklichkeit aber sind viele davon ausgeschlossen, weil ihnen die notwendigen Mittel fehlen (Geld, Bildung, sozialer Status). Kurzum, es fehlt ihnen die substanzielle Freiheit, das auszuüben, wozu sie formal das Recht haben. Dies ist ein möglicher Ansatzpunkt für sozial gesinnte Liberale, diese Nachteile zu beheben, um lediglich formale Freiheit in reale, substanzielle Freiheit zu verwandeln und Formen der staatlichen Einmischung zu befürworten, die einer positiven Definition von Freiheit eher entsprechen.
Positive Freiheit Während negative Freiheit die Freiheit von äußerer Einmischung ist, wird positive Freiheit zumeist als die Freiheit charakterisiert, bestimmte Ziele zu realisieren; als eine Art Ermächtigung, die es einer Person erlaubt, all ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, sich selbst zu verwirklichen, zu Eigenverantwortung und Selbstbestimmtheit zu gelangen. In einem weiter gefassten politischen Sinne wird Freiheit in diesem positiven Sinn als Befreiung von sozialen und kulturellen Zwängen gesehen, die andernfalls der Selbstverwirklichung im Wege stünden. Während die negative Freiheit im Kern interpersonal ist, also als eine Beziehung zwischen den Menschen besteht, ist die positive Freiheit intrapersonal, das heißt sie entwickelt sich innerhalb des Einzelnen. Genau so wie bei George, dem Trinker, ein innerer Konflikt zwischen seiner eher rationalen Seite und seinem niederen Verlangen besteht, setzt das positive Konzept von Freiheit eine Teilung des Selbst in höhere und niedere Sphären voraus. Die Erlangung der Freiheit zeichnet sich aus durch den Triumph des (moralisch und rational) vorzuziehenden höheren Selbst. Es liegt wohl teilweise am Konzept des geteilten Selbst, das für Berlins Empfinden implizit in der positiven Das Subjekt – eine Freiheit enthalten ist, dass er ihr so skeptisch gegenüberPerson oder Gruppe von stand. Um auf George zurückzukommen: Der Teil in ihm, Personen – ist oder sollte der seine eigenen wohlverstandenen Interessen kennt, gilt frei sein, zu tun oder zu als sein höheres, sein rationales Selbst. Gelingt es ihm sein, was sie tun oder sein selbst nicht, dass dieser Teil die Oberhand erlangt, so kann, ohne Einmischung braucht er vielleicht Hilfe von außen – von Leuten, die anderer Personen. verständiger sind als er und wissen, was er am besten tun Isaiah Berlin, 1959 soll. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis wir uns
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Positive und negative Freiheit
Der Missbrauch der Freiheit „Oh Freiheit, welche Verbrechen begeht man in deinem Namen!“ – so die berühmt gewordenen Worte, die Madame Roland unmittelbar vor ihrer Hinrichtung 1793 rief. Doch die Gräuel und Exzesse der Französischen Revolution sind bloß ein Beispiel von vielen, die im Namen der Freiheit verübt wurden – insbesondere der Freiheit im positiven Sinne. Isaiah Berlins tiefes Misstrauen gegenüber der positiven Freiheit wurde geschürt von den ungeheuerlichen Taten des 20. Jahrhunderts, vor allem denen Stalins. Diese entsprangen nicht zuletzt der Überzeugung (einer schlechten Angewohnheit der Sozialreformer), dass es für die Gesellschaft einen einzigen
richtigen Weg gebe, ein einziges Heilmittel für ihre Gebrechen. Entgegen dieser Sicht war Berlin selbst ein starker Befürworter des Pluralismus menschlicher Werte. Es gibt, so argumentierte er, eine Vielzahl von Werten, die individuell und nicht miteinander vereinbar sind, aus denen wir radikal eine Wahl treffen müssen. Seine ohnehin liberale Verbundenheit mit der negativen Freiheit untermauerte er zusätzlich durch die Auffassung, dass diese Art von Freiheit das günstigste Umfeld fördere, in dem Menschen ihr Leben gestalten und lenken können, eben weil sie eine solche Wahl treffen.
berechtigt fühlen, George und seine Flasche voneinander zu trennen. Und was für George gilt, gilt auch für den Staat, fürchtete Berlin: Unter dem Banner der (positiven) Freiheit marschierend, kehrt sich die Regierung der Tyrannei zu, setzt für die Gesellschaft ein bestimmtes Ziel, bevorzugt eine bestimmte Lebensweise für ihre Bürger; entscheidet über deren Wünsche und Bedürfnisse, ohne Rücksicht darauf, was diese wirklich wollen (siehe Kasten).
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Menschen zu manipulieren, sie auf Ziele zuzutreiben, die Du, der soziale Reformer, siehst, die die Menschen selbst aber möglicherweise nicht sehen, heißt, ihnen ihr Menschsein zu versagen, sie als Objekte ohne eigenen Willen zu behandeln, und sie daher zu erniedrigen. Isaiah Berlin, 1959
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Worum esFreiheiten geht Unterschiedliche
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Politik, Gerechtigkeit und Gesellschaft
45 Das Differenzprinzip Die Dynamiken menschlicher Gesellschaften sind hochkomplex, jedoch ist anzunehmen, dass gerechte Gesellschaften in aller Regel stabiler sein und länger bestehen werden als ungerechte. Die Mitglieder einer Gesellschaft müssen glauben, dass es insgesamt fair sei, sich an die Regeln zu halten, die diese Gesellschaft zusammenhalten, und ihre Institutionen zu erhalten. Wie also sollten Lasten und Vorteile einer Gesellschaft unter ihren Mitgliedern verteilt sein, sodass die Gesellschaft zu einer gerechten wird? Wir könnten annehmen, dass die einzig wahre gerechte Verteilung der Güter einer Gesellschaft die ist, die auf alle Mitglieder gleich bedacht ist. Doch Gleichheit kann unterschiedliche Dinge bedeuten. Meinen wir die Gleichheit im Ergebnis? Dass jeder zu gleichen Teilen in den Genuss des Reichtums und der Vorteile kommt, die die Gesellschaft zu bieten hat, und jeder einen gleichgroßen Anteil der Lasten, die sie zu tragen hat, schultert? Doch die Schultern der einen sind da breiter als die der anderen, und die Gesellschaft als Ganzes könnte von den größeren Anstrengungen derer profitieren, die diese zu unternehmen imstande sind. Wenn der eine gewillt ist, größere Anstrengungen zu machen als der andere, sollte er dann nicht auch einen größeren Anteil der Vorteile einstreichen? Andernfalls kann es sein, dass manch einer mit einer größeren natürlichen Begabung diese nicht voll und ganz ausschöpft, sodass am Ende die Gesellschaft als Ganzes der Verlierer sein könnte. Vielleicht liegt die Lösung ja in der Gleichheit der Chancen, darin, dass jedes Mitglied einer Gesellschaft die gleichen Möglichkeiten hat, weiterzukommen und Erfolg zu haben, auch wenn einige daraus mehr machen mögen als andere und am Ende eben auch mehr Vorteile haben.
Zeitleiste 1651
Leviathan
Das Differenzprinzip
Rawls’sches Denken versus Utilitarismus Die Dynamik der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie entspringt zu einem guten Teil ihrer Opposition gegen einen klassischen utilitaristischen Ansatz (siehe Seite 69) zu dem gleichem Thema. Aus der utilitaristischen Perspektive ist jegliches Maß an Ungleichheit gerechtfertigt, vorausgesetzt, sie führt zu einem Reingewinn an Nutzen (z. B. Glück). Denkbar wäre beispielsweise, die Interessen der Mehrheit zu opfern zum Ausgleich für einen massiven Gewinn der Minderheit; oder ein massiver Verlust der Minderheit rechtfertigt sich dann, wenn er zu einem zureichenden Gewinn für die Mehrheit führt. Beide dieser Möglichkeiten sind im Rawls’schen Differenzprinzip ausgeschlossen, denn es verbietet, die Interessen
der schlechter Gestellten auf diese Weise zu opfern. Ein weiterer wichtiger Gegensatz ist der, dass Utilitaristen unparteiisch sind gegenüber den Interessen eines Einzelnen. Jeder ist aufgefordert, seine Interessen mit denen der anderen zu bündeln und stets den höchsten, nutzbringenden Gewinn anzustreben. Rawlsianer hingegen, die sich im (vorgestellten) Urzustand befinden, handeln egoistisch. Es sind zwei Dinge – Eigeninteresse verbunden mit Nichtwissen, was den eigenen künftigen Platz in der Gesellschaft betrifft –, die zu einem vernünftigen Einverständnis mit dem Differenzprinzip führen.
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In seinem 1971 erschienenen Buch Eine Theorie der GeEine Gesellschaft, die rechtigkeit liefert der US-Philosoph John Rawls einen sehr Gleichheit – im Sinne von einflussreichen Beitrag zur Debatte über soziale Gerechtig- Ergebnisgleichheit – vor keit und Gleichheit. Kern seiner Theorie ist das sogenannte Freiheit stellt, wird am „Differenzprinzip“, demzufolge Ungleichheiten in der GeEnde weder Gleichheit sellschaft nur gerechtfertigt sind, wenn es dadurch den am schlechtesten gestellten Mitgliedern der Gesellschaft besser noch Freiheit haben. Milton Friedman, 1980 geht, als es ihnen sonst gehen würde. Rawls’ Prinzip löste heftige Reaktionen aus, positive wie negative. Quer durch das politische Spektrum berief man sich auf sein Prinzip (wenn auch nicht immer so, wie Rawls es gefallen hätte), um politische Positionen zu rechtfertigen.
