38733378 Ernst Von Salomon Die Geachteten
May 5, 2017 | Author: Axelone89 | Category: N/A
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Ernst von Salomon
DIE GEÄCHTETEN
Roman
DIE VERSPRENGTEN
«Blut und Erkenntnis müssen zusammenfallen im Leben. Dann entsteht Geist.» FRANZ SCHAUWECKER
Wirre
Der Himmel über der Stadt schien mehr gerötet zu sein als sonst. Das Licht der einsamen Laternen prallte gegen den Novembernebel, färbte die feuchte, gesättigte Luft und machte das Gewölke schwer und milchig. Auf den Straßen war kaum ein Mensch zu sehen. Von fernher kam gequält und hallend der langhingezogene Ton einer Trompete. Das Geprassel von Trommeln schlug drohend gegen die Häuserfronten, verfing sich in dunklen Höfen und machte die verschlossenen Fenster zittern. An der Hauptwache stand gedrängt eine Gruppe von einigen zwanzig Schutzleuten. Sie hatten sehr bleiche, fast schwammige Gesichter, und die Hände in den weißen Handschuhen hingen schwer herunter. An ihren braunen Koppeln hingen klotzig die dreieckigen Futterale ungefüger Pistolen. Sie standen und warteten. Als meine Schritte über das Pflaster hallten, wandten sie die Köpfe und folgten mir mit den Augen, ohne daß sich sonst eine Miene ihrer Gesichter, ein Glied ihrer Körper regte. Einer von ihnen hatte das Band des Eisernen Kreuzes im Knopfloch des blauen Uniformrockes. Er stand einige Schritte vor dem geballten Haufen der anderen und schien angespannt auf den Trompetenstoß zu lauschen. «Geht's los?» fragte ich ihn und stockte, und meine Stimme klang heiser. Der Schutzmann sah mich mit stumpfen Augen an. Er stand unbeweglich vor mir, wie ein Klotz; ich mußte den Kopf in den Nacken senken, um ihn anzusehen. Er richtete seinen müden Blick auf die blanken Knöpfe meiner Uniform, sah mir dann erstaunt ins Gesicht, hob plötzlich die riesige Hand auf meine Schulter und sagte: «Gehn
Sie man nach Hause und ziehen Sie Ihre Uniform aus.» Und mir, der ich gewohnt war, Befehlen zu gehorchen, schien dies wie ein Befehl: ich riß erschreckt die Hacken zusammen wie vor einem Offizier und sagte «Nein, nein — — — » und nach einer unsagbar verwirrten Weile wieder «nein» und ging dann, lief dann fast blind und stolpernd davon, durch ausgestorbene Straßen mit blicklosen Häusern, über weite Plätze, an deren Seiten nur vereinzelte Schatten huschten, durch die Anlagen, in denen das Laub auf dem Boden raschelte, daß ich vor dem Schritt meiner eigenen Füße zusammenfuhr. Durch verhängte Fenster drangen nur die schmalen Lichtlinien umhüllter Lampen. Die Läden hatten eiserne Rolläden mit kompakten Schlössern vor den weiten Flächen ihrer Schaufenster. Fröstelnd hockte ich schließlich in meiner Stube, indes der Hall der unheimlichen Trompete durch die Straßen gellte. Mich peinigte die Lautlosigkeit meines Zimmers. Ich hatte auf dem Tische die Dinge aufgebaut, die mir den Halt geben sollten. Das Bild meines Vaters, in Uniform, bei Kriegsausbruch aufgenommen, die Bilder von Freunden und Verwandten, die im Kriege gefallen waren, die Feldbinde, den krummen Husarensäbel, die Achselstücke, den französischen Stahlhelm, die durchschossene Brieftasche meines Bruders — das Blut war schon ganz dunkel und fleckig geworden — die Epauletten meines Großvaters mit den schweren, nun schwärzlichen Silbertroddeln, ein Bündel Briefe aus dem Felde auf stockigem Papier — aber ich konnte es nicht mehr sehen, all das. Nein, ich konnte es nicht mehr sehen.
Dies alles war nicht mehr gültig. Dies alles gehörte zum Bestande jener Siege, da aus allen Fenstern die Fahnen hingen. Nun kamen keine Siege mehr, nun hatten die Fahnen ihren leuchtenden Sinn verloren. Nun, in diesem verworrenen Augenblick, da alles in Trümmer ging, war der Weg verschüttet, der mir vorgezeichnet war, stand ich unfaßlich vor dem Neuen, vor dem, was sich herandrängte, ohne Gestalt angenommen zu haben, ohne einen eindeutigen Anruf klingen zu lassen, ohne eine Gewißheit zwingend ins Hirn zu hämmern außer der, daß jene Welt, der ich verhaftet war, zu der ich mich nicht zu bekennen brauchte, da ich ihrer ein Teil, nun endgültig und unwiderruflich in den Staub sank und nie mehr, niemals wieder erstehen würde. Ich beugte mich aus dem Fenster meiner Dachkammer. Unter mir in der Regenrinne klickerte das Wasser. Ich sah die drohenden schwarzen Schatten der Häuser, die nassen, zerflederten Bäume tief drunten auf dem glitzernden Asphalt. Von der Straße stieg ein fauliger Dunst herauf, kletterte am grauen Stein, strömte in alle Ecken der kleinen Stube. Die Kerze ging aus. Ich warf im Dunkeln die Dinge, die auf dem Tische lagen, polternd in eine Schublade. Ich schlief die ganze Nacht nicht. Ich war der gefährlichen Stille ausgeliefert und wußte nur, daß ich zu bestehen hatte, um jeden Preis zu bestehen, vor was es auch immer sein möge. Denn was sich nun aus der Wirre anbot, konnte nicht anders bezwungen werden als durch die Unbeirrbarkeit einer Haltung, um die ich von nun an zu ringen hatte. Als ich am Morgen in die Küche kam, sah ich, wie
meine Mutter die weißen Achselklappen von meinem Mantel trennte. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, ich trank die dünne braune Brühe und griff nach dem dunklen Brot, ich schnitt hastig zwei feuchte Scheiben und saß kauend und mit gesenkten Augen da. Dann nahm ich den Mantel, stieg in meine Kammer und nähte die Achselklappen wieder an. Ich ging leise, die Füße in den schweren, genagelten halbschäftigen Kadettenstiefeln vorsichtig hebend, die Stiege hinunter zum Vorplatz. Das Koppel schnallte ich über den Mantel, entgegen der Vorschrift, die den Kadetten das Unterschnallen gebot. Das Seitengewehr, lang, schmal, in eleganter Lederscheide, war blank und spitz, aber nicht geschliffen. Ich zog es heraus und beschaute es verlegen. Schließlich ging ich auf die Straße. Vor den Läden standen wie immer die Frauen in langen Reihen. Sie sprachen lebhaft miteinander. Die Hände über dem Bauch gefaltet, die Taschen und Körbe am Arm, säen sie mit rotgeränderten Augen aus grauem Gesicht hinter mir her. Viele Geschäftsleute hatten ihre Räume noch nicht geöffnet. Ein kleiner Mann mit vergrämtem Gesicht stand auf hoher Leiter und schraubte sorgfältig sein Hoflieferantenschild ab. In der inneren Stadt hörte ich plötzlich aus einer Hauptstraße, in die ich sofort einzubiegen beschloß, lautes Getöse. Ich fühlte, wie sehr ich bleich wurde, ich biß die Zähne zusammen und sagte mir: «Haltung!» und zischte mir nochmals zu: «Haltung!» und hörte Fetzen eines schrillen Gesanges, hörte Schreie aus gesammelten Kehlen, ahnte Wirre und Tumult. Eine riesige Fahne wurde einem langen Zuge
vorangetragen, und die Fahne war rot. Naß und trüb hing sie an langer Stange und schwebte wie ein blutiger Fleck über schnell zusammengeströmter Menge. Ich blieb stehen und sah. Der Fahne nach wälzten sich müde Haufen, regellos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten über spitzen Knochen. Der Hunger schien sie ausgehöhlt zu haben. Sie sangen aus ihren dunklen, zerfransten Umschlagetüchern heraus mit scheppernden Stimmen ein Lied, dessen Rhythmus nicht zu der zögernden Schwere ihres Ganges paßte. Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit stumpfen, zermürbten Gesichtern, in denen ein Schimmer dumpfer Entschlossenheit stand, und nichts weiter als das, fielen immer wieder in Gleichschritt und bemühten sich dann, wie ertappt, die Füße enger oder weiter zu setzen. Viele trugen ihr Blechkännchen mit sich, und hinter der nassen, vom Regen mit dunklen Flecken getünchten roten Fahne beulten sich Regenschirme über dem Zug. So zogen sie, die Streiter der Revolution. Aus diesem schwärzlichen Gewusel da sollte also die glühende Flamme springen, sollte der Traum von Blut und Barrikaden sich verwirklichen? Unmöglich, vor denen da zu kapitulieren. Hohn über ihren Anspruch, der keinen Stolz kennt, keine Siegessicherheit, keine bändigenden Wellen. Gelächter über ihre Drohung, denn diese da marschierten aus Hunger, aus Müdigkeit, aus Neid, und unter diesen Zeichen hat
noch niemand gesiegt. Trotz über die Gefahr, denn sie trug ein gestaltloses Antlitz, das Gesicht der Masse, die sich breiig heranwälzt, bereit, alles in ihren seimigen Strudel aufzunehmen, was sich nicht widersetzt. Ich aber wollte nicht dem Strudel verfallen. Ich steifte mich und dachte «Kanaille» und «Pack» und «Mob» und «Pöbel» und kniff die Augen zusammen und besah diese dumpfen, ausgemergelten Gestalten; wie Ratten, dachte ich, die den Staub der Gosse auf ihren Rücken gen, sind sie, trippelnd und grau mit kleinen, rotgeränderten Augen. Auf einmal aber waren Matrosen da. Matrosen waren da mit riesigen roten Schärpen; Gewehre hatten sie in den Händen und lachende Gesichter unter den bebänderten Mützen und breite, elegante, flotte Hosen um lässig gesetzte Beine. «Unsere blauen Jungens!» schoß es mir durch den Kopf, und ich dachte, jetzt müsse mir der Ekel in den Hals steigen, aber es war nicht der Ekel, es war Angst. Die hatten die Revolution gemacht, diese jungen Kerls mit den entschlossenen Gesichtern, die rüden Burschen, die da Mädels untergehakt hatten und sangen und lachten und johlten und dahinzogen, breit und selbstbewußt mit nackten Hälsen und flatternden Schlipsen. Ein Auto brauste heran, Matrosen standen auf den Trittbrettern, hockten auf dem Kühler, und das rote Tuch flatterte, bauschte sich wie ein Fanal. Und einige waren dabei, die blickten frech, die schrien heiser, die hatten gedrehte Locken in der Stirn, denen kreischten die Weiber zu. Und die winkten herüber, wohin winkten die, zu mir? Zu mir?
Da kam die Gefahr. Nicht ausweichen, dachte ich, um Gottes willen nicht ausweichen! Ich griff nach dem Seitengewehr und dachte daran, daß es nicht geschliffen war, und ließ die Hand doch am Griff und zog die Schultern zusammen und nahm das Kinn zurück. Vor mir aber ging ein Soldat, ohne Koppel, mit braunen Gamaschen, ein junger Mensch mit Kneifer und Aktentasche, und der hatte die Achselklappen noch dran am langen Mantel. Und auf den gingen sie zu, und einer, ein Artillerist, breit und untersetzt, mit hohen, klobigen Stiefeln und mit der roten Kokarde an der Feldmütze, der schrie: «Da ist ja noch einer!» und hieb dem jungen Soldaten die Faust ins Gesicht und riß ihm links, rechts die Achselklappen runter, daß er taumelte, sich wandte, bleich, sehr bleich, und stammelte: «Aber warum denn, warum denn nur?» Und er zog den Kopf in die Schultern, und der Kneifer splitterte, und das bleiche Gesicht wurde feurigrot. Diese Schweine, dachte ich, diese Bande, ich konnte nichts anderes denken; aber dann stand der Artillerist vor mir und hatte kleine, tückische Augen und schmutziges Kinn und struppige Haare, und er hob die Hände, rote, breite, behaarte Hände. Schnell sah ich mich um. Viele Leute standen plötzlich im Kreis, auch Frauen waren da und einer mit einem runden, steifen Hut, und dieser hob den Regenschirm gegen mich, und ein anderer lachte, viele lachten, aber ich dachte nur an die Achselklappen. Alles hing an den Achselklappen, meine Ehre — wie lächerlich, was lag an den Achselklappen? — alles lag daran, und ich
griff zum Seitengewehr. Da pflanzte sich die Faust mir mitten ins Gesicht. Im Augenblick war alles dumpf, Auge, Nase und Kinn, und warm rann das Blut. Stoß zu, dachte ich, jetzt gibt es nur eins: stoß zu! Ich stieß, aber der Artillerist spie mich an und lachte, und ich hatte den Speichel im Gesicht, und eine Frau schrie: «Du Affe, du Zierbengel, du Hosentrompeter», und ein Stock flog mir ins Genick, und ich fiel. Einer trat mich, viele traten und hieben, ich lag und stieß mit dem Fuß, schlug um mich und wußte, es war umsonst, aber ich war Kadett und die Achselklappen hatten sie nicht. Sie lachten alle und johlten und schlugen, und mir lief das Blut in die Augen, in die Nase, und plötzlich wurde es still. Aus dem Carlton-Hotel kam einer, ich sah ihn aus verquollenen Augen, ein Offizier kam, der war schlank und groß und trug blaue Husarenuniform und hatte die Mütze schief auf und hatte Lackstiefel mit Silberborte, und auf der Attila klebte das E.K. I. und im Gesicht das Monokel. Er klatschte mit der Reitpeitsche gegen die Stiefel und hatte ein schmales, braunes, eckiges Gesicht, kam näher, klatschte mit der Peitsche, hatte undurchdringliche Augen und ging geradeswegs auf den Haufen zu. Die Weiber waren still, der Haufen öffnete sich, der Mann mit dem steifen Hut verschwand, der Artillerist war weg, der Lange, Elegante, Blaue beugte sich, faßte mich am Arm, ich taumelte hoch und stand stramm. «Bitte, stehen Sie bequem», sagte er, er sagte: «Ich bin auch Kadett gewesen, kommen Sie bitte in mein Hotel.» Ich ging mit und wischte mir das Blut aus der
Nase und sagte: «Die Achselklappen haben sie mir nicht abgerissen.»
Hoffnung Damals, ich war gerade 16 Jahre alt und Obersekundaner der 7. Kompanie der KöniglichPreußischen Hauptkadettenanstalt, damals in den ersten acht Tagen nach Ausbruch der Revolution hatte ich den Plan, das Hauptquartier der Matrosen auszuheben. Etwa achtzig Matrosen hatten in der Stadt die Revolution gemacht, sie bildeten eine Volksmarinedivision und saßen im Polizeipräsidium. Mit einer Handvoll entschlossener Gesellen, so dachte ich mir, mußte es möglich sein, sie auf einen Schlag unschädlich zu machen. Aber es mußte schnell geschehen, denn noch brodelte die Stadt, noch knallten verlorene Schüsse in den Straßen, noch wußte keiner, wie die Dinge sich gestalten würden. Das Gebäude der «Volksstimme», das Polizeipräsidium, die Post und der Bahnhof mußten in unsere Hand gebracht werden, dann waren wir die Machthaber der Stadt, bis die Soldaten der Front zurückkehrten. Mit hundert Bewaffneten war dies wohl zu bewerkstelligen. Es galt nur, sie zu sammeln. Es waren noch mehr Kadetten in der Stadt, ich suchte sie der Reihe nach auf. Sie hatten alle das sonderbarste Zivil angezogen, sie trugen kurze Hosen aus früherer Knabenzeit oder umgearbeitete feldgraue und dazu die blaue Litewka mit Schiller-
kragen. Sie schienen mit ihrer Uniform alle Sicherheit der Haltung aufgegeben zu haben. Bleiche Mütter fürchteten, ich würde ihre Söhne zu Unbesonnenheiten verleiten, und die Söhne standen verlegen dabei, und einer weinte, und ein anderer sagte, er sei froh, daß die Revolution gekommen sei und daß er nicht mehr ins Korps zurückbrauche, und Ludendorff sei an allem schuld, das habe schon sein Vater gesagt, und im Kasino sei ja doch bloß immer nur von Pferden, Weibern und Saufen gesprochen worden, und ein dritter, der still dabeistand, solange seine Mutter klagte, lief mir auf der Treppe nach, als ich gehen wollte, und flüsterte eilig, wenn ich etwas vorhätte, sollte ich ihn benachrichtigen, aber seine Mutter dürfe nichts davon wissen. Tag für Tag strich ich um das Polizeipräsidium, ja, ich wagte mich hinein, ließ mir den gutmütigen Spott der Matrosen gefallen, die freilich in dem schüchternen Kadetten keine Gefahr witterten, trotzdem das Lacklederkoppel immer noch das ungeschliffene Seitengewehr trug. Zwei Kriminalbeamte, die ich kannte und die in ihren Zimmern saßen und ihren Dienst unbehelligt weiter taten, machte ich empört auf die Dreckwirtschaft aufmerksam, die durch die Matrosen in den Räumen herrschte, und sie hörten mich freundlich an und lächelten, und dann sagte einer, sie täten bloß ihre Pflicht als Kriminalbeamte, und das weitere kümmere sie nicht. Und dann suchte ich den Major Behring auf, einen Freund meines Vaters, rotgesichtig, schnurrbärtig und leider wegen Hexenschusses nicht felddiensttauglich, und den weihte ich ein in meinen Plan, und er war begeistert, und er
sagte, das würde ihm alle Hoffnung wiedergeben, daß die deutsche Jugend so treu zum alten, herrlichen Kaiserreich stünde und für die alten Ideale eintrete, und er wünsche mir Gottes Segen zu meinem Vorhaben, er selbst habe ja Frau und Kinder und ich verstünde wohl, der verfluchte Hexenschuß, der ihn ja auch leider, leider verhindert habe, seinem Kaiser zu dienen — aber ich mußte weiter und ging und sah unterwegs die Bekanntmachungen des Arbeiter- und Soldaten-rates und stand davor und las und las und verstand kein Wort und wußte nur, daß dies feindlich war und daß dies ja alles gar nicht stimme, und ich nahm freilich von den Zetteln, die ein Mann mit roter Armbinde verteilte und die Beitrittserklärungen für die Sozialdemokratische Partei waren, ich nahm einen ganzen Pack, aber nur, um sie sorglich, über den Rinnstein gebückt, in einen Kanalisationsschacht zu stecken. Ich irrte durch die Straßen und prüfte und verwarf in Gedanken Hunderte von Leuten, die ich hätte aufsuchen können, und wetzte meinen Zorn an den vorbeipatrouillierenden Matrosen mit ihren roten Armbinden und den roten Papierblumen im Mützenband und kümmerte mich längst nicht mehr um die vielen Blicke der Leute, die meiner Uniform galten und dem Koppel und den Kokarden. Die Stadt war ruhig, nur am Bahnhof kamen noch kurze Demonstrationszüge vorbei; und einmal, da stand an der Spitze des Zuges ein junger Offizier, feldgrau, mit einer riesigen roten Schärpe, und das war der Bahnhofskommandant; er hielt eine Ansprache und erklärte, er bekenne sich voll und ganz zur Sache, zur geheiligten Sache der Revolution. Und
ihn grüßte ich, ja, ihn grüßte ich, ich ging vorbei und grüßte so stramm wie möglich, die Hand flitzte an den Mützenrand, dicht an ihm ging ich vorbei und sah ihn vorschriftsmäßig an, und er sah mich, und mitten im Wort blieb sein Mund stehen, und seine Hand fuhr zu halber Höhe und sank dann wieder zögernd, und er wurde sehr rot im Gesicht. Einen fand ich, der bereit war, mitzumachen. «Wir wollen die rote Schweinebande schon ausräuchern», sagte er, und hatte auch einen Revolver, den er mir zeigte, und vielleicht berührte nur dies mich peinlich bei dieser unerwarteten Bereitschaft und der Art, sie auszudrücken, daß es mein jüngerer Bruder war, Kadett und Obertertianer. Sonst war keiner bereit, nicht der Oberlehrer, der im dritten Stockwerk wohnte, und der bebte vor Wut, wenn er nur das Wort Sozialdemokrat hörte, aber nun murmelte er, die Aufregung dieser Tage habe ihn ganz krank gemacht; nicht der Kunstmaler von nebenan, Inhaber des Kriegsverdienstkreuzes und Vorstandsmitglied des Flottenvereins, der malte an einem Stilleben, Erdbeeren auf einem Kohlblatt, und sagte, er müsse erst seinem Werke leben; nicht der Kassenrendant, Zahlmeister außer Dienst, der ging nach wie vor auf sein Amt und hatte durchaus keine Zeit; nicht der Vater meines lungenkranken Freundes, Textilfabrikant, der bangte um seinen Betrieb, fürchtete die Wut seiner Arbeiter — und sie hatten alle recht, sie hatten alle jenes verfluchte Recht für sich, die maßvolle, weise Überlegung, mit der sie jeden Einwand, jede auflodernde Begeisterung abwürgen können. Und durch die Auflösung der bisherigen
Ordnung, die gleichzeitig geschah mit einer Freigabe der tiefsten und geheimsten Wünsche und Süchte, durch die Lockerung aller Bindungen entfernte sich der eine vom anderen und brauchte es nicht mehr für notwendig zu erachten, den eigentlichen Gehalt seines Wesens ängstlich zu verschleiern. Ja, so standen sie alle plötzlich für sich allein und konnten nur für sich allein gewertet werden, und jede Freundschaft wurde unmöglich. Da ich Menschen nicht sammeln konnte, sammelte ich Waffen, und es war leicht, Waffen zu sammeln. In jedem Hause fast war mindestens ein Gewehr, und meine Bekannten waren froh, daß ich ihnen die gefährlichen Werkzeuge aus der Wohnung schleppte. Nächtlicherweile trug ich Gewehr für Gewehr, eingepackt und verschnürt, durch die Straßen und war unendlich stolz, als sich die Waffen in meiner Dachkammer stapelten. Wenngleich ich nicht wußte, was ich mit diesem Depot beginnen sollte, so vermittelte mir das Bewußtsein des Besitzes jener Dinge doch das erregende Glücksgefühl der Beherrschung tödlicher Mittel, und sicherlich war es die Gefahr ihres Besitzes, die mich in ständiger Selbstachtung erhielt und den Augenblicken meiner demütigenden Untätigkeit die Rechtfertigung verlieh. Die Waffenstillstandsbedingungen wurden bekannt. Mitten in einem großen Menschenhaufen stand ich vor dem Gebäude der Zeitung. Da hingen die breiten Bogen mit den knalligen Überschriften, und der Herr vor mir las halblaut und stockend, und andere drängten sich heran, sogar einer mit einer roten Binde am Arm. Erst konnte ich nichts sehen, aber einer
lachte erregt und sagte, das wäre doch alles Unsinn, das könnte doch gar nicht sein, und Wilson werde schon dafür sorgen, daß... aber ein andrer sagte: «Ach was, Wilson», und da war der erste still. Und einer sagte, das hätten die Franzosen schon bei Ausbruch des Krieges gesagt und gewollt; eine Frau schrie heiser: «Aber da kommen ja die Franzosen bis hierher?» Und dann stand ich vorne und las. Fett und behäbig berichteten die Überschriften, und mein erstes Gefühl war Ärger über die Zeitung, weil diese entsetzlichen, trockenen, lakonischen Bedingungen fast behaglich hergerichtet waren. Dann aber war mir, als ob mir der Hunger, an den ich mich schon gewöhnt glaubte, die Magenwände zusammenriß. Das stieg mir bis zum Halse, füllte mir den Mund mit einer fauligen Leere und ließ mir ein Flimmern in die Augen schießen, so daß ich nicht mehr die Leute, die um mich geballt standen, sehen konnte, daß ich überhaupt nichts mehr sehen konnte außer dem Schwarz der Buchstaben, die da eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen mit grauenhaftem Gleichmut in mein Hirn schoben. Zuerst verstand ich nicht. Ich mußte mich zwingen, zu verstehen. Ich glaubte, lachen zu müssen, ich murmelte mit trockener Kehle vor mich hin, und je länger meine Augen über die Zeilen hetzten, desto schwerer stieg mir der Druck in den Hals. Schließlich wußte ich nur eines, daß die Franzosen hierher kommen würden, daß die Franzosen als Sieger einrücken würden in die Stadt. Ich wandte mich an den Mann neben mir und packte ihn am Arm und sah erst dann, daß er eine rote Binde trug, und sagte trotzdem, und die Stimme war
brüchig: «Die Franzosen kommen her», und der sah nur hin auf das Zeirungsblatt, und seine Augen hatten einen starren Glanz; und einer sagte: «Die Flotte müssen wir auch ausliefern» — und dann sprachen sie alle durcheinander. Ich rannte aber nach Hause und sah unterwegs, daß sich nichts verändert hatte, während mir doch schien, als müsse die Stadt zu schreien beginnen, als müsse es aus allen Gassen brechen. Aber da standen nur vereinzelt Grüppchen an den Ecken, Straßenredner holten mit mächtiger Geste aus, und ich hörte, wenn Soldaten und Offiziere gleiche Löhnung und gleiches Fresssen bekommen hätten... aber da war doch noch ein alter Herr und der meinte, heute sollten wir doch nicht nach Schuld und Nichtschtschuld fragen, sondern da müsse das Volk einig sein, denn die Franzosen kämen in die Stadt. Doch man hörte nicht auf ihn, und es war rührend, zu sehen, wie der alte Herr sich an einen nach dem anderen wandte und auf ihn einsprach und wie sich einer nach dem anderen nach kurzen Augenblicken anscheinend gelangweilt abwandte und der alte Herr dann betrübt und kopfschüttelnd weiterging. Einer, aber sagte und sah hinter ihm her: «Man möchte bald sagen, lieber die Franzosen im Land als die Roten», und erschrak dann vor sich selber und ging mit eilig geschwungenem Regenschirm davon. Freilich rasten noch die Autos durch die Stadt, vollbesetzt mit roten Bewaffneten, und ich musterte sie genau und sah kräftige, entschlossene Gestalten, gepackt vom Rausch der schnellen Fahrt, und überlegte mir, ob ihnen auch der Rausch eines tollen Widerstandes gegen den Einmarsch der Franzosen zuzutrauen sei. Und ich las
die Plakate, die roten Plakate mit den Bekanntmachungen des Arbeiter- und Soldatenrates, und witterte hinter der hallenden Wucht ihres Ausdrucks doch eine gefährliche, bezaubernde Energie, hinter den prahlerischen Verkündungen doch einen heißen Willen. Ja, da mir schien, daß die fieberhafte Erwartung, die in den ersten Tagen der Revolution der Stadt das Gepräge gab, immer mehr einer stumpfen Resignation Platz gemacht habe, wünschte ich mir Exzesse herbei und erschrak fast vor der Befriedigung, die ich spürte, als es hieß, die Gefängnisse seien gestürmt und geöffnet worden und man habe einen fetten Gast des Café Astoria, der über einen Demonstrationszug der Kriegsbeschädigten zu lachen sich erdreistete, halb totgeprügelt. Die Bekleidungsdepots wurden geplündert, und die Matrosen waren die Anführer, und viele junge Mädchen der Stadt, die mit den Matrosen befreundet waren, trugen auf einmal notdürftig umgearbeitete feldgraue Mäntel. Aber in den Straßen erschienen nach und nach an Stelle der verwegenen Matrosenstreifen ältere Männer in schwarzem Rock und mit steifem Klappkragen, denen die rote Binde seltsam genug auf dem Ärmel prangte, erschienen die bleichen Soldaten der Amtsstuben, die statt der Aktentasche das Gewehr trugen, mit der Mündung im Dreck, wie es Sitte geworden war; aber was bei den Matrosen als ein kühnes Zeichen der Aufehnung erschien, war bei diesen nur der Ausdruck der geheimen Angst, nicht als gefährlich betrachtet zu werden. Die Matrosen zogen sich erbittert zurück, sie waren nicht mehr die Helden der Revolution, sie fühlten sich betrogen und strichen mit verbissenen Mienen an den Ordnungssoldaten vorbei, an den Wachleuten, die überall
wichtig herumstanden und den vagierenden Matrosen mit kleinen, kalt glitzernden Augen folgten. In einer der Nächte zwischen jenen verworrenen Tagen träumte ich vom Einmarsch der Franzosen. Ja, ich träumte davon, obgleich ich außer den Kriegsgefangenen noch keine französischen Soldaten gesehen hatte — und es sei hier gesagt, so, wie ich sie träumte, so sah ich sie später, siebzehn Monate später, als sie wirklich die Stadt besetzten —, und so sah ich sie: Sie waren plötzlich in der Stadt, in der toten, gedämpften Stadt, geschmeidige Gestalten, graublau wie das Dämmerlicht, das zwischen den Häusern hing, stumpfglänzende Helme über hellen Gesichtern, über blonden Gesichtern, und sie gingen schnell, das Gewehr geschultert und am Gewehr die Bajonette, sie gingen mit federnden Knien, die Mäntel öffneten sich vor ihren Knien, und sie stießen in die weiten, leeren Plätze hinein, unbeirrbar, wie am Draht gezogen, und vor ihnen wich der Dunst, der über der Stadt lagerte, und es war, als stöhnte das Pflaster, als triebe jeder Schritt einen spitzen Keil in den gemarterten Boden, und es war, als duckten sich die Bäume und die Häuser vor der jauchzenden Drohung des Sieges, vor dem unbezwinglichen, tödlichen Rausch ihres Marsches; Kolonnen marschierten, endlose, exakte, prachtvolle Kolonnen, mit Geblitze und Gefunkel und mit glänzenden Kupfernaben an den Rädern der Geschütze; und wie ein Schrei stiegen die steilen Lichter ihrer grellen Fahnen, wie ein Schrei fuhr über dem Brausen der kurzen, knatternden Schritte plötzlich das Schmettern der Clairons — wo sah ich das, wo hörte ich das, den Marsch des Regimentes Sambre et
Meuse? —, eine wilde, hallende, todesmutige Musik, die ihren gellenden Jubel an den Himmel hetzte, in die Herzen der Gegner jagte, in die Steine preßte — und vor ihr war Flucht, Panik und das namenlose Entsetzen vor dem Unentrinnbaren. Maßlos war der Hohn, marternd der Jubel, unerträglich das Gelächter des Siegers, des Herrschers, über den Hunger, über die Not, über das Gewinsel, über die flatternde, brechende, verzweifelte Gegenwehr. Und dazwischen kamen hurtige Kolonnen, kleine Gestalten, schmal, gelenkig, bräunlich, wie Katzen; Tunesier, mit Pfötchenschritten und bleckenden Zähnen, sie schlängelten sich, blitzend funkelnde Augen schweiften, Witterung der Wüste, Unruhe unter glühheißer Sonne, über flimmernden, weißen Sand; dazwischen in flatternden, leuchtenden Mänteln, auf winzigen, zähen Pferden, wendig, geschickt, blutzischend, die Spahis; dazwischen, schwarz wie die Pest, lange Beine, muskulöse, seidige Körper, blanke Gesichter, gewölbte, gierige Nüstern, die Neger! Und wir, überrannt, übertrampelt, gebändigt: das darf bei Gott nicht sein! Unnennbare Wucht: und wir zerschmettert vor ihr, wir in den Staub getreten, jeden Anspruchs bar, Besiegte, Geschändete, Aufgegebene, nie wieder Leuchtende ... «Nach dieser Revolution wird der Usurpator kommen», las ich in der Zeitung, und seiner Sache gewiß verwies der «Generalanzeiger» auf das Beispiel der Französischen Revolution und Napoleons. Ich hatte noch ein Bild des Korsen im Schrank — seit Kriegsausbruch hing es nicht mehr in meinem Spind. Ich suchte nach dem Bild und erschrak
vor diesem Gesicht. Das war bleich und schwammig, und ich dachte, wenn man mit einer Nadel hineinstäche, dann platzte die Haut und es müßte weißlich und fett aus der Wunde quellen. Aber die Augen stachen dunkel und voll der gefährlichsten Rätsel unter der zerflederten Locke. Ja, Napoleon, der Usurpator, stammte aus der Revolution. Dieser stürmische Blick, hatte der nicht alles zusammenbrechen sehen, hatte der nicht gebändigt, was schaumig auseinanderzufließen drohte, stand nicht unter der unmittelbaren Drohung dieses Blickes Frankreich und die Welt? Wenn das neu war, was damals entstand, dann wurde es neu, weil hinter dieser Stirn die flackernden Wünsche der Menschen nach Gerechtigkeit, nach dem Freisein, nach dem Brot, nach dem Ruhm und nach der Liebe in den Wirbeln eines tollen Hohnes geballt, gesammelt, eingekocht und in blitzende Energien verwandelt wurden, weil diese zwingenden Augen in sich sogen, was nach dem Niederbruch an Kraft und Bewegung auf brachen Feldern lag, weil dieser schmale, gebieterische Mund Worte formte, dieses kalte, glühende Herz Pläne gebar, die das brodelnde Paris, das zerfleischte Frankreich zusammenschleuderte zu einem einzigen, kompakten Kern, der wuchs und wuchs und alle Grenzen sprengte, und alle Grenzen sprengen sollte. Mit welch entflammendem Schauder las ich von jenem gallischen, sengenden, nüchternen Heroismus, der die zerfetzten, hungernden, marodierenden Scharen gegen die eindringenden Armeen trieb, der das Salpeter von den Kellerwänden kratzte, um Pulver zu haben, der Generäle auf die Guillotine schleppte, weil sie, entgegen dem Befehl,
nicht gesiegt. Aus diesen Bereichen wuchs der Korse, das war die Revolution, die den Usurpator gebar. Levée en masse — wer bot uns das Wort? das war es, ja, das war es! Wir mußten alle aufstehen gegen den Feind. Wir mußten der Revolution einen Sinn geben, wir mußten das Land aufkochen lassen, die Fahnen, die gültig waren, und seien es die roten, nach vorn tragen — das mußten wir. Sollten wir nicht die Revolution lieben lernen? Hatte nicht Kerenski weitergekämpft und hatte nicht Lenin der ganzen Welt den Krieg erklärt? Wir würden alle Waffen tragen, und wir würden sie tragen mit der Leidenschaft des Sieges, die uns mehr verhieß, als seren Bestand zu wahren, die uns einer Mission wert sein ließ, die der Verzweiflung ihren fahlen Schimmer nahm und aus Busch und Hecke, aus jedem Fenster, jedem Torweg unsern Haß und unsern Glauben spritzte. Wer sollte widerstehen unserm Aufstand? Der Mann, der uns das Wort bot, stand nicht im Ruche krauser Phantasterei — wir sollten's wagen! Ich wollte die Revolution lieben lernen; vielleicht waren ihre Energien noch nicht geweckt. Vielleicht lauerten die Matrosen auf die Parole, vielleicht standen die Arbeiter, die Soldaten bereits zu heimlichen Bataillonen geformt, vielleicht war die Sprache der Aufrufe schon gesprüht aus den quirlenden Gluten eines unmeßbaren, ungeheuerlichen, welttrotzenden revolutionären Willens — die aktivsten Elemente der Nation trugen die Waffen schon in den Händen. Und ich lief durch die Stadt, aber die Stadt war ruhig. Und ich drängte mich in die Versammlungen,
aber erhitzte Redner donnerten von Junkern, Pfaffen und Schlotbaronen und vom fluchbeladenen Hohenzollernregime. Und ich las mit Inbrunst die Proklamationen, aber da stand etwas von einem Demobilmachungskommissar und Anordnungen zur Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen. Und ich rannte durch die Straßen, aber die Menschen gingen zur Arbeit, sie blieben kaum stehen vor den grellroten Plakaten, sie gingen müde in alten, abgeschabten Kleidern dem Erwerb nach, unendlich geduldig, verdrossen, und wenn sie etwas sprachen, dann war es wie gemurrt, und die Frauen standen wie immer an den Ecken in langen Reihen und warteten ergeben. Ich schmiß mich an die Wachleute, aber die sahen mich mißtrauisch an und führten Worte im Mund, die ich kannte, zerledert und abgekaut und hundertmal gehört. Und ich sah geballte Massen mit wehenden Fahnen und prangenden Schildern, aber da schrie es über die Plätze: «Nie wieder Krieg!» und «Gebt uns Brot!», und sie standen und sprachen vom Generalstreik und von Betriebsrätewahlen. Und ich wandte mich an meine Bekannten, an Bürger, an Offiziere, an Beamte, aber die sagten, es müsse erst Ordnung werden, und sprachen von der Schweinewirtschaft, mit der unsere zurückkehrenden Feldgrauen schon aufräumen würden. Aber die Matrosen, die Matrosen hatten die Revolution gemacht, sie waren wie das mahnende Gewissen aus ersten Tagen des Aufbruches, sie strichen kühn durch die Stadt, sie waren Keim und Träger jeder Erregung. Zum zweiten Male ging ich ins Polizeipräsidium, stieg über die schmutzige, aus-
getretene Treppe, ging in ein Zimmer mit rohen Holztischen und Bänken, auf denen Kochgeschirre, Brotbeutel, Bierkannen, Seifenstücke, Kämme, Tabaksbeutel, Fettgläser, Speckstücke in tollem Wirrwar lagen und dazwischen verstreut Patronen, Karabiner, Seitengewehre, Lederzeug, indes ein Maschinengewehr gebuckelt in der Ecke stand neben einer Kiste Handgranaten. Da lagen, hockten, standen die Matrosen, rauchten, spielten, dösten, aßen, sprachen, und über ihnen hing die Luft, schwer und blau, aus Schweiß und Staub und Rauch, der Ruch eines Heerlagers, voll sonderbar beklemmender Würze, gleich als ob alles ahnen ließe, daß hier Sprengstoffe lagerten, die auf den zündenden und befreienden Funken warteten. Und ich erniedrigte mich, ließ mich anfahren oder höhnisch belächeln, stand im Wege, ging nicht, bot schlechten Tabak an, mischte mich heiser in rüde Unterhaltung, belachte die Zoten, erzählte selber eine, biederte mich an, schmiß mich heran, suchte mir einen, zwei, die abseits saßen, holte Zeitungen vor. Und einer, ein Kleiner, Junger, mit kessem Gesicht, der fragte mich aus, den log ich an, beschimpfte den Kaiser, ließ mir erzählen von prahlerischen Heldentaten, wie sie ihre Offiziere verprügelt, wie viele Mädchen sie über die Bank gezogen, bestaunte ihn, bis der geschmeichelt duldete, daß ich über die Wachleute herzog, über die schlappen Hunde, die die Revolution verraten wollten, aus Furcht vor den Bourgeois und aus Furcht vor den Franzosen. Und ob er wüßte, daß die Franzosen herkämen, und was sie dann machen würden, die Franzosen würden doch keine Bewaffneten dulden,
und ob sie kämpfen würden, ob sie kämpfen würden gegen die Franzosen? Da lachte der Kerl und sagte: «Wir nicht, wer noch?» und spie in die Ecke.
Heimkehr In der Mitte des Dezember rückten die Fronttruppen in die Stadt. Es war nur eine Division; sie kam aus der Gegend von Verdun. Auf den Bürgersteigen drängte sich die Menge. Einzelne Häuser zeigten schüchtern die schwarz-weißroten Fahnen. Viele junge Mädchen und Frauen standen da, einzelne von ihnen trugen Blumen in Körben oder kleine Päckchen. Immer mehr Leute kamen hinzu, die Hauptstraßen waren angefüllt mit Massen, die sich nach mancherlei Bewegung geduldig an die Bürgersteige schoben. Wir standen und warteten auf die Front. Es war, als ob der finstere Druck, der nun schon seit Wochen über der Stadt lag, einen Teil seines Gewichtes verloren hätte, als ob sich der Starrkrampf gelöst hätte, der bislang die Menschen aus ihrer Gemeinsamkeit gestoßen hatte. Es war fast so wie früher, wenn ein großer Sieg gemeldet wurde. Wir glaubten alle, einander zu erkennen, bereit, unserer Stimmung Ausdruck zu geben, und von vornherein geneigt, zu glauben, was uns erfülle, müsse auch die
anderen bewegen. Die Front kam. Nun würde es sich entscheiden. Denn wir haben alle gelitten, da wir spürten, daß inmitten des Wirbels, daß trotz der Ereignisse, der Wandlungen, der Geschicke das Eigentliche, das Wahrhafte, das Wirkliche noch ausstand. Die Front würde es bringen. Es war unmöglich, daß nun die Lösung nicht einträfe; wir konnten es kaum ertragen, so zu leben, so herausgerissen, so aufgegeben, so abseits unseres eigenen Glaubens. Wir standen und reckten die Hälse hoch, ob sie noch nicht kommen, und alle Wünsche sammelten sich dem einen Punkt. Nun wurde alles anders. Die Front kam und mußte mit sich tragen den Hauch der Welt, die vier Jahre lang gültig war. Wir standen und warteten auf die Besten der Nation. Ihr Einsatz konnte doch nicht vergeblich gewesen sein. Die Toten des Krieges fielen doch nicht umsonst, das durfte ja nicht sein, das war unmöglich. Ich dachte, da stehen wir nun alle und warten, und jeder formuliert nun seine Wünsche, und sie sind vielgestaltig genug. Aber eindeutig mußte doch sein die Anerkenntnis ihrer Größe, sie lag schon im Verzicht auf eine eigene Entscheidung. Die Front kehrte heim. Um sie wob die Zuversicht einen strahlenden Schein. Auf einmal waren unsere Reden und Meinungen wieder befreit von dem muffigen Dunst der Hinterzimmer, in die sie seit Wochen verbannt. Unsere Feldgrauen kehrten heim, unsere schimmernde Armee, die ihre Pflicht tat bis zum Äußersten, die unsere glänzendsten Siege erfocht, Siege, deren Glanz uns nun fast unerträglich dünkte, nun, da der Krieg verloren war. Das Heer war nicht besiegt. Die Front stand bis zuletzt. Sie kam zurück und sie würde alle Bindungen wieder knüpfen.