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Hinter dem Schleier des Nichtwissens Jede Auffassung sozialer Gerechtigkeit beinhaltet, zumindest implizit, die Vorstellung von Unparteilichkeit. Jegliche
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Das Differenzprinzip
Die Erfahrungsmaschine Rettungsboot Erde
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Politik, Gerechtigkeit und Gesellschaft
Die Pferde-Spatzen-Ökonomie Rawls’ Differenzprinzip fordert Gleichheit, es sei denn, von der Ungleichheit profitierten alle, so dass die Interessen der einen Gruppe denen der anderen nicht untergeordnet sein können. Doch sagt uns das Prinzip nichts über die relativen Gewinne der verschiedenen Nutznießer. So kann es also sein, dass eine noch so kleine Verbesserung für die schlechter Gestellten einen riesigen Gewinn für diejenigen rechtfertigt, die sich ohnehin schon am Löwenanteil der gesellschaftlichen Güter erfreuen. Und so konnten sich einige auf das Rawls’sche Prinzip berufen, die eigentlich sehr weit entfernt von seinem wesentlich egalitären
Standpunkt sind. Bemüht wurden die Rawls’schen Thesen gelegentlich für den sogenannten Trickle-Down-Effekt in der Wirtschaftspolitik zu Zeiten von Reagan und Thatcher, wo Steuererleichterungen für die Reichsten vorgeblich zu verstärkten Investitionen und wirtschaftlichem Wachstum führten, wovon vermeintlich auch die unteren Gesellschaftsschichten profitierten. Derlei Behauptungen bezeichnet der Ökonom J. K. Galbraith geringschätzig als „Pferde-Spatzen-Ökonomie“: „Wenn man den Pferden genug Hafer gibt, kommt am Ende auch etwas heraus als Futter für die Spatzen.“
Andeutung, die Prinzipien und Strukturen, auf denen ein soziales System fußt, seien verzerrt zugunsten einer bestimmten Gruppe (einer sozialen Klasse oder Kaste, zum Beispiel, oder einer politischen Partei) stempelt dieses System automatisch als ungerecht ab. Um dieses Konzept der Unparteilichkeit zu fassen, und um die Prinzipien der Gerechtigkeit auf Fairness zu begründen, brachte Rawls ein Gedankenexperiment ins Spiel, das seine Ursprünge in den Theorien des Gesellschaftsvertrags von Hobbes` und Rousseau hat (siehe Seite 184). Rawls fordert uns auf, uns vorzustellen, wir seien in einem, wie er es nennt, „Urzustand“ („original position“), in dem sämtliche persönlichen Interessen und Loyalitäten vergessen sind: „Niemand kennt seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw.“ Wir trachten vielleicht danach, unsere eigenen Interessen zu fördern, doch wissen wir eigentlich gar nicht, wo diese liegen, und somit sind einseitige Argumente zu eigenen Gunsten ausgeschlossen. Nicht wissend, welche Rolle in der Gesellschaft uns zukommen wird, sind wir gehalten, auf Nummer Sicher zu gehen und zu gewährleisten, dass keine Gruppe zugunsten einer anderen benachteiligt wird. Unparteilichkeit ist also, nur scheinbar paradoxerweise, die rationale und unausweichliche Wahl der eigennützig Handelnden in ihrem „Urzustand“. Soziale und ökonomische Strukturen und Regelungen können wir nur dann als eindeutig gerecht bezeichnen, so Rawls, wenn sie hinter diesem „Schleier des Nichtwissens“ verein-
Das Differenzprinzip bart worden sind. Und alle Entscheidungen, die kluge und vernünftig handelnde Individuen einer Gesellschaft treffen können, entsprechen am Ende einem gerechten Gesellschaftsvertrag. Das Differenzprinzip anzunehmen, ist das Beste und Klügste, das der vernünftig handelnde Entscheidungsträger tun kann, um die eigenen (unbekannten) künftigen Interessen Das Differenzprinzip zu schützen. ist eine stark egalitäre Die logische Folge des Differenzprinzips – die VorstelAuffassung, in dem Sinne lung, dass Ungleichheiten nur gerechtfertigt sind, wenn sie dass – wenn nicht eine den am schlechtesten Gestellten Vorteile bringen – ist, dass Verteilung vorliegt, die Ungleichheiten unter allen anderen Umständen inakzeptabel beide Beteiligten besser sind. Anders gesagt: Bedingungen der Gleichheit sollten gestellt – eine Gleichgeben sein, außer dort, wo das Differenzprinzip anzeigt, dass verteilung zu bevorzugen eine Ungleichheit zulässig ist. So können beispielsweise wirtschaftliche Regelungen, die die Position der besser Ge- ist. stellten stärken, die Position der am schlechtesten Gestellten John Rawls, 1971 zugleich aber unverändert lassen, nicht als gerecht gelten. Und was all die betrifft, denen größere natürliche Talente gegeben sind als anderen, so sollten sie die entsprechenden sozialen oder wirtschaftlichen Vorteile nur genießen, wenn ihr diesbezügliches Handeln zu einer Verbesserung der Lage der schlechter Gestellten führt. Kurzum: Ungleichheit ist nur gerecht, wenn alle davon profitieren. Andernfalls sollte Gleichheit herrschen.
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Worum es Gerechtigkeit als geht Fairness
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Politik, Gerechtigkeit und Gesellschaft
46 Leviathan „Hierdurch wird ersichtlich, dass sich Menschen in der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine Macht leben, die sie in Schach hält, in jenem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar im Krieg eines jeden gegen jeden. … In solchem Zustand gibt es keinen Platz für Fleiß, denn seine Früchte sind ungewiss, und folglich keine Kultivierung des Bodens, keine Schifffahrt oder Nutzung der Waren, die auf dem Seeweg importiert werden mögen, kein zweckdienliches Bauen, keine Werkzeuge zur Bewegung von Dingen, deren Transport viel Kraft erfordert, keine Kenntnis über das Antlitz der Erde, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Bildung, keine Gesellschaft, und was das allerschlimmste ist, es herrscht ständige Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes. Und das Leben der Menschen ist einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz.“
Die berühmteste Passage aus einem Meisterstück der politischen Philosophie, diese dystopische Vision der Menschheit, zeichnet der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem Werk Leviathan aus dem Jahre 1651. In den Nachwehen des englischen Bürgerkrieges war die Stimmung gedrückt, und so präsentiert Hobbes ein durchgehend pessimistisches und trostloses Bild der Menschheit; seine Vorstellung von Menschen, die in einem gedachten „NaturzuSo halte ich an erster Stelle ein stand“ leben – isolierte, eigennützige Einzelwesen, die einzig bedacht sind auf die eigene Sicherfortwährendes und rastloses heit und das eigene Wohlbefinden; die sich in Verlangen nach immer neuer Macht ständigem Wettstreit und Konflikt miteinander sefür einen allgemeinen Trieb der ge- hen, um einander alles möglichst schlecht zu versamten Menschheit, der nur mit dem gelten; unter denen es kein Vertrauen gibt und soTode endet. mit kein Miteinader möglich ist. Die Frage für Thomas Hobbes, 1651 Hobbes ist, wie diese Menschen, die in eine solch
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Leviathan
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Leviathan
Gesellschaftsverträge Die Idee, einen rechtlichen Vertrag als Modell heranzuziehen, um zu erhellen, wie ein Staat funktioniert, hat seit Hobbes etliche Philosophen inspiriert. Einen Vertrag einzugehen, bedeutet für die Vertragspartner bestimmte Rechte und bestimmte Verpflichtungen; und so steht zu vermuten, dass eine parallele Begründungsform dem System der Rechte und Verpflichtungen unterliegt, das zwischen den Bürgern eines Staates und den Instanzen besteht, die ihn kontrollieren. Doch was für eine Art Vertrag genau ist hier gemeint oder impliziert? Es ist hier kein Vertrag zwischen Bürger und Staat im wortwörtlichen Sinne gemeint, und auch der „Naturzustand“, der sich ohne das Bestehen einer zivilen Gesellschaft denken lässt, ist gleichermaßen hypothetisch. Er soll als Mittel dienen, natur- und ver-
tragsgemäße Aspekte der menschlichen Lage zu unterscheiden. Dann aber wiederum können wir uns mit dem schottischen Philosophen David Hume fragen, welches Gewicht derlei hypothetische Vorstellungen überhaupt haben, wenn es darum geht, tatsächliche Gewalten und Vorrechte von Bürger und Staat festzulegen. Hobbes’ einflussreichster Nachfolger ist der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau, dessen Werk Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts 1762 erschienen ist. Es gibt seitdem eine ganze Reihe von Philosophen (Kontraktualisten), die sich in jüngerer Zeit mit diesem Thema beschäftigt haben, allen voran der bedeutende US-amerikanische Philosoph John Rawls (siehe Seite 181).
elende und unerbittliche Zwietracht verstrickt sind, sich jemals befreien können. Mit welchen Mitteln kann irgendeine Form von Gesellschaft oder politischer Organisation aus derart aussichtslosen Anfängen erwachsen? Seine Antwort: „(durch) eine allgemeine Gewalt, die sie im Zaum halten (und ihre Handlungen auf das Gemeinwohl hinlenken soll)“; die absolute Gewalt des Staates, symbolisch bezeichnet als „Leviathan“.
„Verträge, ohne das Schwert, sind nichts als Worte“ Nach Hobbes’ Ansicht ist es der Instinkt eines jeden, die eigenen Interesse zu verfolgen, und es liegt im Interesse eines jeden, zu kooperieren: Nur so kann die Menschheit einem Zustand von Krieg und einem Leben entrinnen, das „einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz“ ist. Wenn dem so ist, wieso ist es dann für die Menschen im Na-
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Der Edle Wilde Hobbes’ französischer Nachfolger, Jean-Jacques Rousseau, teilt dessen trostloses Bild vom Menschen im „Naturzustand“ (uneingeschränkt durch soziale oder gesetzliche Konventionen) nicht. Während Hobbes die Macht des Staates als notwendiges Mittel ansieht, die rohe Natur des Menschen zu zähmen, betrachtet Rousseau die menschlichen Laster und andere Missstände als ein Produkt der Gesellschaft. Der „Edle Wilde“ hingegen, so Rousseau, sei von Natur aus gut und schuldlos. Zufrieden und glücklich im „Schlaf der Vernunft“ und in Einklang mit seinen Mitmen-
schen, wird er erst durch Erziehung und andere gesellschaftliche Einflüsse verdorben. Diese Vision der verloren gegangenen Unschuld und des nicht-intellektualisierten Gefühls fand Anklang in der Bewegung der Romantik, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts ganz Europa erfasste. Rousseau selbst jedoch machte sich keine Illusionen über eine mögliche Rückkehr zu einem einst gewesenen Idyll: War die Unschuld erst verloren, so waren die gesellschaftlichen Beschränkungen, wie Hobbes sie gesehen hatte, praktisch vorprogrammiert.
turzustand nicht ein Leichtes, sich auf Kooperation zu verständigen? Nun, einem (gemeinschaftlichen) Vertrag zu gehorchen, hat immer seinen Preis, es nicht zu tun, lässt immer (eigene) Gewinne zu – kurzfristig zumindest. Doch wenn Eigeninteresse und Selbsterhalt der einzige moralische Kompass sind, wie kann man dann sicher sein, dass nicht der Andere eigennützig seinen Vorteil sucht und dem Vertrag nicht gehorcht? Natürlich wird der Andere seinen Vorteil suchen und vom Vertrag abweichen. Ist es da nicht das Allerbeste, selbst den Vertrag zuerst zu brechen? Genau so kalkulieren alle Anderen natürlich auch. Folglich gibt es kein Vertrauen und daher auch keinen Vertrag. In Hobbes’ Naturzustand wird das langfristige Interesse immer dem kurzfristigen weichen und somit keinen Ausweg lassen aus dem Kreislauf von Misstrauen und Gewalt.
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Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Der eine dünkt sich Herr der anderen und ist doch mehr Sklave als jene. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können. Jean-Jacques Rousseau, 1782
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Leviathan
Von Tieren und Ungeheuern Leviathan, oft verbunden mit Behemoth, ist ein furchterregendes, mythisches Seeungeheuer, das in vielen Schöpfungsgeschichten, im Alten Testament und anderswo, Erwähnung findet. Hobbes gebraucht diesen Namen, um die furchterregende Macht des Staates zu illustrieren: „(…) des großen LEVIATHAN oder, um es ehr-
furchtsvoller zu sagen, jenes Sterblichen Gottes, dem wir unter dem Unsterblichen Gott Frieden und Schutz verdanken“. Im modernen Gebrauch wird der Begriff zumeist auf den Staat bezogen, um herauszustellen, wie dieser über den ihm zugemessenen Rahmen hinaus Macht und Autorität ergreift.