Die Vielfalt unsrer Wünsche, die der Masse die eigentümliche Bewegung und Erregtheit verlieh, suchte ihren Ausdruck. Es war Gemurmel in den Reihen, Gruppen formten sich, es standen kleine Häuflein rund geballt um eifrig gestikulierende Gestalten. Man erzählte sich, die Truppen wären von der Front bis hier zu Fuß marschiert. Sie hätten sich geweigert, Soldatenräte einzurichten. Und ihnen auf dem Fuße folgten die Franzosen. Ein Name, eine Zahl, sie standen plötzlich im Kerne unseres Denkens. Fast niemand hatte vorher von dieser Division gehört, von der 213. Infanterie-Division, es war schlicht eine Division mit hoher Nummer, eine von vielen, eine, die die ganzen Jahre an der Westfront kämpfte. Zuletzt bei Verdun. Mehr wußte man nicht von dieser Division, die nun in die Stadt marschieren sollte, die nun mit herrisch stolzem, von allen unbedenklich zuerkanntem Anspruch in die geheimsten Bezirke unserer Erwägung griff. Sie sollte in der Stadt nicht bleiben, am nächsten Tage zog sie weiter. Doch die Stadt, sie spürte ihre freudige Pflicht, den tapferen Kämpfern den festlichen Empfang zu spenden, der ihnen wohl gebührte, den Dank der Heimat ihnen kundzutun, mit offnen Armen sie zu grüßen, dankbar, stolz und warmen Herzens. Das waren unsere Helden, die nun nahten, die Unbesiegten, die ein neidisches Schicksal um den Enderfolg gebracht. Und aller Trauer sehr zum Trotz und ungeachtet, daß die Verhältnisse der Heimat sich gewandelt, es war nicht mehr wie recht, in Einigkeit, fern jedem kleinen Hader, sie willkommen heißend zu empfangen. Es wurde immer wieder hin und her gefragt. Noch hörten wir das Brausen nicht, das ihre Ankunft melden
mußte. Noch klang das Schmettern der Trompeten nicht und nicht der dumpfe Paukenkrach, noch tauchten nicht die Fahnen auf. Naßgrau war der Tag und kalt. Ich stand eingekeilt; der Schweiß, den mir des unbekannten Nachbarn Körperwärme schuf, bezog die Stirn mit ekler Schicht. Das Summen der Erregung prallte an die Häuser, wir warteten und lauschten, schwatzten, zitterten im Frost und in der feuchten Wärme, gefoltert von der Spannung. Plötzlich waren die Soldaten da. Man hörte sie kaum, nur die Massen gerieten in kurze Bewegung. Einzelne Zurufe erklangen, die niemand verstand, die sofort wieder erstarben. Eine Frau begann zu weinen, ihre Schultern hoben sich zuckend, sie schluchzte still vor sich hin, die Hände ineinander gekrampft. Die Wachleute breiteten die Arme aus und stemmten sich gegen die Menge. Aber sie wurden verschluckt, mit einem Ruck schob sich die Menschenmauer vor. Da kamen sie, ja, da kamen sie. Da waren sie auf einmal, graue Gestalten, eine Reihe von Gewehren über runden, stumpfen Helmen. «Warum ist denn keine Musik?» flüsterte einer, heiser atemlos. «Warum hat denn der Bürgermeister keine Musik?» Unwilliges Gezisch. Und Totenstille. Dann rief einer «Hurra...» Von ganz hinten. Und wieder war Stille. Ganz schnell gingen die Soldaten, dicht aneinandergedrängt. Wie Schemen tauchten die vordersten vier Mann auf. Sie hatten steinerne, starre Gesichter. Der Leutnant, der neben der ersten Gruppe ging, trug blanke, glitzernde Achselstücke auf
einem lehmgrauen, zerschlissenen Rock. Sie kamen heran. Die Augen lagen tief, im Schatten des Helmrands, gebettet in dunkle, graue, scharfkantige Höhlen. Nicht rechts, nicht links blickten die Augen. Immer geradeaus, als seien sie gebannt von einem schrecklichen Ziel, als spähten sie aus Lehmloch und Graben über zerrissene Erde. Vor ihnen blieb freier Raum. Sie sprachen kein Wort. Kein Mund öffnete sich in den hageren Gesichtern. Nur einmal, als ein Herr vorsprang und, bittend fast, den Soldaten ein Kistchen hinhielt, fuhr Leutnant mit unmutiger Hand beiseite und sagte: «So lassen Sie das doch, hinter uns kommt noch eine ganze Division. » Die Soldaten marschierten. Eine Gruppe, dicht aufgeschlossen die Rotten, die zweite Gruppe, die dritte. Abstand. Weiter Abstand. Das war wohl eine Kompanie? Wie, das war wohl eine ganze Kompanie? Drei Gruppen? O Gott, wie sahen sie aus, wie sahen diese Männer aus! Was war das, was da heranmarschierte? Diese ausgemergelten, unbewegten Gesichter unter dem Stahlhelm, diese knochigen Glieder, diese zerfetzten, staubigen Uniformen! Schritt um Schritt marschierten sie, und um sie herum war gleichsam unendliche Leere. Ja, es war, als zögen sie einen Bannkreis um sich, einen magischen Zirkel, in dem gefährliche Gewalten, dem Auge der Ausgeschlossenen unsichtbar, geheimes Wesen trieben. Trugen sie noch, zu einem Knäuel quirlender Visionen geballt, die Wirre tosender Schlachten im Hirn, wie sie den Dreck und den Staub der zerschluchteten Felder noch in den
Uniformen trugen? Dies war kaum zu ertragen. Sie marschierten ja, als seien sie Abgesandte des Todes, des Grauens, der tödlichsten, einsamsten, eisigsten Kälte. Hier war doch die Heimat, hier wartete die Wärme auf sie, das Glück, warum schwiegen sie, warum schrien sie nicht, warum jubelten sie nicht, warum lachten sie nicht? Die nächste Kompanie rückte an. Die Menge, zurückgeprallt vor der wütenden, überraschenden, quälenden Wucht der ersten Gruppen, drängte wieder vor. Aber die Soldaten stießen wie blind in die Straßen hinein, in trappendem Gleichschritt, schnell, geschlossen, unberührt von den tausend Wünschen, Ahnungen, Grüßen, die sich um sie woben. Und die Menge war still. Nur wenige waren mit Blumen geschmückt. Und die Blumensträußchen auf den Gewehrläufen hingen verwelkt. Die jungen Mädchen hatten Blumen in den Händen, aber nun standen sie da, bebend, hilflos, verlegen, es zuckte in ihren Gesichtern, die, bleich den Soldaten zugewandt, angstvolle Augen zeigten. Die Soldaten marschierten. Ein Offizier trug achtlos einen Lorbeerkranz in der Hand, schlenkerte ihn, zog die Schultern hoch. Die Menge raffte sich auf. Einzelne Schreie prasselten, wie aus verrosteten Kehlen. Hier und da wurde mit Taschentüchern gewinkt. Die Menge warb um die Truppen, erschüttert stammelte einer: «Unsere Helden, unsere Helden!» Da marschierten sie, unsere Helden, da strichen sie vorbei, unerschütterlich, die Schultern vorgeschoben, der Stahlhelm fast überragt vom klotzigen Gepäck, schnurgerade ausgerichtet, mit
schleudernden, knackenden Knien, Kompanie auf Kompanie zog vorüber, kleine, geballte Häuflein mit weiten Abständen. Der Schweiß rann den Soldaten aus dem Helm über die dürren, grauen Backen, die Nasen sprangen spitz nach vorn. Keine Fahne. Kein Zeichen des Sieges. Nun kamen schon die Bagagewagen. Das war ein ganzes Regiment. Und wie ich diese tödlich entschlossenen Gesichter sah, diese harten, wie aus Holz zurechtgehackten Gesichter, diese Augen, die fremd an der Menge vorbeisahen, fremd, unverbunden, feindlich — ja, feindlich — da wußte ich, da überfiel es mich, da erstarrte ich — — das war ja alles ganz anders, das war ja alles ganz, ganz anders, das war ja alles gar nicht so, wie wir es dachten, wir alle, die wir hier standen, wie ich es dachte, jetzt und die ganzen Jahre hindurch, das mußte ja alles ganz anders gewesen sein. Was wußten wir denn? Was wußten wir denn von diesen da? Von der Front? Von unseren Soldaten? Nichts, nichts, nichts wußten wir. O Gott, dies war entsetzlich. Das war ja alles gar nicht wahr; was hatte man uns erzählt? Man hatte uns ja belogen, das waren nicht unsere Feldgrauen, unsere Helden, unsere Beschützer der Heimat — das waren Männer, die nicht gehörten zu dem, was sich hier in den Straßen gesammelt hatte, die nicht dazu gehören wollten, die aus anderen Bereichen kamen, die andere Gesetze kannten, andere Freundschaften spürten. Und auf einmal, da dünkte mich alles schal und leer, das, worauf ich gehofft hatte, das, was ich gewünscht hatte, das, wofür ich mich begeistert hatte. Daß diese
da, die Männer, die da marschierten, das Gewehr geschultert und strenge abgeschlossen von allem, was nicht ihresgleichen war, daß diese da nicht zu uns gehören wollten, das war es, das Entscheidende. Sie gehörten nicht zu uns, sie gehörten nicht zu den Roten, vor ihnen glitt unsere ganze, schaumige, verkrampfte, lächerliche Wichtigkeit auseinander wie das Wasser vor dem Bug eines Schiffes. Alles, was wir gedacht hatten, was wir gehofft hatten, was wir ausgesprochen hatten, war ungültig geworden. Welch ein ungeheuerlicher Irrtum war es, der es vermochte, uns vier Jahre lang glauben zu machen, wir gehörten zueinander, welch ein Irrtum, der jetzt zerbrach! Nun kam ein Offizier auf dürrem, kotigem Pferd. Dicht an mir ritt er vorbei, ein Major, und ich riß die Hacken zusammen. Aber er sah mich nicht einmal an. Er wandte den Gaul, daß der vorne etwas stieg, mit der breiten Kruppe, den stakenden Beinen die Menge hinter sich beiseitefegte. Dann stand der Gaul, zu uns in Front, der Major hob die Hand zum Helm und sah der Truppe entgegen. Ein Offizier sprang an seinen Platz und rief ein Kommando. Das riß die Soldaten zusammen, das drehte die Helme mit einem Ruck, die Beine zuckten hoch, wie aus den Gelenken geschnellt, dann knallten die Stiefel aufs Pflaster. Vorbeimarsch. Wie denn, gab es das denn noch? Und ohne Musik? Der Major saß gekrümmt auf dem Gaul. Sein Regiment defilierte vorbei. Die müden, verrosteten Beine hieben den Boden. Die Menge stand rundum und regte sich nicht. Das hatte ja keinen Sinn, das da. Wozu dieser Parademarsch, ohne Musik, ohne
Fahnen, ohne Anlaß, ohne Glanz? Oder hatte das doch einen Sinn? Einen, der tiefer lag, ferner war, als wir ihn verstehen konnten? Das war kein Schauspiel für uns, oder sollte es doch eines sein? Das war, ja, das war eine Herausforderung, das war Hohn, Trotz, Verachtung, das war eine Demonstration der Front, eine verbissene Provokation. Der verlachte Parademarsch, das sinnlose Zusammenreißen und Beineschmeißen! Ja seht, denen ist es nicht sinnlos, die wissen, daß ihr euch nun schämt. Daß ihr nun nicht lachen könnt, ihr Roten nicht und nicht ihr Bürger, die ihr bereit wart, um eurer Ruhe willen, um eurer Sicherheit, eurer Achtbarkeit willen zuzugeben, daß so ein Parademarsch sinnlos sei. Und ihr glaubtet gar, die Front sei mit euch einig, ihr Bürger? Ihr glaubtet gar, die Front sei so liberal wie ihr, so vernünftig, so voll einer nachsichtig begreifenden Bonhomie?! Das Regiment dröhnte vorbei. Nein, der Wachmann wagte nicht, zu lächeln. Der Major setzte den Gaul in einen schwerfälligen, holpernden Trab, ritt nach vorn. Nun kamen wieder Bagagewagen. Unbewegt saßen die Fahrer. Und wenn einer ihnen was hinaufwarf, dann dankten sie nicht, dann grüßten sie nicht, dann stopften sie schnell die Gabe in den Karren und griffen wieder zu den Zügeln. Da waren auch ein paar Fähnchen, billiges Tuch an kleinen Stöcken, sie staken an den Wagen, matt hing das Tuch. Maschinengewehrwagen rollten vorbei, mit großflächigen bunten Klecksereien bemalt. Die Männer marschierten hinter den Gewehren, den Gurt über der Schulter, hinter jedem Wagen acht Mann.
Und dann kamen Geschütze. Die Bedienung aufgesessen. Die Stahlhelme rutschten den Kanonieren bei dem Geholper über das Pflaster schräg ins Gesicht. Mutige Mädchen reichten ihnen Blumen hinauf. Einer sah überhaupt nicht hin, einer nahm ohne Dank und legte den Strauß neben sich, einer schaute überrascht hoch, lächelte nicht, nahm die Blumen und hielt sie verlegen in den Händen. Und während dieser ganzen Zeit schluchzte die Frau. Sie hauchte dumpfe, verlorene Töne durch halbgeöffneten Mund, ganz tief und trocken gurgelte das Weinen aus der Brust. Man hörte jeden Laut, denn die Menge stand stumm und sah. Wieder Infanterie. Nein, sie wollten nichts wissen von uns. Oder stak ihnen noch das Grauen in den Augen, in den Kehlen, waren sie noch nicht Entlassene des Krieges? Diese Bataillone kamen direkt von der Front. Sie kamen aus einer Landschaft, die wir nicht kannten, von der wir nichts wußten, sie kamen aus Bereichen, die glühend waren wie Schmelztiegel, in denen sie umgegossen wurden, ausgebrannt, ausgeschlackt, sie kamen aus einer einmaligen Welt. Was diese Augen gesehen hatten, die da unter dem Helme nach vorn stierten, davon haben wir nichts gewußt, davon haben wir nur vage gehört, nur verzerrte Berichte gelesen, nur schlechte Bilder gesehen. Da marschierten sie, stumm, einsam, und immer noch wie unter der steten Androhung des Todes. Volk, Vaterland, Heimat, Pflicht. Ja, das haben wir gesagt, diese Worte standen im Kurs — und glaubten wir nicht an sie? Wir glaubten an sie?! Aber diese? Die Front, die da vorüberzog?
Kompanie auf Kompanie zog vorüber, erbarmenswürdig kleine Grüppchen, einen gefährlichen Hauch mit sich führend, eine Witterung von Blut, Stahl, Sprengstoff und jähem Zugriff. Ob sie die Revolution haßten? Ob sie gegen die Revolution marschieren werden? Ob sie, Arbeiter, Bauern, Studenten, nun einrücken in unsere Welt, werden wie wir, mit unseren Sorgen, unserem Wollen, unseren Kämpfen, unseren Zielen? Und plötzlich begriff ich: Dies, dies waren ja gar nicht Arbeiter, Bauern, Studenten, nein, dies waren nicht Handwerker, Angestellte, Kaufleute, Beamte, dies waren Soldaten. Nicht Verkleidete, nicht Befohlene, nicht Entsandte, dies waren Männer, die dem Anruf gehorchten, dem geheimen Anruf des Blutes, des Geistes, Freiwillige, so oder so, Männer, die eine harte Gemeinsamkeit erfuhren und die Dinge hinter den Dingen — und die im Kriege eine Heimat fanden. Heimat, Vaterland, Volk, Nation! Da die großen Worte — wenn wir sie aussprachen, dann war es nicht echt. Darum, darum wollen sie nicht zu uns gehören. Darum dieser stumme, gewaltige, gespenstische Einmarsch. — Denn die Heimat war bei ihnen. Bei ihnen war die Nation. Das, was wir marktschreierisch in die Welt hinausprahlten, das hatte bei ihnen seinen geheimen Sinn erfahren, dem hatten sie gelebt, das hieß sie das zu tun, was wir wohlgefällig Pflicht nannten. Die Heimat war plötzlich bei ihnen, sie hatte sich verlagert, sie wurde, von ungeheuerlichem Strudel gepackt, hinausgewirbelt, emporgeschleudert, sie kam zur Front. Die Front war deren Heimat, war das Vaterland, die Nation. Und niemals sprachen sie davon. Niemals
glaubten sie an das Wort, sie glaubten an sich. Der Krieg zwang sie, der Krieg beherrschte sie, der Krieg wird sie niemals entlassen, niemals werden sie heimkehren können, niemals werden sie ganz zu uns gehören, sie werden immer die Front im Blute tragen, den nahen Tod, die Bereitschaft, das Grauen, den Rausch, das Eisen. Was nun geschah, dieser Einmarsch, dies Hineinfügen in die friedliche, in die gefügte, in die bürgerliche Welt, das war eine Verpflanzung, eine Verfälschung, das konnte niemals gelingen. Der Krieg ist zu Ende. Die Krieger marschieren immer noch. Und da hier die Masse steht, da hier die Menge steht, hier die in Neuordnung begriffene deutsche Welt, gärend, unbeholfen, aus tausend kleinen Süchten und Strömen, wirkend durch ihr Gewicht, enthaltend alle Elemente, darum werden sie, die Soldaten, marschieren für die Revolution, für eine andere Revolution, ob sie wollen oder nicht, gepeitscht von Gewalten, die wir nicht ahnen können, Unzufriedene, wenn sie auseinandergehen, Sprengstoff, wenn sie beisammenbleiben. Der Krieg hat keine Antwort gegeben, keine Entscheidung fiel durch ihn, die Krieger marschieren immer noch. Da marschiert das letzte Regiment der Division. Ich stehe, bedrängt, gepeinigt, in zitterndem Aufruhr. Die letzten Gruppen schwenken ein. Noch stöhnt der Boden von ihren Schritten, schon löst sich die Menge auf. Ich sehe die Menge nicht, ich höre die nachhallenden Schritte der Soldaten, was kümmert mich nun die Revolution... Aufrufe hingen an den Straßenecken. Freiwillige wurden gesucht. Formationen sollten zusammengestellt werden für den Grenzschutz im Osten. Am Tage nach dem Einmarsch der Truppen in die Stadt
ließ ich mich werben. Ich wurde genommen, ich wurde eingekleidet, ich war Soldat.
Berlin «Halt! Wer weitergeht, wird erschossen!» Aber der geht ja weiter — soll ich schießen? Was für ein Unsinn, das ist doch ein ganz harmloser Mensch. Befehl ist Befehl. I was, das war früher mal, wie der Gefreite Hoffmann immer sagt. Ein widerliches Gefühl: dem kleinen Männchen, das da im schäbigen Rock und ohne Mantel über den Platz geht, so mir nichts, dir nichts in den Rücken schießen zu sollen... Da, natürlich, jetzt gehn die andern auch über den Platz. «Halt! Halt! Stehenbleiben, können Sie nicht lesen? Zurück da! Hier darf niemand über den Platz! Warum? Weil gleich geschossen wird!» Und heute ist der vierundzwanzigste Dezember. Und da ist die Schloßbrücke und da ist das Schloß und da ist der Marstall und da hocken die Matrosen drin. Es kracht. Da oben, in die Mauer staubt es, Steinsplitter fliegen. Blitzschnell huscht ein Mann um die Ecke und klebt sich an die Mauer und lacht. Und ich lache auch. Aus dem Hausgang lugen Frauen. Leute kommen ahnungslos vorbei. Ich rufe: «Halt!» Schnell sammelt sich ein Grüppchen. Ein Schuß kommt vom Schloß. «Hier können Sie nicht vorbei», sage ich und stecke das Kinn tief in den Mantel. Die
Handgranate baumelt mir am Koppel. Der Unteroffizier kommt. Wir schnellen beide nach vorn, hinter die Litfaßsäule. Vor dem Schloß stehen viele Menschen. «Der General verhandelt», sagt der Unteroffizier. Da laufen die anderen heran, das Gewehr vorgestreckt. «Wir sollen zur Verstärkung hin.» — «Was ist denn los?» — «Befehl: Es soll keiner mehr durchgelassen werden.» Eine Postenkette spannt sich um den Schloßplatz. — «Was los ist? Die Brüder waren schon eingeschlossen, da wollte der General verhandeln, nun kamen die Matrosen alle heraus und auch andere, nun stehen sie alle mitten unter uns: zurück da!» Wir reihen uns ein. Auf einmal sind wir mitten drin. Auf einmal stehe ich allein; ich sehe knapp noch den Stahlhelm des Unteroffiziers. Vor mir steht eine Frau und lacht. Breit steht sie da und lacht mir mitten ins Gesicht, ganz nah. Dick ist sie, grau ist sie und hat eine graue, grobe Bluse und nur wenige Zähne und eine Warze dicht neben der Nase. Warum lacht sie? Sie lacht mich an, sie schlägt die Arme über den mächtigen Leib und prustet mir ins Gesicht. Verflucht, dies Weib, diese Vettel, ich könnte ihr den Kolben ins Gesicht rennen — aber ich drehe den Kopf weg. Warum seh ich auch so jung aus? Nun fangen die anderen auch noch an. Dicht gedrängt stehen sie um mich rum und plötzlich sind auch Matrosen da, Gewehre umgehängt, rote Binden, sie schauen mich an, und einer sagt: «Rindviecher, warum kämpft ihr gegen uns? Jagt doch eure Offiziere zum Teufel, lauft doch den Leuteschindern nicht nach!»
Was soll ich tun? Widerlich ist das. Ah, Gott sei Dank, da kommt der Unteroffizier. Er schiebt sich durch, sieht die Matrosen, sagt: «Immer mit die Ruhe, kümmert ihr euch man um euren Dreck.» Bewegung auf dem Platz! «Zurück!» schreit plötzlich der Unteroffizier und reißt das Gewehr hoch. Im Augenblick ist Platz. Vor uns Gebrüll, Weiber kreischen. Ins Tor laufen die Matrosen. Wir rücken langsam an. Am Fenster seh ich einen, einen jungen Kerl, Matrose mit rotem Haar, der beugt sich prüfend vor und mustert uns, dann zieht er ruhig eine Handgranate ab. Geknatter, hinlegen — Teufel, das spritzt ins Pflaster. Ich springe hoch und rase zurück, es knallt und pfeift. Hinterm Pfeiler liegen schon drei Mann. Und auf dem Platze, dort und dort, Häufchen, seltsame graue, dunkle, langgestreckte Flecken — ach so. Der Unteroffizier ist neben mir. «Wo steckt denn das MG? Verflucht nochmal.» Da rattert es schon los, vom anderen Pfeiler. «Hierher!» ruft der Unteroffizier. Nun kommt das zweite MG. Wir rücken enger aneinander. «So, nu geh du mal ran; ja, du! Mal sehn, ob du was kannst. So, halt, noch nicht, jetzt erst daherurn die Knarre, schieß mal erst dem Kerl da auf der Brücke den Schniepel ab. Ja, ja, dem Lehmann seine Steinfigur da, auf der Brücke. So, war ganz gut, nu die Knarre, untere Reihe Fenster, etwas höher halten, gut so, gut.» Der breite Kolben haut mir in die Schulter. Ich seh die Mündung tanzen, springen, sprühen, halte knatternd hin. Die Fensterreihe steigt in mein Visier,
das Fenster, an dem vorhin der junge Matrose stand — da steht er wieder und legt die Knarre an und ballert nach uns hin —, mein Gewehr liegt ruhig; Kimme, Korn, Finger krumm und los. Am Fenster sehe ich nichts mehr. Wir liegen lange. Es knallt um uns, wir knallen wieder. «Sind knarsche Jungs, da drüben!» sagt der Unteroffizier. «Zurück!» schreit einer. «Warum, wieso? Ach so, Geschütze!» Wir kriechen schnell zurück. Und an der Ecke steht auch schon auf schlanken Rädern das Geschütz. Kaum sind wir da, reißt einer an der Schnur, es hallt heraus und heult und birst da drüben, reißt ein Loch in die Fassade, läßt die Steine springen. Und aus dem Fenster schleudert sich mit halbem Leib ein Mann, bleibt in der Wölbung hängen. Und langsam wird es Nacht. Gegenüber dem Admiralspalast fiel der Unteroffizier Poessel mit Kopfschuß. Es war aber der Unteroffizier Poessel ein Mann, der den Krieg vom ersten Tage der Mobilmachung an mitgemacht hatte, und er war gut durchgekommen, mit einer einzigen, nicht schweren Verwundung, und hatte das E. K. I. Er lag da, an einem braunen Bretterzaun, an dem sein Gehirn hingespritzt klebte, und über ihm hing ein Plakat, ein breites, gelbes Plakat mit der Ankündigung eines Kriegerwitwen- und Bösen-Buben-Balles, und hinter dem Zaun standen die Bretterbuden und Zelte eines Vergnügungsparkes, allabendlich drehten sich dort schmetternd die Karussells, fauchte die Berg- und Talbahn, juchten die Mädels. Dort lag der Unteroffizier Poessel. Wir trugen ihn dann ein Stück
bis zum MG-Wagen, der ihn ins Quartier bringen sollte. Wir trugen ihn durch die engen, von Menschen wimmelnden Straßen, vorbei an Luxuslokalen, aus deren von Zeit zu Zeit sich öffnenden Türen ein schwüles, rotes Licht auf die Straßen drang, wir hörten im keuchenden Vorbeischreiten Niggermusik aus Bars und Dielen, sahen Schieber und Kokotten, lärmvoll und besoffen, sahen die von uns geschützten Bürger mit ihren Weibern in Logen sitzen, eng umschlungen, vor Tischen mit blitzenden Gläsern und Flaschen, sie steppten auf blanken, spiegelnden Flächen ihre aufpeitschend entnervenden Tänze. Und von fernher knallten noch die verlorenen Schüsse der Kameraden. Wir schossen uns mit den Dachschützen herum. Wir strichen, an die Häuserwände gepreßt, um die Ecken, das Gewehr schußbereit, nach offenen Luken spähend, wir hockten hinter schnell getürmten Barrikaden, wir lagen hinter Litfaßsäulen und Kandelabern, wir schlugen Türen ein und stürmten über dunkle Treppen, wir schossen auf alles, was Waffen trug und nicht zur Truppe gehörte, und manchmal lagen auf den Straßen auch Menschen, die keine Waffen getragen hatten, manchmal lagen auch Frauen da, und manchmal auch Kinder, und über ihre Leiber flitzten die Geschosse, und es konnte vorkommen, daß die Geschosse in die Toten fuhren, dann war es, als ob sie noch einmal aufzuckten, und wir hatten einen fauligen Geschmack im Mund. Aber hinter der Front unserer Kampfgruppen strichen die Huren. Sie wedelten in der Friedrichstraße auf und ab, wenn wir Unter den Linden schössen. Sie
warfen sich an uns heran mit unsagbar fremdem Hauch, wenn wir, noch gepackt von den Gesetzen dieses wirren Kampfes, den Gegner über dem Visier noch im gebannten Blick, zu kurzer Pause hinter den schützenden Häuserfronten verweilten, und nicht das flüsternde Anerbieten erschien uns so unerträglich, sondern die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der sie nach unseren Körpern griffen, die eben noch den zuckenden Feuerbändern der Maschinengewehre ausgesetzt. Und wenn wir, mit leerem Blick und durch den Straßentrubel wie belästigt, noch aller Spannung voll uns durch die Menge schoben, vorbei an Reihen von Bettlern, von Kriegsbeschädigten, von Schüttlern, von Blinden, vorbei an den schnell zusammengezimmerten Ständen der Straßenhändler, dann konnte es wohl sein, daß einer an uns herantrat und Kokain anbot und ein anderer einen Brillantring und ein dritter die letzten Kiesewetterverse. Und von den Schaufenstern der kleinen Läden hingen die Postkarten mit Bildern gelöster Mädchen, nichts weniger als verführerisch, doch ebenso nackt wie das Gesicht dieser Straßen der inneren Stadt. 6. Januar 1919. «Abteilung halt!» Wir stehen, ein Unteroffizier, acht Mann, an einer Straßenecke. Noch sind die Straßen wenig belebt. Der Unteroffizier tritt ein paar Schritte vor und lugt die Hauptstraße rauf und runter. Er kommt zurück und zuckt die Achseln: «Noch nischt zu sehen.» Einzelne Leute bleiben stehen; ein alter Herr
geht vorbei, stockt und sagt strahlend zu uns: «Das sind doch wenigstens noch Soldaten!» Er wendet sich an den Unteroffizier: «Na, ihr werdet wohl bald Schluß machen mit dieser Sauregierung?» Der Unteroffizier sieht den Herrn ruhig an und sagt: «Ich bin Sozialist.» Der Herr zuckt zusammen, wird rot und geht rasch davon. Bewegung unter uns acht Mann. Unteroffizier Kleinschroth ist Sozialist? Dieser ruhige, dunkle, ernsthafte Mensch? Ich sehe ihn scheu von der Seite an. Der Gefreite Hoffmann dreht mir das fröhliche Gesicht zu und lächelt: «Da staunste, was? Ich bin auch Sozialist. Eingeschrieben seit 1913!» Ich schweige betroffen. Hoffmann sagt halblaut und eifrig: «Mensch, wir wollen doch den Staat!» Und dann nach einer Weile: «Ich bin doch Arbeiter gewesen, Eisendreher.» — «Arbeiter gewesen», denke ich, «gewesen, sagt er, warum sagt er gewesen?» Hoffmann sieht angestrengt vor sich hin: «Wenn wir sozialisieren wollen, dann lassen wir doch nicht vorher kaputtmachen, was wir ...», und ist wieder still. Auf einmal ist ein Brausen in der Luft. Es kommt von oben herab und füllt den Nebel, der schwer und trächtig herniederhängt. Nein, es kommt nicht von oben, es schiebt sich von links heran, schwillt und schwillt, und verschluckt jedes Geräusch der Straße, bläht sich im Raume und drückt gleichsam alle Regung an die Häuserwände. Der Unteroffizier springt einige Schritte vor und kommt schnell wieder zurück. «Sie kommen!» sagt er und weist uns in einen dunklen Torweg, der, die Straße macht eine
Biegung, schräg zum offenen Platze steht. Dort stehen wir, im Schatten, ungesehen, doch selber alles sehend. «Ruhe im Glied!» Der Unteroffizier sieht vor sich hin, dann wendet er sich um, geht mit drei Schritten auf mich zu, auf mich, den Jüngsten und Kleinsten, der ich am linken Flügel stehe, und sagt beinahe drohend: «Mensch, wenn deine Flinte losgeht, bevor ich es befehle ...» Ich sage: «Nein, Herr Unteroffizier!» Er sieht mich dunkel an, dann geht er vor die Mitte unserer Front. Viele Menschen sind auf einmal in der stillen Straße. Aus den Häusern laufen Frauen herzu, Kinder sammeln sich, Fuhrleute halten ihre Wagen an. Immer mehr Leute kommen, junge Burschen, die meisten in der feldgrauen Joppe, ziehen vorüber. Die Straßenecken sind schon schwarz von Menschen. Das Brausen verdichtet sich. Mit den Fetzen eines Liedes, der Internationale, kommt fauchend und stöhnend ein Lastwagen, auf dem sich eine rote Fahne breit und riesig wölbt. Wir stehen atemlos im Torweg und starren auf den Platz. Nicht einer rührt sich. Das Koppel mit den Handgranaten drückt. Schwer lehnt das Gewehr am Bein. Wir haben Fuß bei Fuß gezogen, der Rücken strafft sich zu einer angespannt geschwungenen Linie, die Augen spähen unterm Helmrand vor. In ganzer Breite ist die Straße schwarz. Die Straße selber schiebt sich vor. Es ist, als wollten die Häuser sich neigen, es rollt das wirre Band bedächtig, riesig, unangreifbar, unaufhaltsam: Massen, Massen, Massen. Knallig prunken die roten Flecken überm Haufen,
weiße Schilder schweben, eine gelle Stimme schreit: Es lebe die Revolution! Die Masse brüllt: Hoch! Es orgelt tief aus tausend Brüsten, schmeißt den Dunst beiseite, Fenster klirren. Hoch und Hoch! Der Boden dröhnt, es rollt und wälzt sich weiter. Volk! Es bricht sich Bahn die Ahnung dessen was das heißt: das ist das Volk! Nein, Massen sind es, Tausende, nur Massen — und Mensch an Mensch und Leib an Leib und Kopf an Kopf — die Wucht der Schritte läßt den Rhythmus spüren, und wieder kommen Fahnen, sie holpern mühsam vorwärts und zwischen den Bewaffneten, den Matrosen, den blinkenden Gewehren schweben die Schilder: «Nieder mit den Arbeiterverrätern, nieder Ebert, Scheidemann», «Hoch Liebknecht», «Hunger», «Friede, Freiheit, Brot!» Der Strom reißt nicht ab. Welch ungeheure Faust erraffte diese Massen und stopfte gnadenlos den Brodel in den engen Schlauch der Straße? Ja, wenn sie wollten! Wer kann sich hier dagegenstemmen? Es lärmt, sie schreien, der Haß spritzt aus den dunklen Mündern. Bewaffnete marschieren, wirr kreuzen sich die Gewehre, Wagen rattern vollgestopft, bedrängt von Männern, es lugen die MGs mit rundem Auge, indes die Reihen schimmernder Patronen zum Schuß bereit aus ihren Bäuchen quellen. Ein junger Mensch, sehr blaß und eifrig, kommt in unseren Torweg Er schwingt erregt die Hände und sprudelt hervor: «Es geht schon los sie haben diese Nacht das ganze Zeitungsviertel besetzt. Liebknecht spricht am Brandenburger Tor. Ihr werdet totgeschlagen! Es ist mit den Berlinern nicht zu
spaßen...» Der Unteroffizier sagt: «Gehen Sie weg, Mann, Sie haben hier nichts zu suchen.» Draußen bricht jäh das Gebrülle ab. Einer steht auf einem Wagen und spricht. Es ist ein kleiner, dunkler, blasser Mensch, mit Kneifer, Spitzbart und Regenschirm Er läßt ganz kurze, klare Sätze hallen. Die Worte kommen schwer zu uns herüber: «Das internationale Proletariat... Unsere Arbeitsgenossen in der ganzen Welt... Unsere Brüder in Frankreich, England und Italien... Deutschland trägt die Schuld...» Der ganze Platz ist nun gefüllt. Wir sehen eine Wand von Menschenrücken. Männer stehen dazwischen, die haben weiße, zottige Pelze an, das Koppel schnürt, daß sich das starre Fell unförmig bauscht. Die Gewehre hängen umgekehrt. Und von diesen Männern sieht uns einer. Er fährt zurück, er schreit und winkt. Es geht mir spritzig kalt durch alle Adern. Da starren uns, vergiftend, lähmend, tausend Augen an. Sie brüllen auf — nun gilt's — sie drängen an. «Schlagt sie tot, das Mordgesindel —». Es zischt der Haß, wie Wasser zischt auf heißem Herd. Im roten Nebel wirbeln Köpfe, Hände und Körper, sie drängen sich flächig und voller Wucht heran. Da schreit der Unteroffizier — erlösend geht es durch unsere verkrampften Körper —: «Laden und sichern!» Wir reißen die Gewehre hoch, die Mündung spitz der Masse ins Gesicht, wir fahren mit den klammen Händen an das Schloß, Patronen raus, es klirrt mit niederträchtigem Geräusch, es knackt der Hebel, schnappt zurück — für Sekunden ist es still.
Acht Gewehre drohen, Tod im Lauf. Und vor uns weitet sich der Raum. Zwei Linien straffen sich. Unerträglich biegt sich die Spannung, sie reißt und zerrt wie ein dünner, glühender Faden, ein einziger Atem hängt in der Luft, steigt es nicht heiß und stöhnend aus dem Boden auf, so glasig, Gasdunst letzter Augenblicke... Da steht der kleine Mann mit Regenschirm, er fuchtelt mit den Händen: «Zurück, nicht schießen!» und stellt sich mitten zwischen beide starre Fronten. «Weitergehen!» brüllt er, und sie gehorchen. Sie lösen sich zögernd, er treibt sie vor sich her, er wendet sich und sagt zu uns: «Und schämen sollt ihr euch!» Wir nehmen still das Gewehr bei Fuß. Mir kommt ein Tröpfchen Schweiß der Stirne in das Auge. Ganz rot sehe ich verwirrte Kreise, ich drehe mich schwach und lehne mich, zwei Schritte weiter vor, an die Mauer, und sehe mühsam hoch. Da hängt ein Plakat, weiß, rot umrandet. Zwei große schwarze Zeilen prallen aus dem Wust der kleinen Schrift: «Und das ist Sozialismus!» schreit es von der Mauer. Und unter diesem Worte haben wir gestanden. Der Platz ist leer. Die Straße leer. Kalt, naß und trüb der Himmel, schwer und grau. Wir treten an. Der Unteroffizier befiehlt Entladen. «Das hat noch gutgegangen», sagt er. Wir marschieren ab. Der Gefreite Hoffmann sagt: «Saudumm sind die, die verpassen egal jeden richtigen Moment.» (Ein Jahr später berichtete die «Rote Fahne» von
diesem Tag: «Was am Montag in Berlin sich zeigte, war vielleicht die größte proletarische Massentat, die die Geschichte je gesehen hat. Wir glauben nicht, daß in Rußland Massendemonstrationen dieses Umfangs stattgefunden haben. Vom Roland bis zur Viktoria standen die Proletarier Kopf an Kopf. Bis weit hinein in den Tiergarten standen sie. Sie hatten ihre Waffen mitgebracht, sie ließen ihre roten Banner wehen. Sie waren bereit, alles zu tun, alles zu geben, das Leben selbst. Eine Armee von 200 000 Mann, wie kein Ludendorff sie gesehen. Und da geschah das Unerhörte. Die Massen standen von früh um 9 Uhr in Kälte und Nebel. Und irgendwo saßen die Führer und berieten. Der Nebel stieg, und die Massen standen weiter. Aber die Führer berieten. Der Mittag kam, und dazu die Kälte und der Hunger. Und die Führer berieten. Die Massen fieberten vor Erregung: sie wollten eine Tat, auch nur ein Wort, das ihre Erregung besänftigte. Doch keiner wußte, welches. Denn die Führer berieten. Der Nebel fiel wieder, und mit ihm die Dämmerung. Traurig gingen die Massen nach Hause: sie hatten Großes gewollt und nichts getan. Denn die Führer berieten. Im Marstall hatten sie beraten, dann gingen sie weiter ins Polizeipräsidium und berieten weiter. Draußen standen die Proletarier auf dem leeren Alexanderplatz, die Knarre in der Hand, mit leichten und schweren Maschinengewehren. Und drinnen berieten die Führer. Im Präsidium wurden die Geschütze klargemacht; Matrosen standen an jeder Ecke der Gänge, im Vorderzimmer ein Gewimmel, Soldaten, Matrosen, Proletarier. Und drinnen saßen die Führer und berieten. Sie saßen den ganzen Abend und saßen die ganze Nacht
und berieten, sie saßen am nächsten Morgen, als der Tag graute, teils noch, teils wieder und berieten. Und wieder zogen die Scharen in die Siegesallee, und noch saßen die Führer und berieten. Sie berieten, berieten, berieten, Nein! Diese Massen waren nicht reif, die Gewalt zu übernehmen, sonst hätten sie aus eigenem Entschluß Männer an ihre Spitze gestellt und die erste revolutionäre Tat wäre gewesen, die Führer im Polizeipräsidium aufhören zu machen, zu beraten.») Wir standen einsatzbereit in langer, grauer Kolonne. Ein Auto kam, ein Herr erhob sich aus den Polstern und musterte uns. Der Herr war groß, vierschrötig, mit eckigen, etwas hochgezogenen Schultern und einer ulkigen kleinen Brille unter dem Schlapphut. Unsere Offiziere grüßten mit betonter Nonchalance und wandten sich mit verzogenen Mundwinkeln um. Einer sagte, das sei der neue Oberbefehlshaber Noske. Wir marschierten durch die Vorstädte, und aus ruhigen, in Vornehmheit und Grün gebetteten Häusern fielen Begrüßungsrufe auf uns herab und Blumen. Viele Bürger standen auf den Straßen und winkten und einzelne Häuser waren beflaggt. Was sich hinter jenen gerafften Vorhängen, hinter jenen blanken Scheiben barg, an denen wir grau in grau, erschöpft und entschlossen vorüberzogen, das war, so dachten wir, wohl unseres Einsatzes wert. Denn wenn wir auch spürten, daß hier das Leben sich eine andere Flutung geschaffen hatte, eine andere Ebene, mit bis aufs höchste verfeinerter Intensität, die schlecht zu unseren groben Stiefeln und schmutzigen Händen paßte,
wenn wir auch wußten, daß unsere Begehrlichkeit nicht an diese Räume reichte, die dort, sorgsam eingehegt, alles beherbergten, was die Kultur des eben verflossenen Jahrhunderts bestimmte, die Welt des Bürgers, die Ideen, die das Bürgertum erst schuf, die westliche Bildung, die persönliche Freiheit, den Arbeitsstolz, die seelische Wachheit — dies alles war hilflos ausgesetzt dem Ansturm der begehrlichen Massen, und wenn wir es verteidigten, so verteidigten wir es, weil es unwiederbringlich war. Wir stießen in die Stadt hinein — auf allen Anmarschstraßen zogen die Truppen; der Ring um die Stadt entsandte strahlenförmig die Kolonnen. Und die Stadt dünstete heiß von gefährlicher Lockung, in ihren Straßen wehte ein Hauch bitterer Aufgewühltheit gleich jenem nach dem Erwachen aus einem schrecklichen, an harten Boden nagelnden Traum; die Menschen hasteten in unbeteiligter Wachheit, die stickige, flirrende Luft verhieß Entladungen in Rausch und Tod. Wir nahmen Quartiere in Schulen und Ämtern, wir lagerten in ausgeräumten, gekalkten Stuben, in denen noch der Muff gestapelten Papiers, trockener Berechnungen und subalterner Menschen in allen Ecken stand, auf Bretterdielen, inmitten von Helmen und Tornistern, Gewehren und Kochgeschirren, Zeltbahnen und Munitionskästen, mit diesen Dingen unendlich vertraut. Wir standen Posten. Auf und ab gingen wir, zählten die Granitplatten des Pflasters mit unseren Schritten, wandten den Kopf nach jeder in Dunkel und Nebel schattenhaft verschwindenden Gestalt, horchten auf das Klacken ferner Schüsse. Wenn von
oben herab sich das hellere Grau des Morgens in die Straßenschluchten schob, dann begann der Boden zu beben von dem mühseligen Getrappel unzählig vieler Schritte, von dem Rollen schwerer, hallender Wagen, unheimlich und gleichförmig, und rief uns alle heraus und drängte uns an die Ecken, und wir standen, Gewehr im Arm, im Schatten der Häuser, gleichsam ausgestoßen und doch im Banne der Stadt. Die Passanten aber wurden von uns nach Waffen durchsucht, unsere Hände fuhren an mißmutigen Leibern hinauf und hinunter, und es bedrängte uns die Schamlosigkeit unseres Tuns und mehr noch die Rechtfertigung dieser Schamlosigkeit durch einen bloßen Befehl. Es war aber so, daß die Passanten an der Dorotheenstraße von uns durchsucht wurden und am Zeughaus von den Unabhängigen und am Schloß von der Volksmarinedivision und am Alexanderplatz von der republikanischen Sicherheitswehr. Wir verhafteten einen roten Agitator. Das war ein schmaler, dunkler, älterer Mensch, den holten wir aus seiner Wohnung heraus — und es war eine sehr ärmliche Wohnung, im Hinterhaus, es war eigentlich nicht einmal ein Zimmer, nur ein Verschlag —, und dieser Agitator hatte einen bekannten Namen unter den Revolutionären; nun ging er sehr still zwischen uns, und es war, als lächle er in sich hinein; wir hatten die Gewehre umgehängt und umgaben ihn, befehlsgemäß, sehr dicht von allen Seiten. Die Leute auf den Straßen drehten sich freilich um, doch schien das den Mann viel weniger zu berühren als uns, wir gaben uns einen Schubs Unbekümmertheit und ein Quentchen wichtiger Bedeutung, indes er nichts um sich herum zu beachten
schien. Dabei wußten wir nicht, was er verbrochen hatte; er schien aber um uns zu wissen, denn er sagte nur einmal: «Ja, ja, das ist wohl eure Pflicht!» Und wir schwiegen dazu. Da wir aber durch die Straßen schritten, blieben einzelne Huren stehen und einige gingen ein paar Schritte mit, und mir schien so, als wären sie für ein paar Sekunden nicht geschminkt, aber dann kamen Soldaten, und mit denen gingen sie schließlich davon. Was dem Agitator später geschah, das erfuhren wir nie. Wohl aber erfuhren wir, was mit Karl Liebknecht geschah und mit Rosa Luxemburg. Davon erfuhren wir am 16. Januar. Am 19. Januar wählte das freie und souveräne deutsche Volk. Das Haus, das wir absuchen sollten, war eine Mietskaserne im Norden der Stadt, mit vier Höfen und Hunderten von Bewohnern, hoch, grau, mit Wänden, von denen der Putz abgefallen war, und mit unzähligen, nicht eben blanken Fensterscheiben. Die Straße war noch in der Dunkelheit von beiden Seiten abgeriegelt worden durch je zwei Gruppen, dann war noch ein Bereitschaftszug da, von dem wir jeden Augenblick Verstärkung anfordern konnten. Der Unteroffizier sagte im Torweg: «Immer zusammenbleiben, niemals einer allein in einen Raum. Alle Schränke und Betten nachsehen Wände abklopfen. Zwei Mann bleiben immer im Treppenflur. Verschlossene Türen aufbrechen, wenn die Leute nicht freiwillig aufschließen. Die Leute ausfragen, wer im Hause noch im Besitz von Waffen ist. Keine Provokationen! Im Falle der Gefahr: einen Schuß zum
Fenster hinaus.» Wir verteilten uns. Die Gruppe Kleinschroth sollte in den hintersten Hof. Wir stolperten über das buckelige Pflaster und merkten es kaum wenn wir aus dem Torbogen in einen Hof kamen, denn die finsteren steilen Schächte ließen das Licht des Morgenhimmels nicht bis zur Erde gelangen. Das Haus war noch ganz still, und wir verhielten an einer kleinen, schmalen Tür. Kleinschroth klopfte an ein Fenster, das Fenster klirrte, eine Frau schaute heraus und fuhr zurück, als sie unsere Stahlhelme sah. «Aufmachen!» sagte Kleinschroth. Und im selben Augenblick war das Haus lebendig. Es war in den ersten Sekunden lebendig, wie etwa ein Bienenstock, in den eine Hand hineinfuhr. Da war ein bedrohliches Summen, das klein begann, dann plötzlich sich zu schrillem, gefährlichem, bis zur Hysterie gesteigertem Vibrieren schraubte, zu einer bösartigen Bereitschaft in höchstem Diskant. Da trat der Unteroffizier mit dem Stiefel die Tür ein. Das war, als stöhnte das Haus. Fenster klirrten, Türen schlugen hallend zu, auf einmal begann ein Grammophon zu jaulen und hoch oben schrie eine Frau. Sie schrie gellend, daß es in den Höfen hallte, daß es die finstersten Ecken und Winkel wie mit spitzen Nadeln füllte, und die Luft begann zu zittern, diese feuchte, dumpfe Luft voll muffiger, gemischter Gerüche. Das drang uns in die Brustkästen, spritzte unerträgliche Spannung in die Adern, so daß sich das Blut mit kurzen und harten Stößen gegen die Haut drängte. Wir stießen die Helme in die Stirn und rannten in den dunklen Schlund, der sich vor uns geöffnet. «Die Noskes kommen! Die Noskes kommen!» so schrie
nun die Frau und ein Fenster schepperte und ein Geschirr krachte herab, barst und schleuderte dunkle Tropfen und Wellen üblen Gestanks. Wir waren im Hause. Der Treppenflur war so dunkel, daß ich über einen Eimer stolperte. Hoffmann riß eine Tür auf, sprang in das Zimmer, und ich hörte ihn sagen: «Mach keine Dummheiten, Mensch, gib die Knarre her!» Da drinnen saß ein Mann, eben aus dem Bette gefahren, und hatte ein Gewehr in der Hand. Das drehte er einen Augenblick unschlüssig und sah uns an. Er saß auf dem Rande eines wackeligen Bettgestells, das Stroh unter buntgewürfeltem Überzug ragte zerzaust, Strohhalme hingen ihm noch im Haar. Die Stube war klein, ein winziges Fenster mit halbblinden Scheiben ließ kaum einiges Licht herein, ein Herd war noch in der Stube, an dem feuchte Wäsche hing, und in der Ecke stand eine noch junge Frau, in einem langen, zerknitterten, an den Säumen schmutzigen Hemd; sie stand wie gepreßt an der Wand und sagte nichts. Über dem Bett aber hing ein gerahmtes Bild, wie es die Reservisten nach Hause nahmen, in Buntdruck ein Soldat, der Kopf eine aufgeklebte Photographie. Der Mann gab zögernd das Gewehr herüber, dann sprang er plötzlich auf, ergriff das Bild und schmiß es uns vor die Füße, daß der Rahmen sprang und das Glas splitterte. Dann hob er beinahe bedächtig den nackten Fuß, als wolle er noch einmal das Bild mit der Ferse zermalmen, hielt aber inne und sagte nur: «Nun aber hinaus!» Wir gingen. Nun standen wir wieder im Treppenflur und wußten kaum, wohin wir uns wenden sollten. Das
aufgestörte Haus war uns im tiefsten feindlich; es schien geladen zu sein von Haß, von Armut, von hundert unbekannten, lauernden Gefahren. In diesem Gemäuer klebten die Wohnungen Raum an Raum, wie Waben im Bienenstock. Die Menschen hockten aufeinander, Wand an Wand sonderte sich das Leben. Die Stuben und Verschlage drohten zu zerplatzen von dem Wirbel schrecklicher Dünste, welche die hineingestopften Menschenleiber um sich breiteten. Wir suchten Wohnung für Wohnung ab. Wir drangen in jede Kammer, wir klopften an jeden Verschlag. Da waren dunkle Flure, in denen Eimer standen und zerbrochene Besen, Lampen hingen rußgeschwärzt so niedrig, daß mehr als eine gegen unsere Helme pendelte die Dielen stöhnten bei unseren Tritten und knackten, der Fuß trat zuweilen in Mörtel und Sparren, von den Decken — und wie niedrig waren die Decken — hing nacktes Mauerwerk, bröckelte der Kalk. Tür stand neben Tür. Wenn uns eine geöffnet wurde, dann fuhren auch die anderen auf, und plötzlich stand der Gang dicht voll Menschen. Männer Frauen und viele Kinder, Kinder in allen Größen, halbnackt die meisten und unsäglich schmutzig und mit Gliedern, so dünn, daß man meinen könnte, sie müßten zerbrechen, packte man sie an, Kinder mit unheimlich großen Köpfen und wirren, stacheligen blonden Haaren, — sie standen an den Schwellen ihrer kargen, düsteren Stuben, und viele Augenpaare starrten uns an. Wenn die anderen hineingingen, dann stand ich allein vor der Tür, stand allein ihnen gegenüber, und der Haß prallte mir
entgegen wie eine Wolke, entgegen prasselte mir das Gezische! höhnischer Rufe, Weiber strichen an mir vorbei und lachten und spuckten dann auf den Boden, und die Männer, mit offenen Hemden, daß man die krausen Haare ihrer Brust sah, riefen einander zu: «Totschlagen müßte man die Bande!» und «Nehmt dem Affen doch die Knarre ab!» Aber sie taten mir nichts, sie hoben nur die Fäuste und schüttelten sie mir vor den Augen und rühmten sich, mit einem Finger mich wie eine Wanze zu zerquetschen. Bis die anderen wiederkamen und in den nächsten Raum traten. Ich trat mit hinein und sah. Da war ein Raum, nicht größter als vier Meter im Quadrat, und der Raum stand voller Betten. Sieben Menschen schliefen in diesem Raum, Männer, Weiber und Kinder. Und zwei Frauen lagen noch im Bette und jede hatte noch ein Kind bei sich, und als wir hineinkamen, da lachte die eine, schrill, atemlos, und die anderen vor der Tür drängten sich an die Schwelle. Der Unteroffizier kam näher, da hob die Frau blitzschnell die Bettdecke und das Hemd, und es prustete aus den blanken Backen. Wir fuhren zurück, da kreischten die anderen auf, sie lachten schallend und hieben sich auf die Schenkel, sie konnten sich nicht genugtun mit Lachen, und auch die Kinder lachten. «Bluthunde!» schrien sie, «Bluthunde!» Die Kinder schrien es und die Weiber, und plötzlich war der ganze Raum erfüllt mit durcheinanderschreienden Gestalten, so daß wir Schritt für Schritt zurückgingen, bis wir wieder auf dem Gang standen. Immer noch schmetterte das Grammophon. Das
war hinter einer winzigen Tür ganz hinten am Gang. Wir drangen ein, da stand ein Mann und legte gerade eine neue Platte auf, und es quäkte uns entgegen: «Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen ...»Der Gang schrie vor Entzücken, der Unteroffizier sprang zurück und holte einmal tief Luft und brüllte: «Zurück alles! Alles in seine Zimmer! Wenn der Gang nicht sofort geräumt wird, lasse ich schießen!» Für eine Sekunde war es still. Dann brodelte ein Gemurmel auf und eine Frau begann zu schreien, so daß es in dem Gange, im Treppenhaus von allen Wänden widerhallte, ein langhingezogener Schrei, wie ein Todesschrei, vor dem sich die Kinder plötzlich verkrochen und der mehr als das Gerassel unserer Gewehre bewirkte, daß der Gang sich leerte. Aber in den Räumen kochte es weiter. Wir hörten dumpfe Laute durch die zerbrechlichen Türen quellen, Möbel wurden gerückt, Metall schepperte, und die Frau schrie wie aus zugestopftem Halse. Unten begannen sie die Internationale zu singen. Das griff von Tür Tür, das drang durch alle Wände und teilte sich den Höfen mit. Dazu trampelten sie im Rhythmus mit den Füßen auf den Boden, so das Haus zitterte und wir umbraust im finsteren Gang standen. Und wir suchten weiter. In ein Zimmer kamen wir hinein, da saß ein alter Mann am Tisch und eine alte Frau stand am Fenster. Und der alte Mann erhob sich langsam und trat mit zitternden Knien auf uns zu. Dicht vor uns stand er und hob dann langsam die Hand und röchelte: «Hinaus!» und noch einmal: «Hinaus!» und kroch mit Augen, in denen rote Äderchen schwollen, immer näher und
hob den Arm mit einer schwärzlichen, zerfurchten Greisenhand und öffnete wie nit letzter Anstrengung den faltigen Mund und keuchte heiser: «Hinaus!» Der Unteroffizier wollte den Mann beruhigen, da taumelte der plötzlich und schwankte und drehte sich und fiel mit dem Oberkörper auf den Tisch. Die Frau aber nahm den Unteroffizier am Arm, wie nan ein unfolgsames Kind am Arme nimmt, und führte ihn schweigend hinaus. Der Unteroffizier war sehr bleich, als er mit uns sich zur nächsten Tür wandte. Wir pochten, und es öffnete niemand. Wir pochten nochmals und pochten stärker, wir klopften mit nervöser, immer mehr gesteigerter Hast, dann sprang Hoff mann vor und trat die Tür ein. In diesem Zimmer war nur eine Frau, ein junges Mädchen, klein und bleich und mit wirrem, schwarzem Haar. Die stand vor uns und wich etwas zurück und stützte sich mit den Händen auf den Tisch, und in das plötzliche Schweigen fragte sie mit einer sehr leisen, aber bis aufs äußerste angespannten Stimme: «Was erdreistet ihr euch? Was wagt ihr? Habt ihr noch nicht genug gemordet?» Ihre Stimme wurde sehr dunkel. Sie sagte: «Ihr dringt hier ein in dieses Haus wie die Henkersknechte. Seid ihr ohne Scham? Woher stammt ihr, daß ihr nicht wißt, daß wir Menschen sind?» Sie sagte: «Hört ihr, was sie singen? Welcher Zeit gehört ihr an? Von wem seid ihr geschickt?» An der Tür standen die Leute wieder, aber nun schwiegen sie und horchten. Und das Mädchen sprach weiter: «Man möchte es euch in eure dumpfen Schädel hämmern. Ihr schützt dieselbe
Klasse von Verruchten, die dieses Elend geschaffen haben! Ihr seid Ausgebeutete, Verachtete wie wir! Und nun kommt ihr euch groß vor mit euren Gewehren, nun kitzelt euch die Macht, die man euch gegeben hat. Legt doch eure Gewehre weg, oder nein, gebt sie diesen da, die sie für ihre gerechte Sache anzuwenden wissen!» Aber nun sagte der Unter.offizier Kleinschroth unter seinem Stahlhelm hervor: «Ach, mein Fräulein, das kennen wir alles, das haben wir schon sehr oft gehört. Eben, um die Waffen handelt es sich. Die suchen wir hier, mehr wollen wir nicht. Sorgen Sie lieber dafür, daß die Leute da keine Dummheiten machen. Und wir gehen nun und suchen weiter.» Da machten wir kehrt und waren wie erleichtert, obgleich es uns schien, als hätte der Unteroffizier noch etwas mehr sagen müssen, aber er blickte nur mit eigentümlich flachen Augen vor sich hin, als wir uns unseren Weg durch die Leute bahnten, und er sprach auch kein Wort mehr, solange wir in diesem Hause waren. Es war aber unmöglich, alles so zu durchsuchen, wie es befohlen war, und wir hatten auch keine Lust dazu. Wenn wir in ein Zimmer traten, dann drückte der trostlose, abgestandene Ruch vieler zusammengepferchter Menschen, die nie allein waren, der Brodel stickiger Enge, tödlichsten Selbstverzehrs auf unsere Schultern und zwang uns zu erbitterter Schärfe, an die wir selbst nicht zu glauben vermochten. Wir schienen uns gegen diesen Druck nicht anders wehren zu können, als indem wir bei aller inneren Benommenheit so fest wie möglich auftraten und mit barscher Sicherheit so lässig wie möglich
handelten. Wenn uns aus kreischenden, verzerrten Mündern der Haß entgegenspie, dann fühlten wir für abgründige Sekunden das Nahen einer schrecklichen Entscheidung. Denn wären wir durch keinen Befehl gehetzt, auf scharfkantigen Graten zu balancieren, dann könnten wir dem Hasse unsere eigene Leidenschaft entgegensetzen, die würde bitter, da wir dann den Haß uns aus dem Augenblicke saugen müßten. Wir könnten aber auch uns sinken lassen, fallen lassen, flüchten, nicht vor der Gefahr, nur vor der eigenen Wärme. Doch wir, wir klammerten uns an den Befehl, wir schritten mit stumpfen Gesichtern durch die Räume, wir griffen gleichmütig in die Strohsäcke, stocherten unter die Betten, öffneten die Schränke, fuhren mit dem Arm durch die armseligen Kleidungsstücke, und doch war es so, als handelten wir wie die Diebe. Unter der Prüfung stets starrender Augen, die uns im Rücken brannten und das Kreuz steiften, klopften wir an die Wände, pochten an Türen, rissen Bettzeug auseinander und suchten. Und fanden nichts. Fanden nichts im ganzen, vielstöckigen Hause, außer dem einen Gewehr. Draußen aber, in den vielen Zimmern, da sangen sie weiter, und der abgeleierte, immer wiederholte Gesang gab uns fast eine ruhige Frische. Dann sammelten wir uns im Torweg. Durch die Höfe kamen uns die anderen Gruppen entgegen. Als wir abmarschieren wollten, stellte der Feldwebel fest, daß zwei Mann fehlten. Der Bereitschaftszug begann, nach ihnen zu suchen. Wir anderen rückten ab. Die zwei Mann wurden nicht gefunden. Im Quartier
gingen die tollsten Gerüchte um. Der Gefreite Hoffmann sagte: «Junge, Junge, ich kann dir gar nicht sagen, wie dick ich den Kram habe!» Und nach einer Weile: «Ich weiß, wo die beiden sind. Die sind ganz einfach desertiert. »
Weimar Am 20. Januar 1919, am Tage nach der Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung, kamen die Kommandeure der in Berlin stehenden Truppen zum Oberbefehlshaber Noske. Sie erklärten, sie könnten für den Bestand der Truppen keine Garantie übernehmen. Die Agitation der Unabhängigen und Spartakisten unter den Soldaten sei derart intensiv, daß ein längeres Verbleiben der Formationen in der Stadt für den Geist der Truppe gefährlich sei. Es sei zu erwägen, ob die Formationen nicht wieder auf die Übungsplätze, Vororte und Dörfer zurückzunehmen wären. Die Regierung der Volksbeauftragten beschloß, die Nationalversammlung in Weimar tagen zu lassen. Das Freiwillige Landesjägerkorps Maercker galt als die bestdisziplinierte Truppe, und es sollte wohl eine Anerkennung bedeuten, daß General Maercker den Auftrag bekam, die Tagung der Volksvertreter in Weimar zu schützen. Der Arbeiter- und Soldaten-Rat von Thüringen aber war nicht einverstanden mit dieser Anerkennung und sandte ein gekränktes
Telegramm an den Oberbefehlshaber Noske. Die Garnisonen von Thüringen seien allein imstande, die Sicherheit der Volksvertreter zu garantieren, und fremde Truppen seien in Thüringen durchaus unerwünscht. Die Bewegtheit jener Tage aber war bestimmt durch den Kampf der Revolution um ihren Bestand. Die Unabhängigen und Spartakusleute sahen im Zusammentreten der Nationalversammlung eine unmittelbare Bedrohung der revolutionären Errungenschaften. Der von ihnen erstrebte und in den Anfängen durchgeführte Räteaufbau des Staates mußte, das wurde scharf anerkannt, dem bürgerlichdemokratischen Prinzip gegenüber, durch welches allein die Nationalversammlung und die in ihr zu schaffende Verfassung ihre Geltung erhalten konnte, mit allen Mitteln behauptet werden, sollte nicht aus der Revolution ein Gebilde erwachsen, das deren Sinn verfälschte. «Alle Macht den Arbeiter- und Soldaten-Räten!» lautete darum die Parole der Revolutionäre, und diese Parole wurde in unzähligen Aufrufen verbreitet und fand in ebenso unzähligen Entschließungen revolutionärer Kongresse und Versammlungen ihren Widerhall. Im Reiche war die Herrschaft der Räte noch fast völlig unangetastet. Nur in Berlin war sie gebrochen. Aber schon marschierten Truppen nach Bremen, schon schufen in Willhelmshaven Offiziere und Soldaten unter dem Korvettenkapitän Ehrhardt eine neue Ordnung, in der die Räte ausgeschaltet waren. Es beruhte jedoch die Macht der Arbeiter- und Soldaten-Räte im Reiche einfach auf der Tatsache,
daß sie ihnen bislang noch niemand streitig gemacht hatte. In den Betrieben waren die Belegschaften zersplittert und die Arbeiter-Räte keineswegs einer unbedingten Gefolgschaft sicher, die bewaffneten Kampfkräfte klein an Zahl und nicht gehärtet. Selbst in Berlin waren es immer nur die Einzelnen, die den letzten Einsatz für die Revolution wagten, Versprengte, Unbestechliche, und freilich konnten sie unter günstigen Umständen die Masse mit sich zwingen. Aber es rief niemand anders sie als die Stimme ihres Blutes, sie fanden sich auf den Barrikaden zusammen, wie sich diese Männer immer zusammenfinden dort, wo Gefahr ist, aber sie waren nicht geeignet als blitzende Werkzeuge einer zu bildenden Macht, sie erkannten keine Führung an, sie gehorchten keinen Räten. Von Bauern-Räten hat man nach den ersten Tagen der Revolte niemals gehört. Am aktivsten erschienen die Soldaten-Räte. Sie führten in ihren Kundgebungen eine bedrohliche Sprache, kontrollierten fast die gesamte Verwaltung und traten mit herrischem Anspruch als die eigentlichen Machthaber überall auf. Aber sie waren Soldaten-Räte ohne Soldaten. Das heimkehrende Heer löste sich auf. Schon auf dem Marsch zu den Garnisonen verringerten sich die Regimenter, verließen große Teile der Mannschaft, von den Offizieren gewißlich nicht gehindert, die Truppe, drängten nach Haus. In den Garnisonen selbst lagen die ältesten Jahrgänge und die jüngsten — Landsturm, Rekruten und Garnisondiensttaugliche. Sie waren es, welche die Räte im ersten Überschwang der Revolte
gewählt. Von den zurückkehrenden Frontsoldaten erhielt ein jeder Urlaub, soviel er wollte, die anderen nahmen sich den Urlaub selber. In den verödeten Kasernen hausten als Alleinherrscher die SoldatenRäte, sie saßen fett und behaglich in den weiten Räumen und verfaßten Entschließungen und erhielten Löhnung und Zulagen und Tagegelder und zehrten von den Vorräten und Lagerbeständen. Die Schreiber der Abwicklungsstellen, die arbeitslosen jungen Soldaten, die ihre Löhnung abholten, Deserteure und wenige Berufssoldaten bildeten die Garnisonen. Es waren aber die Garnisonen zu allem entschlossen, außer zu arbeiten und zu kämpfen. Die Unabhängigen hatten Wachregimenter aufgestellt und Sicherheitswehren, gebildet aus Arbeitern und entlassenen oder entlaufenen Soldaten; die Matrosen lebten, finster und entschlossen, in kargen Grüppchen, Volksmarinedivisionen genannt, in ihren zu waffenstarrenden Festungen umgewandelten Quartieren, wie die Füchse im Bau, stets bereit, zu schießen, aber keinem Befehle gefügig. Dann waren nur noch die hungernden Massen da. Die Freikorps aber, geworben für den Schutz der Grenze im Osten, der Stamm der Frontsoldaten, freiwillige Studenten, Schüler, Kadetten, Offiziere, Arbeiter, Bauern, Handwerker und ewige Soldaten, sie standen im Solde der Regierung, marschierten, wie es Noske befahl. Als die kleine Gruppe der Quartiermacher des Landesjägerkorps nach Weimar kam, befahl der Weimarer Soldatenrat, sie zu entwaffnen. Aber die
Quartiermacher eilten vor das Hauptquartier des Rates; der Vorsitzende, zwischen zwei Maschinengewehren stehend, erklärte, er weiche nur der Gewalt. Da warfen die Landesjäger die Maschinengewehre um und drangen in das Gebäude. Der Vorsitzende des Soldatenrates Weimar aber wich. Dies war die einzige kriegerische Handlung, die in Weimar geschah. Wir erfuhren davon, als wir in die schlafende Stadt einrückten. Am Bahnhof mußten wir die Seitengewehre aufpflanzen. Unsere Quartiere lagen in Ehringsdorf, wir zogen fröstelnd und übermüdet von der langen, nächtlichen Fahrt durch die dunklen Straßen. Am Nationaltheater machten wir halt. Wir setzten die Gewehre zusammen und warteten. Neugierig standen die Soldaten um das Denkmal herum. Der Leutnant Kay kletterte auf den Sockel und setzte sich zwischen die Füße der beiden Bronzegestalten. Das Theater stand weiß und geruhig, mit einfachen Linien, wie ein klarer, stiller Tempel in der Nacht, Leutnant Kay sagte: «Der Tag ist wirklich zu absurd. Konfuse, verwirrende Lehren und verwirrter Handel walten über der Welt.» Und klopfte Goethe kameradschaftlich auf den Schenkel. Nach kurzer Weile marschierten wir weiter. Weimar wurde vom Landesjägerkorps zerniert. In der Stadt selbst lagen nur wenige Kompanien, im Schloß, am Theater. Wir exerzierten in Ehringsdorf und in Oberweimar, wir schoben Wache in Umpferstedt und in Süßenborn, wir kampierten in Tiefurt und in Hopfgarten. Wenn der Dienst zu Ende war, hatten wir nicht immer Lust, nach Weimar hineinzugehen; denn die geruhsame Stadt verlor
nichts von ihrer Farblosigkeit durch das schwärzliche Gewimmel der Volksvertreter und deren mannigfaltige Reden —, und uns brannte noch Berlin im Blut. Wir waren zu plötzlich herausgerissen aus dem Strudel der tollen Wochen, die hinter uns lagen. Der Abmarsch aus Berlin, der nie bezwungenen Stadt, erschien uns wie Flucht und Verzicht. Und zwischen Dienst und Wache, zwischen Suff und Schwoof verloren wir uns in übersteigerten Gesprächen. Anfangs besuchten wir die Versammlungen im Städtchen, in denen Abgeordnete aller Parteien sprachen, aber die geistigen Waffen, die dort den Kriegern angepriesen wurden, ließen uns den Wert von Fünfzehner-Langrohrgeschützen in noch schärferem Licht erscheinen. Unser Leben vollzog sich sehr abseits von dem, was die Vertreter des Volkes als Kern und Wesen der Dinge betrachteten; wir standen in jenen Tagen inmitten des Strudels, da, wo es am stillsten ist. Und Leutnant Kay sagte: «Immer hübsch kochen lassen und ab und an ein bißchen umrühren und zuweilen ein kleines Feuerchen drunter!» «Wie meinen Sie das mit dem Feuerchen drunter?» fragte ich den Leutnant, meinen Zugführer, bei dem Glase Wein, zu dem er mich eingeladen hatte. Da drehte sich der Leutnant um, und drei Tische weiter saß ein kleiner, rundlicher Herr im schwarzen Rock, ein Herr mit Hornbrille und Aktentasche. «Das ist Erzberger», flüsterte der Leutnant und sah mich an. «Ein tüchtiger Mann, sagenhaft fleißig!» Und drehte das Glas und beugte sich über den Tisch. «Was meinen Sie, wie würde das
Hühnervolk gackern, wenn der eines Tages mal gehörig verprügelt würde? Machen Sie mit?» Ich sagte: «Jawohl, Herr Leutnant!» Aber Erzberger flüchtete im Hemde zum Fenster hinaus, als wir anrückten, und Noske war sehr böse über uns. Es schien, wir fingen an, ihm Sorge zu machen. Als Oberbefehlshaber zog er immer den Hut, wenn es einem von den Soldaten einfiel, ihn zu grüßen. Seit er Reichswehrminister war — es war da ein Befehl, der lautete, der Reichswehrminister sei vorschriftsmäßig zu grüßen —, seit dieser Zeit also hob er immer nur zwei Finger bis knapp an die breite Krempe seines Hutes. Und wir gaben uns doch solche Mühe! Wenn wir, am Schlagbaum von Umpferstedt, das Auto kommen sahen, dann freuten wir uns schon und hielten den Wagen an und fragten nach dem Paß und baten diensteifrig die Herren, auszusteigen, da der Wagen nach Waffen durchsucht werden müsse. «Ministerauto», wagte der Chauffeur zu sagen. «Das kann jeder sagen», meinten wir knarsch und: «Paß bittä!» Dann aber sahen wir den Paß, und das riß uns plötzlich herum! Da krachte das Gewehr auf die Schulter, daß der Helm rutschte, da holten wir vielleicht mit dem rechten Fuß aus und knallten ihn gegen den linken und sahen den Herrn eisern an. Und der Herr Reichswehrminister hob mißtrauisch zwei Finger, und wir rührten uns nicht eher, als bis aus der Tiefe des Wagens der freundliche Wunsch brummte, es möchte doch endlich der Schlagbaum geöffnet werden. Der Minister aber liebte es, bei Besichtigungen die Front abzugehen und freundliche Fragen an einige
Leute zu stellen. Und ausgerechnet den Gefreiten Hoffmann fragte er: «Was sind Sie von Beruf?» — «Korbflechter, Euer Exzellenz!» kam prompt die Antwort. Und der Hauptmann hatte später Gelegenheit, kopfschüttelnd zu sagen, nichts wie Unfug hätten wir im Kopfe, und es müßte wohl ein bißchen mehr exerziert werden. Und es wurde mehr exerziert. Es wurde auch mehr gesoffen. Leutnant Kay hatte eine Mischung erfunden, die nannten wir den Geist von Weimar. Nur war diese Mischung sehr fade, und man mußte viel trinken, ehbevor man sich berauschte. Aber viel trinken, das wollten wir, viel tanzen, das wollten wir auch, und vor allen Dingen wollten wir nichts davon hören, was in der Nationalversammlung besprochen und beraten wurde. Das harmlose Städtchen spreizte sich in dünner Wichtigkeit. Als der Volksbeauftragte Ebert zum Reichspräsidenten gewählt wurde, war es ausfüllendes Stadtgespräch, daß er mit weichem grauem Hut die Ehrenkompanie abschritt, nicht mit Zylinder. Die sechzig Berliner Schutzleute reräsentierten mit Würde Weltstadt. Jede Rede der Frau Zietz fand in den Damenkränzchen aufgeregte Besprechung. Wenn Pfarrer Traub sprach, flaggten einige Häuser schwarz-weiß-rot. Die Läden wurden fast gestürmt, als es hieß, die ersten Waggons italienischer Apfelsinen seien eingetroffen. An Sonntagen spielte die Landesjägerkapelle. Die jungen Mädchen der Stadt ließen sich in öffentlichen Lokalen nur mit Offizieren sehen, allenfalls mit Feldwebeln.
Die Herren Abgeordneten tranken abends ihren Wein im «Elefanten» oder im «Schwan» und betrauerten die Zukunft Deutschlands. Im März kamen die Nachrichten von dem Aufstand in Berlin. Gleichzeitig begann es in Mitteldeutschland zu brodeln. Eine Abteilung des Landesjägerkorps rückte nach Gotha, andere rüsteten zum Marsch nach Halle. Im mitteldeutschen Industrierevier drohte der Streik. In den Städten zogen hungernde Massen demonstrierend durch die Straßen. In München war am 21. Februar Kurt Eisner erschossen worden. Daraufhin bemühten sich die Abgeordneten im bayrischen Parlament nicht ohne Erfolg, sich gegenseitig auszurotten. Im Ruhrgebiet herrschte Anarchie, aus den Seehäfen liefen die Lebensmitteltransporte nur spärlich ein. Im Osten knallten sich schwache Grenzschutzformationen mit vorrückenden polnischen Banden herum. Und langsam wurden die Friedensbedingungen bekannt. Wir strichen unruhig durch die Straßen. Es war für uns Soldaten kein Zweifel, daß die Weimarer Herren annehmen würden. Wir aber hoben die Nasen witternd in den Wind, gleich als ob wir die Vielfalt röchen, um die uns das Leben noch niemals betrog. Leutnant Kay nahm einzelne von uns beiseite. Er sprach mit der Gruppe Kleinschroth, er suchte sich die Kadetten zusammen, er saß in den Kompaniequartieren mit den Unteroffizieren, in den Kantinen mit Leuten des anderen Bataillons, in den Weinstuben Weimars mit Offizieren und Fähnrichen
und flüsterte herum. Langsam fanden sich einige zwanzig Mann. Die erkannten sich an einem Blick, an einem Wort, an einem Lächeln, die wußten voneinander, daß sie zusammengehörten. Aber sie waren nicht regierungstreu, sie waren beileibe nicht regierungstreu, nichts weniger als das. Sie konnten keineswegs den Mann und den Befehl achten, dem sie bislang gehorchten, und die Ordnung, die sie schaffen helfen sollten, erschien ihnen ohne Sinn. Sie waren Herde der Unruhe in ihren Kompanien. Der Krieg hatte sie noch nicht entlassen. Der Krieg hatte sie geformt, er ließ ihre geheimsten Süchte wie Funken durch die Kruste schlagen, er hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben und ihren Einsatz geheiligt. Ungebärdige, Ungebändigte waren sie, Ausgestoßene aus der Welt der bürgerlichen Normen, Versprengte, die sich in kleinen Gruppen sammelten, ihre Front zu suchen. Da waren viele Fahnen, um die sie sich sammeln konnten — welche flatterte am stolzesten im Wind? Da waren noch viele Burgen zu stürmen, noch viele feindliche Haufen lagerten im Feld. Landsknechte waren sie — wo war das Land, dem sie Knechte waren? Den großen Betrug dieses Friedens hatten sie erkannt, sie wollten nicht teilhaben an ihm. Sie wollten nicht teilhaben an der bekömmlichen Ordnung, die man ihnen schleimig pries. Sie waren unter den Waffen geblieben nach einem unbeirrbaren Instinkt. Sie knallten allerorts herum, weil ihnen das Knallen Spaß machte, sie zogen durch das Land, hierhin und dorthin, weil ihnen die fernen Felder
immer neue, gefährliche Dünste atmeten, weil ihnen überall der Ruch herber Abenteuer winkte. Und dennoch suchte jeder etwas anderes und gab andere Gründe für sein Suchen an, das Wort war ihnen noch nicht geboten. Sie ahnten das Wort, ja, sie sprachen es aus und schämten sich vor dessen verwaschenem Klang und drehten es, prüften es in geheimer Furcht und ließen es aus dem Spiel mannigfaltiger Gespräche, und es stand doch über ihnen. In tiefer Dumpfe eingehüllt stand das Wort, verwittert, lockend, geheimnisreich, magische Kräfte strahlend, gespürt und doch nicht erkannt, geliebt und doch nicht geboten. Das Wort aber hieß Deutschland. Wo war Deutschland? In Weimar, in Berlin? Einmal war es an der Front, aber die Front zerfiel. Dann sollte es in der Heimat sein, aber die Heimat trog. Es tönte in Lied und Rede, aber der Ton war falsch. Man sprach von Vater- und Mutterland, aber das hatte der Neger auch. Wo war Deutschland? War es beim Volk? Aber das schrie nach Brot und wählte seine dicken Bäuche. War es der Staat? Doch der Staat suchte geschwätzig seine Form und fand sie im Verzicht. Deutschland brannte dunkel in verwegenen Hirnen. Deutschland war da, wo um es gerungen wurde, es zeigte sich, wo bewehrte Hände nach seinem Bestände griffen, es strahlte grell, wo die Besessenen seines Geistes um Deutschlands willen den letzten Einsatz wagten. Deutschland war an der Grenze. Die Artikel des Versailler Friedens sagten uns, wo Deutschland war. Wir waren für die Grenze geworben. In Weimar
hielt uns der Befehl. Wir schützten raschelndes Paragraphenwerk, und die Grenze brannte. Wir lagen in madigen Quartieren, aber im Rheinland marschierten französische Kolonnen. Wir schossen uns mit verwegenen Matrosen herum, aber im Osten brandschatzten die Polen. Wir exerzierten und stellten Ehrenkompanien für Regenschirme und weiche Filzhüte, aber im Baltikum traten zum ersten Male wieder deutsche Bataillone zum Vormarsch an. Am 1. April 1919, dem Geburtstage Bismarcks — die Rechtsparteien hielten patriotische Feiern ab —, verließen wir, achtundzwanzig Mann, Leutnant Kay an der Spitze, Weimar und die Truppe, ohne Kündigung und Befehl, und fuhren nach dem Baltikum.