„Verträge, ohne das Schwert, sind nichts als Worte“, schließt Hobbes. Was es braucht, ist eine Form von äußerer Gewalt oder Sanktion, die den Menschen zwingt, den Regeln eines Vertrages zu gehorchen, der allen zugute kommt – vorausgesetzt, dass alle sich daran halten. Die Menschen müssen ihre Freiheiten zum Zwecke der Kooperation und des Friedens bereitwillig einschränken, unter der Bedingung, dass alle anderen dies auch tun. Sie müssen „ihre gesamte Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen übertragen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können.“ Auf diesem Wege kommen die Bürger überein, ihre Souveränität dem Staat abzutreten und ihm die absolute Macht zu verleihen, um „den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.“
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47 Das Gefangenendilemma „Vorschlag: Sie gestehen und sagen gegen Ihren Komplizen aus – er wandert für zehn Jahre in den Bau und Sie kommen ungeschoren davon.“ Gordon wusste, dass sie ein Jahr mindestens kassieren würden, schon allein, weil sie mit Messern bewaffnet gewesen waren. Aber die Bullen hatten nicht genug in der Hand, um ihnen auch den Raubüberfall anzuhängen. Er wusste auch, und das war der Haken an der Geschichte, dass sie Tony in der Zelle nebenan gerade den gleichen Vorschlag machten – wenn sie beide geständig wären und sich gegenseitig belasteten, würden sie beide fünf Jahre kriegen. Wenn er nur wüsste, was Tony macht … … Gordon, nicht auf den Kopf gefallen, wägt seine Möglichkeiten sorgfältig ab. „Angenommen, Tony hält den Mund; dann wäre es für mich das Beste, ihn zu belasten – er kriegt zehn Jahre und ich komme frei. Und angenommen, er verpfeift mich, dann ist es immer noch am besten, ich gestehe, sage gegen ihn aus, und kriege fünf Jahre – andernfalls, wenn ich den Mund halte, bin es am Ende ich, der zehn Jahre brummen muss. So oder so, was immer Tony macht, es ist das Beste für mich, wenn ich gestehe.“ Gordons Problem: Auch Tony ist nicht auf den Kopf gefallen und kommt zu genau dem gleichen Schluss. Also belasten sie sich gegenseitig und kriegen beide fünf Jahre. Hätten sie doch nur den Mund gehalten! Dann hätten sie jeder nur ein Jahr bekommen … So treffen beide Männer eine rationale Entscheidung, die auf einer Berechnung ihrer eigenen Interessen beruht. Aber was herauskommt, ist eindeutig nicht das beste Resultat, das sie hätten erzielen können. Was ist hier falsch gelaufen?
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Argumentformen
Straftheorien
Das Gefangenendilemma
Nullsumme Die Spieltheorie hat sich als ein so fruchtbares Feld erwiesen, dass einige der Fachbegriffe Eingang in die Alltagssprache gefunden haben. Das „Nullsummenspiel“ zum Beispiel – ein in wirtschaftlichen Kontexten heute viel verwendeter Begriff – bezeichnet ein Spiel wie Schach oder Poker, bei dem Erfolg oder Gewinne des Einen
dem Misserfolg oder Verlust des Anderen in gleicher Höhe gegenüberstehen, sodass sich die Summe Null ergibt. Das Gefangenendilemma hingegen ist ein „Nicht-Nullsummenspiel“, da hier beide Parteien gleichzeitig gewinnen oder verlieren können.
Die Spieltheorie Die oben skizzierte Geschichte, bekannt als das „Gefangenendilemma“, ist die wohl bekannteste aus einer ganzen Reihe von Szenarien, die auf dem Gebiet der Spieltheorie untersucht werden. Es geht dabei darum, Situationen, in denen ein eindeutiger Interessenkonflikt besteht, zu analysieren und zu ermitteln, was als rationale Strategie gelten könnte. Solch eine Strategie zielt in diesem Fall darauf ab, den eigenen Vorteil zu vergrößern: Entweder arbeitet man mit dem Gegenspieler zusammen („Kooperation“, um es in den Begriffen der Spieltheorie auszudrücken) oder man verrät ihn („Defektion“). Von den Analysen der Spieltheoretiker verspricht man sich Aufschluss über das menschliche Verhalten; sie erklären, warum der Mensch so handelt, wie er handelt oder wie er sich am besten verhalten sollte. In einer Spieltheorie-Analyse lassen sich die für Gordon und Tony möglichen Strategien in einer sogenannten „Auszahlungs-Matrix“ wie folgt darstellen: Tony schweigt
Tony gesteht
Gordon schweigt
Ein Jahr Haft für beide (eine Win-Win-Situation, beide gewinnen)
10 Jahre Haft für Gordon Freispruch für Tony (viel verlieren – viel gewinnen)
Gordon gesteht
Freispruch für Gordon 10 Jahre Haft für Tony (viel gewinnen – viel verlieren)
5 Jahre Haft für beide (beide verlieren)
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Das Gefangenendilemma
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Politik, Gerechtigkeit und Gesellschaft Das Dilemma entsteht, weil jeder der beiden nur darauf abzielt, die eigene Haftstrafe zu minimieren. Um aber das beste Ergebnis für beide gemeinsam zu erreichen (ein Jahr Haftstrafe für jeden), müssten sie kooperieren und sich darauf einigen, auf das beste Ergebnis für jeden einzeln zu verzichten (frei zu kommen). Im klassischen Gefangenendilemma ist eine solche Kooperation nicht erlaubt, und in jedem Falle hätten sie keinen Grund, darauf zu vertrauen, dass der jeweils andere die Abmachung nicht bricht. So wählen sie eine Strategie, die das beste Ergebnis für beide gemeinsam von vornherein ausschließt, um das individuell schlechteste Ergebnis zu vermeiden, und treffen sich bei einem nicht-optimalen Ergebnis irgendwo in der Mitte.
Bedeutung für das reale Leben Die im Gefangenendilemma beschriebene Situation tritt in der Gesellschaft häufig auf und zeigt, dass das selbstsüchtige Verfolgen der eigenen Interessen, selbst wenn es in einem gewissen Sinne streng rational ist, manchmal nicht zum besten Ergebnis für einen selbst oder für andere führt; die Kooperation ist offensichtlich die bestmögliche Strategie (zumindest unter bestimmten Umständen). Inwieweit zeigen sich Auswirkungen des Gefangenendilemmas im realen Leben? Das Gefangenendilemma ist besonders einflussreich auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, insbesondere in der Wirtschaftslehre und Politik. Zum Beispiel kann es Aufschluss geben über die Entscheidungsfindung und die Psychologie, die bei einzelnen Aufrüstungsschritten rivalisierender Nationen eine Rolle spielen. Hier wäre es für die betroffenen Parteien klar von Vorteil, sich darauf zu einigen, ihre Rüstungsaufwendungen zu limitieren, was sie in der Praxis aber selten tun. Nach der Spieltheorie-Analyse kommt deshalb keine Einigung zustande, da beide einen großen Verlust fürchten (die militärische Niederlage), der den vergleichsweise kleinen Gewinn (geringere Rüstungsausgaben) überwiegt; und so läuft das Ganze am Ende auf einen Rüstungswettlauf hinaus – auf das weder beste noch schlechteste erreichbare Ergebnis. Eine andere Parallele zum Gefangenendilemma zeigt sich beispielsweise im sogenannten plea bargaining (der „Aushandlung“ des Srafmaßes zwischen der Anklagevertretung und dem Verteidiger, um eine mildere Strafe zu erwirken), wie es in der US-amerikanischen Rechtsordnung üblich, in anderen Ländern aber verboten ist. Die Logik des Gefangenendilemmas lässt vermuten, dass die rationale Strategie, „den maximalen Verlust zu minimieren“ – also ein milderes Urteil anzunehmen aus Furcht vor einem härteren –, unschuldige Parteien verleiten könnte, Geständnisse abzulegen und gegeneinander auszusagen. Im schlimmsten Falle könnte die schuldige Partei ein Schuldgeständnis ablegen, während die unschuldige bei der Beteuerung ihrer Unschuld bleibt, mit der bizarren Konsequenz, dass die unschuldige Partei die härtere Strafe erhält.
Das Gefangenendilemma
A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn Der heute bekannteste Spieltheoretiker ist John Forbes Nash von der Princeton University. Die Lebensgeschichte des hochbegabten Mathematikers, der seine Schizophrenie überwand und 1994 den Nobelpreis für Wirtschaft auf dem Gebiet der Spieltheorie verliehen bekam, ist in
A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn (2001) verfilmt. Nashs bekanntester Beitrag auf dem Gebiet der Spieltheorie ist das sogenannte Nash-
Gleichgewicht (Nash-Equilibrium) – eine stabile Situation in einem Spiel, bei der kein Spieler davon profitiert, seine Strategie zu ändern, wenn die anderen Spieler ihre Strategien unverändert lassen. Im Gefangenendilemma entspricht die doppelte Defektion (beide Spieler gestehen) dem Nash-Equilibrium, was aber, wie wir gesehen haben, nicht zwangsläufig dem optimalen Ergebnis für die beteiligten Spieler entspricht.
Das Hasenfußrennen Ein weiteres Spiel, das Spieltheoretiker untersuchen, trägt den Namen „Chicken“. James Dean hat es in seinem Film Denn sie wissen nicht, was sie tun eindrücklich inszeniert. Zwei Freunde treffen sich zu einer Mutprobe, dem sogenannten „Hasenfußrennen” („chicken run”), bei der sie in ihren Autos aufeinander zurasen. Wer zuerst ausweicht, ist das „Chicken”, der Feigling. In diesem Szenario ist der Preis der „Kooperation“ (ausweichen und damit das Gesicht verlieren) sehr klein im Vergleich zum Preis der „Defektion“ (geradeaus weiterfahren und zusammenstoßen), sodass die rationale Überlegung auf die Kooperation hinauslaufen müsste. Die Gefahr entsteht, wenn Spieler A annimmt, Spieler B überlege ebenso rational und werde deshalb ausweichen, was ihm (Spieler A) folglich einem unbeschadeten Sieg verhelfen wird. Die Gefahr bei einem solchen Hasenfußrennen liegt auf der Hand – doppelte Defektion (beide fahren geradeaus) bedeutet den sicheren Zusammenstoß. Parallelen für derartige Waghalsigkeiten und äußerste Risiken finden sich in der Realität zuhauf (besonders brisantes Beispiel: Atomwaffenpolitik).