Vormarsch Im Zielfernrohr stand die Silhouette eines Gehöftes. Ich lag mit meinem Gewehr auf einem buschbewachsenen Hügel, dicht am Bahndamm. Neben mir lag Leutnant Kay, seinen zum Stutzen umgearbeiteten Karabiner vor sich und behängt mit Leuchtpistole, Handgranatensäcken, Munitionsgürtel, Zeissglas und Kartentasche. Um uns herum, in samtener Dunkelheit, kauerten dichtgedrängt die Hamburger, leichte Maschinengewehre zwischen
sich. Die Minenwerfer in der Senke standen mit drohend aufgerichteten Mäulern da. Vor uns klickerte dunkel die Eckau, einzelne Sterne spiegelten sich zitternd im schwarzen, schmalen, leichtbewegten Wasser. Hinter der Waldecke stand der Panzerzug unter sacht strömendem Dampf. Am Bahndamm mußten die Geschütze stehen, von den Pionieren gedeckt. Alles lag in der vordersten Front. Alle Waffen drohten nach vorn. Menschen und Sprengstoff lauerten in geheimnisreicher, mit wütender Spannung geladener Nacht auf Erlösung. Von der Rigaer Bucht bis Bauske lagen dicht nebeneinander die gekrümmten Körper bereit zum Ansprung. Der Bolschewik ahnte nichts. Hinten, über Tetelminde war der Himmel gefärbt mit gedämpftem Rot. Kein Postenruf erscholl, kein Schuß weckte die Nacht. Ich betastete noch einmal mein Gewehr. Der Gurt war eingeführt, die erste Patrone im Lauf. Steif stand die Knarre auf ihren Insektenbeinen. Die Hebel fest, der Mantel gefüllt. Selbst das eine Ende des Schlauches war sorgfältig vergraben, wie es die Vorschrift befahl. Ich legte den Kopf auf die Arme. Wir warteten. Wir warteten auf das Signal. Und vorne der Bolschewik ahnte nichts. Mit jedem Atemzuge füllte ein sonderbar herber Geruch die Lungen. Fast schmerzhaft würzig drang er durch den ganzen Körper. Dieser Dunst der kurländischen Erde ließ rnich dumpf spüren, was uns dies Land zu bieten hatte. Ich krallte die Finger in die satte Erde, die mich anzusaugen schien. Diesen Boden hatten wir erobert. Nun forderte er von uns; auf einmal war er uns verpflichtendes Symbol.
Sicherlich waren es nicht die Bolschewiken, die uns zwangen, hier zu liegen in lechzender Lauer, in wütender Gier. Da drüben, wo das lastende Dunkel den Feind, gleich uns, an den Boden drückte, da drüben beherrschte die Front ein glühender Zwang, ein wahnwitziger Wille, eine göttliche Besessenheit, ein einziger Glaube, der die durcheinanderfließenden Horden der Soldaten und Bauern mit stählerner Zange zusammenhielt und formte, der den Verlorenen die Mission gab, die Zerlumpten zu Heroen hämmerte, die Aufgegebenen zu Eroberern und ein ganzes Volk an die Grenze hetzte. Wir aber waren Versprengte, kein Volk gab uns den Auftrag, kein Symbol war uns gültig. Wir lagen nun hier in knisternder Finsternis; wir suchten den Eingang zur Welt, und Deutschland lag hinten irgendwo im Nebel, wirrer Bilder voll; wir suchten den Boden, der uns die Kraft geben sollte, und dieser Boden gab sich nicht willig her; wir suchten die neue, die letzte Möglichkeit, für Deutschland und für uns, und drüben im heimlichen Dunkel barg sich jene unbekannte, jene gestaltlose Macht, die, halb verwundert von uns und halb gehaßt, unserem Drängen wehrte. Wir zogen aus, die Grenze zu schützen, aber da war keine Grenze. Nun waren wir die Grenze, wir hielten die Wege offen; wir waren Einsatz im Spiel, da wir die Chance witterten, und dieser Boden war das Feld, auf das wir gesetzt. Die Balten, die drüben hinter jener vorspringenden Waldecke an der Straße massiert lagerten und auf das Signal zum Angriff warteten, fragten nicht nach dem Sinn ihres Einsatzes. Ihnen war der Kampf, zu dem sie sich gesammelt, geweiht, war ihnen das einzige Gebot der Stunde. Sie drängten erbittert, Riga zu nehmen;
denn dies war ihre Stadt, und dort in der Zitadelle waren die baltischen Geiseln, denen ein ähnliches Schicksal drohte wie den Geiseln Mitaus. Leutnant Kay hatte mich mitgenommen zu baltischen Familien, die uns von der Bolschewistenzeit in Mitau berichten konnten. Und da war nicht eine Familie, von der nicht mindestens ein Mitglied verschleppt, gemartert oder hingerichtet wurde, und viele Familien waren mitsamt den Dienstleuten ermordet worden, und von vielen lebten nur manche Frauen noch, und von den Frauen nur die älteren. Es war aber so gewesen, daß es genügte, auf der Straße deutsch zu sprechen, um erschlagen zu werden, und daß das Wort «deutsch» als ungeheuerlichstes Schimpfwort galt und der Deutsche als die verhaßteste Ausgeburt dieser Welt. Die baltischen Mädchen aber, aus ihren Häusern gerissen, galten in ihrer straffen, gepflegten Herbheit als begehrte Beute, und die bolschewistischen Unmenschen hatten ihre Lust, sie zu schänden und ihren edlen Willen in toller Brunst zu brechen, bis sie, von ganzen Horden gefoltert, nackt und zerrissen im Kot der Straßen lagen oder im Hofe des Gefängnisses, indes über ihren Leichen die baltischen Männer zusammengeschossen wurden. Als die baltische Landeswehr, ohne Befehl, gepeitscht vom wahnsinnigen Aufschrei ihres Blutes, den letzten Stoß nach Mitau wagte, von Tückum her im Sturm die Stadt anfiel, da wurden die Geiseln in die Höfe ihrer Kerker getrieben, und in die dichtgedrängte Masse der gepferchten Leiber flogen gebündelte Handgranaten, zuckte aus der Mündung schnell gerichteter Gewehre Schuß auf Schuß, daß
die geballten Körper immer wieder in die Höhe schnellten und schließlich nichts von ihnen übrigblieb als ein einziger blutiger, formloser Brei. Andere Geiseln aber wurden von roten Reitern an die Gäule gebunden und mit Kantschuhieben aus der Stadt nach Riga geschleift. An der Straße bis zur Eckau konnte die Landeswehr noch viele Leichen ihres Stammes zählen. Das Grab der Herzöge von Kurland war erbrochen, die Mumien, mit deutschen Stahlhelmen auf den Köpfen, standen aufrecht an den Wänden, durchsiebt von sinnlos hingeknallten Schüssen. Es waren lettische rote Regimenter, die so in Mitau Rache an ihren früheren Herren nahmen. Was uns aber aus dem geruhigen Mittelpunkte des kreisenden Deutschlands Weimar nun an die Peripherie geschleudert hatte, in dieses Land, in dem wir nun schon sechs glühende Wochen im Gefechte standen, das dünkte uns nur schwach erklärt durch jene nüchternen Versprechen, die zum Schall der Werbetrommeln uns geboten wurden. Als in den Tagen der Revolte die Front der deutschen achten Armee in den Ostseeländern zusammenkrachte, plündernd, zuchtlos, aufgelöst auf allen Wegen der Heimat zuströmte, drang prahlend und im mächtigen Rausch eines wilden Überlegenheitsglaubens die Rote Armee, in der sich die Elemente eines neuen nationalen und sozialen Stolzes mit asiatischer Willkür seltsam mischten, in das preisgegebene Land. Riga fiel und Mitau, und bis zur Windau strichen die zerlumpten, siegessicheren Partisanengruppen. Da sammelten sich die Balten und boten den ersten Widerstand. Und zu ihnen
stießen schwache deutsche Grenzschutztrupps. Die lettische Regierung Ulmanis, geflohen von Riga nach Libau, aber versprach den deutschen Freiwilligen Land zur Siedlung, achtzig Morgen Land und gewichtige Kredite und erhöhten Sold, wenn sie das Land zurückeroberten. Die deutschen Truppen hatten Auftrag, Ostpreußen und mit dieser Provinz des deutschen Ostens Grenzen zu schützen. Der deutsche Führer, General Graf Rüdiger von der Goltz, glaubte, den Befehl nur durch die Offensive er füllen zu können. Und der Feldzug begann in Schnee und Eis, indes die ersten Frühlingsstürme durch die Wälder heulten, mit wilden und verwegenen Patrouillenritten, mit kurzen, jauchzenden Stößen, mit Überfall und Gewaltmarsch. Mitau wurde befreit. An der Eckau bildete sich die neue Front. Riga, die baltische Stadt, lag wild ersehnt hinter den dunklen Wäldern. Aus ihr drang wirre Botschaft bis zur deutschen Front, hervorgekeucht aus den erschöpften Lungen baltischer Flüchtlinge, aufgefangen vom sowjetischen Funkspruch, gewaltsam erpreßt von gefangenen Rotgardisten. Aber die deutsche Regierung, fürchtend die Drohung der Entente, verbot den deutschen Truppen, die Stadt zu befreien. Das Wort «Vormarsch» hatte für uns, die wir nach dem Baltikum zogen, einen geheimnisvollen, beglückend gefährlichen Sinn. Im Angriff erhofften wir die letzte, befreiende Steigerung der Kräfte, ersehnten wir, das Bewußtsein zu bestätigen, jedem Schicksal gewachsen zu sein, hofften wir, die wahren Werte der Welt in uns zu erfahren. Wir
marschierten, von anderen Zuversichten genährt, als sie der Heimat gültig sein konnten. Wir glaubten an die Augenblicke, in denen sich die Vielgestalt eines Lebens ballt, das Glück einer Entscheidung. «Vormarsch»: das hieß für uns nicht ein Marsch auf ein militärisches Ziel, um einen Punkt auf der Landkarte, eine Linie im Gelände zu erobern, das hieß vielmehr den Sinn einer harten Gemeinsamkeit erfahren, das hieß die Zeugung einer neuen Spannung, die den Krieger auf eine höhere Ebene stößt, das hieß die Lösung aller Bindungen an eine versinkende, verrottete Welt, mit der der echte Krieger keine Gemeinsamkeit mehr haben konnte. Der Aufbruch der deutschen Bataillon im Baltikum glich dem Aufbruch eines neuen Völkerstammes. Jede Kompanie führte ihr eigenes Feldzeichen mit sieh und focht ihr eigenes Gefecht. Das Feldzeichen der Kompanie Hamburg war die Flagge der deutschen Hansestadt. Aber über der Flagge wehte noch ein schwarzer Wimpel, und als ich einen der Hamburger fragte, ob dies ein Zeichen der Trauer sei — und ich war selbst verlegen ob dieser Frage —, da pfiff der die ersten Takte des Seeräuberliedes. Nein, keine Trauer also, den schwarzen Wimpel hatte schon Klaus Störtebeker am Maste der «Bunten Kuh» geführt, und er wehte einstens über den Kriegskoggen der Vitalienbrüder. So hatte also die Flagge der Hamburger im Baltikum ihren besonderen Sinn, und sie flatterte an jedem Panjewagen der Kompanie und auch an der Feldküche, ja, bei manchen Gefechten — das war möglich im Baltikum, da war alles möglich — bei manchen Gefechten wurde sie vorangetragen,
und sie leuchtete blutigrot mit ihren schmalen weißen Türmen und dem düsteren Strich darüber. So konnte es wohl vorkommen — und es war gewiß ein gut Teil Absicht der Hamburger dabei —, daß die Bolschewiken zauderten zu schießen, ungewiß, ob es nicht rote Truppen seien, die da anrückten, und es konnte auch vorkommen, daß die Balten auf die Hamburger schössen — denn die Balten konnten kein Rot sehen, ohne gleich zu schießen —, dann aber brauchten die Hamburger nur «Hummel, Hummel» zu rufen, und das Geballer hörte auf; denn die Hamburger waren bekannt in ganz Kurland und ihr Schlachtruf auch. Sie waren so bekannt, daß die Juden und Krämer ihre Läden bedachtsam schlössen, wenn die Hamburger zu kurzer Ruhe in Mitau einrückten, ihr traditionelles Lied singend, das Seeräuberlied, oder irgendeine Unflätigkeit. Die Soldaten der anderen Truppenteile traten dann auf die Straße hinaus und sahen sich die Hamburger an, kopfschüttelnd zumeist, denn diese marschierten nicht etwa, wie es sich gehört, beileibe nicht, sie kamen daher, rechts und links der Straße in je einer langen Reihe, und trugen das Gewehr, wie es ihnen bequem war, und schritten, braungebrannt und mit offenen Röcken und Knüppeln in den Händen. Die Haare und die Barte hatten sie sich lang wachsen lassen, und sie grüßten nur Offiziere, die ihnen bekannt und genehm waren. Es war eine große Ehre für einen Offizier, von den Hamburgern gegrüßt zu werden. Denn diese verdrehte Formation stand unter keinem der gültigen militärischen Gesetze, kein Zwang hatte sie gebildet
und keinen Zwang erkannte sie an. Der Wille des Führers allein galt, und dieser wiederum war gewachsen aus jener motorischen Kraft, die alle, die sich um das Feldzeichen scharten, zueinander finden ließ. Es war gefährlich, auch nur einem von ihnen auf die Zehe zu treten: der Unvorsichtige hatte sofort die ganze Rotte auf dem Hals. Die Beute gehörte allen, wie allen das Wagnis gemeinsam war. Und wo sich die Hamburger mit den Bolschewiken trafen —, und sie trafen sich oft genug, denn wo ein Befehl die Fronten in Starre band, da machten die Hamburger für sich alleine Krieg —, hatten sie voreinander den gleichen, tödlich-freundlichen Respekt. Es konnte wohl vorkommen, daß einer aus der Schar gegen die eisernen Gesetze des Clans verstieß, dann trat die Kompanie zu kurzem Feldgericht zusammen, und nachdem der Meuterer begraben war, zogen die Hamburger weiter, das Seeräuberlied singend und in wütender Verachtung jeden Aktenkrams. Die Kompanie Hamburg war früher ein Bataillon gewesen. Aber schon in den ersten Gefechten des verwegenen Vormarsches von der Windau bis Mitau wurde das Bataillon so zusammengeschossen, daß Leutnant Wuth, der Führer, froh sein konnte, einen Bestand zu wahren, der wenigstens noch knapp eine Kompanie darstellte. Der Stamm der Hamburger bestand aus Niedersachsen der früheren HansaInfanterie-Regimenter, die Leutnant Wuth schon während des Rückmarsches um sich gesammelt und durch das verwirrte Deutschland an die ostpreußische Grenze und dann nach dem Baltikum
geführt hatte. Leutnant Wuth, ein großer, brauner, eckiger Mann — ein Eberzahn stach ihm aus dem Munde, den er an borstigen Haaren seines Bärtchens zu wetzen pflegte —, vertauschte vor jedem Gefecht seine Feldmütze mit einem Samtbarett, wie es die Urpachanten und die Wandervögel tragen. Denn schon in den gleißenden Vorkriegstagen fand dieser hagere Mann die einzig ihm gemäße Form in den Reihen jener Jugend, die in der lauen Luft erstarrter Forderungen nicht atmen konnte, vom Durchbrach träumte und vom Sturm, der in die dumpfen Räume fahren sollte. Und wenn es nun bei den Hamburgern irgend etwas gab, das Disziplin zu nennen war, dann kam es aus der Witterung für dieses Mannes Wesen und sein Glück. So stellten die Hamburger, zu denen ich mich gesellte, eine besondere Klasse von Kriegern dar inmitten der Heerhaufen des Baltikumkrieges. Da gab es viele Kompanien im Baltikum, geordnete Formationen unter sicheren Führern, geworben und marschierend nach zwingendem Befehl. Da gab es Haufen unruhgepeitschter Abenteurer, die den Krieg suchten und mit ihm die Beute und das Losgelassensein. Da gab es patriotische Korps, die den Niederbruch der Heimat nicht verwinden konnten und die Grenze wahren wollten vor der brandenden roten Flut. Und es gab die Baltische Landeswehr, formiert aus den Herren dieses Landes, die ihre siebenhundertjährige Tradition, die ihre überlegene, kräftige Filigrankultur, die das östlichste Bollwerk deutschen
Herrentumes um jeden Preis zu retten entschlossen waren, und es gab deutsche Bataillone, gebildet aus bäuerliche Menschen, die siedeln wollten, die nach Land hungerten, die den Boden rochen und nach den Kräften tasteten, die dieser herbe Boden ihnen bot. Truppenteile, die für die Ordnune kämüfen wollten, aab es keine. Und die Vielzahl der Parolen gab ihnen die Sicherheit, ihnen allen war ein Quentlein zugeacht, ein Quentlein Lohn und Hoffnung und ein lockendes Ziel. Aus der Masse aber, welche die zusammengekrachte Westfront nach dem Osten schwemmte, sonderten sich die Gleichen ab. Wir fanden uns wie auf ein geheimes Zeichen hin. Wir fanden uns fernab der Welt der bürgerlichen Normen, keines Lohnes, keines Zieles bewußt. Uns war mehr zerbrochen als die Werte, die wir alle in der Hand gehalten. Uns brach die Kruste auch, die uns gefangenhielt. Die Bindung brach, wir waren frei. Und riß uns auch das Blut, aufzischend plötzlich, in Rausch und Abenteuer, trieb uns das Blut in Weite und Gefahr, es trieb auch zueinander, was sich als zutiefst verwandt erkannte. Ein Bund von Kriegern waren wir, durchtränkt mit aller Leidenschaft der Welt, toll im Begehren, jauchzend im Nein und Ja. Was wir wollten, wußten wir nicht, und was wir wußten, wollten wir nicht. Krieg und Abenteuer, Aufruhr und Zerstörung und ein unbekannter, quälender, aus allen Winkeln unserer Herzen peitschender Drang! Aufstoßen ein Tor durch die umklammernde Mauer der Welt, marschieren über glühende Felder, stampfen über Schutt und stiebende
Asche, jagen durch wirren Wald, über wehende Heide, sich hineinfressen, stoßen, siegen nach Osten, in das weiße, heiße, dunkle, kalte Land, das sich zwischen uns und Asien spannte — wollten wir das? Ich weiß nicht, ob wir es wollten, wir taten es. Und die Frage nach dem Warum verblaßte unter den Schatten immerwährender Gefechte. Noch immer gloste der Himmel über Tetelminde. Das Gewirr der Äste zeichnete sich dunkel ab. Ahnte der Bolschewik wirklich nichts? Schon die ganzen letzten Tage war Unruhe an der deutschen Front. Gerade wollten die Formationen auf eigene Faust losbrechen, den Sturm auf Riga wagen, als die deutsche Regierung verschmitzt dem Oberkommandierenden auf dessen Drängen hin hatte mitteilen lassen, sie könne es nicht hindern, wenn die Baltische Landeswehr Riga erobere, die deutschen Truppen dürften dann die eigenen Linien sichern. Am Abend, als der Befehl zum Vormarsch verlesen wurde, ging es durch die Mannschaft wie ein Ruck. Und indes die Haufen auseinanderspritzten, um zu packen und zu rüsten, flammten auch schon an allen Enden die verlassenen Häuser hoch. Die Offiziere rannten fluchend hin und her, doch aus immer mehr Dächern prasselten die roten Zungen, beleuchteten den starren Waldrand, färbten den dunklen Himmel weithin mit gespenstischem Schein. Ganz Tetelminde brannte, eine grandiose Fackel, angesteckt vom Urtrieb der Besessenen, in denen plötzlich wieder die erste Lust des Menschen, die Vernichtung, pochte und nach ihren Rechten schrie.
Das Zifferblatt der Armbanduhr leuchtet. Gleich halb zwei. Ich sehe zu Leutnant Wuth hinüber, der unweit hinter einem Baume steht und durch das Glas nach vorne stiert. Nun macht er eine Bewegung. Er bückt sich halb und führt eine Leuchtpatrone in den Lauf der Pistole ein. Er schiebt den Lauf zurecht, es knackt. Drüben im Gehöft kräht ein Hahn. Es ist, als ob die ganze Front den Atem anhält. Ein Rauschen geht durch den Wald. Unzählige linke Beine ziehen sich zum Leib. Im Osten beginnt es zu dämmern. Auf einmal hebt Leutnant Wuth den Arm und jagt das Signal hoch in die Luft. Die Front brüllt auf. Ich reiße mich herum und drücke auf den Hebel. Schon höre ich das Rattern des Gewehrs nicht mehr. Der Panzerzug ist da und greift mit blitzenden Armen nach vorn. Alle Rohre speien, und da liegt Mann an Mann, Geschütz an Geschütz, MG an MG. Alles versinkt in wahnsinnigem Getöse. Der Dampf zieht in dicken Schwaden durch das Gebüsch und bleibt mit flatternden Fetzen an den zerwirrten Ästen hängen. Drüben verschluckt eine Staubwand das Gehöft. Ich halte zitternd den Hebel fest. Der Gurt ist durch. Ich reiße mechanisch den Hebel hoch und schlage die Kurbel vor. Mein Blick tanzt über das Visier nach Ungewissem Ziel. Da stehen starre, schwarze Bäume im Feld und sinken wieder zusammen und stehen an anderer Stelle wieder auf. Ich sehe Hoffmann, er hängt mit halbem Leib über seiner Knarre. Er drückt mit einer Hand den Abzugshebel und brüllt sich seine Lust, weit
vorgebeugt, mit krallen Augen aus dem Herzen. Der ganze Waldrand ist nun eine straffgespartnte Schnur berauschter Leiber. Wir feuern, was nur immer aus den Läufen will. Das Feld vor uns wird glattrasiert, es ist, als zuckte alle Wirre, alle langgehemmte Wut aus den Fingerspitzen und wandelte sich zu Metall und Flamme. Heraus damit, heraus mit Feuer, Eisen, Dampf und Schrei. Es geht erlösend durch den Wald, der Donner unsagbarer Lüste schmeißt das Feld vor uns zu Scherben. Im fahlen Grau des Morgens, unter den ziehenden, milchigen Fahnen des Nebels, tauchen breite braune Erdflecken auf. Dort halte ich die spritzende Mündung hin. Die Pioniere schmeißen Bretter übers Wasser; der Panzerzug rückt keuchend vor. Der Waldrand wird lebendig, aus allen Büschen wimmelt es nach vorn. Unwillig plätschert die Eckau, Ringe werfend, wie die Hamburger ins flache Wasser springen, mit hocherhobenen Gewehren waten, flink den Uferrand erklettern. Kaum sind wir über den schmalen Fluß, zischt uns verdrossen von jenen Erdaufbauten Feuer um die Beine. Wir, in den Ohren das Gedröhn der Feuerwelle, erregt den feuchten Dunst der Pulvergase atmend, stoßen vor. Schwerfällig erst, dann immer schneller, taumeln, springen wir über dampfgefüllte Trichter, stolpern über Ackerfurchen, und die Beschleunigung des Schrittes reißt uns zwingend in das Sprühen, steigert mit dem Lauf die hemmungslose Erbitterung, läßt uns den Widerstand als dreisten Hohn erscheinen, den in toller Hatz zu brechen einzig
Ziel des Augenblickes ist. Die Hamburger sind schon heran. Ich sehe, wie am Graben die Bälle der Handgranaten fliegen, wie sich Gestalten von der Erde lösen und nach hinten eilen. Ich reiße den Karabiner herunter und schieße laufend einen Rahmen leer. Die zuckenden Bänder des Stacheldrahtes zerren an meinen Beinen. Daß in diesem Augenblick der Schütze drei mit Kopfschuß fällt, das ungefüge Gewehr auf sich stürzen lassend, empfinde ich mit springender Wut als einen mir persönlich angetanen Akt der Rache. «Laß liegen», schreie ich dem Schützen zwei zu, der sofort die Sporen des Schlittens fahren läßt, so daß die Knarre polternd niedersaust. Wir springen in den Graben. Quer liegt auf der Sohle ein unförmiger brauner Körper, ich trete auf eine ausgestreckte Hand, ich breche in eine holzverschalte Höhle, Stöhnen schlägt mir entgegen, erdfahle, dumpfe Gesichter mit wirrem Haar liegen eingebettet in glitschigem Lehm, halbaufgerichtet hockt unter den Toten einer, der mir den blutenden Arm entgegenstreckt. Ich muß weiter; hinter der Brustwehr krachen dumpf die Detonationen der Handgranaten. Ich laufe wie im Rausch. Der Graben öffnet sich. Drei, vier Hamburger schlüpfen aus qualmenden Unterständen. Wir klettern über quergestürzte spanische Reiter, tauchen aus den Sappen auf, gelangen in dürftiges Unterholz, das sich zwischen Birken breitet. Ein MG tackt aus nahem Busch. Die Hamburger brechen durch die Zweige. Eine Lichtung tut sich auf, und plötzlich, unwirklich, stehen zehn, zwölf erdbraune, zerlumpte Gestalten vor uns, werfen klirrend die Gewehre weg, stoßen
die Arme hoch und kommen zögernd auf uns zu. Aber die Hamburger, mit vorgestreckten Gewehren, springen an, sie knallen blindlings in die Gruppe, kaum verweilend. Die Gruppe steht, es lösen sich aus ihr ein paar Gestalten, sinken in die Knie, fallen, einer bricht zusammen mit hohem, langgezogenem Schrei. Murawski, Schütze zwei, springt vor, sein Kolben saust in steilem Bogen, da reiße ich den Karabiner hoch und schieße auch. Ich fahre durch die letzten Stehenden der Gruppe, knacke durch das Unterholz, dem Schall des tackenden Maschinengewehrs entgegen. Mitten im Forst, geschmiegt an eine schmale Lichtung, duckt sich ein Gesinde. Von dort her kommt das Feuer. Wir hasten durch den Wald, von keinem anderen Drang erfüllt, als die Gelüste unseres Blutes zu stillen in blitzschnellem Ansprung auf das besetzte Haus. Neben mir keucht Hoffmann mit seinem Gewehr. Das Rad des Minenwerfers knarrt auf einem Waldwege. Murawski läuft zurück, unser Gewehr zu holen. Wir raffen durch den Hummelruf zusammen, was an Hamburgern in der Nähe ist. Am Waldrand werfen wir uns hin. Eine Gruppe setzt von der Flanke aus zum Sturme an. Wütend haut das MG-Feuer vom Gehöft in ihren ersten Sprung. Doch indes sie zum zweiten Sprung rüsten, indes der Gurt durch das Gewehr Hoffmanns rattert, verläßt auch schon die erste Mine grell den kurzen Lauf. Bevor die hochgespritzten Balken und Sparren wieder zur Erde kommen, wachsen drei, vier Tulpen vorm Haus, schwarze Ballen, die den wahnsinnigen Krach durch den hallenden Wald
senden. Da sehe ich schon die dunklen Punkte der Hamburger um das Gesinde wuseln. Wir lassen das Gewehr im Stich und rennen los. Der helle Tag ist da. Schon sind wir an den ersten Zäunen, da kommt einer aus dem Hofe gelaufen. «Wir haben Gefangene!» schreit er, und er schreit: «Dort im Gebüsch soll Kleinschroth liegen!» Kleinschroth war vor zwei Tagen von einer Patrouille nicht zurückgekehrt. Ich renne auf die Sträucher zu, da knackt Hoffmann durch die Büsche, und da liegt Kleinschroth. Ist das Kleinschroth? Dies blutrote Bündel da? Wie, das war ein Mensch? Auf braunem Boden ein Gemisch von Erdbrocken, Blut, Knochen, Därmen, Kleiderfetzen. Der Kopf allein, abgeschnitten, daß der Schlund gen Himmel ragt; ein dünner Faden Blut, aus dem Mund zum Kinn, getrocknet; die Augen offen, so daß nur das Weiße starrt, so liegt der Kopf. Und der Boden rund um den armen Leib zerstampft, zertrampelt, aufgewühlt — und weiß und körnig kleine, fast verwehte Häufchen zwischen Blut und Schleim — was ist das? Salz! «Gefangene, sagst du?» frage ich den Mann, «Gefangene?» Hoffmann ist schon fort. Ich rase auf das Haus zu. Da sind Gefangene, und einer hat eine blaue deutsche Husarenuniform und eine rote Schärpe um den Leib. — «Was, Deutsche?» Hoffmann schnellt auf diesen zu, «was, Deutsche?» röchelt er und springt ihn an und hämmert ihm die Faust ins Antlitz. Der aber fährt zurück, er taumelt, rafft sich hoch. Jetzt schlägt er wieder, denke ich; da ist's, als risse ihn Unnennbares zusammen, die Backen-
muskeln straffen sich und er wird bleich, so bleich, wie ich noch niemals einen Menschen sah. Zwei Leute klammern sich an Hoffmann, der rasend an den Mann zu kommen strebt und sein «Was, Deutsche?» zischt. — «Ja», sagt auf einmal der Gefangene und preßt die Worte durch die Zähne, «ja, ich bin Deutscher», sagt er, und es liegt ein unmeßbarer Haß in diesem seinem Wort, «wir sind sehr viele Deutsche drüben», keucht er, und er brüllt auf einmal los: «Wir werden niemals ruhn, bis dies verfluchte Deutschland ausgerottet ist» ... Es sind im ganzen acht Gefangene, davon sind drei Letten, zwei Tschechen, einer Pole, einer Wolgarusse, einer Ukrainer und dann der Deutsche. Der Deutsche ist aber Kriegsgefangener gewesen, in Sibirien, hatte sich den roten Truppen eingefügt und gehört nun zum Regiment Liebknecht, das zumeist aus deutschen und österreich-ungarischen Kriegsgefangenen zusammengesetzt ist. Er stammt aus der Provinz Sachsen und war früher Monteur. Nein, sagt er im kurzen Verhör, Angehörige habe er keine in Deutschland. Ja, er sei Kommunist. Er hatte den Befehl über die Besatzung des gestürmten Gesindes. Kleinschroth sei angeschossen in ihre Hände gefallen und auf seine Anordnung getötet worden. Was nun mit ihm geschehe, sei ihm gleichgültig. Hoffmann schaufelt schon in wütender Hast an Kleinschroths Grab. Die Gefangenen werden an die Mauer der Scheune geführt. Sie treten ruhig vor die Gewehre. Die Letten und die Tschechen gehen fast eilfertig an ihren Platz, sie sehen starr, finster und gequält in die Mündungen. Der Russe und der
Ukrainer, beides Bauern mit völlig zerfetzten Uniformen und verwilderten blonden Bärten, nehmen die Mütze ab, als wollten sie sich bekreuzigen. Sie lassen es aber. Der Pole zittert und fängt leise an zu weinen. Der Deutsche schiebt sich gleichgültig hin. Leutnant Kay, der sich beim Sturm zum Gehöft gefunden hatte, dreht sich plötzlich um und geht davon. Ich sehe zu Hoffmann hin, der an Kleinschroths Grab schaufelt. Ich zaudere, ob ich zu ihm gehen soll. Da kracht die Salve. Dann marschieren wir weiter. Wir kommen, durch den breiten, dichten Waldgürtel stoßend, an die Straße, wo wir uns sammeln. Dort drängen sich schon die Kolonnen. Die breite Straße ist überfüllt mit Truppen und Fahrzeugen, die alle nach vorn streben. Wir gliedern uns ein und marschieren mit. Dicht vor Thorensberg erfahren wir, daß Riga gefallen ist. Auf der Straße war die Abteilung v. Medem der baltischen Landeswehr, mit dem baltischen Stoßtrupp, Führer Leutnant Baron Hans v. Manteuffel, und der deutschen Sturmbatterie, Führer Leutnant Albert Leo Schlageter, im ersten Anhieb durchgebrochen. In wahnsinnigem Tempo war die Abteilung vormarschiert, kümmerte sich nicht um die wirren, verlorenen Haufen der Bolschewiken rechts und links der Straße, sauste im Karracho vorbei an besetzten und befestigten Stellungen, überrannte die Barrikaden, stürmte schnurgerade auf Riga zu. Hinter der Abteilung schlug das Gefecht wieder zusammen, aber die nachdrängenden deutschen Bataillone
zerschmetterten mit kurzen Stößen das brechende Gefüge der roten Front. Die Balten hetzten indes durch überraschte Massen, unbeirrt, unbezähmbar, polterten durch die ersten Straßen der Rigaer Vorstadt Thorensberg, jagten verbissen, mit röchelnden Lungen und dreck-, schweiß- und blutbekrusteten Gesichtern durch die Stadt, stießen zur Brücke vor, brachen den kurzen Widerstand mit schnell gewendeten Geschützen, besetzten den Brückenkopf, hielten wütendem Gegensturm stand, sandten eine Kolonne über die träge Düna nach Riga hinein, hielten die einzige Brücke fest in der Hand. Der Stoßtrupp erstickte aufflackernde Gegenwehr in Riga mit rasendem Ingrimm, knallte sich durch die brodelnde Stadt bis zur Zitadelle und kam fiebernd, heulend, mit letzter, angespannter Kraft eben zurecht, um die schon in die Todeskeller gepferchten Geiseln zu befreien. Am 22. Mai 1919, des Nachmittags um vier Uhr, war Riga in deutscher Hand. Leutnant v. Manteuffel, der baltische Nationalheld, fiel vor der Brücke durch Kopfschuß im Augenblick seines höchsten Triumphes. Dies erfuhren wir auf der Straße. Wir erfuhren dies und noch mehr. Denn während wir über Rigas Fall uns irre Worte der Freude in die Ohren schreien, flattern dumpfe Gerüchte über bitterbösen Kampf im Südosten, bei Bauske. Dort sollte Hauptmann v. Brandis mit seinem Korps den rechten, ungedeckten Flügel der deutschen Front nach vorne tragen. Aber gerade dort hatte der Bolschewik für diesen Tag seine Offensive angesetzt. Bei Bauske wollte die Rote Armee durchstoßen bis zur Bahn Mitau-Schaulen, der
Lebensader der deutschen Front. Dort traten die roten Regimenter an zum Sturm und stießen mitten hinein in den deutschen Aufmarsch. Brandis und seine Leute lagen vor Bauske auf freiem, ungedecktem Feld, und an der dünnen Linie brandeten unaufhörlich die Sturmwellen der Roten Armee. An den ersten Häusern der Vorstadt Thorensberg erreicht uns der Befehl. Wir werden aus dem Angriff herausgenommen und nach Südosten abgedreht. Unser Bataillon sollte über Bad Baidon, Neuguth vorstoßen bis Friedrichstadt und den Bolschewisten an der Flanke packen, um Brandis Luft zu schaffen. In aller Frühe weckte mich Leutnant Wuth. Eine Patrouille solle nach Neuguth vorfühlen, eine Gruppe Hamburger und mein Gewehr. Die Kompanie rückte auf Panjewagen, die noch in der Nacht requiriert wurden, sogleich nach. Es war drei Uhr morgens und schon taghell, als wir auf den Hof traten und die drei Panjewagen bestiegen, die dort standen. Die Gruppe der Hamburger fuhr voraus. Ich mußte noch die Munition verpacken und trabte dann hinterher. Am Aussichtsturm von Bad Baidon rief mir einer herunter, Neuguth sei wahrscheinlich schon geräumt. Man könne oben vom Turm aus die Ortschaft mit ihrer zerschossenen Kirche deutlich sehen. Wir hockten ein bißchen stumpfsinnig und nachlässig, ohne Koppel, auf unseren Karren. Der Panjegaul stockerte lustig unter seinem hohen Kumt voran. Die kleinen waldbestandenen Hügel von Bad Baldon lagen frisch und anmutig im erwachenden Tag. Es war doch schön so, in den Morgen hineinzufahren, in diese
wundervolle, friedliche Landschaft. Die Spannung der Vormarschtage hatte sich wohltuend gelöst. Alles war sehr selbstverständlich. Hinter mir, auf der Rückseite des Karrens, unterhielten sich Bestmann und Gohlke, zwei Mann meines Gewehrs, gedämpft und einschläfernd über den Krieg. Beide waren alte Soldaten, hatten den ganzen Krieg über im Westen gestanden. Bekannte Namen flogen wie von weither an mein verschlafenes Ohr. Von Douaumont sprach einer — richtig, Hauptmann v. Brandis, der jetzt dort hinten mit seinem Korps einsam im Gefecht lag und von dem die Sage ging, man sähe ihn nur in zweierlei Zuständen, entweder kämpfend oder besoffen —, der war ja einer der bekannten Stürmer von Douaumont gewesen. Ich schloß die Augen und ließ wohlig die monotonen Reden an mein Ohr plätschern. Alle die Namen, die da fielen wie plumpe Steine in einen trägen See, Flandern und Verdun, Somme und Chemin des Dames, alle diese furchtbaren, blut- und eisenhaltigen Namen, nun gleichmütig ausgesprochen von Männern, die mit ihnen ein Erleben verbanden, von dem ich mir nur eine ferne, matte Vorstellung bilden konnte, alle diese Namen standen nun beinahe losgelöst von jeder Wirklichkeit in dieser sonnenüberströmten, gedämpft flimmernden Landschaft und ließen so das Bild einer tiefen, gesättigten Ruhe desto eindringlicher erscheinen. Bestmann und Gohlke plauderten, wie um sich dunkle Schatten von der Seele zu streichen, wurden aber nach und nach immer einsilbiger, und schließlich sagte Gohlke mit einem kleinen Seufzer abschließend: «Dies hier, das ist ja gar kein Krieg.» Sie schwiegen eine Weile. Eine Lerche stieg aus dem Feld. Über einem sanften Hügelrücken war gerade
noch die Kuppe des Neuguther Kirchturmes zu sehen. «Wenn hier kein Krieg ist, warum seid ihr dann hier?» fragte ich faul über die Schulter weg. «Ach, das verstehst du nich», sagte Bestmann mit der Überlegenheit des alten Soldaten, «das is hier doch man ’n Übergang. Der Krieg is noch lange nich aus. Der Krieg geht nie zu Ende. Wenigstens wir erleben's nich.» — «Da hast du recht», betonte Gohlke, «bloß, was sollen wir in Deutschland? Nee, da passen wir nich mehr hin. Die denken, der Krieg war' aus. Ja, Scheibe, solang wir verloren haben, is der Krieg nich aus.» — «Das walte Gott», sagte Bestmann, «und jetzt wer' ich noch 'n bißchen röcheln», und lehnte seinen Kopf an einen Munitionskasten und schloß die Augen. Der andere schwieg. Träge kreisten die Räder im Sand. Vor mir zuckelten die beiden anderen Panjewägelchen. Nach einer langen Weile machten die vorne halt. Unteroffizier Ebelt von den Hamburgern kam zu mir heran und meinte, wir müßten jetzt wohl runter von den Wagen und uns ranpirschen an Neuguth. «Ach wo», knurrte ich, «da is doch nischt los. Wir werden's schon merken, wenn wir Dunst kriegen.» Ebelt lachte: «Also fahren wir weiter.» Wir fuhren weiter, ein wenig aufmerksamer als bisher. Nichts rührte sich in Neuguth. Die ersten Häuser tauchten am Wege auf. Wir trabten vergnügt drauflos. Einige Hühner flatterten über den Zaun. «He, Panje», schrie Ebelt und knallte mit der Peitsche. Aus der Tür des ersten Hauses kam ein verstrubbelter Bauer und verschwand sofort wieder, als er uns sah. Ebelt lachte und wir fuhren
weiter. Bald waren wir in der Ortschaft. Kein Mensch war zu sehen. Doch, in einem der Häuser dicht am Markt stand ein Mädchen am Fenster; Ebelt rief sie an, und sie kam auch sogleich heraus. Es war ein sehr hübsches Mädel, städtisch gekleidet, keine lettische Bauerntrampel. Wir rissen alle die Augen auf. Und das Mädel sprach deutsch! Herrgott, hatte sie eine klingende Stimme! Nein, die Bolschewiken seien weg, Gott sei Dank, gestern abend schon. Vielleicht hinten bei den Vorwerken, da könnten noch einige sein. Sie sei Flüchtling. Wohne beim Apotheker. Nein, sie ist Russin, aber der Apotheker sei Balte. Die Roten hätten schlimm gehaust im Ort. «Aber jetzt seid ihr ja da», lachte sie. Ebelt grunzte befriedigt. Wir wollten doch noch durch bis zum Vorwerk, nachsehen. Dann kämen wir zurück. «Bis dahin also —» Sie nickte und winkte uns nach, als wir weitertrabten. Wir sahen nur wenige Leute, Letten. Sie verstanden uns nicht oder wollten uns nicht verstehen. «Bolschewik nix», sagten sie. Wir glaubten ihnen und fuhren zum Vorwerk. Auch da waren keine Bolschewiken. Ebelt wollte nicht auf dem gleichen Wege zurück. Er wollte erst durch die Kastanienallee zur Kirche und da nach Rotgardisten schnüffeln. Es müsse doch von dort noch ein Weg zum Markte führen. Dicht an der Apotheke sei ja eine schmale Straße abgegangen. Er solle nur zur Kirche fahren, sagte ich hastig, ja, da müsse er wohl erst noch hin. Ich würde an der Apotheke auf ihn warten. Ebelt schien zu zaudern. Dann grinste er, nickte und bog ab. Ich wendete den Karren und fuhr zurück.
Herrgott, die Welt ist wirklich schön. Ich saß ganz vorne auf der Leiste des Karrens. Die andern hockten tief drinnen und ließen gemütlich die Beine baumeln. Da war schon die Apotheke in Sicht. Ich knatterte über das dürftige Pflaster auf das Haus zu. Da schnitt ein Knall alle Fäden durch. Aus unmittelbarer Nähe, dicht am Ohr riß es uns hoch. Der Panjegaul stieg plötzlich, raste dann mit einem Satze los. Ich flog vom Wagen, stolperte, fiel in den Dreck und war umtanzt, umringt von zerlumpten Rotgardisten, die ihre Gewehre schwangen und stehend dem davonhetzenden Wagen Schüsse nachpfefferten. Drei, vier stürzten sich auf mich, prügelten mich hoch und zerrten mich fort. Ich war gefangen. Ich wußte kaum, was geschehen war. Einer hieb mir mit einer Peitsche oder einem Stock quer übers Gesicht und fragte mich was. Ich verstand ihn nicht, ich verstand überhaupt nichts, es sauste mir nur durch das Hirn: «Ich bin gefangen, das ist unmöglich, ich bin gefangen.» Sie brüllten auf mich ein; ich wurde hin- und hergezerrt, und auf einmal stand ich an einer Mauer. Sie war weiß und die Sonne flimmerte auf ihr. «Was soll ich an der Mauer?» dachte ich, ich verstand gar nicht, was ich an der Mauer solle. Ich drehte mich um und sah in die Mündungen der Gewehre. Da wußte ich, was ich an der Mauer sollte. Die Mündungen stehen vor mir, kleine runde, schwarze Löcher. Es gibt nichts auf der Welt als diese Mündungen. Ach, Unsinn. Es gibt nichts auf der Welt außer mir. Die schwarzen Löcher aber werden größer,
immer größer, jetzt fangen sie an zu kreisen, werden runde, schwarze Scheiben. Die Scheiben aber werden rot, nein gelb, und weiß und blau und grün.Sie teilen sich plötzlich und alles fängt an, sich langsam zu drehen. Das hebt sich auf der einen Seite und darunter ist nichts und dann schwenkt die ganze Welt einfach um, mit einer einzigen großen, gütigen Gebärde. Und ich bin entsetzlich einsam. Das ist so kalt um mich. Ich bin wirklich ganz allein. Es ist ja niemals etwas gewesen außer mir, ich müßte es ja doch sehen, wenn irgend etwas außer mir jemals gewesen wäre. Ich will doch die Augen aufmachen, aber da merke ich, daß ich sie gar nicht zugemacht habe. Bloß, mein Bauch ist eine gläserne Kugel. Wenn daran getippt wird, dann ist Weltuntergang. Dann muß der Bauch ja platzen, wie eine Seifenblase. Und das ist unmöglich. Ich verstehe gar nicht, daß ich je gelebt habe. Das war ja alles Unsinn. Sicher habe ich mir das nur eingebildet, daß ich gelebt habe. Leben ist Unsinn. Und Tod gibt es natürlich nicht. Wenn es nur drinnen nicht so brüllend heiß wäre und draußen so kalt. Irgendwo muß an mir Wasser sein. Oder Eis. Ich weiß nicht. Es ist ja auch ganz gleich. Eigentlich ist es ganz schön, zu wissen, daß man ganz allein auf der Welt ist und daß es im Grunde gar keine Welt gibt. Nun weiß ich auch, welche Farbe alles hat. Lila. Einfach Lila. Es ist nur dumm, daß man gar kein Glied bewegen kann. Ich glaube, ach natürlich, ich habe ja auch gar keine Glieder. Das ist jetzt zu Ende. Was ist zu Ende? Was?... Das? ... Schüsse, Schüsse, Schüsse... Brausen in der Luft.
Auf einmal stürzt der Strom in meine Adern, packt mich, rüttelt, öffnet alle Poren. Die Hamburger sind da — da ihre Fahne! Vor mir liegt ein dunkles Häufchen, ein toter Bolschewik. Und Ebelt streicht vorbei und sagt: «Da haste noch mal Schwein gehabt!» Ich lege mich ganz sanft zu Boden. Ein kleiner Käfer, goldbraun, klettert eifrig über ulkige trockene Krümel, verschwindet in einer Ritze der weißen Mauer. Und eine kleine blaue Beere ist da. Blank ist die runde Beere, und ich sehe in ihrem winzigen Scheine die ganze Welt sich malen.
Wende Vier Wochen lang marschierten wir ziellos hin und her. Wir marschierten in der glühenden Junihitze durch die weiten Wälder, über die würzigen Heiden, auf den dunstigen Sümpfen dieses wunderlichen Landes, badeten in der Aa, in der Eckau, in der Düna, stießen von Friedrichstadt aus bis weit nach Lettgallen hinein und von Bauske aus bis weit nach Litauen. Wir befuhren mit den winzigen, immer trabenden Panjewägelchen das ganze Land, besuchten die dumpfen litauischen Dörfer, die einsamen kurländischen Gesinde, die schlicht sauberen baltischen Herrensitze, fragten und erzählten, suchten und tasteten, aber jene versprengten Rotarmisten von
Neuguth, die mich vor ihren kalten Läufen hatten, waren die letzten Bolschewiken, die wir sahen. Wir erfuhren nicht, was aus der Roten Armee geworden ist, wir erfuhren auch nicht, was indessen in Deutschland vor sich ging, aber von dem, was sich droben in Nordlivland und in Riga ereignete, davon kamen verworrene Gerüchte bis zu uns, und es war schwer genug, diesen Gerüchten zu glauben. Nach Riga aber waren wir nicht gekommen. Als die ersten Gerüchte von der unglücklichen Schlacht bei Wenden zur Truppe kamen, waren die Hamburger fast befriedigt darüber, daß den hochnäsigen Balten eins auf das Dach gegeben wurde, und vernahmen mit dem Stolze, der alten Kriegern so wohl ansteht, von dem Befehl, der das Bataillon gegen Ende des Monats Juni 1919 nach der neugebildeten Front am Jägelsee berief. Folgendes war vorgegangen: Durch den deutschen Vorstoß nach Riga war Moskau gezwungen worden, auch den gegen die weißgardistische Armee Judenitsch am Peipus-See kämpfenden Flügel der Roten Armee zurückzunehmen. Dadurch wurde die estnische Armee, die im Verbände Judenitschs focht, entlastet. Judenitsch und die Esten aber hatten die Unterstützung der Engländer. Die Unterstützung der Engländer hatte auch der frühere, durch einen Putsch des Barons Manteuffel in Libau am 16. April 1919 abgesetzte lettische Ministerpräsident Ulmanis. Die Deutschen und Balten und Pastor Needra, der deutschfreundliche lettische Ministerpräsident, hatten die Freundschaft der Engländer nicht. Nichts weniger als das. Denn England hatte Interessen im Baltikum.
Und wo England Interessen hat, da legt es Wert auf das Gleichgewicht der nicht englischen Kräfte. Durch den deutschen Sieg war dies Gleichgewicht gestört. Und Ulmanis verbündete sich mit den Esten gegen die Regierung Needra, die von den Baltikumtruppen gestützt wurde. Ulmanis fand Hilfe bei dem lettischen Obersten Semitan, der lettische Truppen in Nordlivland kommandierte. Die Esten beschuldigten die lettische Regierung Needra der Grenzverletzung beim Vormarsch der Balten auf Wenden zu. Und in Wenden wurden kleine baltische Abteilungen von Esten und Semitan-Letten entwaffnet. Die Landeswehr eilte ihren Kameraden zu Hilfe, deutsche Bataillone schlössen sich den Balten an. Ulmanis organisierte eine estnisch-lettische Armee, und diese Armee hatte englische Ausrüstung, hatte englische Waffen, englische Offiziere und englisches Geld. In der Bucht von Riga kreuzten plötzlich englische Kriegsschiffe, und englische Kommissionen saßen in Riga herum. Der «Bürgerkrieg» war da. Die Landeswehr und starke Teile der Eisernen Division, das Badische Sturmbataillon und die Abteilung Michael rückten auf Wenden zu. Sie nahmen Wenden, der Gegner wich aus. Er wich hier aus und dort, er war nirgends zu fassen, niemand wußte, wie stark er war, wo er stand, wer er war. Und auf einmal war Wenden eingezäunt. Auf einmal war Artillerie da, links, rechts, vorn und hinten, auf einmal krachte es zwischen sorglos ziehende deutsche Kolonnen, auf einmal war das Badische Sturmbataillon umzingelt, überrascht und überfallen von
Truppen, die deutsche Stahlhelme trugen und deutsch sprachen und aus Deutschland stammten und doch keine Deutschen waren und auch keine Letten oder Esten oder Engländer, sondern Soldaten des Oberleutnants Goldfeld, der mit seiner Truppe im Baltikum meuterte und dann zu den Letten übertrat. Auf einmal war die Landeswehr angegriffen, stand in tollem Kreuzfeuer auf offenem Feld, verlor ihre Kolonnen, überstand mühsam eine Panik und mußte zurück. An der Livländischen Aa, an den Seen vor den Toren der Stadt Riga bildete sich die neue deutsche Front, und an dieser Front wurden alle verfügbaren Bataillone eingesetzt. — Leutnant Wuth wetzte seinen Zahn und sagte: «Herrschaften, mal herhören: Wir sollen jetzt an die Jägelfront. Da ist dicke Luft. Der Este hat angegriffen. Wie er dazu kommt, weiß ich nicht. Wie kommt Spinat aufs Dach? Wahrscheinlich steckt der Engländer dahinter. Jedenfalls, die deutsche Regierung hat verboten — Maulhalten dahinten —, hat verboten, daß deutsche Truppen Riga betreten. Darum sind wir jetzt lettische Staatsbürger. Daher der Name Bürgerkrieg. — Ebelt, quasseln Sie nicht dauernd dazwischen; wenn Sie was zu melden haben, dann melden Sie das in Berlin. — Also, wir sind jetzt laut höherem Befehl lettische Staatsbürger. Fragen wird euch wohl keiner danach. Beim Marsch durch Riga müssen wir einen tadellosen Eindruck schinden. Gerubelt wird nicht. Vielmehr bitte ich mir Disziplin aus. Es werden nur hochanständige Lieder gesungen. Mit Gruppen rechts schwenkt marsch. Ab dafür.» Die Disziplin der Hamburger war untadelig. Sie
war nur von besonderer Art. Denn es geschah nichts weiter, außer, daß sie auf ihrem Marsch durch die spröde Stadt das schöne Lied sangen von dem Seemann, der im Puff erwacht, wobei ich nur die Hoffnung hegte, daß die baltischen Mädchen in hellen Kleidern, die uns am Alexander-Boulevard zuwinkten, den rauhen Text des Liedes nicht verstanden. Am Aa-Übergang zwischen den Seen bezogen wir eine notdürftig vorbereitete Stellung. Zurückflutende Abteilungen riefen uns zu, die Esten drängten mit allen Kräften nach. Wir gruben uns ein, besetzten Wald und Uferrand und befestigten die zerschossene Zuckerfabrik, so gut es in der Dunkelheit ging. Am nächsten Morgen schon, in aller Frühe, waren die Esten da. Ein leichter Regen fusselte. Ich lag in meiner Mulde und hatte die Zeltbahn über mich gedeckt. Bestmann hatte Wache. Wütendes Krachen weckte mich. Ich fuhr hoch und steckte den Kopf über die Deckung. Sofort spritzte MG-Feuer in den Sand. Wir legten uns platt in die Mulde, und Bestmann begann ruhig, sich tiefer einzugraben. Vier bösartig krachende Einschläge dreißig Meter vor uns im feuchten Wiesenhang zur Aa überschütteten uns mit klatschenden Brocken und surrenden Splittern, ohne vorherige Ankündigung durch das Gejaule der Flugbahn. «Was ist denn das?» fragte ich. «Ratscher», sagte Bestmann lakonisch. Ich hob vorsichtig die Augen über die Deckung. Schon schleuderte es mich zurück. Hinter uns barst es viermal. Man hörte Abschuß und Einschlag fast gleichzeitig. «Die nächste Salve sitzt!» sagte Bestmann und schmiegte sich dicht an die Deckung. Das fing ja lieblich an, dachte ich,
und plötzlich hatte ich eine rasende Angst. Die nächste Salve... dachte ich und preßte mich bebend an den Boden. Da... «Zu weit», stellte Gohlke fest, aber etwas pfiff und flitzte dicht vor meinem Kopf glupschend in den Boden, und es war, als ob eine gespenstische Riesenhand mir einen Ballen gepreßter Luft ins Kreuz geschmissen hätte. Ich war hier zum ersten Male in Granatfeuer. Also, so war das? Da, schon wieder... Mein Gott! «Die müssen da, hinter der Waldecke, stehen», sagte Bestmann und lugte behutsam hinüber. «Das is man bloß eine Batterie.» Dies Wort beruhigte mich etwas, aber ich hatte das unklare Empfinden, daß ich jetzt vor den alten Frontsoldaten meines Gewehres irgendwie einen besonderen Mut zeigen müßte. Ich hob also den Kopf und sagte: «Die können ja nischt» — «Kopp weg, Mensch», brüllte Bestmann, «biste denn total verrückt? Meinste, wir wollten allen Dunst abkriegen?» Und dies war sein letztes Wort. Ja, denn plötzlich tat sich die Erde auf, sie riß vor uns auseinander mit einem brutalen Ruck, der mich beiseiteschleuderte, die Stichflamme der Sprengung krachte betäubend hoch, Eisen, Knall und Geheul und Platzen aller Adern, ein Hammerschlag aus zerflatterndem Himmel, stinkender Qualm, Stein, Stahl und Glut. Mein Kopf hieb in den Boden, und alles war schwarz und rot. Jemand rüttelte mich. Doch schienen alle meine Knochen aus den Gelenken gesprungen. Ich hob den dumpfen Kopf aus gepreßter Schulter und betastete mich. Die Erde vor mir war überzogen mit einem sonderbaren, grünlichen Schimmer, das Maschinenge-
wehr lag umgestürzt und mit Dreck beworfen, der ganze Boden war zerwühlt. Da bewegte sich einer, und einer lag auf dem Rücken. Ich kroch hin. Gohlke fingerte an dem Liegenden herum, halb aufgerichtet. Da lag Bestmann. Aus seiner Brust quoll es rot, er hob schwach die Hand. Das beschmutzte Gesicht war grünlich bleich, und über die blauen, schmalen Lippen drängte sich blasiger, roter Schaum. Die Hand fiel wieder zurück, und ich legte müde den Kopf auf die Erde und schämte mich sogleich, aber Gohlke versuchte schweigend das Gewehr wieder aufzurichten, und ich mußte ihm dabei wohl helfen. Nun aber kam von hinten eine Kette dumpfer Explosionen. Es fauchte und gurgelte über uns, ließ die Luft wütend erdröhnen und hieb dann vorne an der Waldecke ein. Sechs Tulpen stiegen mit dumpfem Ballern hoch, vermischten ihren Qualm zu einer riesigen dunklen Wolke, die langsam und schwer sich am Boden rollend hinzog. Gohlke schrie nach dem Sanitäter. Rechts und links begannen unsere Maschinengewehre zu rattern, und unsere Artillerie sandte nun Schuß auf Schuß in den gegenüberliegenden Wald. Also Bestmann war tot? Ich sah scheu zu ihm hin. Der Regen war allmählich bis auf die Haut gedrungen, die Kleider hingen wie nasse Lappen um meinen Körper. Doch auch meine Haut schien mir ekelerregend faltig und weich, und sicherlich war es nur die Feuchtigkeit, die mir plötzlich die Zähne klappern ließ. Gohlke deckte eine Zeltbahn über den Toten, und ich legte mich hinter das Gewehr. Schnell duckte ich den Kopf, als drüben wieder Abschüsse
erdröhnten, doch der Este tastete nun nach unserer Batterie, und die Geschosse jaulten über uns hinweg. Wir lagen den ganzen Tag so. Ab und zu bekamen wir Artilleriefeuer, und zuweilen spritzte uns eine widerliche MG-Garbe um die Ohren. Von den Esten war kaum etwas zu sehen; nur einmal sah ich durchs Zielfernrohr am jenseitigen Waldrand hinter schmalen Erdstrichen tellerförmige Helme. Gegen Abend wurde auf beiden Seiten das Feuer stärker. Die Zuckerfabrik ging in Flammen auf und erleuchtete das Vorfeld. Wir arbeiteten emsig am Ausbau unserer MG-Nester. Die Essenholer kamen, schlichen von Nest zu Nest und erzählten, die Esten hätten die Rigaer Wasserwerke gestürmt und das Wasser für die Stadt abgesperrt. Es fing wieder an zu regnen. Unteroffizier Schmitz kam zu mir herüber; er war Bergarbeiter aus dem Ruhrgebiet, wir rauchten und unterhielten uns. Nach einer Weile kam auch Leutnant Kay. Er sagte, daß die Kompanie bis jetzt sieben Tote habe. In Riga befürchte man Unruhen. Wir lägen jetzt an der exponiertesten Stelle der Front, zwischen zwei Seen, an der Brücke, die den Esten den direkten Zugang zur Stadt am leichtesten ermögliche. Hinter uns sei nichts an Reserven, nur Artillerie. Wir kauerten dreckbespritzt und durchfeuchtet in unserem Loch und stierten nach vorn. Leutnant Kay sagte: «Da liegen wir nun, in einer dünnen Linie, in dieser verfluchten Ecke der Welt zusammengepfercht. Das ist nun das letzte Stückchen der deutschen Front, die einmal so lang war, daß sie ganz Mitteleuropa umzäunte und noch ein bißchen
mehr, die einmal am Kanal in Flandern begann und sich bis zur Schweiz hinzog, und von der Schweiz über die Alpen ging, nach Oberitalien, und von dort über den Karst bis Griechenland und von da zum Schwarzen Meer bis zur Krim, bis zum Kaukasus und quer durch Rußland bis Reval hinauf. Nicht eingerechnet die versprengten Fronten in allen Erdteilen, und wir hier sind der Rest.» Er schwieg, und wir schwiegen. Leutnant Kay sagte: «Dahinten liegt nun Riga. Eine deutsche Stadt immerhin, von Deutschen gegründet und aufgebaut und bewohnt. Schade, daß Sie nicht das Schwarzhäupterhaus gesehen haben und die Peterskirche. Die Brücke über die Düna heißt Lübeckbrücke und ist gebaut von Pionieren der 8. Armee. Immerhin also eine deutsche Stadt, gehörte aber nie zum Deutschen Reich. Jetzt gehört sie zum Deutschen Reich? Nein, jetzt ist sie die Hauptstadt von Lettland, und wir sind gefälligst lettische Staatsbürger. Das heißt, eigentlich sind wir deutsche Soldaten, Soldaten der Deutschen Republik. Das heißt, eigentlich gibt es das noch gar nicht, Deutsche Republik; die sind ja noch nicht fertig in Weimar, und der Friedensvertrag ist auch noch nicht fertig. Das heißt, eigentlich ist er wohl schon fertig. In den Grundzügen war er wohl schon 1914 fertig. Bloß wir haben nichts zu sagen dabei. Und die Deutsche Republik wird also auch so aussehen, daß jedermann merken wird, wie wenig wir zu sagen hatten dabei. Jedenfalls, wir liegen hier, das letzte Stückchen deutscher Front, das die Welt zu sehen das Vergnügen hätte, wenn sie zu sehen ein Vergnügen wäre. Wir sind deutsche Soldaten, die nominell keine deutschen Soldaten sind, und schützen eine deutsche Stadt, die
nominell keine deutsche Stadt ist. Und drüben sind also Letten und Esten und Engländer und Bolschewiken — nebenbei gesagt, die Bolschewiken sind mir noch die liebsten von der ganzen Bande —, und weiter im Süden, da sind also die Polen und Tschechen, und dann weiter — ach, ihr wißt ja wohl Bescheid. In Weimar beraten sie grade über Zündholzsteuer oder ob sie künftig schwarz-rot-gold flaggen wollen oder die alten ruhmreichen Farben, wie ich mir sagen ließ, genau weiß ich's nicht, ist ja auch herzlich wurscht. Tja, und wir halten also die Stellung. Lange werden wir sie wohl nicht halten können. Haben Sie 'ne Zigarette für mich, Fähnrich? Danke.» Leutnant Kay putzte sein Monokel, das vom dünnen Regen dicht besprüht war. Schmitz rauchte unerschütterlich seine Pfeife und sagte: «Hier kommen sie nicht durch.» Gohlke schoß plötzlich eine Leuchtkugel ab. Wir lugten starr über den Grabenrand. Die Senke lag in magischem, gespenstisch zuckendem Schein, in dem sich jeder Schatten dauernd veränderte. Anscheinend hatte die Batterie hinten die Leuchtkugel als Signal aufgefaßt, denn nach wenigen Sekunden tönten sechs Abschüsse; die Geschosse fauchten über unsere Köpfe und schlugen in prompter Folge drüben im Walde ein. Sofort knatterte MG-Feuer. Gewehr Hoffmann antwortete. Darauf feuerten hinter den Ruinen der Fabrik die Minenwerfer. Das Feuer von drüben wurde lebhafter, wieder schoß unsere Batterie. Aber nun antworteten auch die Ratscher. Der Lärm ihrer Abschüsse kam jedoch von einer anderen Stelle als vorher. Die ganze Front wurde lebhaft. Überall gingen Leuchtkugeln hoch. Plötzlich zerriß ein ohrenbe-
täubender Krach das Gebelfer der kleinen Kaliber, dann stieg es hinter uns orgelnd und heulend in die Luft, wälzte sich mit infernalischem Gekreisch über unsere Köpfe nach vorn, daß wir uns unwillkürlich duckten unter der Wucht einer schrecklichen teuflischen Macht, und dann hieb es drüben ein, daß der Boden rollte und zuckte und wie gepeinigt stöhnte. Beim Esten krachte, splitterte und hallte es; der Wald schien sekundenlang zu wanken und trug den mächtigen Schlag von Baum zu Baum in die Weite. Dann war völlige Stille, als ob unser Einundzwanziger, unwillig über die Störung seiner Nachtruhe, einen dicken, kategorischen Punkt gesetzt hätte hinter diese nächtliche Feuerwerkerei. Schmitz sog an seiner Pfeile und sagte: «Hier kommen sie nicht durch. Und ich will Ihnen mal was sagen, Herr Leutnant, selbst wenn wir hier die Front aufgeben müßten, was ich nicht glaube, oder wenn wir die Stadt verlassen müßten, was ich auch nicht glaube, dann sind wir ja immer noch da. Wir sind immer noch da, Herr Leutnant, und wir werden auch immer da sein. Das ist schließlich ganz piepe, wo wir stehen. Es ist ja auch möglich, daß wir mal aus Kurland rausgehen müssen, ich glaub's nicht, aber möglich ist es, und es ist auch möglich, daß mal die Kompanie Hamburg auseinandergeht. Deswegen sind wir immer noch da. Da können sie in Paris so viel beraten, wie sie wollen, und was sie in Weimar betratschen, das soll uns noch weniger angehn. Jedenfalls, wir sind noch da, wir alle, und solange wir da sind, geben wir auch keine Ruh. Dann wird eben anderswo weitergekämpft. Es sieht nicht so aus, als
ob wir nicht noch gebraucht würden in den nächsten Jahren. Und das sage ich Ihnen, Herr Leutnant, wenn wir hier nischt erreichen, oder wir kommen nach Deutschland und erreichen auch da nischt, und es soll immer so weitergehn und die Herrschaften, die vor dem Krieg dicke Bäuche gehabt haben auf unsere Kosten und im Krieg dicke Bäuche auf Kosten von unserm Blut und nach dem Krieg dicke Bäuche so gut wie vorher — erinnern Sie sich, Herr Leutnant, in Weimar? — wenn also die Burschuasie und die großen Herrn weiter glauben, gute Geschäfte machen zu können mit unserer Haut — und die scheren sich verdammt nich um Deutschland, nee, tun sie nich —, denn weiß ich für mein Teil, was ich tue, und ich glaube, Sie, Herr Leutnant, und der Fähnrich wissen das auch.» — «Schmitz, Sie sind 'n Spartakist», sagte Leutnant Kay. Und Schmitz sagte gleichmütig: «Auch das, wenn's sein muß.» Ich drehte mich ein bißchen erschreckt um, aber die anderen lagen in ihren Löchern und pennten. Nur Gohlke stand Wache, und richtig, er wandte sich um und sagte zu Kay: «Jedenfalls, für Ruhe und Ordnung nich in die Lamäng»; grinste und schaute wieder nach vorn. Kay sagte bedrückt: «Ich kann das ja verstehn. Aber so herum ist uns auch nicht geholfen. Sie sind ja Bergarbeiter, Schmitz, nun, ich war mal Student. Warum bin ich denn hier? Ich könnte ja auch an meine Karriere denken und an mein Weiterkommen und an mein Wohlergehn. Warum zum Teufel sitze ich denn hier? Weil mir das alles wurscht ist, weil es mich geradeheraus ankotzt, weil ich fühle, in drei
Deibels Namen, daß das hier wichtiger ist als Paragraphen rausknobeln und Ehescheidungen einleiten und Leute mahnen, die ihre Zahnarztrechnungen nicht blechen können. Weil ich weiß, Himmel, Arsch und Wolkenbruch, daß die eigentliche Entscheidung des Krieges noch nicht gefallen ist, noch nicht gefallen sein kann, und weil ich weiß, daß ich nicht schlechter sein darf als die viertausend Gefallenen meines früheren Regiments, und weil ich weiß — ach, Kinder, gar nischt weiß ich, bloß, daß wir eben mit reingebuttert werden müssen, und daß das unser Schicksal ist, und daß ich bereit bin, es zu erfüllen.» — «Ja, hops gehn wir woll bei der Geschichte», sagte Schmitz, und dann schwiegen wir. — Wir lagen vier Tage in dieser Stellung am Jägelsee. In diesen vier Tagen wurden wir heftig beschossen, von Tag zu Tag mehr. Der Wald vor uns schien bis an den Rand gefüllt mit Truppen; wir stellten nach und nach zwölf Batterien fest, die zu uns herüberfunkten. Wir hatten einen vortrefflichen MG-Stand für uns gebaut, aber oft mußten wir wieder zum Spaten greifen und die Schäden ausbessern, die das Feuer riß. Die Essenholer kamen nur nachts nach vorn, und die Kompanie hatte in diesen vier Tagen zwölf Tote. Der Abhang zum Flüßchen herunter war gespickt mit Trichtern, und morgens blühten da die seltsamen Stauden, die das unablässige Feuer schuf. Doch auch der Wald jenseits der Niederung wurde langsam zerfledert. Manchmal mischten sich in die krachenden Einschläge sonderbar hohle und blaffe Explosionen, dann schrie gewöhnlich einer: «Gas —»; aber es war ganz unnötig, daß so geschrien wurde, denn daß dies Gas sei, sahen wir, und Gasmasken hatten wir nicht; wir tauchten die
Taschentücher in die Wasserkästen und banden sie vor Mund und Nase. Am Abend des vierten Tages wurden wir abgelöst durch eine Kompanie, die aus den Resten der Abteilung Michael zusammengestellt war. Doch kamen wir zur Ruhe in einen Wald, der nur wenige hundert Meter hinter unserer eben verlassenen Stellung lag. Wir hörten, genau so wie ganz vorn, wie sich das Feuer immer mehr steigerte, bis zu einer Wut, wie wir es bislang nicht kannten. So lagen wir die ganze Nacht hindurch einsatzbereit. Leutnant Wuth erzählte uns unterdessen, was sich in Riga ereignet hatte. Zwei Tage vorher hatten sich plötzlich in den lettischen Vorstädten die Letten bewaffnet. Patrouillen der regierungstreuen BallodLetten, nach ihrem Führer, Oberst Ballod, genannt, durchzogen eifrig die unruhig gewordene Stadt. Am Nachmittage fiel in der Gertrudenstraße ein Schuß aus der dortigen lettischen Wache und tötete einen deutschen Soldaten der Polizeikompanie. Dieser Schuß war wie ein Signal zum Aufstand. Sofort brodelte in der ganzen, von deutschen Truppen fast entblößten Stadt der Aufstand los. An jeder Straßenecke krachte es; die Ballod-Letten machten mit dem Mob der Vorstädte gemeinsame Sache; Läden wurden geplündert, Balten erschlagen, die deutschen Patrouillen beschossen. Die alten Rufe «Straße frei» und «Fenster zu» machten hier, wie seinerzeit im Deutschland der Revolutionsunruhen, die Sache wichtig, und die schnell zusammengetrommelten deutschen Trupps säuberten mit einiger Übung die Quartiere der Aufständischen. Als die Panzerautos durch die Straßen rasten und Leuchtkugeln in den lettischen Wachlokalen Feuer
zündeten, erklärten die Ballod-Letten freundlich, das Ganze sei nur ein Mißverständnis. Doch wurde der Aufstand unter der entschlossenen Drohung der deutschen Gewehre erstickt. Zwei Tage später aber hieben schwere Geschosse in die geprüfte Stadt. Die Esten warfen in gleichmäßigen Abständen die Lagen ihrer Fernbatterien nach Riga hinein. Zwar konnten unsere Einundzwanziger die feindlichen Geschütze zeitweilig niederkämpfen, doch wurde die Stadt von Unruhe gepackt, einer Unruhe, die sich zur Panik steigerte, als plötzlich auch die Dünabrücke unter schwerem Feuer lag. Da zeigte es sich, daß das Feuer von See her kam. Es zeigte sich, daß englische Kriegsschiffe Riga beschossen. Hatte die lettische Regierung Needra England den Krieg erklärt? Hatte die deutsche Regierung die Feindseligkeiten wieder aufgenommen? Hatten deutsche oder lettische oder baltische Fischerboote vielleicht versucht, die englische Flotte zu kapern? Nichts von alledem. England hatte nur Interessen und verstand es, sie zu verfechten. An vielen Stellen der offenen Stadt loderten Brände. Die Wasserwerke waren in estnischem Besitz; es konnte nicht gelöscht werden. Die Beschießung der Stadt währte die Nacht hindurch. An der Front ebbte das Feuer nachts ab. Wir konnten deutlich den Donner der Einschläge in Riga hören und sahen den roten Feuerschein. Vor uns lag der Este, in unserem Rücken eine beschossene, aufrührerische Stadt; die Dünabrücke, unsere einzige Rückzugsader, lag unter englischem Beschüß. «Übrigens», sagte Leutnant Wuth, «daß ich's nicht vergesse, die deutsche Regierung hat die Baltikumtruppen aufgefordert, sofort nach Deutschland
zurückzukehren, widrigenfalls — ja, weiß der Teufel, ich glaube Verlust der Staatsangehörigkeit, Sperren der Löhnung und der Grenzen und Gefängnisstrafen glaub' ich, wer für die Baltikumer in Wort oder Schrift wirbt. Hat vielleicht einer Lust, nach Deutschland zurückzugehen?» — «Muß es gleich sein?» fragte eine Stimme aus der Dunkelheit. Im Morgengrauen wurde es an der Front sehr unruhig. Unablässig blubberte es; das Feuer schlug in den Wald, bis zu uns. Wir lagen übernächtig und fröstelnd unter den Bäumen und lauschten nach vorn. Leutnant Wuth setzte sein Barett auf. Das Feuer steigerte sich. Wir preßten uns an den Boden, wenn die Lagen dicht vor uns in die Erde hieben, ganze Bäume splitternd mit sich reißend. Ich lag mit meinem Gewehr am rechten Flügel der Kompanie. Leutnant Kay mit einer Gruppe Hamburger lag neben mir. Nach zweieinhalbstündigem Beschuß war plötzlich Stille. Leutnant Kay sagte laut: «Das sind Anfänger. Von Sperrfeuer, Feuerwalze und ähnlichen Scherzen haben die noch nischt gehört.» Einige lachten. Wir wußten, daß sie jetzt angriffen vorn. Auch unsere Artillerie schwieg. Aber auf einmal peitschten Schüsse durch den Wald. «Liegenbleiben!» schrie Wuth. An der Straße, halblinks vor uns, war wirrer Lärm. «Sie kommen, sie kommen ...» — «Ruhe, liegenbleiben!» Wuth stand plötzlich neben mir. «Fähnrich, sobald wir vorgehen, sausen Sie mit Ihrer Knarre halbrechts, bis zu der Waldnase am Fluß, und richten das Gewehr auf die Brücke ein, verstanden! Über die Brücke müssen die Burschen ja doch
zurück!» Einzelne Versprengte eilten zurück. «Alles in Bruch, alles in Bruch», schrie einer. Leutnant Wuth hob den Karabiner und stakte mit langen Beinen auf die Straße zu. Die Hamburger erhoben sich bedächtig, murmelten «Hummel, Hummel» und verschwanden in den Büschen. Ich riß die Knarre hoch, und wir stolperten, vier Mann, quer durch den Wald, auf die bezeichnete Stelle zu. Links war tolles Gebrüll und Geknatter aus vielen Gewehren. Wir eilten keuchend vor. Der Wald öffnete sich, da lag die Stellung. Wir tigerten gebückt zur Waldnase, erreichten sie, ohne gesehen zu werden, und vertarnten uns im Gebüsch. Die Brücke lag nun scharf links von uns und konnte in ihrer ganzen Länge bestrichen werden. Ich richtete das Gewehr ein, zog alle Hebel fest, legte die ganze Munition parat, und dann warteten wir. Auf der Brücke und dem Stückchen Straße, das in unserem Schußbereich lag, war nun kein Mensch zu sehen. Wir horchten auf den Gefechtslärm an der Straße, im Wald. Ganz wohl war uns nicht. Wie, wenn es den Hamburgern nicht gelang, die Esten zurückzudrängen? Gohlke schien dasselbe gedacht zu haben, denn er sagte: «Helm ab zum Gebet.» — «Ist das immer noch kein Krieg?» fragte ich ihn. — «Noch nicht», meinte er, «aber es kann noch einer werden.» — «Danke», sagte ein dritter, «so viel Zunder wie heute haben wir in Rußland auch nur selten gehabt.» Wir hörten «Hummel, Hummel» und «Slah doot.» Gedämpft klang es herüber, vom Walde aufgefangen, und schien voll einer dumpfen und gefährlichen Wut. Kam es nicht näher? Gohlke, kommt es nicht näher?
Verdammt, es kommt näher! Da, da kamen sie! Erst einzelne, dann immer mehr; der Waldrand bewegte sich von den Zurückhastenden, an der Straße kamen sie in dicken Klumpen. Nun ratterten die Maschinengewehre im Walde, an der Straße war Tumult, deutlich sahen wir Durcheinanderwuseln, Sichhinschmeißen, Wiederaufspringen, Zurückrennen. Nun kamen wirre Haufen. Ich hockte mich mit klammen, flatternden Händen an mein Gewehr. In uns raste die Spannung des Jägers; ha, da hatten wir sie endlich vorm Gewehr, und wie hatten wir sie. Ruhe, Ruhe, Warten, das sind noch nicht genug. Immer noch nicht genug. Abwarten, abwarten, jetzt sind sie an der Brücke. Teufel, die ganze Straße wimmelte. Jetzt sind es genug! Ich drückte auf den Hebel. Das Gewehr bebte zwischen meinen Knien wie ein Tier. Auf der Brücke purzelten sie, fielen sie, platschten ins Wasser. Dicke, geballte Haufen spritzten auseinander, fielen zusammen, wurden von hinten gedrängt. Ja, sie mußten durch, sie mußten alle durch; da stand die Garbe mit Hebeln fest, und das Wasser kochte im Lauf. War es nicht, als spürte ich an den zuckenden Metallteilen des Gewehrs, wie das Feuer in warme, lebendige Menschenleiber schlug? Satanische Lust, wie, bin ich nicht eins mit dem Gewehr? Bin ich nicht Maschine — kaltes Metall? Hinein, hinein in die wirren Haufen; hier ist ein Tor errichtet, wer das passiert, dem wurde Gnade. Wann bot sich je einem Gewehre solch ein Ziel? Und dann war der Gurt alle, und ein neuer flog in den Zuführer, doch schoß Gohlke jetzt, und ich lag erschöpft und fröstelnd am Boden und sah nicht
einmal mehr auf. — Später lagen wir in der Stellung. Die Hamburger kamen nicht gleich, sie hatten erst Beute gemacht im Wald. Fünfzehn Gefangene wurden eingebracht; vier davon waren Engländer und drei Letten. Zwei Tote hatten die Hamburger, — wieviel die Esten hatten, machte sich niemand die Mühe zu zählen. Allein an der Brücke lagen so viel, daß man den weißen Staub der Straße kaum sehen konnte. Und von der estnischen Front kam den ganzen Tag nicht ein Schuß. Ja, die ganze Front schien erstarrt, und wir wunderten uns, daß niemand mehr schoß. Wir wunderten uns nicht mehr, als Leutnant Kay kam und sagte, es wäre Waffenstillstand. Die Kompanie war die einzige, die noch vorne lag. Der Waffenstillstand aber lautete so: Die Deutschen mußten zurück bis zur Olaistellung. Die Esten mußten zurück bis zur estnisch-lettischen Grenze. Die Ulmanis-Letten besetzten Riga, die Stadt; Pastor Needra wurde unter die Anklage des Hochverrats gestellt, und England hatte alles erreicht, was es wollte. Und wir marschierten zurück. Wir marschierten durch die Stadt, als letzte deutsche Kompanie, und die Hamburger sangen das Seeräuberlied.