Worum es geht (Risiko-)Spiele
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48 Straftheorien Kennzeichen einer zivilisierten Gesellschaft ist, so würden viele sagen, ihre Fähigkeit, die Rechte ihrer Bürger zu verteidigen: sie vor Willkür und Schaden seitens des Staates oder anderer Individuen zu schützen, ihnen die volle politische Teilhabe zu gewähren sowie ihnen Rede- und Bewegungsfreiheit zu garantieren. Welche möglichen Gründe könnten diese Gesellschaft dazu bringen, ihren Bürgern absichtsvoll Schaden zuzufügen, sie von politischen Prozessen auszuschließen, sie in ihrer Bewegungs- und Redefreiheit zu beschränken? Denn genau dieses Vorrecht nimmt sich der Staat heraus, wenn er beschließt, seine Bürger zu bestrafen, wenn sie die Regeln gebrochen haben, die er selbst ihnen auferlegt hat. Der offensichtliche Konflikt zwischen verschiedenen Funktionen des Staates prägt die philosophische Debatte über die Rechtfertigung von Strafe. Wie in der Diskussion um andere ethische Themen tendiert auch die Debatte über die Rechtfertigung von Strafe dazu, sich entlang konsequentialistischer und deontologischer Linien (siehe Seite 65) aufzuspalten: konsequentialistische Theorien betonen die nutzbringenden Konsequenzen, die sich aus der Bestrafung von Übeltätern ergeben, während deontologische Theorien den innewohnenden guten Zweck herausstellen, den Strafe hat, und zwar unabhängig von anderen nutzbringenden Konsequenzen.
„Jeder bekommt, was er verdient“ Die Schlüsselidee hinter Theorien, die geltend machen, dass Strafe an sich gut sei, ist die der Vergeltung. Jeder so, wie er es verdient – diese intuitive Grundeinstellung bestimmt einen Großteil unseres moralischen Denkens. So wie der Mensch von seinem Wohlverhalten profitieren sollte, so sollte er auch für sein Fehlverhalten die rechte Strafe bekommen. Der Gedanke der Vergeltung – dass Fehlverhalten seinen Preis hat (zum Beispiel den Verlust der Freiheit) – passt bequem zu unserer intuitiven Grundeinstellung. Hin und wieder wird eine weitere Idee angeführt, wonach ein Fehlverhalten ein moralisches Un-
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Die Verteidigung der Willensfreiheit
Leviathan
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Ebenen der Rechtfertigung Das „Problem der Strafe“ wird gewöhnlich nach Maßstäben utilitaristischer Überlegungen verstanden (Abschreckung, Schutz der Gesellschaft und/oder gemäß intrinsischer Faktoren wie ausgleichende Gerechtigkeit). Doch es schließt auch Fragen mit ein, die entweder spezifischer oder allgemeiner sind. Auf einer spezifischen Ebene können wir beispielsweise fragen, ob die Strafe in einem bestimmten Einzelfall gerechtfertigt ist. Solch eine Frage zieht nicht die allgemeine Angemessenheit von Strafe an sich in Zweifel und ist nicht ausschließlich oder speziell von philosophischem Interesse. Daneben stehen
Fragen der Verantwortlichkeit. War der Angeklagte für seine Handlungen verantwortlich in dem Sinne, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist? Handelte er unter Nötigung? Oder in Notwehr? Die Frage nach der Verantwortlichkeit führt uns hier auf sehr dorniges philosophisches Terrain. Auf der allgemeinsten Ebene stellt das Problem des freien Willens die Frage, ob all unsere Handlungen vorausbestimmt sind: Haben wir in all unseren Handlungen die Freiheit der Wahl? Und wenn nicht, können wir dann überhaupt für irgendetwas, das wir tun, verantwortlich gemacht werden?
gleichgewicht erzeuge, das erst dann wieder ausbalanciert ist, wenn der Übeltäter „seine Schuld an die Gesellschaft zurückbezahlt“. Ein jeder untersteht der Pflicht, die Regeln der Gesellschaft nicht zu brechen. Tut es jemand, so lädt er eine Strafe (oder eine Schuld) auf sich, die es zu bezahlen gilt. Diese Metapher aus der Finanzwelt lässt sich leicht dahin ausdehnen, dass ein gerechter Handel verlangt wird; dass die Schwere der Strafe der Schwere des Verbrechens entsprechen sollte. Die Vorstellung, dass Strafe dem Verbrechen „entsprechen“ solle, wird gestützt von der lex talionis (dem „Gesetz der Vergeltung“) der hebräischen Bibel: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Dies impliziert, dass Verbrechen und Strafe sich nicht nur in der Schwere, sondern auch in der Art entsprechen sollten. Analog dazu formulieren Befürworter der Todesstrafe häufig den Satz „Leben um Leben“, worin sie die einzige Wiedergutmachung für ein Tötungsdelikt sehen (siehe Kasten, Seite 194). Allerdings heißt dies nicht, dass sie genauso schnell dafür sind, dass ein Erpresser erpresst oder ein Vergewaltiger vergewaltigt werden sollte. Diese biblische Unterstützung für Theorien der Vergeltung zeigt den Kern der Problematik: Die lex talionis ist das Gesetz eines „rachsüchtigen Gottes“, was für Befürworter solcher Vergeltungstheorien eine ständige Gratwanderung zwischen Strafe und Rache be-
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Die Zweck-Mittel-Debatte
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Die Erfahrungsmaschine
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Die Todesstrafe Debatten über die Todesstrafe ähneln meist solchen über andere Strafarten. Befürworter der Todesstrafe argumentieren oft, es sei richtig und gerecht, die allerschwersten Verbrechen mit der allerschwersten Strafe zu belegen, ungeachtet aller möglichen nutzbringenden Folgen. Der vermeintliche Nutzen – vor allem Abschreckung und Schutz der Öffentlichkeit – wird ebenfalls häufig angeführt. Gegner der Todesstrafe erwidern hierauf, dass der Abschreckungswert im besten Falle zweifelhaft sei, dass lebenslange Haft denselben Schutz für die Öffentlichkeit biete, und dass allein die Einrichtung der Todesstrafe eine He-
rabwürdigung der Gesellschaft darstelle. Das stärkste Argument gegen die Todesstrafe – die Gewissheit, dass unschuldige Menschen davon betroffen sind und waren und weiterhin Unschuldige getötet würden – ist kaum zu entkräften. Das vielleicht beste Argument für die Todesstrafe ist, dass der Tod weniger grausam und einem Leben hinter Gittern vorzuziehen sei. Doch dies wiederum kann nur zu einem Schluss führen, nämlich dem, dass es dem Täter anheim gestellt werden müsste, selbst darüber zu entscheiden, ob er lieber leben oder lieber sterben will.
deutet. Die Vorstellung, irgendein Verbrechen „schreie“ nach Strafe, wird bisweilen damit verhüllt umschrieben, dass Strafe der Ausdruck der Entrüstung der Gesellschaft über eine bestimmte Tat sei. Doch wenn die Vergeltung kaum auf wenig mehr als das Verlangen nach Rache reduziert wird, dann scheint sie für sich genommen kaum angemessen als eine Rechtfertigung für Strafe.
Ein notwendiges Übel In deutlichem Gegensatz zur Position der Vergeltungstheoretiker sehen Utilitaristen oder Konsequentialisten Strafe typischerweise nicht als eine gute Sache an, sondern halten sie für absolut schlecht. Jeremy Bentham, Pionier des klassischen Utilitarismus, betrachtet Strafe Strafe ist immer ein als ein notwendiges Übel: Ein Übel, da sie das menschliche Übel; jede Strafe ist an Elend weiter vermehrt, und nur gerechtfertigt, insoweit ihr sich ein Übel. Nutzen dieses Elend überwiegt. Dies ist auch nicht nur eine Jeremy Bentham, 1789 theoretische Position, wie die äußerst praktisch veranlagte Reformerin des Gefängniswesens im 19. Jahrhundert, Elizabeth Fry, deutlich macht: „Es geht bei der Strafe nicht um Rache, sondern darum, Verbrechen zu mindern und Verbrecher zu bessern“. Die Rolle der Strafe bei der Reduzierung der Verbrechen kann, so die allgemein verbreitete Ansicht, zwei Formen annehmen: Verhinderung und Abschreckung. Ein hingerichteter Mörder wird mit Sicherheit nicht erneut straffällig werden, ebenso wenig wie einer, der hinter Gittern sitzt. Den Grad der Verhinderung – insbesondere
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Straftheorien die permanente Verhinderung durch die Todesstrafe – mag man diskutieren, doch der Notwendigkeit, dass derlei Maßnahmen im öffentlichen Interesse ergriffen werden sollten, ist kaum zu widersprechen. Die Abschreckung lässt sich weniger leicht begründen. Oberflächlich betrachtet, scheint es widernatürlich, zu argumentieren, jemand solle bestraft werden, und zwar nicht wegen des Verbrechens, das er begangen hat, sondern um andere von Strafhandlungen abzuschrecken. Außerdem kann man bezweifeln, ob dies überhaupt praktisch sinnvoll ist, da es laut Studien nur eine Form der Abschreckung gibt, und zwar die Angst vor dem Erwischtwerden, nicht die Strafe, die darauf folgen mag. Der andere Argumentationsstrang der Utilitaristen befürwortet eine Resozialisierung und Rehabilitation des Straffälligen. Strafe als eine Art Therapie zu betrachten, durch die Straftäter umerzogen und gebessert werden, sodass sie wieder zu vollständigen und nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft werden, mag zumindest für liberal Gesinnte sehr attraktiv erscheinen. Allerdings steht ernsthaft zu bezweifeln, ob Strafrechtssysteme, zumindest die meisten bestehenden, derlei Aufgaben leisten und diese Ziele erreichen können. Beispiele aus der Praxis, die die Unzulänglichkeiten der utilitaristischen Rechtfertigung von Strafe zeigen, sind schnell gefunden. Man könnte viele Fälle zitieren, wo ein Straftäter keine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellt, wo er keine Rehabilitation benötigt, oder wo die Strafe keinerlei abschreckende Wirkung zeigen würde. Der übliche Ansatz ist daher, eine Reihe möglicher nützlicher Konsequenzen anzubieten, die eine Strafe nach sich zieht, ohne damit anzudeuten, dass sie alle auch für alle Fälle gelten. Doch irgendwie werden wir den Eindruck nicht los, dass in der rein utilitaristischen Sicht etwas fehlt, was der ausgleichenden Gerechtigkeit Raum verschaffen müsste. Im Zuge solcher Überlegungen haben sich neuere, hybride Theorien entwickelt, die versuchen, utilitaristische Elemente und Elemente der ausgleichenden Gerechtigkeit in einer Gesamtbetrachtung zu kombinieren. Damit könnte man Prioritäten für die angeführten Ziele setzen und hervorheben, wo diese mit der derzeitigen Strafpolitik und Praxis kollidieren.
Worum geht Entspricht die Strafees dem Verbrechen?