Meuterei Wahrscheinlich war Olai vor dem Kriege ein Komplex
von nicht allzu weit verstreuten Gesinden gewesen, vielleicht vor mehreren Jahrhunderten eine Grenzstation. Denn der auf der Karte mit «Olai» bezeichnete Punkt liegt an der Misse, einem kleinen, im Sommer ausgetrockneten Flüßchen, das sich zwischen dem Mitauer Kronforst und dem Tirulsumpf dahinschlängelt, und auf der Brücke über der schnurgeraden Straße zwischen Mitau und Riga steht ein plumper Obelisk mit den Wappen der Herzogtümer Kurland und Livland. Aber sicherlich hatte dieser Punkt Olai keine Bedeutung bis zu jenem Tage, da er auf mancher deutschen und russischen Generalstabskarte ein Fähnchen zum Schmuck erhielt. Denn hier schnitt die deutsche Stellung die Straße, genau die Entfernung zwischen den Hauptstädten beider Ostseeprovinzen halbierend, und so war Olai bis zum Jahre 1917, bis der deutsche Vormarsch begann, wieder ein Grenzort geworden, ohne daß freilich von dem Orte selber viel übrigblieb. Und nun, zwei Jahre später, nisteten sich in die verlassene Stellung wieder deutsche Soldaten ein und starrten über das Vorfeld nach Riga hin, nach der Stadt, die 22 Kilometer weit hinter dem ewigen Dunst des Tirulsumpfes lag. Wieder zog sich hier eine Grenze, an der Brücke standen Posten und fragten nach dem Paß jedes Vorüberwandernden, und 6 Kilometer weiter nach Riga zu, dicht vor der Ortschaft Katherinenhof, war die lettische Stellung, und dies war früher, bis zum Jahre 1917, eben die russische Linie gewesen. Dazwischen breitete sich der Sumpf, eine weite, herbe Fläche mit wenigen zerzausten Kusseln und vielen Gräben und Schwärmen
von Moskitos der unangenehmsten Art. Parallel der Straße, sie bei ungünstigen Bodenverhältnissen manchmal schneidend und auf die andere Seite wechselnd, lief der Bahndamm. Die Unterstände waren noch gut erhalten, stabil gebaut, mit gehörigen Stämmen, und großen, nicht einmal niedrigen Räumen. Aber sonderlich bombensicher waren die Unterstände nicht angelegt, auch die Gräben schienen vielmehr mit der Liebe und Bedachtsamkeit gebaut zu sein, mit der gute Bürger unter primitiven Verhältnissen etwa an die Schaffung eines gemütlichen Heimes zu gehen pflegen. Diese Stelle der Front bis zum Jahre 17 kann nicht atemraubend aufregend gewesen sein. Nur spärlich lagen Gräber am Waldrand, hübsch geschmückt mit nun verwittertem Birkenholz. In den Unterständen waren noch zwischen wucherndem Gras die Bettgestelle aus Drahtgeflecht sichtbar und gut zu benutzen. Durch den unheimlich dichten und wirren Wald mit sumpfigem Boden gingen Knüppeldämme; unversehens trat der Fuß auf verrostete Konservendosen, auf vergessene Ausrüstungsgegenstände; manchmal aber fanden wir auch noch die Reste von den Leichen der im Mai gefallenen Bolschewiken. Hier hausten die Hamburger drei Monate lang, die Monate Juli, August und September des Jahres 1919. Sie schoben Wache, sie lagen in den stabilen Unterständen, sie jagten Flöhe und zündeten Abend für Abend riesige Holzstöße an, um die Mücken zu verjagen und um am Feuer zu zechen, zu singen und zu spielen. Sie bekamen nur selten Urlaub nach Mitau, weil sie den Urlaub nur selten einreichten. Sie
strichen durch den Wald, besuchten die Nachbarkompanien und machten ab und an eine streng verbotene Patrouille ins Vorgelände, um die lettischen Posten mit mannigfachen und seltsamen Geräuschen um ihren Schlaf zu bringen. Wenn die lettischen Posten schossen, dann war dies ein schleunigst nach Mitau gemeldeter flagranter Bruch des Waffenstillstandes und konnte natürlich nichts anderes bedeuten als die Vorbereitung auf einen verbrecherischen, heimtückischen und meuchlerischen Überfall. Leutnant Wuth hatte sich in einem winzigen Blockhäuschen einquartiert, in dem früher ein Herr vom Stabe des rheinischen Jägerbataillons gehaust haben mochte. Es mußte dies ein sehr patriotischer Herr gewesen sein. Denn über dem Eingang der Hütte hing ein hölzernes, nun etwas verwittertes Schild mit der eindringlichen Aufforderung: «Zeichnet Kriegsanleihe!» Die drängende Gewalt, die uns in dies Land getrieben, in diesen Krieg, in diese fernen Striche, über deren nun erstarrten Schlachtfeldern nur noch verlorene Schüsse hallten, glühte von Anbeginn in uns, da wir noch unter strahlenden Gesetzen standen, da wir noch gebunden waren an die Werte, die uns heilig dünkten, die in gehegter Tradition den Weg bestimmten, da wir noch glaubten und im Bewußtsein dieses Glaubens eines strengen Glückes sicher waren. Wir kannten keine Probleme. Die Welt schien einfach und lag offen vor uns hingebreitet, unsere Väter hatten an ihr gearbeitet und geformt und ihr stolzes Genüge in ihr gefunden. Ein reiches Erbe sollten wir antreten,
hineinwachsen in diese festgefügte Form und weiterführen, was uns zu treuen Händen übergeben war. Wir hatten gelernt, unsere Pflicht zu tun. Wir hatten gelernt, unser Recht zu achten. Wir scheuten keine Probe, und das Geschlecht, das in den rauschenden Tagen des Jahres 1914 in den Krieg zog, glaubte in den kommenden Gewittern die reinigende Kraft herandämmern zu sehen, ein geheiligtes Schicksal aus grauen Wolken, die sorgende Weisheit geschichtlicher Bestimmung, gesandt, uns unseres inneren Wertes, der unwandelbaren Substanz des Deutschen ganz bewußt zu werden. Da war kaum ein Geheimnis in unseren Siegen, da war alles Rausch, Glanz und Heldenmut, und unseren Fahnenwogen folgte in breiten, unbezwinglichen Wellen das ganze Volk. Und auf einmal war dies alles nicht mehr wahr. Auf einmal pochten dunkle, geheime Geister an die Mauern des glänzenden Reiches, und da klang es an manchen Stellen hohl, und da waren manche Stellen, da fiel die täuschende Tünche ab, und an manchen Stellen brach der mürbe Stein. Die Fronten erstarrten, sie versanken in Dreck, Schlamm und Feuer, ein gespenstischer Finger zog blutige Linien rund um das Reich. Der Krieg, den wir zu führen gedachten, führte uns. Er wuchs vor uns auf, aus den tiefsten Spalten der Erde kommend, wie ein Nebel, wie ein graues Gespenst, und rüttelte an den waffenstarrenden Bastionen, er packte uns plötzlich mit glühender Faust und würfelte die Regimenter zusammen und schmiß sie
wieder auseinander und hetzte sie durch die donnernden Felder. Er kam durch die klirrenden Drähte und nahm über Nacht den Feldherrn die Zügel aus den erschrockenen Händen und wirrte sie durcheinander und zerrte hier und dort, bis die Front brüchig wurde, und zog dann weiter und strich in das Land und riß die Fahnen von den Fenstern und spie dreimal aus. Und der Speichel war Gift, und wo er fiel, da wuchs Hunger und Not und Verzicht. Und der Krieg zog weiter, er war überall, er warf seine Fackel in alle Teile der Welt, er stöberte die geheimsten Wünsche auf und warf ihnen prangende Mäntel um und färbte die Mäntel rot. Er grub das Eisen aus zerschluchteter Erde und schleuderte es in den Raum und ließ es zerspellend zu Boden fallen. Der Krieg kam wie ein Riese über das Land, und da war nichts, was ihm sich verbergen konnte. Er kam wie ein Wolf und hetzte uns mit reißenden Zähnen bis zu den höchsten Hängen und durch die tiefsten Schluchten, er rammte mit einem wahnwitzigen Schlage die Jugend in den Schlamm und schleuderte das Leben in das Feuer und setzte den Stoff gegen den Geist. Da krochen die Kämpfer vor ihm in die dunkle Erde. Er aber zerstampfte die Landschaft mit höhnischem Schrei und schuf eine Brache, schuf eine einmalige Welt mit einmaligen Gesetzen, ein Reich, in dem alle Leidenschaften der Steinzeitmenschen von brüllenden Ängsten bis zu gellenden Triumphen ihren Rang erfuhren, ein Reich, in dem das brausende Hurra zum roten Urschrei wurde, geröchelt aus zerlaugten und besessenen Leibern, ein schreckliches Geheul beseelter Elemente. Und wie der Krieg sich seine Landschaft schuf, so schuf er sich sein Heer. Da warf er
hin, was nicht bestand, er sonderte mit hartem Schlag und zog die Lieblinge sich an die Brust, die Ekstatiker des Krieges, die Einzelnen, die aus den Gräben sprangen und ihr «Ja» jauchzten zur Umkrempelung der Welt. Und er drängte die Pflichtgetreuen zu dichten Haufen, in die er immer wieder zerschmetternd fuhr, und malte ihnen das große Warum an den glutbehauchten Himmel, dörrte ihnen die Adern und brannte ihnen sein Mal in das entsetzte Hirn, wissend, sie werden ihm nie entrinnen. Mit roten Narben schmückte er die mageren Verwegnen seines Reiches, er meißelte die kantigen Gesichter unter düsterem Helm, die scharfen, schmalen Linien um den Mund, um schroffes Kinn und starres, spähend zupackendes Auge. Er schied die Heimat von der Front und die Nation vom Vaterland. Sein heißer Atem aber fuhr in alle Winkel. Da blätterte der angeklatschte Schmuck, es schmolz das unechte Metall, die Kruste wurde mürbe, der Gasdunst der Verwesung strich durch das Reich, und alle stolze Bindung faserte und brach. Er riß die Masken vom Gesicht, und wessen die Lüge war, der stand in Lüge nackt und bloß, und wessen das Suchen war, der tastete in leerem Raum. So wütete der Krieg, und die Stunden klatschten sengend in die Herzen, und die Tage wurden rauchend rot von Blut, die Jahre rannen unerbittlich saugend, letztes Mark aus morschen Knochen ziehend, Opfer heischend völliger Erschöpfung zu. Da schwelte es im Haus, da wurden alle Pfeiler brüchig, es knackte das Gebälk. Die Waffen sprangen aus gekrampften Händen, was noch der Krieg in wachem Bann gehalten, sank, das Reich fiel auseinander. Den Letzten war's, als riefe eine Stimme ihnen zu: «Ihr scheutet keine Probe?
— Hier! — Besteht sie!» Die Männer, die 1918 aus den Gräben stiegen, ahnten, daß wir den Krieg verlieren mußten, um die Nation zu gewinnen. Sie hatten die große Verwandlung an sich erfahren, sie sahen, daß keinerlei Gestaltung da und jede möglich war. Sie kamen — noch im Banne ihrer Landschaft — und fanden das Reich wie eine offne Wunde vor, an deren Ränder brutale Fäuste drückten, daß Blut und Liter quoll. Sie standen vor dem Trümmerhaufen und horchten mit ungläubigem Staunen den Parolen und Programmen, die ihnen marktschreierisch angeboten wurden als die Werte der Zukunft und als die Weisheit und Wahrheit der Stunde. Und da sie unter der steten Androhung des Todes gelernt hatten, den echten Ton zu unterscheiden vom falschen, so wurde es ihnen leicht, unbestechlich zu sein. Sie machten sich schweigend an das, was zu tun war. Da waren viele unter ihnen, die gingen mit skeptisch verzogenen Mundwinkeln von dannen, an nichts verzweifelnd und doch an nichts auch ihren Glauben setzend als an sich selbst. Sie gingen einen seltsamen Weg, diese Entlassenen der Front, die Heimkehrer des großen Krieges, sie gingen in Beruf, Amt und Sorge, sehr einsam, außerordentlich ernüchtert, sie kamen zu gegebener Stunde wieder und pochten mit sonderbarem Anspruch an die Tore der bereits vergebenen Welt. Da waren andere, die der Krieg noch nicht aus seinen Fängen ließ. Die sahen überall Verzicht und glaubten, daß sie retten müßten, marschieren müßten in unbedingter Pflichterfüllung, die ihnen ihren Halt
verlieh. Und unter diesen waren wieder welche, die spürten, daß es eine Sendung geben müsse und daß diese Sendung ihnen in die Hand gegeben sei. Wie diese Sendung lautete, das wußte keiner, und alle horchten auf die Forderung des Tages. Der Forderungen aber waren viel. Es begann das Ringen um das Reich. Noch hatte sich das Blut mit der Erkenntnis nicht vermählt. So waren wir bereit, zu handeln auf den Anruf unseres Blutes hin. Und nicht das war wichtig, daß, was wir taten, sich als recht erwies, sondern daß in diesen aufgeschlossenen Tagen überhaupt gehandelt wurde. Denn die Entscheidung über Deutschland war jetzt in jedes einzelnen Hand gelegt, und jeder einzelne war so auf unersetzlich gnadenreiche Augenblicke mit dem deutschen Schicksal in Verhaft gesetzt. Und wir marschierten. Da ging es lustig zu, immer frei weg mit «Fenster zu» und «Straße frei» —. Der aktivste Teil der deutschen Front marschierte, weil er gelernt hatte, zu marschieren, schritt unter Gewehr durch die Städte, mit dumpfem Ingrimm, geladen mit einer springenden, ziellosen Wut, wissend, daß jetzt gekämpft werden mußte, gekämpft um jeden Preis. Der aktivste Teil der Front marschierte, rechts wie links. Wir aber, die wir unter alten Fahnen fochten, wir haben das Vaterland vor dem Chaos gerettet — Gott verzeihe uns, das war unsere Sünde wider den Geist. Wir glaubten den Bürger zu retten, und wir retteten den Bourgeois. Das Chaos ist dem Werdenden günstiger als die Ordnung. Der Verzicht ist jeglicher Bewegung Feind. Da wir das Vaterland vor dem Chaos retteten, machten
wir dem Werdenden die Fenster zu und gaben dem Verzicht die Straße frei. Wer dies erkannte, suchte einen höheren Sinn des Kampfs. Wo immer nach dem Niederbruch sich Männer fanden, die nicht verzichten wollten, erwachte eine unbestimmte Hoffnung auf den Osten. Die ersten, die das kommende Reich zu denken wagten, ahnten mit lebendigem Instinkt, daß der Ausgang des Krieges jede Bindung nach dem Westen hart zerstören mußte. Sie wieder anzuknüpfen, das hieß Unterwerfung, das hieß Sichfügen in den kalten Rhythmus, der dem Westen seine ungeheuerliche Macht über diesen Erdball gab. Das hieß, den in der Unerbittlichkeit der Trichterfelder jäh erkannten Sinn des deutschen Krieges fälschen. Der Krieg ließ unsre Grenzen nach dem Osten offen. Unter der Masse der Kämpfer des deutschen Nachkrieges war nur ein kleiner Teil, der an die Grenzen ging, und wiederum von diesem Teile zog eine schwache Schar nur in das Baltikum. Was unseren Kampf in Kurland möglich machte, das war die Furcht des Westens vor dem Bolschewismus. Nicht einen Vorstoß machten wir, der nicht genehmigt war vom Gremium jener Männer, das Deutschland als Regierung anerkannte. Nicht einen gültigen Befehl gab die Regierung her, der nicht von alliierten Kabinetten gesehen und gebilligt war. Bis unter unseren harten Stößen das Rote Heer zerplatzte, waren wir Söldner Englands, des Westens Schutzwall gegen den geheimnisvollen Aufbruch eines Volkes, das, wie wir, um seine Freiheit rang. Dies war unsere zweite Sünde
wider den Geist. Wir zogen aus, die Grenze zu schützen, und eroberten eine Provinz. Wir dachten, Deutschland müsse so weit reichen wie seine Kraft. Wir waren entschlossen, die Provinz zu halten, die Verpflichtung, die das Blut unserer Gefallenen mit dunklem Anspruch von uns heischte, zu erfüllen. Das Baltikum war nun, da es gefährlich für die Sieger wurde, eine deutsche Möglichkeit. Wir wollten sie nutzen. Die Entente befahl die Räumung des Baltikums. Wir hörten davon und wir lachten. Dann befahl die Reichsregierung den Abtransport einiger Truppenteile. Wir hielten das für einen Trick Noskes, der die Alliierten hintergehen wolle, oder der mit einem geschickten Manöver die Forderung der belfernden Unabhängigen in der Nationalversammlung unschädlich zu machen versuche. Dann erfuhren wir, daß aus der Estenfront Teile der Garde-Reserve-Division und das Freikorps Pfeffer herausgezogen und abtransportiert wurden, auf Befehl der Regierung, angeblich, weil diese Truppen zum Grenzschutz gebraucht wurden und dort nötiger waren als vor Riga. Wir zweifelten nicht, daß diese Maßnahme nur vorläufig sei und die Truppen bald wieder ins Baltikum zurückkehren würden. Dann wurde erzählt, diese Formationen wären gar nicht beim Grenzschutz eingesetzt, die Garde-Reserve-Division zum Beispiel sei kurzerhand aufgelöst worden, denn die Entente verlange die Reduzierung der gesamten deutschen Heeresmacht erst auf 150 000, dann auf 100 000 Mann. Wir waren überzeugt, daß das nicht stimme; denn,
wenn schon aufgelöst werden müsse, dann waren die untauglichen Garnisonen dran. Dann hieß es, die Regierung verlange kategorisch unsere Rückkehr nach Deutschland und drohe mit Entzug des Soldes. Wir dachten, das könne nicht sein, denn die Regierung hatte ja unsere Forderungen an Lettland und auf Siedlung anerkannt und begünstigt. Schließlich verlautete, Deutschland müsse dem Wunsche der Entente um jeden Preis nachgeben. Doch alle Gerüchte, die aus dem Reiche zu uns drangen, bestätigten, daß Deutschland nie und nimmer den Friedensvertrag unterzeichnen werde. In jenen dumpfen Tagen des Sommers in Olai — Tage, die zwischen zwei Zeiten stehen und zwischen zwei Ordnungen — fühlten wir uns plötzlich nicht mehr am Rande des deutschen Schicksals, waren wir eingewirrt in einen Knäuel unentrinnbarer Fragen. Wir saßen eines Tages, zu Beginn des Waffenstillstandes, in der Blockhütte des Leutnants Wuth. Schlageter war zu Besuch gekommen, wir besprachen die Möglichkeiten einer Siedlung in diesem Land. Wuth wollte einen Hof kaufen und eine Sägemühle bei Bad Baidon — noch waren die Letten dort. Da kam Leutnant Kay ins Zimmer und sagte hastig in den Tabakrauch hinein: «Deutschland hat den Friedensvertrag unterzeichnet!» Einen Augenblick war alles still, so still, daß der Raum fast dröhnte, als Schlageter aufstand. Er hielt die Klinke in der Hand und murmelte: «Soso, Deutschland hat also unterzeichnet...», er hielt inne, blickte starr geradeaus und sagte dann, und hatte auf einmal ein
bösen Ton in der Stimme: «Ich meine, was geht denn das schließlich — uns an?» Und hieb die Tür ins Schloß, daß der ganze Raum bebte, und war draußen. Wir erschraken. Wir hörten dies an und erschraken darüber, wie wenig in der Tat uns dies alles im Grunde berührte. Wir erschraken mit jenem eiskalten, ernüchternden Prickeln im Hirn, das immer ein setzt, wenn der Schreck des Herzens ausbleibt. Klang nicht die Botschaft wie von einem fernen, fremden Land, das da hinten in einem Dunst von Hunger, Lüge und Gewalt dem Unerbittlichen entgegen schmort? Das Land da hinten, grau und müde und verdammt, ewig unter dem naßkalten, trüben Schleier der Novembertage fortzudämmern, ein Land, wie ein leerer Fleck auf der Landkarte, in den die Hand des Topographen zögern mußte Städte einzuzeichnen und Dörfer und Flüsse und Grenzen, ein plumpes, passives Land, ein Land ohne Wirklichkeit — wie? Was haben wir mit diesem Land zu schaffen? Wir sahen uns fröstelnd an. Wir spürten auf einmal die Kälte einer unsagbaren Verlassenheit. Wir hatten geglaubt, daß uns das Land niemals entließ, daß es uns band mit einem unzerstörbaren Strom daß es unsere geheimen Wünsche speiste und unserem Tun die Rechtfertigung gab. Nun war alles zu Ende. Die Unterschrift gab uns frei. Am Bahnhof in Mitau standen Soldaten des 1. Kurländischen Infanterie-Regiments mürrisch herum. Es war der 24. August 1919. Der erste Transport sollte nach widerwillig aufgenommenem Befehl ins Reich
abgehen. Die Offiziere gingen bleich hin und her und antworteten mit verbissenen Mienen auf die drängenden Fragen der Leute. Langsam füllte sich der Zug. Noch war es Zeit. Alles wartete wie auf ein Wunder auf das erlösende Wort. Plötzlich entstand Bewegung an der Sperre. Ein großer, braungebrannter Offizier trat auf den Bahnsteig. An seinem Halse blinkte der Pour le mérite. Es war der Führer der Eisernen Division, Major Bischoff. Er sah zum Zuge, die Soldaten drängten sich, getrieben von dumpfer Hoffnung, um ihn herum. Offiziere kamen hinzu. Der Major hob die Hand. «Ich verbiete hiermit den Abtransport der Eisernen Division!» Das war Meuterei. Vielleicht blitzte in diesem Augenblick im Hin dieses Mannes der Name Yorck. Wir brachten ihm am Abend eine Fackelzug. Damals sangen die Soldaten im Baltikum ein Marschlied, dessen erster Vers begann: «Wir sind die letzten Deutschen, die am Feind geblieben.» Nun fühlten wir uns als die letzten Deutschen überhaupt. Fast waren wir der Regierung dankbar, daß sie vom Reich uns ausschloß. Denn war die Bindung offiziell zerrissen, dann konnte unser Tun uns mit des Reiches Sorge nicht belasten. So wie wir handelten, so hätten wir auf jeden Fall gehandelt. Wir konnten uns dem Vaterlande nicht verpflichtet fühlen, weil wir es nicht mehr achten zu können glaubten. Wir konnten das Vaterland nicht achten, weil wir die Nation liebten. Uns hielt nicht mehr ein Befehl zusammen, uns band nicht mehr Sold und Brot und warmer Duft der Heimat. Uns
trieb ein dunkel nur erahnter Zwang, uns peitschte ein Gesetz, von dem wir nur den Schatten sahen. Nun standen wir im tollen Wirbel der Gefahr. Nun hielten wir ein neues Kraftfeld, eine Ebene der Hoffnung, frei vom Ballaste kläglicher Erfordernisse, die ein Volk von hungernden Millionen Tag um Tag und Schritt für Schritt in ausgeklügelt raffinierte Netze schnüren mußten. Die Versprengten, Ausgestoßnen, die heimatlosen Geusen hielten ihre Fackeln hoch. Wir waren wahnsinnig. Und wir wußten, daß wir es waren. Wir wußten, daß wir zusammengehauen wurden von dem vereinten Ingrimm aller Völker, die um unsere verwegene Heerschar brandeten. Doch wenn ein Wahnsinn je Methode hatte, dann war es dieser. Wir, Statthalter dieser Provinz für die noch ungeborene Nation, wir wollten nicht verzichten — zu einer Zeit, da der Verzicht die Forderung des Tages war. Wir sagten «Nein» zum Reiche jener Tage, weil wir ein «Ja» zum kommenden schon auf der Zunge hatten. So war unser Wahnsinn Trotz. Wir wollten dieses Trotzes Konsequenzen tragen. Mehr kann ein Mann nicht tun. Jedem einzelnen von uns wurde die Frage vorgelegt, ob er bleiben oder dem Befehle der Regierung folgen wolle. Die ersten, die sich von uns sonderten, waren die patriotischen Korps. Für deren altpreußisch gesinnte Offiziere war Meuterei Meuterei. Dann folgten die Marodeure, allerhand zusammengelaufenes, bewaffnetes Gesindel zweifelhafter Herkunft, noch bis zum letzten Augenblick nach Rubeln spähend, doch fürchtend, in den harten Endkampf mitgezerrt zu werden. Es verschwanden die Etappenformationen, die
Polizeikompanien, die Feldgendarmen. Nur wenige Zahlmeister gingen nicht mit der Kasse durch. Dann verabschiedete sich die Baltische Landeswehr von uns. Sie kam unter den Befehl eines englischen Offiziers und wurde an der neugebildeten lettischen Bolschewikenfront eingesetzt Den Balten ging es um das Letzte. Sie hatten nur den einen Willen, ihren Bestand zu wahren, nicht das Schicksal der russischen Emigranten teilen zu müssen. Viele von uns gingen hin, die Balten noch einmal zu begrüßen. Da stand in Reih und Glied, was immer von den Männern dieses deutschen Stammes übriggeblieben war und Waffen tragen konnte. Da standen Knaben, den Lyceumsgürtel noch um die schmalen Hüften und erliegend fast unter der Last des Gepäcks, und neben ihnen standen Greise, Landmarschälle, Edelleute — Kinderaugen unterm deutschen Stahlhelm und zerfurchte, hagere Gesichter. Sie standen schweigend und mit unzerbrochenem Hochmut und retteten durch ihren bitteren Entschluß die karge Aussicht auf ein Leben unter dem Banner ihrer ehemaligen Knechte. Ein russischer Oberst, der Fürst Awaloff-Bermondt, sammelte um diese Zeit russische Soldaten, meist entlassene Kriegsgefangene, um eine weißgardistische Armee aufzustellen und gegen die Bolschewiken zu führen. Er kam ins Baltikum, nicht sonderlich gern gesehen von den Engländern und eben darum von uns geachtet. Er hatte phantastische Pläne unter seiner tscherkessischen Pelzmütze und war geneigt, bei den Baltikumern Unterstützung zu suchen. Denn England wünschte den unruhigen Mann unter die Aufsicht des
englandergebenen General Judenitsch, und Bermondt, dessen Befehlsgewalt bestreitend, fühlte sich nur sicher unter dem Schutze der Gewehre der Baltikumer. Wir aber waren bereit, uns mit dem Teufel selber zu verbünden, wenn wir die Engländer ärgern und in Kurland bleiben konnten. Verhandlungen gingen hin und her, und schließlich wurde eine westrussische Regierung gegründet mit der Basis Kurland und mit einer westrussischen Armee, deren Stamm die Baltikumer bilden sollten. Der deutsche Oberbefehlshaber, der General Graf von der Goltz, folgte dem Ruf der Reichsregierung, nahm aber seinen Abschied und ging als Privatmann wieder zu seiner Truppe. Doch war nun Bermondt nominell der Führer. An Lettland ging die Aufforderung, im Falle eines westrussischen Angriffs gegen den gemeinsamen Feind, den Bolschewismus, zumindest neutral zu bleiben. Bermondt wollte über Dünaburg vorstoßen, nach Rußland hinein, bis Moskau, bitte! Nicht mehr und nicht weniger als das. Aber Lettland forderte den Abmarsch der Deutschen. Und so beschloß Bermondt, seinen Kreuzzug mit der Eroberung Rigas zu beginnen. Und damit waren wir einverstanden. Wir hefteten die russische Kokarde an unsere Mützen, nicht ohne verschmitzt die deutsche darüber anzubringen. Wir nahmen erheitert das Papiergeld, das Bermondt kurzerhand drucken ließ — Deckung: das Heeresmaterial, das wir erbeuten würden —; wir tranken mit Ingrimm den russischen Schnaps und lernten, russisch zu fluchen. Also waren wir, da wir nicht mehr Deutsche sein sollten, Russen geworden. Die Parole «Kampf dem Bolschewismus» nahmen
wir nicht ernst. Wir hatten Gelegenheit genug gehabt, zu erfahren, wem dieser Kampf denn nütze. Den ersten Kampf gewannen wir für England. Im zweiten wollten wir den Briten um den Preis des ersten prellen. Wir disputierten über unsere Möglichkeiten. Wir hockten rund um das Feuer, das die Hamburger am Waldrand lodern ließen, und viele Stimmen schwirrten durcheinander. Und lustiger noch als die Flammen sprühten die tollen Spiele unserer Phantasie, nun, da wir Gefechte witterten. Leutnant Kay hatte schon ein russisches Lied gelernt und sang: «Wohin rollst du, Äpfelchen?» Ja, wohin rollst du, Äpfelchen? «Nach Riga!» schrie ein Hamburger. «Nach Moskau!» grölte Leutnant Wuth und lachte. «Nach Berlin!» versank die gelle Stimme Kays im jauchzenden Gebrüll der Hamburger. «Nach Warschau?» fragte Schlageter, und trotzdem er leise sprach, verstand ihn jeder, und es war plötzlich still. Da warf der Leutnant Wuth eine Münze hoch und rief: «Kopf oder Adler — Mission oder Abenteuer?» — Der Adler fiel nach oben. In den ersten Tagen des Oktober kam die Nachricht, der Lette rüste zu einer Offensive. Das konnte uns nicht überraschen, denn wir rüsteten auch. Um dem Feind zuvorzukommen, wurde der Angriff auf den 8. Oktober festgesetzt. Sturm Wieder stieg aus der Erde jener sonderbar herbe Geruch, der mir seit dem Mai, als ich das erstemal
diesen Weg schritt, stets in Erinnerung geblieben war. Freilich mischte sich damals der beizende Qualm brennenden Gebälks in den Dunst, und der widerliche Gestank der in der glühenden Maisonne verwesenden Bolschewistenleichen, die überall herumlagen, nahm dem Duft der aufbrechenden Erde beträchtlich von seiner Frische. Aber diesmal lagerten Nebel über dem taunassen Boden, und die Sonne, die rot und trüb den Waldrand bestrahlte, konnte es nicht sein, die das Feld zum Schwitzen brachte. Ich wußte noch ganz genau, wie mir damals dieser Geruch alles in sich zu vereinigen schien, was mich in Kurland an Hoffnung und Gefahr bewegte. Mich reizte die gefährliche Fremdheit dieses Landes, zu dem ich in einem eigentümlichen Verhältnis stand. Gerade das Gefühl, inmitten dieser lieblichen Landschaft eigentlich immer auf schwankendem Sumpfboden zu stehen, der unablässig seine Blasen warf, hatte doch dem Kriege hier oben den bewegten, ständig wechselnden Charakter gegeben, der vielleicht schon den deutschen Ordensrittern jene schweifende Unruhe vermittelte, die sie stets von neuem aus ihren festen Burgen zu kühnen Fahrten trieb. Ich war um des Krieges willen hergekommen, und dieser Krieg bedeutet mir ein stärkeres Moment der Verwurzelung, als es den Siedlern vielleicht der mühsam zu erwerbende Bauernbesitz sein konnte. Die weite Ebene, in die wir nun, uns vom Waldrande lösend, auf der schmalen, erdigen Straße hineinmarschierten, atmete einen anderen Dunst aus, als wir ihn von den Schlachtfeldern des großen Krieges her kannten. Die Landschaft von sanfter und heimtückischer Lieblichkeit breitete sich
vorsichtig hin und ließ doch ahnen, daß hinter manchem Busch sich lauernd züngelnde Feindseligkeit verbarg. Weit hinten am Horizont aber lag abgrenzend die dunkle Linie der feindlichen Stellung, die es heute zu erobern galt. Und von dort her grollte es in einzelnen dumpfen Absätzen, so daß der Blick unwillkürlich den Himmel abtastete, von woher denn ein Gewitter käme. Leutnant Kay, neben dessen Pferd ich marschierte, suchte mit dem Feldstecher den Horizont ab, dann deutete er auf das grauweiße Band, das sich, aus dem Walde heraustretend, auf die feindliche Stellung hinzog. Dort waren einige dunkle Flecke zu sehen und einzelne, sich schwach bewegende Punkte. Kay meinte, das müsse wohl das erste Bataillon sein, welches auf der Straße angreifen solle. Aber ich sah über dem Haufen eine riesige Fahne, und da ich wußte, daß die Russen, stolz auf ihr zaristisches Feldzeichen und gleich wie, um am knatternden Tuch und an den leuchtenden Farben ihre zwittrige Unsicherheit zu ersticken, stets die Fahne mit sich führten und bei Gelegenheiten wehen ließen, die uns Deutschen schon lange nicht mehr das Gepräge heroischer Besonderheit gaben, schloß ich, der Angriff müßte wohl ins Stocken geraten sein, denn die Russen bildeten die Reserve, und vor ihnen hätten wir am Feinde sein müssen. Der Leutnant sandte mich, da wir der Kompanie ein Stück voraus waren, zurück, ich solle die Leute etwas zur Eile antreiben. Die Pionierkompanie bog soeben in die Straße ein. Voran trug der baumlange Feldwebel an schlanker Stange den dreieckigen Wimpel mit dem Bundschuh, dem Feldzeichen der Kompanie. Hinter ihm schwang ein Pionier die Ziehharmonika, den
preußischen Armeemarsch spielend, wie auf jedem der langen und ermüdenden Märsche, die wir in diesem Lande schon gemacht. Und dann, rechts und links der Straße, in langer Kolonne, einer hinter dem andern, zog die Kompanie dahin, ein jeder sein Gewehr nach Belieben tragend, mit Stöcken in der Hand und kurzen Pfeifen unter der Nase. Und zwischen den Reihen klapperten die Panjewagen, beladen mit Maschinengewehren und Munition. Freilich war die Marschkolonne kein strahlend militärischer Anblick, zumal die zerlumpten Röcke aller Waffengattungen und die bärtigen Gesichter unter schiefer Mütze deutlich genug zeigten, daß es in diesem Feldzug nicht so sehr auf Militärpersonen als auf Krieger ankam. Auch der Maschinengewehrzug legte wenig Wert auf Äußerlichkeiten, aber die Gewehre waren frisch geölt und lagen sorglich verpackt aut den Panjewagen. Ich ging zu meinem Gewehr und erfuhr dort, daß ich für die Dauer des Gefechts der Pionierkompanie zugeteilt sei. Der Oberleutnant von den Pionieren trat auch schon hinzu, klatschte mit seiner zerflederten Fahrerpeitsche gegen die schlechtgewickelten Gamaschen und meinte, ohne die schwere Pfeife aus den Zähnen zu lassen, heute hätten die MG-Leute mal Gelegenheit, zu zeigen, daß sie mehr könnten, als allein rubeln und räubern. Ich ärgerte mich und schwieg, aber der Unteroffizier Schmitz sagte, neben dem Wagen herschreitend und mit lässigem Gleichmut einen Munitionskasten zurechtrückend, wenn er sich recht erinnere, dann seien es ja wohl die Pioniere gewesen, die damals, bei Baidon, zum Angriff zu spät gekommen seien, weil sie über einen Weinkeller geraten waren. Der Oberleutnant
brummte etwas und ging dann mit verkniffenen Augen hinter den Brillengläsern nach vorn zu seiner Kompanie. Es war allmählich sehr kalt geworden. Wir standen unschlüssig auf der Straße, trampelten uns die Füße warm und horchten unter kargen Worten auf das Dröhnen an der Front. Die Kompanien traten an. Der Lärm fernen Gefechts wurde stärker. Wir marschierten an den Russen vorbei, die in den Straßengräben lagerten und unseren Marsch mit dumpfem und verlegenem Grinsen begleiteten. Wir warfen ihnen die paar Brocken Russisch, die sich der Feldsoldat im Kriege aneignete, gönnerhaft zu, und der obszöne Sinn dieser Worte wurde von den Russen freudig ob der Herablassung aufgenommen. Am Bahnübergang stand ein Panzerauto. Die Stahlwände wiesen mancherlei Einschüsse auf. Die Bemannung arbeitete am Wagen, einige standen verschmiert und mit Blutspritzern auf den Lederjacken um eine auf der Straße ausgebreitete Zeltbahn herum, unter der sich die Formen eines verkrümmten Körpers abzeichneten. Wir marschierten vorbei, ohne eine Frage zu tun. Die beiden Infanteriekompanien bogen nach links auf einem schmalen Sumpfsteige ab. Allmählich wurde die Straße belebter. Auf dem Felde rechts schwoll die gelbe Hülle eines halbaufgeblasenen Fesselballons. Hinter dem Bahnwärterhäuschen feuerte eine schwere Batterie. Mit hellem Klingen zersprang ein einzelnes Infanterie-geschoß an den Eisenbahnschienen. Wir machten halt und luden die Gewehre ab. Da mir der Feind noch fern schien, zerlegte ich mein MG und wuchtete mir den Schlitten auf den Rücken. Die
Polsterung war abgerissen, und die beiden Wasserkästen, die ich noch vorn an die Sporne hing, drückten mir das scharfkantige Eisen schmerzhaft in die Schulter. Wir schwärmten auf der Straße nach links aus, überkletterten den Graben und betraten den Sumpf. Es war um die Mittagszeit. Wir hatten seit dem Morgenkaffee noch nichts genossen. Der Sumpfboden schwankte bei jedem Schritt. Eine glasige, dünne Eiskruste hatte sich über dem Sumpfe gebildet. Der Fuß trat zersplitternd hinein, das Wasser quoll sofort in die Schuhe und schwemmte blasig über die Ränder der runden Stapfen. Das ganze Sumpfgebiet war übersät mit niederen Gebüschkusseln. Am Himmel jagten grauweiße Wolkenfetzen, der Wind fuhr uns kältend durch die dünnen Kleider. Einen Mantel hatte keiner von uns. Ich keuchte unter meiner Last und warf den Schlitten auf der Schulter von einem Knochen auf den anderen. Als wir etwa 500 Meter weit von der Straße entfernt in den Sumpf eingedrungen waren, bekamen wir das erste Feuer. Der unsichtbare Gegner prasselte uns eine Garbe entgegen, die mit sonderbarem Zwitschern dicht vor uns in den Boden fuhr und wie ein plötzlicher Regenschauer überall kleine Fontänen aufglupschen ließ. Wir warfen uns hin. Ich stolperte und fiel. Die Wasserkästen polterten herunter, der Gewehrschlitten bohrte sich in den Dreck und stieß mir seine Kanten in die Brust. Meine Ellenbogen, meine Knie fuhren tief in den matschigen Boden. Das eiskalte Wasser drang sofort durch die Kleider. Neben mir begannen die Infanteriegruppen zu feuern. Auch das Gewehr Schmitz schoß. Bevor ich beginnen konnte, mein Gewehr
aufzumontieren, kam der Befehl zum Sprung. Die feuchten Kleider sogen sich am Körper fest und bildeten in den Falten ungemütliche Eiskrusten. Die Handgranaten tanzten mir am Koppel und hinderten mich am Lauf. Der Gegner begleitete unseren Sprung mit fahrigem Gefeuer. Es fing an zu regnen. Kalte Schauer peitschten das Gesicht. Über der feindlichen Linie hing schweres, dunkles Gewölk. An drei, vier Stellen ringsum am Horizont brannte es. Noch oft warfen wir uns hin. Überall im Sumpf hockten die lettischen Schützen. Über unsere Köpfe hinweg fauchten und gurgelten die schweren Geschosse von hinten, die mit dumpfem Krachen auf die Stellung hämmerten. Endlich waren wir dichter heran. Zwischen der Stellung und uns war freies Feld, eine sanftgrüne, ebene, leicht auf uns zu geneigte Wiese, die strichweise unter Wasser stand. Es war vier Uhr nachmittags geworden. Wir lagen hinter einer kleinen Bodenwelle, die einigermaßen Schutz versprach. Die Füße steckten tief im Schlamm. Vorne hob sich der graue Streif der Stellung deutlich ab. An einzelnen Punkten waren anscheinend stark ausgebaute Bastionen zu erkennen. Wir freuten uns über jedes Geschoß, das dort hineinpolterte. Der Lette schoß mit allen Kalibern. In die Wiese hieben die Geschosse ein und zauberten seltsame Bäume aus Schlamm und Rasenstücken. Aus dem dumpfen Gedröhne der Schlacht sonderte sich immer wieder grell das reißende Geknatter der Schnellgewehre. Wir hatten rechts keinen Anschluß, erst dicht neben der Straße mußten wieder Truppen liegen. Der Lette hatte uns endlich gesichtet. Er setzte uns eine Lage Ratscher
dicht vor die Nase, die uns mit Schlamm übersprühte. Anscheinend hatte der Lette im Vorfeld noch Nester sitzen, denn Maschinengewehrfeuer fusselte streuend in unsere Linie. Ich hatte meinen Schlitten vor mich hingebaut und versuchte, unter seinem Schutz etwas zu schlafen. Aus der Schützenlinie gellte der Ruf: «Sanitäter!» — Wir hoben alle die Köpfe. Ein Pionier kroch mühsam nach hinten. Der Sanitäter eilte herzu. Durch die Linie ging das Gerede von einem Beinschuß. Da schrie auch schon der zweite, gerade nachdem wieder eine Lage eingehauen hatte. Wir lagen völlig untätig und warteten. Immer wieder fuhren die Köpfe hoch, die nach der Strohmiete spähten, ob der Oberleutnant nicht endlich den Befehl zum Vorrücken gäbe. Wütendes Gefeuer auf unsere Linie setzte ein. Wir lagen noch gut zweitausend Meter von der feindlichen Stellung entfernt und sahen ohne einen Schuß dem müden Gefecht zu. Dieser ganze Tag diente der quälenden Vorbereitung zu einer Entscheidung, und bis jetzt war noch nichts geschehen, was uns innerlich hätte in Schwung versetzen können. Uns schien, als lägen wir nun schon eine hoffnungslose Ewigkeit in diesem Sumpf und als böte sich niemals eine Aussicht, aus ihm herauszukommen. Das eintönige Gebrodel der Schlacht hatte durchaus nichts Aufregendes, und viel unangenehmer als der Einschlag der Granaten waren das koddrige Gefühl im Magen und die nassen und wundreibenden Kleider und Schuhe. Dieser Tag bestand aus lauter Mosaiksteinchen, die, plump zusammengelegt, ein entsetzlich spannungsloses Bild abgaben. Wir waren in Kurland andere Gefechte gewöhnt. Und daß
nach langem Waffenstillstand der Krieg so begann, schien uns ein niederdrückendes Zeichen. Das Fähnchen der Pioniere stand an der Strohmiete aufrecht, und der Wimpel hing an der Stange wie ein nasses Handtuch. Der Wind blies uns schwarze Rußflocken entgegen. Nun stand, soweit der Blick reichte, kein Haus mehr, das nicht brannte. Es wurde langsam dunkler. Strichweise war der Regen mit Hagelschloßen untermischt. Die Stellung verschwamm langsam, zeigte sich nur durch ein ständiges Aufblitzen an. Plötzlich steigerte sich hinten unser Abschußlärm. Ganze Salven fauchten über unsere Köpfe, schlugen drüben ein. Immer toller wurde das Feuer. Der Oberleutnant jagte eine rote Leuchtkugel hoch. Sekunden später hieben vor uns in die Wiese die Einschläge unserer Batterie, warfen den Schlamm in die Höhe und bildeten einen schmalen Streifen Wald, der sich langsam nach vorn wälzte. Von hinten kam eine Schützenlinie heran. Die Männer stapften mit breiten Abständen gebückt einher. Auf den hochgepackten Tornistern lag quer das Gewehr. An den Kokarden erkannten wir Bayern. Es war das Bataillon Berthold. Kaum hatten sie unsere Linie erreicht, als der Oberleutnant mit der Peitsche nach vorn zeigte und aufsprang. Wir rappelten uns mühsam hoch und stakten mit verkrampften, eingerosteten Gliedern mit den Bayern mit. Mein Gewehrschlitten hieb mir bei jedem Schritt eine Stange ins Kreuz. Ich rief den Schützen zwei heran, der das Gewehr trug, und wollte bei der nächsten Gelegenheit aufmontieren. Aber unentwegt schritt die Linie vorwärts, nicht sonderlich schnell. Unsere Füße
platschten ins Wasser. Der Bayer neben mir sackte zusammen, als habe ihn sein Tornister erdrückt. Der Oberleutnant, der plötzlich vor mir lief, nahm die Peitsche in die rechte Hand. Auf seiner linken bildete sich ein blutiges Rinnsal. Der Marsch wurde schneller. Ein Pionier brach aufjaulend wie ein Hund zusammen. Schmitz rannte mit seinem Gewehr halb rechts voraus, den Wasserkasten schwingend. Ich sah auf den schwanken Erdboden unter mir und sprang keuchend vorwärts, um mit der Linie mitzukommen. Ein Bayer verlor seinen Tornister und lief weiter, ohne sich umzusehen. Ein anderer blieb plötzlich stehen und blickte traurig auf den Boden. Dann sank er sanft in die Knie. Ich hörte nichts mehr von dem Brausen, das um meine Ohren schlug. Der Boden stieg an und wurde fester. Es war dunkel geworden, aber die brennenden Häuser warfen zuckende Lichter. Meine Nebenleute hasteten als schwarze Schatten wirr durcheinander. Da war vor mir ein Drahtverhau. Die Füße rissen wütend am Gewirr, das sich wie ein federnder Schlangenknäuel um die Knöchel wand. Ich schrie auf wie von Ekel vor Gewürm gepackt. Einer sank gegen meine Schulter, daß ich taumelte. Steil stieg eine Böschung an. Die Wasserkästen hatte ich längst verloren. Mit freien Händen, durch den Schlitten widerlich gehemmt, riß ich mich an Grasbüscheln, die aus grellem Sande ragten, hoch. Der Fuß rutschte ab. Einer packte mein Gestell und zog. Ich wälzte mich hinauf, lag keuchend auf der Böschung. Vor mir Gewimmel. Links zog sich dunkel ein Verhau, an dem geballte Haufen entlangeilten, auf eine Lücke zu, die dicht vor mir sich
auftat. Plötzlich war Schmitz neben mir mit seinem Gewehr. Ich warf meinen Schlitten ab und kroch zu ihm. Er hatte sein Gewehr bereits gerichtet und stampfte mit dem Absatz den Sporn fest. Der Schütze hinterm Abzug griff sich an die Stirn und kollerte dann langsam den Abhang hinunter. Ich warf mich hinter die Knarre und zog die Hebel fest. Ich drückte los — die ganze Dumpfheit dieses Tages wich. Das Gewehr bäumte sich und schnellte wie ein Fisch, ich hielt es fest und zärtlich in der Hand, ich klammerte seine zitternden Flanken zwischen meine Knie und jagte einen Gurt, den zweiten auch, hintereinander durch. Der Dampf stieg zischend aus dem Rohr. Nichts sah ich, doch Schmitz sprang tanzend, schreiend, johlend auf der Böschung, stieß mich beiseite und kletterte an meine Stelle. Ich griff zur Handgranate und lief vor. Wir sprangen in einen Graben. Ich trat auf weiche Leiber, die merkwürdig nachgaben, an dunklen Höhlen, von Stoffetzen verdeckt, vorbei; Gewehre, wirr in Haufen, querten den engen Weg. Geschrei kam uns entgegen, hinter Erdmauern scholl die dumpfe Detonation von Handgranaten. Plötzlich war Schmitz über mir, warf sein Gewehr wie eine Brücke über den Graben und sprang hinüber. Ich wuchtete ihm die Knarre nach und kletterte an der Grabenwand hoch. Da lag die Lücke des Verhaus vor mir. Wir stolperten über Leichen. Einer trat ich auf den Kopf. Hinter dem Verhau lag die zweite Stellung, etwas höher und betoniert. Dunkel und massig standen die Schattenrisse einer Häusergruppe am Wege. Aus ihnen blitzte es auf. Ich warf mich gegen eine Tür, hängte die Handgranate an
die Klinke und zog ab. Der Knall ließ das Gemäuer beben. In die dunkle Öffnung schoß ein Pionier eine Leuchtrakete. Fast im gleichen Augenblick loderte das Haus. Aus dem Gang stürzt schreiend, die blutenden Hände hoch, ein junger Kerl und schlägt lang hin. Die Flamme leckt nach ihm und bläst uns glühheißen Dunst entgegen. Noch einer taumelt aus dem Haus, Qualm und Sprühen mit sich reißend. Da schnellt ein Trupp sich von der Straße los. Wir greifen zu — der eine Lette, hochgerissen, wird gepackt, geschleudert, wirbelt längs zurück, fällt in die Glut, schreit einmal auf, die Flammen schließen sich. Der zweite rutscht auf Knien, doch wie sie nahen, springt er auf, schlägt sich die Arme um den Kopf und wirft sich von selbst in das Feuer. Der Oberleutnant jagt an mir vorbei. Ich sehe noch, wie tausend feine rötliche Spritzer sein Gesicht bekleckert haben. Taghell flackern die Häuser, Ein dumpfer Krach reißt eines auseinander. Aus der Glut kommt wirres Knattern, die Balken fliegen quer über den Weg. Der Oberleutnant kreist die Peitsche über seinem Haupt und schreit nach seiner Kompanie. Ich rase zurück, mir mein MG zu suchen. Aus Unterständen kriechen Kerls, der eine schwingt ein leuchtendes Kochgeschirr. Ich breche in einen Unterstand und stoße einen Pionier beiseite. Ein Haufen wunderbarer englischer Gummizeltbahnen sticht mir in die Augen. Ich nehme eine, breite sie beglückt im kargen Schein des Feuers, sie ist ganz neu, kann auch als Umhang dienen. Der Pionier zieht langsam einer Leiche die Schuhe aus. «Auf der Straße sammeln!» schreit einer, ich laufe weiter. Überall
plündernde Gruppen. Schnapsflaschen stopft sich einer in den Brotbeutel. Ein anderer greift mit allen blutbekrusteten Fingern in einen Topf gelber Marmelade, schleckt sich gierig, das Gesicht bekleckernd, die Pfoten ab. Allmählich kommen wir zur Straße. Auf ihr herrscht wildes Durcheinander. Die Wege sind verstopft von Kolonnen. Feldküchen werden gestürmt. Artillerie fährt langsam vor. Wir drängen uns durch die Haufen. Überall schreien die Kompanieführer ihren Erkennungsruf. Der Oberleutnant steht auf einem noch schwelenden Schutthaufen am Rande der Straße und läßt antreten. Mein Gewehr ist vollständig zur Stelle. Es wird abgezählt. Die Gruppenführer melden. Der Oberleutnant zählt halblaut die Abgänge. Er hat ein Taschentuch um die linke Hand gewunden. Er hat die Pfeife nicht mehr im Munde. Es fehlt ein Viertel seiner Kompanie. Vom Gewehr Schmitz fehlen zwei Mann. Indes hinter unserer Front das Bataillon Berthold in Marschkolonnen in die schwarze Nacht marschiert, nach vorne, sagt der Oberleutnant, die Leistung des MG-Zuges sei hervorragend gewesen, er habe es während seiner ganzen Feldzugszeit nicht erlebt, daß die schweren MG unter so schwierigen Verhältnissen nicht nur nicht zurückblieben, sondern sogar noch vor der Infanterie in die Stellung eingedrungen seien. Schmitz murmelt was von einem Päckchen Tabak, das ihm lieber wäre. Dann schwenkten wir ein und schoben uns langsam an den Kolonnen vorbei, die lodernden Häuser hinter uns lassend. Der Wald nahm uns auf. Dicht an die Straße drängte er sich heran, die ersten Stämme
streckten ihre Wurzeln in den Graben. Und dichtes Gebüsch säumte den Waldrand. Die Nacht war schwarz. Auf der Straße marschierten zwei Kolonnen nebeneinander, in der Mitte bohrten sich Maschinengewehrwagen mühsam vorwärts. Der Oberleutnant fluchte sich mit einem Kolonnenführer herum. Ich marschierte neben einem massigen Pferd, das mir seinen Nüsteratem in die Seite blies. Das Gewehr hatte ich auf dem Schlitten, es wurde von der Bedienung getragen. Ich weiß nicht, warum ich beim Abmarsch von der Stellung gerade die SMK-Munition zum Tragen ausgesucht hatte. Auch eine Leuchtpistole hing an meinem Koppel. Die Kästen waren schwer, ich hatte keinen Tragegurt. So legte ich den einen Kasten auf die Deichsel des neben mir stapfenden Pferdes. Fast nickte ich im Gehen ein. Die schmerzenden Füße wollten sich kaum heben. Ich hatte einen eklen Geschmack im Munde, die Kleider klebten am Körper, die Kästen zogen die Arme schwer hernieder. Wir tappten alle wie blind voran. Fast jedes Sprechen war verstummt. Nur die Räder knarrten, und das dumpfe Geräusch vieler Schritte lullte ein. Wir stießen ins absolute Dunkel. Wir stießen direkt auf das schwarze Tor zu, das auf einmal den Rachen öffnet und uns aus spritzenden Rohren Feuer entgegenknallt. Der Gaul neben mir kracht hoch, der Kasten fällt, die Deichsel knirscht und bricht, ich werde beiseite geschleudert, stürze, rolle in den Graben — was ist das, was ist los — Überfall? Die Pferde donnern schnaubend zurück durch brandendes Geschrei. Auf der Straße wälzen sich Leiber, eine glühende, zuckende Schlange züngelt nach vorn — durch die Schwärze zieht sich eine Reihe flimmernder
Gedankenstriche — ah, denke ich, Leuchtmunition, zwei, drei, vier solche Schlangen, hoch oben zwitschern sie über uns weg, es rattert nervös. «Ich bin verwu-u-undet», lang hingezogen stöhnt es neben mir, ich stoße gegen eine weiche Masse; — da ist mein Gewehr, den Kasten habe ich noch in der Hand. Einer greift zu, wir wuchten das Gewehr hoch, schieben es auf den Grabenrand. Da steht das dunkle Tier, ein schwarzes Ungeheuer, dicht vor uns sprüht es feuerrot und knatternd — wir sind im toten Winkel, blitzschnell freut es sich in mir, wir haben ja SMK-Munition, den Gurt hinein, der Lauf fliegt rum, ich drücke los, es knallt — da ist das Ziel, hinein in die dunkle Masse — schon ist es still, das Vieh; nun sehe ich, daß Schmitz es war, der mir half, er drängt mich weg. Ich verstehe ihn sofort, er wird mich mit dem Gewehr decken. Sofort setzt das Ungetüm wieder feuernd ein. Ich krieche ein Stück rechts, stoße auf einen Kerl, der mir, begreifend, fast zuvorkommt. Schmitz knallt los, wir springen auf, einen, zwei, drei Schritt vor — abziehen, weg damit, abziehen, Nummer zwei, es kollert, rollt, tänzelt, stößt gegen hartes Eisen — ich reiße die Leuchtpistole raus, Rakete aus der Hosentasche, der Lauf schnappt ein, Arm vor, los — es zischt — weg, zurück, ein metallenes Bersten, auf mich purzelt der Kerl, schlägt in den Graben — blendend weiß sprüht es auf. Im Nu öffnet sich ein Vulkan, schneeweiße Qualmballen stößt die Erde aus, eine weißglühende Wand baut sich auf, eine Hitzewelle dörrt uns den Atem, der Panzerwagen brennt. Ein irrsinniger, gurgelnder Schrei, zwei torkelnde Gestalten, brennend, schlagen mit fuchtelnden Armen, purzeln in den
Graben. Es ist taghell. Es ist totenstill. Gespenstisch steht die glühende Wand allein. Am Grabenrand liege ich und bohre den Kopf in den nassen Boden. Fast als hätte man mir alle Sehnen durchschnitten. Am liebsten hätte ich geschlafen. Aber Schmitz steht über mich gebeugt und fragt, ob ich eine Zigarre habe für die beiden Engländer, die sich aus dem brennenden Panzerwagen gerettet haben. Die stehen, zerfetzt und blutig und verbrannt, und sehen mit toten, rotgeränderten Augen still vor sich hin. Die Straße wird lebendig. Wir gehen zurück, die Engländer zwischen uns. Meinen Gummiumhang vermisse ich erst dicht vor der gestürmten Stellung. Und ich wollte um den einzigen materiellen Gewinn dieses Tages nicht betrogen sein. Der Umhang war meine Beute. Am Panzerwagen muß das Ding noch liegen. Die Kompanie soll auf dem Friedhof in Bereitschaft liegenbleiben. Zwischen den Grabkreuzen stelle ich mein Gewehr auf, die Leute hauen sich völlig erschöpft sofort hin, zwischen die zerwühlten Gräber. Ich rüttele den knurrenden Schmitz am Arm und sage ihm Bescheid. Dann stapfe ich auf der dunklen Straße dem glühenden Punkt zu. Der Gummiumhang nahm den ganzen Raum meines Denkens ein. In ihm verdichtete sich ein Traum von Wohlleben und Bequemlichkeit. Seine sammetweiche Innenhaut, die zeitweilig meinen bloßen Nacken streichelte, hatte mich erregt beglückt. Ich dachte mit Freuden daran, daß er schmiegsam war, daß ein Umhüllen mit ihm der Umarmung einer gepflegten Frau gleichen mußte. Das Bewußtsein, daß er aus England stammte, ließ mir gleich die Vision der
pfirsichzarten Haut einer englischen Schauspielerin erstehen, die ich in Deutschland als Kind einmal gesehen hatte. Sicherlich hatte der Umhang einem Offizier gehört. Der Unterstand, in dem er lag, war recht geräumig gewesen. Vielleicht hatten englische Offiziere in ihm gehaust. Die Engländer stellten eine große Anzahl Führer für die Letten. Wie der Tommy aus dem Panzerwagen mich so tot und leer angesehen hatte! Teufel, das muß ein peinliches Gefühl gewesen sein, in den dumpfen Stahlkammern des Panzers, als die Geschichte glühheiß aufbrannte. Da lag das Ungetüm wieder vor mir, seine Wände glühten noch schwach. Welch eine Idee, mutterseelenallein den nächtlichen deutschen Vormarsch aufhalten zu wollen! Ich näherte mich der ungeschlachten, viereckigen Kiste, schon im weiten Umkreis stank es nach verbrannter Farbe und nach verkohltem Fleisch. Ich griff ein Gewehr aus dem Graben, das dort lehnte, und stieß mit dem Lauf sachte gegen die heißdünstende Wand. Ich ging rund um den Wagen, da war auf der anderen Seite die Panzertür offen, hing in verbogenen Scharnieren. Ich sah vorsichtig hinein. Ein Wirrwarr von Gestängen und Eisenteilen. Auf dem Boden eine schwärzliche, verkrustete, verkohlte Masse. Dies war wohl ein Mensch. Ich stieß mit dem Lauf des Gewehrs unsagbar neugierig hinein. Es zischte etwas, die Außenhaut brach, das Gewehr fuhr tief hinein — es war, als bewege sich der Klumpen. Augenblicklich stieg mir der Magen zum Halse. Ich fuhr zurück vor widerlichem Gestank, Pest und Verwesung, taumelnd wandte ich mich ab.
Ich machte mich daran, meinen Umhang zu suchen. Da kommen von hinten Schritte aus dem Dunkel. Eine Gruppe versprengter Bayern macht im schwachen Lichtschein halt. Sie suchen ihr Bataillon. Das liegt als einziges weit vorn. Einer sagt, sie hätten den Bescheid gekriegt, bis zum Bahnwärterhäuschen vorzumarschieren, dort müßten Teile des Bataillons liegen. Wo denn das sei, in dieser gottverdammten Dunkelheit fände sich kein Mensch zurecht. Ich kannte das Gelände vom Maivormarsch auf Riga her. Ich versuchte zu beschreiben, wo die gesuchte Stelle war. Die Bayern stehen unschlüssig herum. Ob es noch weit sei. Und ob ich nicht mitgehen könnte, um sie zu führen. Ich überlege. Sehr weit ab konnte es nicht sein. Die Bayern verlaufen sich in dieser barbarischen Dunkelheit sicherlich und rennen am Ende den Letten in die Finger. Der Wald zwischen Straße und Eisenbahndamm ist sehr unübersichtlich. Aber vielleicht genügt es, bis zur Bahn vorzudringen und dann am Geleise entlangzugehen. Bis zur Bahn will ich die Bayern schon bringen. Den Umhang kann ich wohl auf dem Rückweg oder am Morgen in aller Frühe holen. Einer bietet mir Schnaps an. Das brennheiße Zeug gurgelt mir die Kehle herunter. Ich bin im Augenblick wieder frisch. Also, ich gehe mit. Der Wald war voller Geheimnisse. Wir waren entsetzlich einsam, und es kam uns fast wie eine Erlösung vor, als wir plötzlich Schüsse hörten, vorne an der Straße oder am Bahndamm, dort, wo das Bayernbataillon liegen mußte. Der Lärm dieser Schüsse hatte etwas Aufgeregtes, seltsam Vibrierendes. Wir machten augenblicklich und ohne Kommando allesamt eine
scharfe Linkswendung und rannten, wie magnetisch angezogen, auf den Lärm zu. Zweimal hieb ich mit dem Kopf an Bäume, ich stolperte über Wurzelwerk und Geäst, von den anderen hörte ich ab und zu nur das Geräusch, mit dem sie gleich mir durch das Dickicht knackten. Bald knatterte es ununterbrochen an fünf, sechs verschiedenen Stellen. Einzelne Geschosse pfiffen schon matt vorbei und zerknallten an den Stämmen. Vorn das Bataillon mußte in schwerem Gefecht liegen. Wir konnten deutlich die feindlichen und die deutschen Abschüsse voneinander unterscheiden. Das Bataillon rang anscheinend gegen eine ungeheure Übermacht. Wir rannten wie gehetzt nach vorn. Dabei mußten wir wohl nach rechts abgekommen sein, denn plötzlich tauchte neben mir die niedere Böschung des Bahndammes auf. Drei, vier Mann und ich kletterten hinauf und jagten dann zwischen den Schienen weiter, indes die anderen an der Böschung entlangliefen. Links vorne steigerte sich der wüste Lärm, einzelne langgezogene Schreie tönten. Schon sah ich das Aufblitzen der Schüsse. Da war ein Weg, der über die Bahn führte, da das Bahnwärterhäuschen. Wir rannten darauf zu. Uns pfiffen die Geschosse um die Ohren. Wir wurden, als wir polternd in den kleinen Hof stürzten, scharf angerufen. Eine kleine Gruppe Bayern lag hier und feuerte hinter einem Stapel Bahnschwellen hervor. Auch ein leichtes MG war da. An der Hausmauer lagen drei Verwundete, der eine rief mich an, erzählte wirr und stockend von Überfall und schweren Verlusten. Einer kam um die Ecke geschossen und schrie keuchend, wir sollten am Bahndamm weiter vorstoßen, dort müßte etwa 300
Meter weiter noch ein Haus sein, das sollten wir besetzen und den Letten in der Flanke packen, damit das Bataillon an der Straße etwas Luft kriege. Ich lief gleich los, meine Bayerngruppe nach rascher Verständigung hinterdrein. Die Bahn machte bald eine sanfte Schwenkung nach links; ich wußte, daß sie etwas weiter vorn, dort, wo sich das nächtliche Gefecht am lautesten gebärdete, die Straße kreuzen würde. Unschlüssig stand ich eine Weile still, indes im Wald hallend die Schüsse krachten. Da sah einer halbrechts vorn ein Licht. Das mußte das Haus sein; wir schlichen darauf zu, über eine Lichtung, durch eine karge Baumreihe, über freies Feld. Ein Kranz aufleuchtender blauer Punkte zeigte, wo etwa der Feind zu suchen war. Der Waldrand war wohl zum Teil von den Unseren besetzt. Wir schlichen auf die dunkle Masse zu, aus der verlassen und verloren ein rötlich erleuchtetes Fensterchen in die Nacht blickte. Am Wegrande flitzten wir auseinander zu kurzer Schützenlinie und rannten dann los, stießen gegen eine Hofmauer, fanden ein Tor; ich donnerte mit den Absätzen gegen das Holz. In sekundenlanger, atemloser Pause hörten wir eilige Schritte sich entfernen, eine schwache Stimme rief. Wir brüllten: «Aufmachen!» aber nichts rührte sich mehr außer der Stimme, die «Hilfe» stöhnte. Da warf sich einer gegen das Tor, einer hieb mit dem Spaten ein ungefüges Schloß herunter, bis das Holz zersplitterte. Mit vorgehaltenen Gewehren drangen wir in den Hof. Auf einem Misthaufen lag, vom schwachen Lichtschein des Fensters getroffen, ein Soldat mit offenem, blutgetränktem Rock. Er brabbelte stöhnend und bewegte schwach die Hand. Das ganze Haus schien
von dumpfen, bebenden Geräuschen erfüllt zu sein. Ich wurde auf einmal todmüde und wußte mit eisiger Klarheit, daß an dieser Stätte Entsetzliches vorgefallen sein mußte. Ganz stark spürte ich den lähmenden und betäubenden Dunst, der mir bei Beginn des Tages als der Atem dieser Landschaft und dieses Krieges erschienen war. Aber jetzt war er mit süßlich-fauligem Blutgeruch untermischt. Ich stützte mich auf mein Gewehr, und es war mir, als könne ich zu keiner Bewegung mehr erwachen. Ich hörte das Aufbrüllen des einen Bayern, der plötzlich mit pfeifender Stimme an mir vorbeilief, auf die Haustür zu. «Schweine», keuchte er, «Schweine, diese Schweine», und warf sich mit Wucht gegen die Tür, die sofort nachgab. Sein Schreien — ein wildes, langgezogenes Gurgeln aus fast gewaltsam zugeschnürter Kehle — tönte aus dem Haus, Gepolter und Stoßen, als taumele er umher. Und dann noch ein Schrei, der sich aus dumpfer Tiefe zum höchsten Diskant erregend hinaufschraubte und den dunklen Haufen vor der Tür in wirre Bewegung brachte. Mir war, als platze mir eine Ader an der Schläfe, als koche mein Blut plötzlich auf. Wir stürmten in die Tür, ein widerlicher Gasdunst schlug uns entgegen und hüllte die Lunge wie in einen feuchten Lappen. Es war, als risse mir eine in den weitgeöffneten Mund gestoßene Faust den Magen zur Kehle. Im Flur lag eine Leiche, ich stolperte über ein Paar Stiefel und sank mit den Knien auf ihren Leib. Da tastete die vorgeschnellte Hand in ein Geschling feuchter, klebriger, glitschiger Gedärme. Entsetzt fuhr ich zurück. Aber der brandende Ruck des Blutes, das nun meine Hand netzte, schlug
wie eine Welle über mir zusammen und wischte alle Hemmung weg. Ich raste auf plötzlichen Lichtschein zu. Da lagen sie — ja, da sah ich, was ich wußte, da lagen sie, auf stinkendem, blutbespritztem Stroh, mit zerhauenen Schädeln, aus denen glasig verdrehte Augen stierten, mit zerfetzten, schwärzlich-roten Kleidern, mit zerschlitzten Bäuchen, verrenkten, abgedrehten Gliedern, — hier lag allein ein Kopf, aus dessen einziger, scheibenförmiger Wunde schwarzes Rinnsal eine zerschluchtete, schwammige Masse schuf, dort klebte graues, von feinen roten Äderchen durchzogenes Hirn in dicken Platschen an den Wänden. Aus offenem Schlund tropfte das Blut in den Rachen, und das gab einen schnarchenden Ton an die Stille ab, an die tödliche Stille, in der wir erstarrt standen. Wir standen und sahen, schauten mit harten, gebannten Augen auf die Leichen, aus deren jeder eine furchtbare Wunde blühte — dort, aus dem Wust und Schwulst herabgezerrter Kleider und Wäsche, im Zentrum jedes Leibes, zwischen Lende und Schenkel. Dies alles, dies und noch unendlich viel mehr ballte sich in einem einzigen Bild, zwang sich in eine Sekunde, hämmerte sich mit einem Schlage für alle Ewigkeit in mein Hirn. Und nun schrien wir alle los. Ich sah durch rote Schleier, wie der eine einen Schmiedevorschlaghammer packte, der blutbesudelt in der Ecke lag, aufbrüllend auf die Tür stürzte, wir wandten uns hinaus, wir quetschten uns in die Tür, scheuten in den Hof. Draußen knallte in der Nacht noch immer das Gefecht. Wir aber kümmerten uns nicht darum, wir stellten keine Posten aus, wir legten uns nicht in Deckung, wir vergaßen Auftrag und Befehl,
wir rannten durch den Hof und stießen in jeden Winkel hinein, durchrasten jede Kammer des Hauses, fegten durch den Stall und die Scheune, bereit, alles zu morden, was uns lebendig in die Finger fiel, alles kaputtzuschlagen, was sich unseren Blicken bot. Da zerrten sie unter Wagengerümpel einen Kerl hervor, einen alten, langen, wimmernden Panje, und ehe der taumelig auf beiden Füßen stand, schmetterte ihm der Vorschlaghammer auf den Kopf, daß er zusammensackte wie ein Tuch. Da fiel die Kuh im Stall nach einem sinnlos hingeknallten Schuß, da traf ein Kolbenschlag den kleinen, struppigen Hund und zermalmte ihn zu blutigem Brei — es klirrten Bilder von den Wänden, ein Spiegel fiel, die Töpfe krachten scheppernd auf den Stein, die Türen der Kommoden barsten, daß Stoff und Plunder quoll. Die Stühle splitterten gleich wie der Tisch. Erst als der Lärm des nächtlichen Gefechtes wieder lauter zwischen das Klirren der Zerstörung tönte, erst als der rote Rausch im Fusselregen auf dem Hof sich dämpfte, besetzten wir die Mauer, fiebernd, heiser, mit schlagenden Pulsen, und jagten sinnlos, nur um unsere wilde Spannung zu lösen, Schuß auf Schuß in die Nacht, dorthin, wo das Geknatter nicht abreißen wollte, wo der Feind liegen mußte. Erst in den Vormittagstunden kam ich mit den Resten des zusammengeschossenen Bataillons Berthold in die Friedhofstellung zurück. Meinen Gummiumhang hatte ich nicht mehr gesucht. Ich legte mich auf ein Grab und schlief, bis mich der Lärm des Gegenangriffs weckte.
Endkampf Etwa 500 Meter vor dem Friedhof erstreckte sich ein langer, schmaler See parallel der Stellung bis dicht an die Straße, da, wo das ausgebrannte Panzerauto stand. In etwa 3000 Meter Entfernung lagen rechts und links der Straße einige Gehöfte. Dort mußte der Lette stecken. Rechts der Straße bis zum Bahndamm zog sich bis zu den Gehöften ein Waldstreifen hin. Links der Straße war das Gelände mit Gebüsch bedeckt wie ein zerrupfter Teppich. Leutnant Kay bekam den Auftrag, mit einer Gruppe Hamburger und zwei Gewehren die schmale Senke zwischen See und Panzerauto zu besetzen. Wir machten uns auf den Weg. Das dichte Gebüsch war uns beim Tragen der schweren Gewehre sehr hinderlich, und wir kamen nur langsam vorwärts. Darum gedachte ich, entgegen ausdrücklichem Befehl, auf die Straße zu klettern und dort weiterzumarschieren. Ich winkte also der Bedienung und wandte mich nach rechts. Am Chausseegraben drehte ich mich um, bereit, den Trägern des Gewehres zu helfen; da stand der Schütze drei, Gohlke, mit weitgeöffnetem Mund und starrte längs des Grabens nach vorn. Ich riß meinen Kopf herum, und ein Eiskloß rann mir langsam vom Hirn bis zur Sohle; denn 30 Meter vor uns war das Gebüsch lebendig und im Graben rückten in unabsehbarer Reihe die Letten an. Ich schrie auf,
Gohlke schmiß das Gewehr hin, in Gedankenschnelle war der Gurt im Zuführer und ich konnte gerade noch vor der Mündung beiseite springen, da knatterte Gohlke auch schon los. Und vorne warf Kay eine Handgranate, und im Augenblick blitzte es auf beiden Seiten prasselnd auf. Wir waren mitten in den Gegenstoß hineingetapert. Die folgenden Sekunden ließen, trotz unbeschreiblicher Verwirrung, erkennen, daß die Letten schon über den Punkt, den wir besetzen sollten, hinausgedrungen waren und nun dichtgedrängt im Busch der schmalen Senke liegen mußten. Es peitschte mit einem widerlichen und entnervenden Laut durch die Sträucher, kleine Äste und Blätter flitzten uns um die Ohren, und rechts, links und überall spritzte der Sand. Gohlke jagte einen Gurt um den anderen durch; wir hatten glücklicherweise gehörig Munition mitgenommen. Nun wurde hinten der Hügel auch lebendig. Wir hörten eine Reihe der dunklen Minenabschüsse, und unsere Batterie setzte eine Lage haargenau 30 Meter vor uns hin. Jetzt rasselten auch die Maschinengewehre des Friedhofes, aber sie schossen zu kurz, und wir lagen nun glücklich in zwei Feuern. Ich schrie und winkte wie verrückt nach hinten, doch nun wurde es noch toller. Anscheinend dachte die Besatzung des Friedhofes, der da winke, sei ein Lette; es prasselte um uns herum; durch unser Winken erkannten die Letten die Stelle genau, wo wir lagen, und nun schien die Luft vie zerschnitten zu kleinen Schnipfelchen, die unablässig auf uns herabregneten. Von hinten kam Sperr- und Vernichtungsfeuer aus allen Läufen und Rohren. Wir sahen im Busch die
schweren Ballen der Einschläge dicht aneinandergereiht. Wir hörten grelles Geschrei sich in das Krachen mischen. Wir spürten, wie vorne flatternde Bewegung entstand. Doch ging der Lette nicht zurück; er drängte vor. Endlich hatten die auf dem Friedhof gesehen, wo wir lagen, und legten das Feuer nach vorn. Ich hatte keine Schußwaffe mitgenommen. Nichts ist zermürbender, als in solcher Lage untätig zu sein. Neben mir lag der Schütze Murawski, aber er schoß nicht, der Bursche; er hatte sein Gewehr neben ich liegen, den Kopf in den Erdboden gepreßt und schoß nicht. Ich knuffte ihn, er sah hoch. «Was schießt du nicht?» schrie ich ihn an. Er schrie bleich zurück — ich hatte Mühe, ihn zu verstehen —: «Ich muß was Schädliches gegessen haben!» und sah mich vorwurfsvoll an. Ich mußte lachen und beruhigte mich im Lachen etwas und forderte sein Gewehr und Patronen. Ich schoß nun, entspannte mich, und als ich nach wenigen Minuten zu Murawski hinsah, war er tot. Allmählich schien das Feuer des Gegners unsicher zu werden. Es war die höchste Zeit, denn unsere Munition ging zu Ende. Kay, der einige Meter voraus dicht am See im Busch lag — ich konnte gerade noch ein Stückchen seines hellen Mantels sehen —, erhob sich plötzlich und prang mit geschwungener Handgranate vor. Ein paar der Hamburger folgten ihm. Ich hörte die Detonationen im schwächer werdenden Feuer der Minenwerfer und Artillerie. Wir ließen das Gewehr im Graben stehen und rannten Leutnant Kay nach. Von hinten kam Verstärkung. Wir jagten Leuchtkugeln hoch, und die Einschläge wanderten vor uns her. Nach wenigen Schritten stießen wir auf die ersten
Toten. Und nach wenigen weiteren Schritten war es schwer, eilig zu gehen, ohne nicht unversehens auf noch warme Leiber zu treten. In dem schmalen Strich vom See zum Panzerauto zählte ich allein über zwanzig tote Letten. Überall stöhnten Verwundete. Am Nordrand der Senke erhielten wir MG-Feuer, und die Gruppe Kay zog sich zurück, der Verstärkung den Nachstoß überlassend. Wir hatten vier Tote. Kays Mantel wies sieben Einschüsse auf. Das Gewehr Schmitz war demoliert, Schmitz selber hatte sich im heißen, hervorsprudelnden Wasser seines eigenen Gewehres die Hand verbrüht. Von den Hamburgern war nur einer völlig unverwundet. Die toten und gefangenen Letten waren sämtlich ganz neu eingekleidet, hatten englische Gewehre und englisches Koppelzeug. Unter den Gefangenen war ein Offizier, ein früherer lettischer Schullehrer. Er war verwundet und hatte einen Nervenschock. Gefragt, wollte er Auskunft geben, aber ein lettischer Soldat mit blutendem Armstumpf schrie ihm drohend etwas zu, und er schwieg vertattert. Der lettische Gegenangriff war restlos zusammengebrochen. Wii strichen den ganzen Nachmittag im Vorgelände herum, ohne einer Schuß zu tun. Wir verstanden nicht, warum wir nicht sofort nach Riga hineinstoßen sollten. Doch im Südosten wurde noch heftig gekämpft wir hörten blubberndes Geschützfeuer. Es kam Nachricht vom Norden. Dort waren die Russen an der Küste nach unzähligen Kleingefechten im Dünengewirr bis zur Düna vorgedrungen. Bei Bolderaa sahen sie die englische Flotte in der Rigaer Bucht mit drohend erhobenen Breitseiten
liegen, und sie sahen, wie vier lettische Dampfer eilig über die Düna hin- und herfuhren, um die geschlagenen lettischen Abteilungen überzusetzen. Die Russen nahmen diese Dampfer sofort unter Feuer. Da sank von den Masten der Schiffe der Union Jack, und die lettische Flagge ging hoch. Dann wurden die Russen durch die Salven der englischen Schiffsgeschütze mit Stahl, Feuer und Sand zugedeckt England schützte seinen treu ergebenen Knecht. In der folgenden Nacht stürmte die Deutsche Legion von Süden hei die Rigasche Vorstadt Thorensberg und sperrte die Brücken. Unser Bataillon sollte über Baldon hinaus den Dünabogen bei Üxküll in ganzer Breite säubern und halten. Die Below-Höhe ist die letzte, ziemlich unvermittelt ansteigende Kuppe des Baldoner Hügelrückens, genannt nach dem General v. Below, der im Jahre 1917 nicht weit von der Höhe den Dünaübergang zum Angriff auf Riga erzwang. An den Hängen der Höhe liegt eine Reihe von Kriegerfriedhöfen, mitten zwischen Tannen und Birken. Die Straße nach Bad Baidon schlängelt sich um die bewaldete Kuppe herum, in einem Hohlweg, der flankiert ist von ziemlich hochgelegenen Gehöften. Diese Gehöfte und die Hänge der Höhe waren von einem lettischen Bataillon besetzt, als die Abteilung von Liebermann, von Baidon herkommend, gegen drei Uhr morgens auf der Straße anmarschierte, um den Dünabogen zu besetzen. Die Nacht war sehr dunkel, aber windstill und voll angenehmer Luft. Es war eine Nacht, die Lust gibt, ein Lied vor sich hinzusummen. Die Hamburger, die an der
Spitze des Zuges marschierten, taten das auch. Sie sangen, aber nicht laut, sondern mit gedämpfter Eindringlichkeit, gleichsam, als wollten sie sich hinwegtäuschen über das Staunen, das den Soldaten oft überfällt an Orten, an denen er sich plötzlich findet, ohne recht zu begreifen, wie er gerade dahin kommt. Als die ersten Gruppen die Brücke über einen dürftigen Bach betraten, machte den Soldaten das hohle, rhythmische Gepolter der Bohlen Spaß, und sie traten im Takte des Liedes vom Kurlandmädchen kräftig auf. Dann marschierten sie geruhig in den Hohlweg hinein. Sie sahen wohl die Schatten von Gebäuden droben auf dem nahen Hang, doch lag das Land in schweigender Behaglichkeit. Ich ging neben Leutnant Wuth, der auf seinem Gaule saß und sich mit mir gedämpft unterhielt. Vor uns knarrte der Wagen des Minenwerferzuges, hinter dem der Unteroffizier Schmitz neben einem durch einen Strick an den Wagen gebundenen Werfer im Gehen schlafend dahinpendelte. Und dann war auf einmal die Hölle los. Das erste, was ich sah, war, daß Leutnant Wuth vom Gaul stürzte und in den Graben fiel. Der Gaul schlug um sich und legte sich dann hin. Ich sprang in den Graben zu Wuth und fragte, ob er verwundet sei. Doch saß er aufrecht an der Böschung und tauschte sorgsam die Feldmütze mit dem Samtbarett, erklärend, er vermute, es würde jetzt wohl ein Gefecht geben. Das zweite, was ich sah, war, daß der Unteroffizier Schmitz das Seitengewehr aus der Scheide riß und mit einem einzigen, gewaltigen Hiebe das Tau zerschnitt, mit dem der Werfer an den Wagen gebunden war. Dann schmiß er eine Minenkiste
vom Wagen, und ich stürzte hinzu und riß sie auf und griff eine Mine, die er entsicherte und sofort in die Luft jagte, irgendwohin. Das dritte, was ich sah, war, daß die Kolonne in vollständiger Panik durcheinanderlief. Leutnant Wuth rannte fluchend und mit der Reitpeitsche um sich hauend die Straße entlang, aber nach vorn und schrie: «Hinlegen! Schießen!» Als die erste Mine krachte, war für einen Augenblick völlige Stille, und ich hatte das Gefühl, als dächte jeder, — was? unser Minenwerfer schießt ja, dann kann es nicht so schlimm sein. Schmitz aber feuerte nun Schuß auf Schuß, und dann setzte das Gewehr Hoffmann ein, und dann lagen die Hamburger im Graben, hinter den Wagen und toten Pferden und schossen, und im Lärm unseres Feuers erstickte die Panik sogleich. Mein Gewehr lag wohlverpackt in einem Wagen, aber ich konnte nur eine Handgranatenkiste greifen, die zuoberst lag, und steckte also mein Koppel dicht voll Handgranaten. Und dann sah ich mich um, wo ich die Dinger wohl verwenden könne. Es blitzte am häufigsten von dem steilen Hang vor den Häusern. Wir lagen eingekeilt zwischen zwei feuernden Halbkreisen, und wir bekamen von allen Seiten Dunst, außer von vorne, also außer von da, wo die Straße weiterging. Ein Zurück war ganz unmöglich, denn die Brücke mußte unter rasendem Beschuß liegen, nach den Schreien zu urteilen, die von dorther kamen. Schmitz streute mit seinem Werfer — mittlerweile waren die beiden anderen Werfer auch schon in Tätigkeit getreten — systematisch die Häuser und die Hänge ab. Ich steckte Unteroffizier Ebelt, der mit einigen Hamburgern hinter einem Wagen kauerte und
schoß, schweigend ein paar Handgranaten zu, und er folgte mir mit seiner Gruppe sofort, als ich die Straße entlang nach vorn rannte. Bald trafen wir Wuth und Kay, die beide an einem LMG der Hamburger herumarbeiteten. Wuth sah erstaunt hoch, als wir an ihm vorbeirannten und riefen: «Wir machen jetzt für uns alleine Krieg!» Ganz langsam wurde es Tag. Wir liefen ein Stück die Straße längs, dann kletterten wir den Steilhang hoch und sahen sofort die Schützenlinie der Letten, an deren linkem Flügel wir standen. Keiner hatte uns vermutet und kommen sehen. Und nun rollten wir mit Handgranaten die Linie auf. Ich konnte nicht viel sehen, ich konnte auch nicht viel hören, ich wußte nur, daß mein Körper sich nach hinten krümmte und wieder vorschnellte und daß dann eine Sprengladung aus meiner Faust flitschte und die Wucht des Wurfes mich ein paar Schritt nach vorne riß, gerade so viel, wie nötig ist, um den nächsten Wurf zu machen. Das ging ganz automatisch, genau nach Vorschrift, das war oft geübt. Ich spürte mit einer seltsamen Verzückung die Spannkraft meines Leibes, und als etwas schmerzhaft gegen mein Schienbein schlug, war doch kein Zweifel in mir, daß ich nicht verletzt oder getötet werden könne. Als eines der Häuser in Flammen aufging und den dämmernden Tag strahlhell erleuchtete, verschwanden die letzten Letten im Gehölz. Kaum waren die ausgeschwärmten Kompanien wieder zurück, als wir erneut heftig beschossen wurden. Das Feuer kam aus einem Waldstück hinter der Höhe.