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49 Rettungsboot Erde „Hilflos treibend in einem moralischen Meer … So sitzen wir hier mit sagen wir 50 Menschen in unserem Rettungsboot. Der Großzügigkeit halber nehmen wir an, es gäbe noch Platz für 10 weitere, alles in allem also wären wir dann 60. Nehmen wir weiter an, wir 50, die wir hier sitzen, sähen 100 weitere Menschen draußen im offenen Meer um ihr Leben schwimmen, flehend, dass wir sie zu uns ins Boot ziehen … … Wir haben nun mehrere Möglichkeiten: Wir können uns vom christlichen Ideal leiten lassen und „unseres Bruders Hüter“ sein, uns also für sie alle verantwortlich zeigen. Oder wir können dem marxistischen Ideal folgen und uns sagen „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. Da die Bedürfnisse aller dort draußen im Wasser die gleichen sind und wir sie alle als „unsere Brüder“ betrachten mögen, könnten wir sie alle zu uns ins Boot nehmen, womit wir 150 wären in einem Boot, das eigentlich nur für 60 ausgelegt ist. Das Boot würde kentern und wir würden alle ertrinken. Völlige Gerechtigkeit, völlige Katastrophe … Da das Boot noch Kapazität für 10 weitere Passagiere bietet, könnten wir also nur noch 10 aufnehmen. Aber welchen 10 gewähren wir diese Aufnahme? … Angenommen, wir beschließen, gar keinen mehr in unser Rettungsboot zu lassen. So könnten wir selbst überleben, müssten jedoch unentwegt auf der Hut sein vor Menschen, die sich hilflos daran klammern, um an Bord zu kommen.“ In einem Aufsatz von 1974 hat der amerikanische Ökologe Garret Hardin diese Metapher vom „Rettungsboot Erde“ vorgestellt, um die reichen westlichen Länder aufzurütteln, die den ärmeren Entwicklungsländern dieser Welt aus der Not helfen. Hardin führt angesichts der unermüdlichen Plage der mitfühlenden Liberalen an, dass das gut gemeinte, aber fehlgeleitete Einschreiten des Westens langfristig schädlich sei, und zwar für beide Seiten. Länder auf der Nehmerseite fremdländischer Hilfeleistungen entwickelten eine Kultur der Abhängigkeit und würden damit nie „auf die harte Tour“ aus den eigenen Fehlern wie Misswirtschaft und unkontrolliertem Bevölkerungswachstum lernen. Gleichzeitig bedeutete eine uneingeschränkte
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ca. 30 Die Goldene Regel
Rettungsboot Erde Zuwanderung in westliche Länder, dass die nahezu stagnierende Bevölkerung dort rapide von einem unaufhaltsamen Strom von Wirtschaftsflüchtlingen überschwemmt würde. Die Schuld für all diese Missstände weist Hardin den vom Gewissen getriebenen Liberalen zu, die mit ihrem Handeln, so kritisiert er scharf, einer „Tragödie des Gemeinguts“ (auch „Tragik der Allmende“ genannt) Vorschub leisteten, einem Prozess, bei dem begrenzte Ressourcen, die idealistisch als rechtmäßiges Eigentum aller Menschen erachtet werden, unter eine Art Gemeinschaftseigentum fallen, was unausweichlich zu Raubbau und in den Ruin führe (siehe Kasten).
„Toughlove“-Ethik Hardin selbst macht seine „Toughlove“-Ethik, die Befürwortung einer Politik zur Selbsthilfe, unmissverständlich klar. Er fordert die vom Gewissen getriebenen Liberalen auf, „das Boot zu verlassen und anderen Platz zu
Die Tragödie des Gemeinguts Hardins Rückgriff auf die strenge Ethik des „Rettungsboots“ war eine direkte Antwort auf die Defizite, die er in der von ökologisch orientierten Weltverbesserern gern benutzten und milde formulierten Metapher „Raumschiff Erde“ erkannte; danach befinden wir uns alle zusammen an Bord des Raumschiffs Erde, wo es unsere oberste Pflicht ist, sicher zu stellen, die kostbaren und begrenzten Ressourcen des Raumschiffs nicht zu vergeuden. Problematisch wird es dann, wenn dieses Bild verschwimmt mit dem so hochgeschätzten Bild der Liberalen von einer einzigen großen glücklichen Besatzung, die Hand in Hand zusammenarbeitet und Ressourcen gemeinsam und fair nutzt. Denn: Ein Farmer, der ein Stück Land besitzt, wird dieses Land hegen und pflegen; er wird dafür Sorge tragen, dass es nicht
durch Überweidung zerstört wird. Aber wenn das Land Gemeingut und damit jedem zugänglich wird, wird man es nicht mehr mit der gleichen Sorge schützen, denn die Versuchung, kurzfristige Gewinne zu erzielen, ist groß und bedeutet, dass freiwillige Beschränkungen verpuffen; Abbau und Verfall werden rasch folgen. Diesen Prozess – der nach Hardins Ansicht unvermeidbar ist in einer „übervölkerten Welt mit Menschen, die nicht annähernd vollkommen sind“ – bezeichnet Hardin als „Tragödie des Gemeinguts“. Wenn die Ressourcen der Erde wie Luft, Wasser oder Fische uneingeschränkt allen Menschen zur Verfügung stünden, würde jeder versuchen, für sich selbst so viele Erträge wie möglich zu erwirtschaften – und das, so Hardin, führe letztlich zum Ruin.
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Positive und negative Freiheit
Das Differenzprinzip
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machen“, um sich so des schlechten Gewissens zu entledigen, das das Boot zum Kentern zu bringen droht. Sich darum Gedanken zu machen, wie wir in diese Lage gekommen sind, habe keinen Zweck, so Hardin. Es gibt kein Zurück – „wir können die Vergangenheit nicht noch einmal leben“; nur indem wir seine kompromisslose Haltung annehmen, könnten wir die Welt (oder zumindest unseren Teil davon) für künftige Generationen erhalten. Das Verhältnis zwischen reichen und armen Ländern gibt kein schönes Bild ab: Erstere sitzen sicher in ihren Booten, während sie Letzteren mit dem Ruder auf die Köpfe hauen und ihnen bei jedem Versuch ins Boot zu klettern, die Knöchel der klammernden Hände brechen. Doch Hardins Metapher lässt auch andere Interpretationen zu. Droht dem Rettungsboot wirklich der Untergang? Wie groß ist seine Kapazität wirklich? Oder geht es vielmehr um eine Rauferei dick und fett gefressener Katzen, die ein wenig fauchen, um die Rationen dann zu teilen? Ein Großteil von Hardins Argument beruht auf der Annahme, dass sich an den höheren Geburtenraten in den Entwicklungsländern auch dann nichts ändern würde, wenn diese ein größeres Stück vom Kuchen abbekämen. Er lässt nicht gelten, dass die hohen Geburtenraten eine Reaktion ist auf hohe Kindersterblichkeit, niedrige Lebenserwartung, schlechte Bildung etc. Das Bild, das Hardin zeichnet, so könnten Liberale erwidern, die sich von ihm bloßgestellt fühlen, ist ein Bild der nackten Unmoral – voll von Eigennützigkeit, Selbstgefälligkeit, mangelnder Barmherzigkeit …
Alle rennen zielgerichtet in die Katastrophe, indem jeder seine allerbesten eigenen Interessen verfolgt in einer Gesellschaft, die an die Freiheit bei der Inanspruchnahme der Gemeingüter glaubt. Freiheit in der Nutzung der Gemeingüter führt zum Ruin aller. Garrett Hardin, 1968
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Moralische Grenzen So gesehen, scheint das schlechte Gewissen der Liberalen gar nicht so weit hergeholt zu sein. Einem Liberalen, der im Rettungsboot das Ruder in der Hand hält, würde es nie und nimmer einfallen, einem Mitpassagier eins mit dem Ruder auf den Kopf zu geben. Wie könnte er also daran denken, so etwas den hilflos umher Treibenden anzutun (oder es auch nur zuzulassen). Und tatsächlich, ist er nicht eigentlich verpflichtet, sie aus dem Wasser zu ziehen und die Rationen zu teilen, vorausgesetzt natürlich es gibt ausreichend Platz an Bord. Die Rettungsboot-Metapher stellt den westlichen Liberalismus vor eine unangenehme Herausforderung. Ein Eckpfeiler für soziale Gerechtigkeit ist die Gleichbehandlung aller. Dinge, die sich der eigenen Kontrolle entziehen (Zufallsfaktoren, die von Geburt her bestimmt sind wie etwa Geschlecht, Hautfarbe etc.), sollten nicht darüber entscheiden dürfen, wie dieser Mensch zu behandeln und moralisch zu bewerten ist. Und doch scheint vor allem einer dieser Faktoren, nämlich der zufällige Geburtsort eines Menschen, eine entscheidende Rolle in unserem Moral-
Rettungsboot Erde leben zu spielen, nicht nur für die Anhänger Hardins, sondern auch für die meisten der selbsternannten Liberalen. Wie kann es sein, dass wir das moralische Gewicht unseres Handelns an etwas so Zufälligem wie nationalen Grenzen festmachen? Konfrontiert mit dieser Herausforderung, muss der Liberale nun entweder zeigen, warum die Gleichbehandlung für Menschen in anderen Teilen der Welt nicht gelten soll, und warum wir es für richtig halten, nur unserem Teil moralisch den Vorzug zu geben. Oder er muss akzeptieren, dass es im Kern des heutiDas Überleben in gen Liberalismus einige Unstimmigkeiten gibt, und die Forderung nach Konsequenz verlangt, dass die Prinzipien der absehbarer Zukunft Moral und sozialen Gerechtigkeit weltweit umgesetzt wererfordert, dass wir uns den. in unseren Handlungen Theoretiker der neueren Zeit haben versucht, das Problem von der Ethik des von beiden Seiten anzugehen. Der soziale Anspruch als ein Rettungsboots lenken wesentlicher Bestandteil des liberalen Denkens, so nutzvoll lassen. Wenn nicht, er als Ansatz für die globalen Probleme ist, muss sicherlich erweisen wir unseren heruntergeschraubt werden. Auf der anderen Seite macht ein Nachkommen einen voll entfalteter weltweiter Liberalismus, so löblich er ist, einen Kurswechsel in der derzeitigen Praktik und Politik des schlechten Dienst. internationalen Engagements erforderlich und riskiert, an den Garrett Hardin, 1974 gleichen globalen Realitäten zu scheitern. So oder so, die globale und internationale Gerechtigkeit ist ein weites Feld, auf dem es für die politische Philosophie noch sehr viel zu beackern gilt.
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50 Gerechter Krieg Obwohl Kriege immer ihre Anhänger hatten, würden die meisten Theoretiker wohl eher dem Poeten Charles Sorley zustimmen, der 1915 im Alter von 21 Jahren wenige Monate vor seinem Tod in der Schlacht von Loos schrieb: „So etwas wie einen gerechten Krieg gibt es nicht. Was wir tun, ist den Teufel mit Beelzebub ausrotten.“ Viele aber wären sich einig darin, dass der Krieg zwar immer ein Übel ist, einige Teufel aber schlimmer sind als andere. Ja, Krieg ist möglichst zu vermeiden, doch nicht um jeden Preis: Er könnte das geringere von zwei Übeln sein; der Beweggrund mag so zwingend, die Sache so wichtig sein, dass der Griff zu den Waffen moralisch gerechtfertigt ist. Unter diesen Umständen kann Krieg gerecht sein. Die philosophische Debatte über die Moralität von Krieg, heute ein Thema wie eh und je, hat eine lange Geschichte. In der westlichen Welt wurden Fragen, die ursprünglich die alten Griechen und Römer gestellt hatten, durch die Christliche Kirche wieder aufgegriffen. Der Übertritt des Römischen Reiches zum Es gab noch nie einen Christentum im vierten Jahrhundert verlangte nach einem Komguten Krieg oder einen promiss zwischen den pazifistischen Neigungen der frühen Kirche und den militärischen Bedürfnissen imperialer Herrscher. Auschlechten Frieden. Benjamin Franklin, 1783 gustinus drängt auf eine solche Übereinkunft, was Thomas von Aquin aufgreift, und die nun kanonische Unterscheidung trifft zwischen ius[cw1] ad bellum („Das Recht zum Krieg“ – Bedingungen, unter denen es moralisch richtig ist, zu den Waffen zu greifen) und ius in bello („Das Recht im Krieg“ – Verhaltensregeln und Regeln der Kriegsführung, die gelten, sobald der Kampf begonnen hat). Die Debatte um die „Theorie des Gerechten Krieges“ konzentriert sich im Wesentlichen auf diese beiden Konzepte.
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Bedingungen für einen Krieg Theorien des Gerechten Krieges zielen vornehmlich darauf, eine Reihe von Bedingungen auszumachen, unter denen es moralisch vertretbar ist, auf Waffengewalt zurückzugreifen, sowie Richtlinien dafür an-
Zeitleiste
ca. 1260 Gerechter Krieg Handlungen und Unterlassungen
Gerechter Krieg zubieten, innerhalb welcher Grenzen Kampfhandlungen stattfinden sollen. Die mit ius ad bellum verbundenen Prinzipien wurden über die Jahrhunderte hinweg viel diskutiert und ergänzt. Einige sind strittiger als andere; in den meisten Fällen steckt der Teufel in den Details der Interpretation. Im Allgemeinen ist man sich einig darüber, dass die unterschiedlichen Kriterien alle notwendig sind, und keines allein ausreichend ist, um den Schritt zum Krieg zu rechtfertigen. Für die im Folgenden aufgeführten Hauptkriterien wurde annähernd ein Konsens erreicht. Der gerechte Grund (causa iusta) Die vorrangige, aber auch meist diskutierte Bedingung für einen moralisch gerechtfertigten Krieg ist der gerechte Grund. Er wurde in früheren Jahrhunderten recht weit interpretiert und kann beispielsweise auch religiöse Beweggründe mit einschließen; jedoch würBismarck führte ,notwendige‘ de ein solcher Grund in der säkularen westlichen Welt Kriege und tötete Tausende; die heute generell als ideologisch und somit nicht angemessen gewertet. Die meisten modernen Theoretiker Idealisten des 20. Jahrhunderts haben das Spektrum dieser Bedingung eingeengt auf kämpfen „gerechte“ Kriege die Abwehr eines Angriffs. Dazu gehört etwa, was am und töten Millionen. wenigsten umstritten ist, die Selbstverteidigung gegen A.J.P. Taylor, 1906–1990 die Verletzung fundamentaler Rechte eines Landes – seiner politischen Souveränität und territorialen Integrität (z. B. Kuwait gegen den Irak 1990/91). Auch die Unterstützung einer dritten Partei, die einen solchen Angriff erleidet (wie die Koalitionskräfte, die Kuwait 1991 befreiten), ist für viele vorstellbar. Sehr viel umstrittener sind vorbeugende militärische Aktionen gegen einen potenziellen Aggressor, wo der letzte Beweis für eine solche Absicht naturgemäß fehlt. Fraglich ist hierbei, ob vorbeugende Gewalt nicht selbst eine Aggression darstellt. Nur ein Angriff, der tatsächlich auch stattgefunden hat, so argumentieren einige, bildet einen gerechten Grund.
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Die rechte Absicht (recta intentio) Eng verwandt mit dem gerechten Grund ist die rechte Absicht. Es reicht nicht aus, einen gerechten Grund zu haben; notwendig ist, dass das einzige Ziel einer militärischen Handlung ist, diesen Grund zu befördern. Thomas von Aquin spricht in diesem Zusammenhang davon, dem Guten zum Wachstum zu verhelfen und das Böse zu vermeiden. Das einzige Motiv für einen gerechten Krieg, und das ist der entscheidende Punkt, sollte sein, dass er das letzte Mittel zur Wiederherstellung des Rechts ist, das durch die gerechte Sache begründet ist. Der gerechte Grund kann nicht ein Feigenblatt sein für versteckte Ziele wie nationale Interessen, territoriale Ausbreitung oder Bereicherung. Insofern ist die Be-
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Die Zweck-Mittel-Debatte
Das Differenzprinzip
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Ius in bello Der zweite Aspekt in der Theorie des gerechten Krieges ist ius in bello – was stellt moralisch akzeptable und angemessene Handlungsweisen dar, wenn der Kampf einmal begonnen hat? Dies umfasst ein sehr weites Spektrum. Es reicht vom Verhalten der einzelnen Soldaten in ihrem Verhältnis zu sowohl dem Feind als auch zu den Zivilisten bis hin zu bedeutenden strategischen Fragen wie dem Einsatz von Waffen (nuklearen Waffen, chemischen Waffen, Minen, Clusterbomben etc.). Auf diesem Gebiet sind für gewöhnlich zwei Überlegungen von höchster Bedeutung. Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass Mittel und Zwecke gut aufeinander abgestimmt sind. Um einen extremen Fall zu nennen: Fast jeder stimmt bei, dass ein nuklearer Angriff nicht zu rechtfertigen ist, ganz egal wie erfolgreich er sein könnte, ein militärisches Ziel zu er-
reichen. Das Diskriminierungsgebot verlangt, zwischen Kriegsteilnehmern und Nichtkriegsteilnehmern strikt zu unterscheiden. Es gilt beispielsweise als unzulässig, auf Zivilisten zu zielen, auch wenn dies helfen könnte, die militärische Moral auszuhöhlen. Natürlich kann ein gerechter Krieg auf ungerechte Weise geführt werden, und ein ungerechter Krieg auf gerechte Weise. Anders gesagt, die Anforderungen des ius ad bellum und des ius in bello sind unterschiedlich, und nicht alle Bedingungen für den gerechten Krieg mögen immer gleichermaßen erfüllt sein. Viele Aspekte, insbesondere des ius in bello, überschneiden sich mit Inhalten des internationalen Rechts (wie der Haager und der Genfer Konvention), und Verstöße seitens des Gewinners wie des Verlierers sollten prinzipiell als Kriegsverbrechen bewertet werden.
freiung Kuwaits als Antwort auf die irakische Aggression gerechtfertigt; nicht gerechtfertigt hingegen ist sie, wenn das Endziel die Sicherung von Ölreserven ist. Legitime Autorität (legitima auctoritas) Dass die Entscheidung, zu den Waffen zu greifen, nur von „legitimen Autoritäten“ getroffen werden darf, welche die gebotene Vorgehensweise einhalten, erscheint offensichtlich. „Legitim“ bedeutet hier die gesetzlich anerkannte Körperschaft oder Institution eines Staates, In Kriegszeiten gibt es die über die souveräne Gewalt verfügt (die Befugnis zur keinen Mittelweg. Kriegserklärung wird für gewöhnlich in der Verfassung eines Winston Churchill, 1949 Landes definiert). Von Bedeutung ist auch, dass die Absicht, den Krieg zu erklären, bisweilen auch eine formale Erklärung gegenüber den eigenen Bürgern und/oder dem feindlichen Staat (oder den feindlichen Staaten) verlangt. Allerdings erscheint dies verkehrt, sofern sie dem feindlichen Staat einen strategischen Vorteil erbringt, der durch seine Aggression ohnehin jegliches Recht auf solch eine Erklärung verwirkt hat. Die „legitime (rechtmäßige) Autorität“ ist an sich schon ein äußerst verworrenes Kriterium und wirft schwierige Fragen auf wie etwa nach rechtmäßigen Staatsregierungen oder entsprechenden Beziehungen zwischen den staatlichen Entscheidungsträgern und der Bevölkerung.
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Gerechter Krieg
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Das letzte Mittel (ultima ratio) Krieg als Ausweg ist nur dann Politik ist Krieg ohne gerechtfertigt, wenn nicht-militärische Optionen versucht oder Blutvergießen; Krieg ist zumindest erwogen worden sind. Wenn ein Konflikt mit diplo- Politik mit Blutvergießen. matischen Mitteln abgewendet werden könnte, wäre eine militäMao Tse-tung 1938 rische Reaktion grundsätzlich falsch. Wirtschaftliche oder andere Sanktionen sollten erwogen, ihre Auswirkungen auf Zivilisten gegen die Auswirkungen militärischen Vorgehens abgewogen werden.
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Aussicht auf Erfolg/Frieden (iustus finis) Selbst wenn alle anderen Bedingungen für eine militärische Intervention erfüllt sind, sollte ein Land sich nur dann zur Kriegsführung entscheiden, wenn eine „vernünftige“ Aussicht auf Erfolg besteht, denn es macht keinen Sinn, Leben und Ressourcen zu vergeuden. Nur – was ist „erfolgreich“? Ist es tatsächlich falsch, wenn eine schwächere Macht sich einem stärkeren Aggressor entgegenstellt, egal, wie gering die Chancen auf Erfolg? Der stark konsequentialistische Beigeschmack dieser Bedingung ist für viele anstößig. Bisweilen ist es sicherlich richtig, einem Aggressor Widerstand zu leisten (und unmoralisch, ja gar feige, dies nicht zu tun), so aussichtslos die Handlung auch erscheinen mag. Verhältnismäßigkeit (proportionalitas) Sie bezeichnet das Gleichgewicht zwischen dem gewünschten Ziel und den wahrscheinlichen Folgen auf dem Weg dorthin: Das erwartete Gute muss abgewogen werden gegen den erwarteten Schaden (Todesopfer, menschliches Leid etc.). Militärische Handlungen müssen mehr Gutes erbringen als dass sie Schaden anrichten – eine weitere, sehr vernünftige konsequentialistische Überlegung und fast unwiderstehlich, wenn (Wenn!) das entstehende Gute und der entstehende Schaden definiert und exakt bemessen werden können. In der Betrachtung der Verhältnismäßigkeit von militärischen Mitteln und Zwecken begeben wir uns auf das Gebiet des ius in bello – des „richtigen Verhaltens im Krieg“.
Gerechter Krieg – nicht nur Auch unter den Philosophen von heute ist die Theorie des gerechten Krieges ein viel diskutiertes Thema, aber sie stellt nicht die einzige Perspektive dar. Realismus und Pazifismus sind hier zwei extreme Ansichten. Die Realisten sind skeptisch, wenn es darum geht, ethische Konzepte auf den Krieg anzuwenden. Für sie stehen Aspekte wie internationaler Einfluss und nationale Sicherheit im Mittelpunkt – echte Global Player gehen hart zur Sache, Moralität ist etwas für Schwächlinge. Die Pazifisten sind im Gegensatz dazu überzeugt, dass Moralität in den internationalen Beziehungen überwiegen muss. Anders als für die Befürworter des gerechten Krieges sind militärische Handlungen für den Pazifisten niemals die richtige Lösung.
Worum es geht Den guten Kampf kämpfen
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Glossar Die fett hervorgehobenen Begriffe innerhalb der Erklärungen sind unter einem eigenen Punkt aufgeführt. A posteriori siehe a priori A priori So die Bezeichnung für Erkenntnisse, die von der Erfahrung oder Wahrnehmung unabhängig durch logisches Schließen gewonnen werden. Im Gegensatz dazu bezeichnet man die aus der Erfahrung oder Wahrnehmung gewonnenen Erkenntnisse als a posteriori. Absolutismus In der Ethik die Sichtweise, dass bestimmte Handlungen unabhängig von den Umständen oder Folgen richtig oder falsch sind. Analogie Ein Vergleich der Ähnlichkeit zweier Dinge hinsichtlich gewisser Merkmale; ein Analogieargument nutzt bekannte Ähnlichkeiten von Dingen, um auf Ähnlichkeiten hinsichtlich anderer (unbekannter) Merkmale zu schließen. analytisch Analytische Aussagen liefern nicht mehr Information, als in der Bedeutung der verwendeten Begriffe enthalten ist. Beispiel: „Alle Hengste sind männlich.“ Im Gegensatz dazu liefern synthetische Aussagen erweiternde Information. Beispiel: „Hengste rennen schneller als Stuten.“ Anti-Realismus siehe Subjektivismus Ästhetik Ein Zweig der Philosophie, der sich mit den Künsten befasst, mit der Natur und Definition von Kunstwerken, der Grundlage ästhetischer
Werte sowie mit der Rechtfertigung von Kunstverstand und Kunstkritik.
trachtet Körper und Materie als eigentlich Wirkliches).
Deduktion (eine Form von logischem Schluss). Der Schluss auf das Besondere folgt aus allgemeinen Prämissen (und ist in diesen enthalten). Bei Wahrheit der Prämissen eines gültigen deduktiven Arguments ist die Wahrheit des Schlusssatzes gewährleistet.
empirisch So die Bezeichnung für die Beschreibung eines Konzepts oder einer Überzeugung, die auf Erfahrung basiert (d. h. auf Sinnesdaten oder auf dem Zeugnis der Sinne). Eine empirische Wahrheit erwächst aus der Erfahrung und kann nur unter Berufung auf dieselbe bestätigt werden.
Deontologie Die so bezeichneten ethischen Theorien schreiben bestimmten Handlungen zu, in sich richtig oder falsch zu sein, unabhängig von ihren Konsequenzen. Im Vordergrund der Handlungsbewertung stehen dabei Pflichten und Absichten des moralisch Handelnden. Determinismus Die Lehre von der Vorbestimmtheit allen Geschehens, wonach jedes Ereignis einen ursächlichen Grund hat und daher jeder Zustand durch einen vorangegangenen Zustand bedingt oder determiniert ist. Insoweit der Determinismus unsere Handlungsfreiheit untergräbt, steht er im Widerspruch zur Willensfreiheit. Dualismus In der Philosophie des Geistes die Position, wonach Geist (oder Seele) und Materie (oder Körper) verschieden sind. Der Substanzdualismus argumentiert, dass Geist und Materie zwei wesensmäßig verschiedene Substanzen sind. Der Eigenschaftsdualismus argumentiert, dass eine Person über zwei wesensmäßig verschiedene Arten von Eigenschaften verfügt, körperliche und geistige. Dem Dualismus gegenüber steht der Idealismus/Immaterialismus (er betrachtet Geist und Ideen als eigentlich Wirkliches) sowie der Physikalismus/Materialismus (er be-
Empirismus Philosophische Position, wonach alle Erkenntnis auf Sinneserfahrung beruht oder untrennbar damit verbunden ist. Erkenntnisse a priori werden geleugnet. Epistemologie Erkenntnistheorie, die sich mit Grundlagen und der Rechtfertigung von vorhandenem Wissen beschäftigt sowie damit, welche Rolle Vernunft und Erfahrung beim Erwerb von Wissen spielen. Fehlschluss Ein fehlerhafter Schluss. Formale Fehlschlüsse infolge eines Fehlers in der logischen Struktur eines Arguments werden unterschieden von informalen Fehlschlüssen, die infolge fehlerhafter logischer Inhalte auf Irrwege führen können. Idealismus siehe Dualismus Immaterialismus siehe Dualismus Induktion (eine Form von logischem Schluss) Die empirische Schlussfolgerung (ein allgemeines Gesetz oder Prinzip) folgt aus empirischen Prämissen (insbesondere einzelnen Beobachtungen der Dinge in der Welt). Der Schluss wird durch die Prämissen nur gestützt (er ist nicht in diesen enthalten); insofern können die Prämissen wahr sein, der Schluss jedoch falsch.
Glossar Konsequentialismus Philosophische Position innerhalb der Ethik, die Handlungen allein danach beurteilt, wie gut oder erstrebenswert ihre Folgen sind. kontingent Eine kontingente Wahrheit ist zufällig oder möglich wahr, aber nicht notwendigerweise. Im Gegensatz dazu hat eine notwendige Wahrheit absolute Gütigkeit; der Wahrheitswert gilt unter allen Umständen und in allen möglichen Welten. Libertarianismus Philosophische Position, wonach der Determinismus falsch ist und der Mensch in seinen Entscheidungen und Handlungen völlig frei. Logik siehe Schluss Materialismus siehe Dualismus Metaphysik Eine Grunddisziplin der Philosophie, die Natur und Struktur der gesamten Wirklichkeit behandelt und sich insbesondere mit Begriffen wie Sein, Substanz und Kausalität befasst. Naturalismus Innerhalb der Ethik die Auffassung, dass moralische Begriffe allein aus den „Tatsachen der Natur“, welche prinzipiell durch die Wissenschaft festgestellt werden können, erklärt oder analysiert werden können. normativ auf Normen (oder Prinzipien) bezogen, durch die menschliches Handeln ausgerichtet und bewertet wird. Die Unterscheidung normativ/deskriptiv geht einher mit der Unterscheidung zwischen der Welt (moralischer) Werte und der Welt der Fakten. notwendig siehe kontingent
Objektivismus Philosophische Position innerhalb der Ethik und Ästhetik, wonach Werte und Eigenschaften wie Güte und Schönheit den Objekten inhärent (oder intrinsisch) sind und unabhängig von den Vorstellungen des Betrachters existieren. Paradoxon In der Logik ein Argument, in dem scheinbar einwandfreie Prämissen aufgrund von scheinbar folgerichtigem Denken zu einem unannehmbaren oder widersprüchlichen Schluss führen. Physikalismus siehe Dualismus Rationalismus Philosophische Position, wonach (manche) Erkenntnisse nicht mittels sinnlicher Erfahrung, sondern allein durch verstandesmäßiges (rationales) Denken erlangt werden können. Realismus Philosophische Position, wonach ethische und ästhetische Werte, mathematische Eigenschaften etc. in der außerhalb unseres Bewusstseins liegenden Wirklichkeit existieren, unabhängig davon, ob wir sie kennen oder erfahren. Reduktionismus Eine Herangehensweise an einen wissenschaftlichen Aspekt, mit dem Ziel ihn mit Hilfe anderer (zumeist einfacherer) Begriffe vollständig zu erklären oder zu analysieren, z. B. die rein naturwissenschaftliche Beschreibung von geistigen Phänomenen. Relativismus Position innerhalb der Ethik, wonach Richtigkeit oder Falschheit von Handlungen durch die Kultur und Traditionen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder Gemeinschaften bestimmt oder relativ zu diesen sind.
Schluss Die Herleitung einer Schlussfolgerung aus den Prämissen. Die Haupttypen von Schlüssen sind Deduktion und Induktion. Richtige und falsche Schlüsse zu unterscheiden, ist Ziel der Logik. Skeptizismus Philosophische Position, die den Zweifel für alle Sachverhalte zum Denkprinzip erhebt. Subjektivismus (oder Anti-Realismus) Innerhalb der Ethik und Ästhetik eine Sichtweise, wonach Werte nicht in einer außerhalb unseres Bewusstseins liegenden Wirklichkeit wurzeln, sondern in unseren Überzeugungen über diese Wirklichkeit oder unserer emotionalen Reaktion auf diese. synthetisch siehe analytisch Utilitarismus Innerhalb der Ethik ein konsequentialistisches System, das Handlungen als richtig oder falsch bewertet, je nach dem, in welchem Maße sie das Wohl oder den „Nutzen“ des Einzelnen oder der menschlichen Gemeinschaft steigern oder mindern; Nützlichkeit wird im klassischen Utilitarismus als Freude und Glück interpretiert. Willensfreiheit siehe Determinismus
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Index
Bostrom, Nick (geb. 1973), schwedischer Philosoph 6 Buridans Esel 143
C A a priori vs. a posteriori 20 Abschreckung 193–195 Absicht 31, 50, 61, 81, 94 Absolutismus 50,52, 81 Abstraktionismus 146 Abtreibung 50, 56, 81, 87 Analogie 101–103, 152f Analogieargument 45f, 101– 103, 154 analytisch vs. synthetisch 20 angewandte Ethik 50 Anselm (1033–1109), mittelalterlicher Philosoph 160– 163 Anti-Realismus 10, 145 Aquin, Thomas von (1225– 1274), italienischer Theologe 82, 156, 200f Argument der Schiefen Ebene 84–87 Aristoteles (384–322 v. Chr.), griechischer Philosoph 96–99, 109, 145 Aristotelische Ethik 97 – Logik 109 Ästhetik 144–151 Ästhetizismus 144 Atheismus 174f Atomwaffen 191 Augustinus von Hippo (354– 430), christlicher Theologe, 175, 200 ausgleichende Gerechtigkeit 193, 195 Ayer, Alfred j. (1910–1989), englischer Philosoph 57
B Barbier-Paradoxon 112–115 Beardsley, Monroe (1915– 1985), US-amerikanischer Literaturkritiker 149, 151 begriffliches Schema 55 Behaviorismus 29, 39 Bentham, Jeremy (1748-1832), englischer Philosoph 69– 71, 96, 102, 194 Berkeley, George (1685-1753), irischer Philosoph 14–15, 23, 31, 143 Berlin, Isaiah (1909–1997), aus Lettland stammender, britisch-jüdischer Philosoph 176–179 Bewusstsein 18, 28, 31, 32– 34, 37f, 42, 45–47, 100–103 Blackburn, Simon (geb. 1944), britischer Philosoph 74 böser Dämon (Descartes) 5, 16
Cartesischer Zirkel 18 Cartesisches Theater 13 Chinesisches Zimmer (Searle) 38f Cogito ergo sum (Descartes) 6, 16–19
D Darwin, Charles 18, 28, 155, 158 Dawkins, Richard 154 Deduktion 109 Deontologie 50, 65f, 73, 81, 107, 192 Der blinde Uhrmacher 154f Der Edle Wilde (Rousseau) 186 Der Käfer in der Schachtel 128–131 Der tapfere Soldat (Reid) 42 Descartes, René (1596-1650), französischer Philosoph 5f, 13, 16–19, 23, 28–31, 46, 102, 129, 163 Design-Argument, siehe teleologischer Gottesbeweis Designer-Babys 84 Determinismus 169–171 Die Buh-Hurra-Theorie 60– 63 Die Nase des Kamels 87 Differenzprinzip 180–183 Dominoeffekt 86 Dreiteilige Erkenntnistheorie 24-7 Dualismus 29–31, 46, 143
E Einheit der vier Kardinaltugenden 97 Emotivismus 51, 60–63 Empirismus 20–23 Epistemologie 7 Erfahrungsmaschine (Nozick) 68–71 Erkenntnisphilosophie 4–27 Erste Ursache, Argument 157 Ethik 49f, 56, 69, 74, 80 Eudaimonie (Aristoteles) 97 Euthanasie 50, 56, 82f Euthyphron-Dilemma 57, 59f Evolution 132f, 155, 158 Expressionismus 146 Expressivismus, siehe Emotivismus
F Fälschungen 150 Falsifizierbarkeit (Popper) 134 Familienähnlichkeit (Wittgenstein) 146
Fehlschluss des Spielers 116-19 Fehlschluss 34f, 49, 110, 116–119 Fideismus 172f Formalismus 146 Formen, Theorie der (Platon) 9f, 145 Frege, Gottlob (1848–1925), deutscher Mathematiker 109, 114f Freiheit 176–179, 192 Fundamentalismus 22 Funktionalismus 39 Fuzzylogik/Die unscharfe Logik 122
G Gefangenendilemma 188-91 Gehirn im Tank 4–7, 68, 142 Geist der Anderen, Problem vom 44–47 Genesis 132 Gesellschaftsvertrag 184– 187 Gesetz der großen Zahlen 119 Gesetz des Durchschnitts 116, 118f Gespenst in der Maschine (Ryle) 29 gesunder Menschenverstand 29, 41, 46, 60f, 121, 129 Gettier, Edmund (geb. 1927, US-amerikanischer Philosoph 25–27 Glaube 166f, 172–175 Gleichheit, soziale 180f Glück 65, 69–71, 92, 97, 181 Glück, moralisches 92–95 Goldene Mitte 98 Goldene Regel 62, 76–79 Gott 48, 56–59, 132–135, 152–175 Grelling-Nelson-Pardoxon 113
H Handlungsregel (Kant) 73 Handlungs-Unterlassungslehre 80–83 Hardin, Garrett (1915–2003), US-amerikanischer Ökologe 196–199 Hare, Richard M. (1919–2002), englischer Philosoph 62, 77 Heroismus 88–91 Heuchler 77 Hobbes, Thomas (1588–1679), englischer Philosoph 40, 182, 184–187 höhere und niedere Freuden (Mill) 71 Höhlengleichnis (Platon) 8–11 Hume David (1711–1776), schottischer Philosoph 22,
43, 48–51, 61, 111, 134, 152f, 185 Humes Guillotine (Humes Gesetz) 48–51 Hund des Chrysippos 102 hypothetische Methode 134
I idealer Beobachter 78 Idealismus (Immaterialismus) 31, 143 Ideen 12–15, 55, 90 Immaterialismus siehe Idealismus Induktion 46, 110f, 134 intentionaler Fehlschluss 148–151 internationales Recht 202 Irrtumstheorie 63
K Kant, Immanuel (1724–1804), deutscher Philosoph 21, 67, 72–75, 76, 90, 96f, 145, 163 Kategorienfehler 29 Kategorischer Imperativ (Kant) 72–75, 77 Kausalität 30f, 157 Kennzeichnungstheorie der (Russell) 124–127 KISS 142 Kluft zwischen Ist und Soll 48–51 Kohärentismus 23 Konsequentialismus 50, 65– 67, 70, 96, 192, 194, 203 Konsequenz, moralische 61, 65 kosmologischer Gottesbeweis 154, 156–159, 161 Kreationismus 133–135 Krieg, Moralität des 200-3 Kuhn, Thomas S. (1922–1996), US-amerikanischer Philosoph 136–139 Kunst 144–147 künstliche Intelligenz 37, 122
L Laster (Hume) 61 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716), deutscher Philosoph 23, 35 Leibniz’sche Gesetz 35 Leid siehe Schmerz und Leid Leid und Schmerz 47, 68, 101,104f, 107, 165–168 Leviathan (Hobbes) 184–187 lex talionis (Gesetz der Vergeltung) 193 Liberalismus 173, 198f Libertarianismus 55, 85, 170f Literaturkritik 149 Locke, John (1632–1704), englischer Philosoph 12– 15, 23, 42, 129 Logik 108–111, 122, 161 Lügner-Paradoxon 113
Index M Malebranche, Nicolas (1638– 1715), französischer Philosoph 30 Maskenmann 34f Mathematik 22, 112–115 mathematische Logik 109 Maximen (Kant) 67, 73f, 77 Metaethik 50 Methode des Zweifels (Descartes) 6, 16 Mill, John Stuart (1806-73), englischer Philosoph 70f, 77, 96, 173–175, 177 Modallogik 161 mögliche Welten 21, 161 Moore, George Edward (1873– 1958), britischer Philosoph 49 moralische Exzellenz 96, 164, 166 moralisches Glück 92–95 Moralität (vs. Ethik) 97 Morallehre 72f, 75, 77 Moralphilosophie 48, 51 Mutanten 45
N Nagel, Thomas (geb. 1937), US-amerikanischer Philosoph 32–35, 38, 101 Nash, John F (Geb. 1928) 191 Natur 49, 51, 69, 111, 152f Naturalismus 51 naturalistischer Fehlschluss 49 Naturgesetze 50, 69, 111, 134, 136 natürliche Selektion 132, 154, 158 Naturzustand 184–186 neutraler Zuschauer 78 Newton, Isaac (1642–1727), englischer Philosoph und Mathematiker 28, 96, 136 Nonkognitivismus 51 Normative Ethik 50 notwendig vs. kontingent 21 Nozick, Robert (1938–2002) 68-71 Nullsummenspiel 189
O Objektivismus 51, 60, 145 Ockham, William (William of Occam) 140, 143 Ockhams Rasiermesser 1403 Okkasionalismus 30 ontologischer Gottesbeweis 126, 160–163
P Paley, William (1743–1805), englischer Theologe 154 Paradigmenwechsel 136–139
Paradoxon 110, 112–115, 120–123 Pascal’sche Wette 174 Pazifismus 203 persönliche Identität 40-3 pflichtbasierte Ethik siehe Deontologie Pflichten 50, 193, 197 Philosophie der Religion 152–175 Physikalismus 30f, 33–35, 39, 46, 143 Plantinga, Alvin (geb. 1932), US-amerikanischer Philosoph 161 Platon (ca. 429-347 v. Chr.), griechischer Philosoph 8– 11, 24–27, 54, 57, 59, 96, 98f, 146 Platonische Liebe 9 Platons Höhle 9–11 Pluralismus 179 Popper, Karl (1902–94), aus Österreich stammender britischer Philosoph 78, 134 Prämissen (Logik) 108–110, 121 Präskriptivismus (Hare) 62f, 77 primäre und sekundäre Qualitäten 13 Prinzip der Doppelwirkung 81f Privatsprachen-Argument (Wittgenstein) 128–131 Problem des Bösen 155, 162, 164–167 Produkttest 103, 107 Protagoras (5. Jhd. v. Chr.), griechischer Philosoph 54 Pseudowissenschaft 132– 135 psychische Kontinuität 42f Putnam, Hilary (geb. 1926), US-amerikanischer Philosoph 4–7, 68
Q Quantentheorie 138, 171
R Rationalismus 20–23; siehe auch Vernunft Rawls, John (1921-2002), USamerikanischer Philosoph 181–183, 185 Realismus 10f, 51, 145, 203 Rechte und Pflichten 50, 81, 88, 107, 177, 185, 192 Reduktion/Reduktionismus 31–33, 139 Regan, Tom (geb. 1938), USamerikanischer Philosoph 107 Reid, Thomas (1710–96), schottischer Philosoph 42 Relativismus 52–55, 137
repräsentatives Wahrnehmungsmodell 12–15 Resozialisierung und Rehabilitation 195 Rettungsboot Erde (Hardin) 196–199 Romantik 186 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778), französischer Philosoph 182, 185f Russell, Bertrand (1872– 1970), britischer Philosoph 45, 112–115, 124–127, 159 Ryle, Gilbert (1900–1976), englischer Philosoph 29f, 39
S Schadensprinzip 177 Schiefe Ebene 84–87 Schiff des Theseus 40–43 Schönheit 145, 149 Searle, John (geb. 1932), USamerikanischer Philosoph 38f Selbstverteidigung 201 Simulationsargument (Bostrom) 6 Singer, Peter (geb. 1946), australischer Philosoph 107 Skeptizismus 7, 13–15, 19, 46, 68 Smith, Adam (1723–1770), schottischer Ökonom 78 Sokrates (469–399 v. Chr.), griechischer Philosoph 11, 57, 71, 146 Sorites-Paradoxon 120–123 soziale Gerechtigkeit 181, 198f Sparsamkeitsprinzip siehe Ockhams Rasiermesser Speziesismus 106 Spieltheorie 188f Spinoza, Baruch (1632–1677), niederländischer Philosoph 23, 30 Sprache und Bedeutung 124–131 Sprachspiele (Wittgenstein) 128, 131 Straftheorien 192–195 Subjektivismus 51, 60–63 Sünde 56, 169 superogatorische Handlungen 88–91 Syllogismus 109
T teleologischer Gottesbeweis 152–155 Theorie des Göttlichen Moralgebots 56–59 Tiere – Bewusstsein/Schmerz 100–103, 105 – Rechte 100–107
Todesstrafe 53, 193–195 Toleranz 53f Tragödie des Gemeinguts (Hardin) 197 Trickle-Down-Effekt 182 Trittbrettfahrer 77 Tugend/Tugendethik 54, 56, 96-9 Turing-Test 36–39
U Unanfechtbarkeit 25 Ungleichheiten, soziale 181– 183 Universalienproblem 10 Universalisierbarkeit 62, 74, 77 universelle Gültigkeit 145 Urknall 157, 159 Urmson, J.O. (geb. 1915) 89 Urzustand (original position; Rawls) 181–183 Utilitarismus 50, 67, 69–71, 77, 90, 96, 181, 194
V Vagheit (Unschärfe) 122 Verantwortung 95, 177 Verhinderung und Abschreckung (Straftheorien) 194 Vernunft 20-3, 61, 75, 98, 172–175 vernunftmäßige Freiheit (Mill) 175
W Wahrscheinlichkeit, siehe Zufall und Wahrscheinlichkeit Whitehead, Alfred North (1861–1947), englischer Philosoph 54, 123 Willensfreiheit 176–179 Williams, Bernard (1929– 2003), englischer Philosoph 95 Wimsatt, William K. (1907– 1975), US-amerikanischer Literaturkritiker 149 Wissenschaft, Fortschritt der 28, 136 Wissenschaft, Philosophie der 132–143 wissenschaftliche Methode 134, 139 Wittgenstein, Ludwig (18891951), aus Österreich stammender britischer Philosoph 46f, 128–131, 147
Z Zadeh, Loft 122 Zombies 44–46 Zufall und Wahrscheinlichkeit 119, 155, 171 Zweck-Mittel-Debatte 64–67, 75
207
208 Titel der Originalausgabe: 50 Philosophy Ideas You Really Need to Know Copyright © Ben Dupré 2007 Published by arrangement with Quercus Publishing PLC (UK)
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Planung und Lektorat: Frank Wigger, Bettina Saglio Umschlaggestaltung: wsp design Werbeagentur GmbH, Heidelberg Titelbild: iStockphoto.com Redaktion: Dr. Christian Wolf Satz: TypoDesign Hecker, Leimen
ISBN 978-3-8274-2394-8
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