Ich stand gerade mit Ebelt hinter der Feldküche und zerschnitt die durchschossene und blutende Wickelgamasche des rechten Beines, um nach der Wunde zu sehen, als dieser zweite Feuerüberfall geschah. Ebelt sagte auf einmal: «Ich hab eine weg!», sah mich fassungslos an, drehte sich um, ließ sein Gewehr fallen, fiel langsam auf die Knie, stützte sich noch einmal mit den Händen und blickte traurig zu Boden. Dann legte er sich hin. Die Hamburger gingen vor, sofort verstummte das Feuer, und im Walde wurden nur drei tote Letten gefunden. Als ich zurückkam, kniete der Bataillonsarzt bei Ebelt und stellte glatten Herzschuß fest. Ich sagte, das sei unmöglich, und erzählte, was ich gesehen hatte. Doch der Doktor zuckte die Achseln und meinte, ich phantasiere, und untersuchte meine Schienbeinwunde. Es war nur ein Handgranatensplitter, wahrscheinlich war ich in meinen eigenen Wurf hineingelaufen. Die Hamburger hatten vier Tote, sie wurden auf den Kriegerfriedhöfen des Jahres 17 beigesetzt. Mit Ebelt begann eine neue Gräberreihe. Noch dreimal mußten wir in den folgenden Wochen eine neue Gräberreihe beginnen lassen. Wir säuberten den Dünabogen. Wir mußten Gehöft für Gehöft nehmen und das ganze breite Stück Land Busch für Busch absuchen. Und wenn wir bis zum Strome vorgedrungen waren, dann mußten wir wieder zurück und die vor wenigen Tagen gestürmten Gesinde noch einmal stürmen. Denn das Bataillon hatte einen Abschnitt von 12 Kilometern Front zu halten, und die Letten konnten überall durch. Wir lagen in zer-
schossenen Häusern und verfallenen Scheunen, wir gingen Tag für Tag Patrouille, wir schoben Nacht für Nacht Wache. Wir verloren den spärlichen Anschluß nach rechts und links. Wir hatten keine rückwärtigen Verbindungen, wir bekamen weder Proviant noch Sold noch Munition heran, und unsere Meldereiter mußten von starken Patrouillen bis Baidon begleitet werden. Wir wurden in vier Wochen siebzehnmal angegriffen. Wir standen an der Düna und sahen drüben am jenseitigen Ufer den Rauch der Eisenbahnzüge, die unablässig rollten, von Friedrichstadt nach Riga und zurück, vollbesetzt mit Truppen. Wir sahen das feindliche Hinterland sich füllen mit Truppen, wir sahen die Quartiere der Letten und die Batteriestellungen und konnten sie zählen und wußten, da drüben steckt fünfmal soviel wie bei uns. Wir zogen mit unseren Minenwerfern hin und her und jagten hier ein paar Schuß hinüber und dort ein paar und schickten Leuchtkugeln in Massen in die Luft und knatterten mit den Gewehren und mimten gewaltige Macht. Aber für jeden Schuß von uns schickte der Lette zwanzig, und er schickte auch Patrouillen, die waren gleich kompaniestark; er setzte sie nachts über, und wir mußten sie morgens wieder zurückwerfen. Wir waren bewaffnet bis an die Zähne und gerüstet bis ans Herz, auf drei Mann kam ein M. G., und auf zwanzig Mann kam ein Minenwerfer. Aber deswegen war das ganze Bataillon doch nur hundertsechzig Mann stark. Und die Köche und die Schreiber und die Fahrer und die Sanitäter und die Herren vom Stabe, sie lagen alle mit in der Front und schoben mit Wache und gingen mit Patrouille. Aber deswegen blieb die
Gefechtsstärke doch nur hundertsechzig Mann. Wir waren behängt mit Karabiner und Pistole und Handgranaten und Leuchtpistole. Aber dafür hatten die wenigsten von uns einen Mantel, und wenn sie einen hatten, dann gehörte er früher einem Letten. Wir gingen den Feind an, wo wir ihn trafen, gleichgültig, wie stark er über die Düna kam. Aber das Stück Land, das wir verteidigten, hatte bald kein Huhn mehr für uns, von anderem Fleisch nicht erst zu reden, und von hinten kam nichts heran. Die ersten Tage des November brachten eine schneidende Kälte mit sich und Schneegestöber. Wir wickelten uns alte Lumpen um die Körper und hüllten die Beine und die Hälse in zerfetzte Schals und bekamen mehr Läuse, als wir jemals hatten. Wir stapften durch schneeverwehte Mulden und krochen durch weiße, tiefe, stille Wälder. Wir strichen an der Düna entlang und wir versteckten uns in bröckelnde Erdhöhlen. Wir hatten nichts zu kochen; die spärlichen, erfrorenen Kartoffeln waren nur geröstet genießbar. Unsere Verwundeten bekamen den Brand und starben. Wir hatten zwar einen Arzt, doch der lag mit im Gefecht, und wir hatten weder Verbandzeug noch Medikamente. Drüben die hatten alles. Wir lagen des Nachts in Igelstellung um irgendein Gehöft. Jede Kompanie in einer Stellung für sich und die Kompanien je drei Kilometer weit auseinander. Wurde eine Kompanie angegriffen, dann kam die Hälfte der anderen zu Hilfe, aber meist wurden zwei Kompanien angegriffen, oft auch alle drei. Wir hatten keine einzige Nacht Ruhe. Die Pferde magerten ab, denn woher sollten wir Futter nehmen; die
Küchengäule gingen zuerst ein, schwerer belgischer Kaltschlag, dann die Pferde der Bagagewagen. Nur die Panjegäule blieben munter. Die lettischen Bauern hungerten und froren wie wir, doch waren die meisten Gehöfte unbewohnt. Wir hätten jeden wegen Verrates totgeschlagen, der uns aufgefordert hätte, dem Befehl der Reichsregierung gemäß nach Deutschland zu rückzukehren. Gegen die Mitte des November begann die Düna zuzufrieren. Nur kamen die Letten ungehindert über den Strom. Nun hörten wir spärliche, aber böse Nachrichten. Bei Bolderaa setzten die Letten unter dem Schutz der englischen Schiffskanonen über und warfen die Russen zurück. Bei Friedrichstadt wurde die Deutsche Legion angegriffen, hielt sich mühsam in tagelangem Gefecht und wich dann Schritt für Schritt. Von Riga aus mißglückte ein lettischer Überfall auf Thorensberg, ohne daß die folgenden dadurch aufgegeben wurden. Wir hielten den Dünabogen. Wir standen mit klammen Gliedern, indes uns der schneidende Ostwind kältend in die Knochen fuhr. Wir machten nun unsererseits Vorstöße über die Düna, überfielen lettische Feldwachen und stießen bis zur Bahnlinie vor, die wir sprengten. Am nächsten Tage fuhren drüben die Züge wieder. Am nächsten Tage war der Lette bei uns und nahm Rache und deckte die Pionierkompanie mit allen Kalibern zu. Wir schlichen wie geprügelte Hunde, eingemummt, zerfetzt, ausgehungert, verfroren, verlaust von Feldwache zu Feldwache, wir horchten auf das dumpfe Grollen im Norden und Süden, wir sahen des Nachts die Röte über dem Himmel, dort, hinter
jenem Hügelrücken, wir standen am Uferhang und starrten mit brennenden Augen nach Riga, der Stadt. Es kam der Befehl, wir mußten zurück. Noch am Abend vorher waren die Hamburger umzingelt und angegriffen worden, und der Lette hatte schwere Verluste. Doch am Morgen kam der Befehl und wir marschier ten zur Eckau ab. Was war geschehen? fragten wir. Unsere Offiziere konnten es uns nicht sagen. Die Meldereiter konnten es uns nicht sagen. Die lettischen Gefangenen, die die Hamburger am letzten Abend machten, die sagten es uns. Die Letten waren dicht nördlich und dicht südlich von Thorensberg durchgebrochen und umschlossen die Stadt, in der die schwache Besatzung nach allen Seiten um ihr Leben focht. Die Letten hatten bei Bolderaa die deutsche Linie weit zurückgedrückt und bei Friedrichstadt waren sie weit im Vorrücken. Die Esten hatten den Letten Verstärkungen gesandt. Die Bolschewiken hatten einen kurzen Waffenstillstand zugesichert. Die Litauer hatten der russischen Westregierung, das heißt also uns, den Krieg erklärt und den schwachen Bahnschutz unserer einzigen Rückzugsader unvermutet angegriffen; und bei den Letten und Esten und Litauern rollte Englands Geld. Da kam Roßbach. An der Weichsel beim Grenzschutz erreichte ihn unser Ruf. Er kündigte der Regierung den Gehorsam und brach mit seinem Freikorps nach dem Baltikum auf. Eine Abteilung Reichswehrjäger stellte sich ihm entgegen, auf Befehl Noskes. Doch die Jäger schlossen sich Roßbach an. Die Roßbacher marschierten durch Ostpreußen, sie kamen
zur Grenze. Sie überrumpelten die Grenzbesatzung und marschierten nach Litauen hinein. Litauische Abteilungen sperrten ihnen den Weg; sie räumten sie in hurtigen Gefechten weg. Sie erreichten die Bahn und setzten sie instand. Sie fuhren bis Mitau und hörten von der Schlappe in Thorensberg. Sie traten vom Zuge aus an und stürmten im Eilmarsch vor. Sie nahmen die zurückflutenden Abteilungen auf und stießen dicht vor der Stadt, nach wahnsinnigem Marsch, auf den Letten. Und sie entwickelten sich aus der Marschkolonne heraus zum Sturm, und zum ersten Male im Baltikum erklangen die Hörner und jubelten das Infanteriesignal zum Avancieren. Roßbach stürmte. Roßbach fuhr in die siegestrunkenen Letten und raste in die Stadt hinein und warf Feuer in die Häuser und prallte gegen geballte Kolonnen und zersprengte sie und hieb die verzweifelt fechtenden Umzingelten heraus und führte sie zurück. Aber Thorensberg war und blieb verloren. Die deutsche Regierung sandte fürsorglich einen General, der die Baltikumer nunmehr an den mütterlichen Busen der Heimat zurückbringen sollte. Unter seinen Salonwagen flogen Handgranaten. Die Letten folgten uns sofort. Kaum hatten wir einen Wald verlassen, dann bewegten sich schon die schneestäubenden Zweige der Bäume hinter uns, und es knatterte uns um die Beine. Wir hieben nach rechts und nach links, wir verhielten an jeder Ecke, an jedem Waldstück, an jedem Bach. An der Eckau krochen wir in brandgeschwärzte Ruinen und wendeten alle Rohre dem nachdrängenden Letten zu. Und es schneite, schneite, schneite.
Wir machten den letzten Stoß. Ja, wir erhoben uns noch einmal und stürmten in ganzer Breite vor. Noch einmal rissen wir den letzten Mann mit aus der Deckung und stießen in den Wald hinein. Wir rannten über die Schneefelder und brachen in den Wald. Wir knallten in überraschte Haufen und tobten und schossen und schlugen und jagten. Wie trieben die Letten wie Hasen übers Feld und warfen Feuer in jedes Haus und pulverten jede Brücke zu Staub und knickten jede Telegraphenstange. Wir schmissen die Leichen in die Brunnen und warfen Handgranaten hinterdrein. Wir erschlugen, was uns in die Hände fiel, wir verbrannten, was brennbar war. Wir sahen rot, wir hatten nichts mehr von menschlichen Gefühlen im Herzen. Wo wir gehaust hatten, da stöhnte der Boden unter der Vernichtung. Wo wir gestürmt hatten, da lagen, wo früher Häuser waren, Schutt, Asche und glimmende Balken, gleich eitrigen Geschwüren im blanken Feld. Eine riesige Rauchfahne bezeichnete unseren Weg. Wir hatten einen Scheiterhaufen angezündet, da brannte mehr als totes Material, da brannten unsere Hoffnungen, unsere Sehnsüchte, da brannten die bürgerlichen Tafeln, die Gesetze und Werte der zivilisierten Welt, da brannte alles, was wir noch vom Wortschatz und vom Glauben an die Dinge und Ideen der Zeit, die uns entließ, wie verstaubtes Gerümpel mit uns geschleppt. Wir zogen zurück, prahlend, berauscht, mit Beute beladen. Der Lette hatte nirgends standgehalten. Aber am nächsten Morgen war er wieder da. Die Russen im Norden waren weich und gaben nach. Im Süden die Deutsche Legion, die ein riesiges Gebiet zu decken
hatte, ließ Lücken, in die sich der Lette hineintastete. Eine ungeheure Zange bedrohte Mitau. Es kam der Befehl, wir mußten zurück. Die Wagen reichten nicht mehr. Die Pferde starben. Wir hatten die Wahl, unser Gepäck weiter mitzuschleppen oder die Minenwerfermunition. Wir warfen das gesamte Gepäck auf einen Haufen, Tornister und Schreibstubenkram, Ausrüstungsgegenstände und Beute. Wir steckten den Haufen an, packten die Minen auf die Wagen und fuhren ab. An der Aa verteilten sich die Reste der Kompanien. Ich bekam eine Feldwache in einem Gehöft an einer Biegung des zugefrorenen Flüßchens. Wir waren zehn Mann, drei Panjewagen, zwei MGs, ein Minenwerfer. Vor uns der Wald, rund um uns freies Feld, nordwestlich lag Mitau wie ein breiter, verschwommener, verblaßter Tintenfleck auf weißem Löschpapier. In der Nacht wurde die Feldwache rechts von uns überfallen. Wir funkten dem Angreifer in die Flanke, und er mußte zurück. Am frühen Morgen war der Lette vor uns im Wald. Wir schliefen dichtgedrängt um ein kärgliches Feuerchen, das uns Ruß und Rauch auf die schmutzigen Gesichter legte und die Tränen in die rotgeränderten Augen trieb. Es weckte uns das Geprassel gegen die dünnen Mauern des Hauses. Wir lagen hinter Schneehügeln und feuerten. Wir kauten vereistes Brot und schossen. Wir bekamen Feuer von drei Seiten, von allen Kalibern bis zu den russischen 18-Zentimeter-Brocken. Wir hatten keine Verbindung zu den anderen Feldwachen mehr. Wir sahen, wie in Mitau die Lagen einschlugen, wie ein
leichter Schleier sich über der Stadt bildete, wie sich der Schleier verdichtete zu schwerem Rauch, wie der Rauch einen roten Kern bekam, viele rote Kerne, wie sich die Kerne zusammenschlossen zu einem einzigen roten Meer. Und wir lagen den ganzen Tag und schossen. Der erste, der fiel, war Gohlke. Er lag hinter seinem Gewehr und bekam einen Kopfschuß, der ihm die ganze Hirnschale wegriß. Dann fiel ein Hamburger; ein Ratscher zerschlitzte ihm den Bauch. Als der Abend sank, wurde der dritte, ein Minenwerfer, schwer am Bein verwundet und verblutete unter langanhaltendem Stöhnen, da keiner ihm helfen konnte. Wir hatten längst keine Verbandpäckchen mehr, und jedermann wurde an der Waffe gebraucht. Und Mitau brannte. Und der Lette jagte Schuß auf Schuß zu uns. Aber er jagte keinen Schuß mehr nach Mitau hinein. Da wußten wir, daß Mitau vom Letten genommen war. Wir lagen einsam im Feld und schossen. Es wurde nicht dunkel, denn die Fackel Mitau färbte den nun zerwühlten Schnee mit rosigem Schein. Der Minenwerfer schoß unentwegt. Noch lagerten etwa zwölf Minen im Schutze des Uferhangs der Aa, dort, wo auch die bespannten Wagen standen. Da kam Leutnant Kay angeprescht, hoch zu Roß. Er stürzte in den Hof, indes das Dach des Hauses in Flammen aufging und die Mauer bröckelte. Er schrie uns zu: «Sofort zurück! Mitau ist von den Letten besetzt! Wir können noch am Bahnhof durchstoßen und die Straße nach Schaulen erreichen. Das Bataillon ist längst
abgerückt!» — der Melder, der uns holen sollte, war nicht angekommen. Wir gingen nicht eher, als bis die letzte Mine abgeschossen war. Wir schleiften den Werfer auf das Eis des Flusses, und indes die Gewehre und die Munitionskästen auf die Wagen flogen, feuerte der Werfer nach allen Richtungen. Ich überzeugte mich, daß nicht ein Knopf liegenblieb. Die Toten luden wir auf einen Wagen. Die Verwundeten, vier an der Zahl, setzten sich dazu. Wir schoben die gleitenden Pferde und rutschenden Karren mühsam über das Eis und hoben sie fast an der jenseitigen Böschung hoch. Wir waren mit Kay noch fünf intakte Kämpfer. Die Geschosse peitschten mit widerlichem Pfeifen das Eis. Als die letzte Mine triumphierend in den Waldrand hieb, steckte ich eine Handgranate in den Lauf und zog ab. Dann rannte ich los. Der Werfer barst mit heulendem Knall. Den Wagen mit den Verwundeten nahmen wir in die Mitte. Vorne und hinten lag schußfertig ein MG auf dem Gestänge. So lösten wir uns vom Feind. Bis kurz vor Mitau verfolgte uns das Zischen der Geschosse. Dann holperten wir schweigend der Stadt zu. Die ersten Häuser waren bald erreicht. Kein Mensch war auf der Straße; wir knatterten gespenstisch über das Pflaster. Der hohle Lärm aus der Innenstadt verfing sich in der schmalen Zeile und prallte an alle Ecken. Plötzlich ruckte der vorderste Wagen los. Aus einer Seitenstraße kamen einzelne Letten, ihre Schatten zuckten im Flackerscheine brennender Häuser. Wir rasten im Karracho an ihnen vorbei. Sie stoben überrascht auseinander und pfefferten uns flirrende
Schüsse nach. Und da lag der Bahnhof, und dort geht es zur Chaussee. Kay auf seinem Gaul hob den Arm, als kommandiere er eine Batterie zum Trab, wir peitschten auf die Pferde und sahen nicht rechts und nicht links. Aber am Bahnhof standen Letten, sie schrien und johlten und waren wahrscheinlich betrunken. Wir rasten vorbei. Kurz bevor wir die Chaussee erreichten, fiel ich vom Wagen. Ich raffte mich mühsam hoch und lief verzweifelt hinter den anderen her. Die Straße war unbesetzt. Das Dunkel verschluckte uns. Ich war wohl der letzte deutsche Soldat, der Mitau verließ.
Drohung Dieselbe eigentümlich klare und heitere Leichtigkeit des Empfindens, die dem Kämpfer nach starkem Blutverlust plötzlich das Bewußtsein der Schwäche und die Müde der Glieder durch den hohen Genuß einer gleichsam unpersönlichen Betrachtung der Umwelt aufhebt, ließ auch uns sogleich nach dem Überschreiten der Grenze Deutschland wie durch geschliffenes Glas sehen. Die Fremdheit dieser Erde und dieser Menschen dämpfte sofort die Wirklichkeit unserer Entschlüsse, wie sie gleichermaßen das krause Geäst eben erst erlebter Geschehnisse in einen beschatteten Hintergrund drängte. So stießen wir mit unserem entschiedenen Rachewillen in einen leeren Raum und verloren den heißen Atem unserer blinden Gelüste in
der dünnen und kühlen Luft des Reiches, bevor wir den gesuchten und zu treffenden Gegner überhaupt erst sahen. Wenn immer auf unserem Rückmarsch durch die weiten Schneefelder Litauens in uns Zerlumpten und Verlorenen sich Stolz und Zuversicht erhielt, dann geschah dies durch das Bewußtsein, daß sich in uns, in dieser kleinen und gehärteten Gemeinschaft, das Schicksal des Frontheeres von 1918 wiederholte. Nicht wiederholen aber sollte sich nach unserem Willen das plötzliche Zerflattern der geballten Stoßkraft vor der Vielfalt der verwirrenden Erscheinungen. Wir erwarteten, das Reich in Gärung zu sehen, in Städten die Unruhe zittern zu fühlen, das wachsende Drängen, die Gewißheit einer nahen Verwandlung. Aber das Reich schien ruhig, ein dünnes Häutchen war über die Wunde gewachsen. An den stillen Elbdeichen des Landes Kehdingen, wohin uns der eifrige Befehl der Reichsregierung wies, verrieselte unsere Erwartung wie das Wasser in den trägen Marschgräben. Die Bauern gingen in schweren Stiefeln über das Feld, das Vieh stand breit in den Ställen, wir hockten in den blanken Stuben unserer Quartiere und halfen bei der Arbeit und fügten uns in dieses warme Gleichmaß unerschütterlichen Wirkens. Des Abends stand ich oft auf dem Deich und sah den Strom hinab. Das Mädchen erzählte mir, daß vor dem Kriege die Lichter der Dampfer wie eine schimmernde Kette über dem Wasser geblinkt hätten, aber nun war die weite Fläche leer, der Hafen war tot, der Strom von einer breiten, eintönigen, schimmernden Schwärze. «Sie haben», sagte das Mädchen, «ja alle Schiffe abliefern müssen! Wir standen alle auf dem Deich, als
sie zum letzten Male die Elbe herunterfuhren, und da haben wir erst richtig geglaubt, daß wir den Krieg verloren haben.» Wir sprachen viel auf dem windgepeitschten Deich; er war mir in seiner grandiosen Einsamkeit wie eine Brücke, die in die neue Wirklichkeit führen könnte, wir sprachen von diesem und jenem, doch immer endeten die geflüsterten Heimlichkeiten bei Krieg und Revolution, und schließlich schüttelte sie sich und sagte: «Ach du, mich friert, komm, wir müssen heim.» Und ich war ärgerlich, daß ich nun die ganze Zeit mit dem Mädchen von diesen Dingen gesprochen hatte, aber es war diesmal so und fast jedesmal. Denn wir kamen nicht los von dem, was uns gepackt hatte. Wir kamen nicht los davon in den dumpfen Grogkneipen, nicht in den Tanzsälen, die Sonnabend für Sonnabend sich füllten mit Mädchen und Burschen und Soldaten, nicht in den behäbigen Straßen und Lokalen von Stade, nicht in den ruhigen Höfen der Marsch. Etwas trieb uns umher, und es war nicht die Ungewißheit über das, was nun mit uns geschähe, es war auch nicht die Sinnlosigkeit unseres Tuns; was es war, wußten wir nicht. Wir zechten die Nächte hindurch, und wenn wir nicht zechten, dann waren wir in den Kammern der Mädchen, und wenn wir nicht dort waren, dann verspielten wir unser Geld. Wir warteten und wir wußten nicht recht, auf was. Wir behielten unsere Waffen und wußten nicht, wann wir sie noch einmal gebrauchten. Wir lebten ein abseitiges Leben, wir stießen überall auf Mauern, wir gehörten nirgendwo hin, wir waren Fremdlinge im Reich. Wir spürten, daß man von uns Rechtfertigung fordere, aber
da war niemand, der uns da fragte, wo wir Verantwortung trugen, und so verschlossen wir uns und lebten schweigend, mit der ganzen Last des Ungelösten, wissend, daß wir uns als Stein hingegeben hatten an das Schicksal, aber der Stein war verworfen worden. Es ging die Rede, wir sollten bei Unruhen eingesetzt werden. Aber für Ruhe und Ordnung wollten wir nicht mehr kämpfen. Und bei Bromberg, auf der Fahrt von Memel nach Stade, da waren wir aus dem Zuge gesprungen, als wir erfuhren, diese Stadt solle polnisch werden, und hatten Bromberg verteidigen wollen, oder die Grenze, aber wir durften nicht und wir sollten nicht, und wir wußten, man mißtraute uns, und das mit Recht. Eines Tages kam eine Reichswehrkommission, Herren, die erstaunt um sich schauten, als ihnen keine Ehrenbezeugungen erwiesen wurden, und wir lachten, als diese Herren verlangten, Befehl der Regierung, wir sollten alle Warfen abliefern und alle Ausrüstungsgegenstände und die Wagen und Pferde. Da gingen wir in der Nacht in die Ställe und holten die Gäule — denn das waren unsere Gäule, wir hatten sie allesamt mühsam genug erbeutet, da war kein einziges, das uns die Regierung gab — und die Pferde verschwanden und die Wagen auch und wurden nicht mehr gesehen. Der Spieß zahlte am nächsten Tage jedem Manne einige hundert Mark — von einem Gönner, wie er sagte. Die Waffen aber waren ebenfalls plötzlich verschwunden, nur wußten wir diesmal, wo sie geblieben waren. Und als die Reichswehrkommission kam, konnte sie nichts mitnehmen, außer einem Sack voll Hufnägel.
Als die Hamburger ins Baltikum zogen, waren sie ein Bataillon von sechshundert Mann. Als sie in Kehdingen einmarschierten, war der Bestand der Kompanie ein Leutnant und vierundzwanzig Mann. Von den vierundzwanzig Mann aber waren noch drei, die seinerzeit von Weimar ins Baltikum gingen, Schmitz, Hoffmann und ich. Und Leutnant Kay war noch da; aber eines Tages, im Februar 1920, bat er uns drei nach Stade, und als wir uns dort in einer Weinstube trafen, da sagte er uns, daß er uns nun verlassen müsse. Die Bürger von Stade tranken ihren Dämmerschoppen, und sie sahen des öfteren mißbilligend nach unserem Tisch. Denn wir tranken viel und Leutnant Kay hatte von Natur eine gelle Stimme. «Wir stehen gelehnt am Strome der Zeit», sagte er, «und wir sind die vom Blutrausch erfaßte Militärkamarilla, die da Honig saugt aus dem Mark der Knochen des Volkes und diesen Honig dann dem Volke ums Maul schmiert.» Und löffelte emsig in seinem Grog. «Spätere Geschlechter werden uns fragen, was habt ihr gemacht? Und dann werden wir antworten, wir haben Blut gerührt. Denn die Seele ist der Dampf des Blutes, und das Blut kochte und der Dampf stieg auf, und wir haben gerührt. Dann werden die späteren Geschlechter sagen: das habt ihr gut gemacht, einen rauf. Jene Bürger aber, die dort so fett und behaglich sitzen — Prost! — die werden auch gefragt werden, und sie werden antworten: wir haben das Blut zu einer schönen, bekömmlichen Schwarzsauersuppe eingedickt, und das hat uns aber mal geschmeckt. Und die späteren Geschlechter werden sagen: Fünf, setzen! Und abermalen, am Tage des Jüngsten Gerichts», und er trank und füllte sich neu und
zerdrückte sorgsam den Zucker im Glase, «da werden wir unsen weitverstreuten Knochen sammeln und vorzeigen zum Appell, und da wird es heißen — rechts ran! Jene verstaubten Aktendeckel aber — Prost, Herr Amtsrichter, auf Ihr Spezielles — werden sich pflichtgetreu verneigen und werden sagen: Verzeihung, Herr, wir können unsere Knochen nicht sammeln, dieweilen wir nie welche hatten. Und es wird heißen: Nach links, ihr Böcke, da wo ihr hingehört. Und ich sage euch, es wird eine reinliche Scheidung sein.» Und wir tranken und führten weise Gespräche, und die Bürger sahen nun wütend zu uns herüber und waren sehr wohlanständig. Leutnant Kay aber bekam es mit dem heulenden Elend und fragte uns, ob er denn nun wirklich gehen müsse und müsse Rechtsverdreher werden, und ob denn nun wirklich alles aus sei? Ich sagte ihm, es sei nicht aus, und blieb hartnäckig dabei, aber Leutnant Kay wollte es nicht glauben und sagte, es sei alles aus und er ginge jetzt büffeln und Examen machen, und alles sei eine große Scheibe. Und dann zerschmiß er einige Gläser und sagte: Sachbeschädigung, und dann hieb er dem empörten Apotheker unters Kinn und sagte Körperverletzung, und dann ging er gegen den Stadtpolizisten an, den der Wirt gerufen hatte, und sagte: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wir konnten ihn nur mit Mühe zum Zuge bringen, und er beugte sich weit aus dem Fenster und winkte lange noch. Ich habe ihn nie wiedergesehn. Er fiel einen Monat später am Rathaus zu Schöneberg. Seine Leiche wurde nach den Papieren in der Tasche identifiziert; denn sein Kopf war zu Brei getrampelt.
Einige Tage später ging auch Schmitz. Ich begleitete ihn zum Bahnhof, und er sagte mir: «Dir kann ich's ja sagen. Ich gehe ins Ruhrgebiet, zur Roten Armee. Die soll da in Aufstellung begriffen sein.» Und ich nickte, und er sagte: «Wir wollen da ein bißchen Blut rühren», und wir lachten beide in Erinnerung an Kay und dann sagte ich: «Jedenfalls, auf Wiedersehen, und sollte es auf den Barrikaden sein, dann können wir ja jetzt ausmachen, wenn es denn nicht anders sein soll, dann wollen wir uns in Anbetracht alter Freundschaft bloß gegenseitig in die Fresse schlagen.» Aber Schmitz lachte und sagte: «Nee, wennschon, dennschon. Da kommt es nun wirklich drauf an, wer schneller schießt!» So war Schmitz mir über, und ich konnte nur noch bemerken, daß ich es verdammt fix mit dem Schießen hätte. Wir schüttelten uns eifrig die Hände und waren doch ein bißchen verlegen dabei, und dann fuhr er ab. Ich konnte nicht glauben, daß das Leben zwischen Männern und Waffen nun zu Ende sei. Die Hamburger klebten noch fest zusammen. Leutnant. Wuth war oft unterwegs, und anfangs vermuteten wir, er habe ein Mädchen in Hamburg, das er immer besuche; aber eines Tages, zu Beginn des März, da holte er uns zusammen, und wir erfuhren, warum er so oft im Lande umherreise. Und er brachte einen frischen Wind mit sich, reißende Wirbel, die unsere Stirnen streiften und uns hastig atmen ließen. Es war, als ob er einen Spalt öffnete, durch den mit einem Male ein Sonnenstrahl griff und die Stäubchen tanzen ließ. Im Reiche braute sich etwas zusammen. Da war ein Heer, das entlassen werden mußte, den Artikeln des
Friedensvertrages gemäß, da war ein anderes, heimliches Heer, das sich zu bilden begann. Kommissionen waren im Lande, die herumschnüffelten, von dienernden Herren im Gehrock umgeben. Da war Hunger und Streik und ein Grollen in den Straßen, da fuhren in lackierten Autos Schieber mit dicken Aktentaschen und quellendem Kinn, da suchten Flüchtlinge aus allen geraubten Gebieten kärgliche Unterkunft, und Ausländer kauften ganze Stadtviertel auf. Unter der hauchdünnen Oberfläche, von arbeitsamen Bürgern jeglichen Formates emsig und ängstlich in mühevoller und geschäftiger Betriebsamkeit gebildet, wirbelte ein Hexentanz von Arbeitslosigkeit und Börsengeschäften, von Hungerkrawallen und Festbällen, von Massendemonstrationen und Regierungskonferenzen, — und da war nichts, was sich dem Taumel entziehen konnte, und viel, was in ihm unterging. Über dem Lande raschelte Papier. Aufrufe und Ultimaten, Verordnungen und Verbote, Proklamationen und Proteste fielen wie Schneeflocken über das Land, Energien vortäuschend, wo keine Energien mehr waren, Hoffnungen weckend, auf die Verzweiflung folgte. Über die abzuliefernden Kohlenzüge tröstete amerikanischer Speck, über die Brotkarten Aktphotographien. Es redeten viele vom Wiederaufbau, aber das Material war schundig und der Boden schwankte, und es redeten viele vom Zusammenreißen, aber das Gerüst hielt bröckelnd stand. Die Grenzen aber waren flüssig. Heere bildeten die Grenzen, Gewehre und Geschütze, doch wichen sie hier und stießen dort vor, und die Landstriche flimmerten in
Unruhe, gefährliche Gebiete, in denen jeder fallende Stein Katastrophen auslösen konnte, und es kam darauf an, wer den Stein fallen ließ. Noch waren die Grenzen flüssig, doch, wo begonnen wurde, sie sicher zu ziehen, da schrie das Land, und die neuen Linien waren wie Messerschnitte, die ihre blutigen Furchen zogen, und ganze Provinzen fielen, wie Glieder, die ein Betrunkener amputierte. Kleine versprengte Trupps fochten an den Grenzen, standen unter den Rauchfahnen des Kohlenreviers, verloren sich in den Sümpfen und Heiden und Wäldern fast vergessener Ebenen, würgten sich durch das Gewühl vom Aufstand bedrohter Städte, hinter sich ein verzweifeltes, hilfloses Land, das bereit war, sich aufzugeben, vor sich die gierige Übermacht und in sich nur den wahnwitzigen Willen zum Widerstand. Als aber diese Trupps merkten, daß sie kein Hinterland hatten, keinen zentralen Kraftkern, da wandten sie sich gegen Berlin. Es kam die Brigade Ehrhardt aus Oberschlesien, es lauerten die Freikorps Aulock und Schmidt, es kamen die geächteten Baltikumer vom Osten und die Lützow und Pfeffer aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet. Und sie heischten Klarheit von Berlin, — Berlin aber konnte keine Klarheit geben —, und sie standen finster und entschlossen, das Gewehr in der Hand. Die Entente beharrte auf ihrem Schein. Die alliierten Kabinette sandten Ultimaten und drohten mit Einmarsch. Die Reste des deutschen Heeres sollten zerschlagen werden. Und die Reichsregierung gab nach. Niemand kann sagen, ob sie es tat, weil sie, bewußt einer Verantwortung, die freilich zu groß war für sie, keinen anderen Weg sah und sehen konnte als
den des Nachgebens, oder weil ihr der Wind die Witterung einer Gefahr zutrug, die von den gereizten Soldaten ausging, oder weil sie, wenn je entschlossen, dann jedenfalls, die Errungenschaften der von ihr selbst urkundlich nicht gewollten Revolution gegen dunkel gefühlte monarchistische Anwandlungen zu wahren. In der Tat mochte sie hinter dem Anmarsch der drohenden Truppen eine Parteiverschwörung ahnen, ein Komplott der Reaktion, aber dies war es nicht, was die Soldaten marschieren ließ, dies war es so wenig wie überhaupt eine diskutierbare, organisierte politische Meinung und Macht, dies war es nicht, es war im Urgrund einfach die Verzweiflung, und die äußerte sich von jeher nicht artikuliert. Doch die Männer, die da verzweifelten, waren gewohnt, jedwedes gefährliche Ding anzuspringen, im Angriff die beste Verteidigung zu sehen. Und da ihnen die Macht sich weigerte, griffen sie zur Macht. Wir waren plötzlich durchströmt von einer federnden, fassenden, springenden Kraft. Ganz leicht und heiter und süß in der Verantwortung, so dünkte uns das: Macht! Wir erfuhren an uns einen Grad der Entschlossenheit, der uns die Dinge einfach erscheinen ließ. Wir hatten es nicht gelernt, uns mit Problemen herumzuschlagen. So also dachten wir, daß eben gehandelt werden müsse, denn dann waren wir stärker als die Dinge, und so waren die Dinge stärker als wir. Der Entschluß rang sich durch achttausend Mann, mehr waren es nicht, doch mochten die Achttausend genügen, denn sie waren die einzigen, die bereit waren, einen Entschluß bis zu den letzten Konsequenzen durchzufechten. Es käme nur darauf an, daß er
durchgefochten wurde, dachten wir, und es würde wohl einen bösen Kampf geben. Und weil wir wußten, daß es einen bösen Kampf geben würde, bereiteten wir alles auf den Kampf vor, nicht auf das, was nach ihm kam, auf die Entscheidung, nicht auf das, was diese Entscheidung erst wertvoll und gültig macht. Wir glaubten, daß wir die Macht haben müßten, kein anderer als wir, um Deutschlands willen. Denn wir fühlten uns selber Deutschland. Wir fühlten uns so sehr Deutschland, daß wir, wenn wir Idee sagten, Deutschland meinten, daß wir, wenn wir Kampf sagten, Einsatz, Leben, Opfer, Pflicht, daß wir dann immer Deutschland meinten. Wir glaubten, daß wir ein Anrecht hatten, dies zu tun. Die in Berlin, so dachten wir, hatten ein Anrecht nicht. Denn was die in Berlin taten, so dachten wir, das taten sie nicht unbedingt, es war Deutschland ihnen nicht der zentrale Wert, wie uns, da wir sagten, wir sind Deutschland. Es gab ja wohl eine Verfassung und einen Vertrag mit dem Westen. Eben das hatte die, gegen die wir auszuziehen entschlossen waren, dem zentralen Wert entfernt. Wenn die Deutschland sagten, so dachten wir, dann meinten sie Verfassung, und wenn sie Verfassung sagten, dann meinten sie Friedensvertrag. Das Unbedingte, das war es, was wir in Berlin vermißten, und darum dünkte uns Macht so gnadenvoll und leicht. Hörten sie unser drohendes Gemurr? Hörten sie es über dem Lesen und Schreiben ihrer schalen Programme und Proklamationen und Debatten und Noten und Zeitungsartikel? Nein, dachten wir, sie hören es nicht, nun so werden sie es zu spüren bekommen.
Der Hauptmann Berthold, Kommandeur des Bayernbataillons, Flieger mit 55 abgeschossenen Gegnern und dem Orden Pour le mérite, ein Mann, der seinen zerschossenen Körper nur noch mit Scharnieren und Bandagen zusammenhielt, war der Motor, der uns in diesen Tagen in Bewegung hielt. Er freilich hatte seinen bayrischen Separathaß auf Berlin, doch war er sicherlich von allen Offizieren der Baltikumer in Kehdingen am wenigsten reaktionär. Inzwischen begannen die Kompanien zu zerfasern. Die Städte lockten und die Mädchen in den Städten. Die Hamburger blieben intakt und die Bayern auch, trotz ihrer Beschäftigungslosigkeit. Jedermann aber wußte Bescheid; die Leute hielten ihre Offiziere an und fragten drängend, wann es denn losginge; die Offiziere lauerten den Kurieren auf, die von Berlin nach Stade sausten, und die Kuriere berichteten von blödsinnigen und trockenen Verhandlungen zwischen dem General Lüttwitz und Noske, von Feilschen über Forderungen und Versprechen und von wohlerworbenen Rechten und ähnlichem verstaubtem Schmant, und sie berichteten von dem üblen Gemenge dazwischenfunkender Meinungen, Interessen und Ansprüche. Die Sache sah nicht gut aus, und wir fürchteten, sie werde mit einem Kompromiß enden, — dann aber waren wir bereit, trotzdem zu marschieren, ohne Lüttwitz und Kapp. Und vielleicht sogar — gegen sie. Eben recht kam das scharfe und hochmütige Auflösungsdekret. Nun hatten die Bürger und Bauern keine Verpflichtung, uns weiter in Quartier zu behalten; die Bauern wären wohl bereit gewesen, keinesfalls die Bürger. Wir lassen uns nicht auflösen, sagten wir und
holten die Waffen aus den Verstecken und bestürmten Wuth und Berthold; doch die waren im Augenblick ratlos und warteten fiebernd auf Nachrichten aus Berlin. In den Ortschaften standen die Soldaten in dichten Gruppen herum, bewaffnet und noch unschlüssig. Aber langsam setzten sich ohne Befehl die Trupps in Bewegung, auf Stade zu. Als wir in der kleinen, verdrießlichen Stadt ankamen, am 13. März 1920, des Nachmittags um 2 Uhr, da flatterten Extrablätter, und Plakate wurden an die Wände geklebt. In Berlin war in früher Morgenstunde die 2. MarineBrigade, Führer Korvettenkapitän Ehrhardt, einmarschiert und hatte das Regierungsviertel besetzt. Am Brandenburger Tor begegnete den Soldaten der Morgenspaziergänger Ludendorff. Die Reichsregierung und die preußische flüchtete. General Lüttwitz und der Generallandschaftsdirektor Kapp hatten die neue Regierung gebildet und ein Plakat verbreiten lassen mit der Überschrift: «Die Lüge vom monarchistischen Putsch!» Auf einmal war Stade angefüllt mit Truppen. Überall marschierten Abteilungen; hochbepackt zogen einzelne aufgelöste Gruppen durch die Straßen, Autos rasten, Kuriere ritten nach den Ortschaften, an den Straßenecken, vor den angeklatschten Plakaten und vor dem Gebäude der Zeitung sammelten sich dichtgedrängte Haufen Bürger, Soldaten, Arbeiter und Bauern. Hoffmann und ich buchstabierten über die Köpfe mit den Armen erregt fuchtelnder Leute eine der Bekanntmachungen. «Worte», sagte ein Arbeiter, «Worte!» und spuckte höhnisch aus, verdrückte sich
aber, als er uns sah. Hoffmann las und sagte dann und grinste mir von der Seite zu: «Worte!» und ich beteuerte ihm, diesen Worten müßten wir eben einen Sinn geben. Und wir gingen weiter und wunderten uns, woher auf einmal die schwarz-weiß-roten Schleifchen an die Knopflöcher der Bürger kamen und die vielen Eisernen-Kreuz-Bändchen; diese Leute hatten uns doch eben erst die Quartiere gekündigt? Wuth kam angeprescht und sammelte seine Kompanie; Berthold, berichtete er uns hastig, käme andern Tages früh mit seinem Bataillon. Die Hamburger Schupo habe sich neutral erklärt wie die Berliner, — Gehaltsverdoppelung, dann würden sie eben mitmachen —, wie die Reichswehr stünde, wüßte er nicht, doch sei da wohl kein Zweifel, und dann: «Herrschaften, mal herhören, die Bummelei hört nun aber auf. Offiziere werden von jetzt an gegrüßt, verstanden!» und in der Schule habe er für heute nacht Quartier gemacht. Nach erregter, durchwachter Nacht kam Berthold. Er erklärte, er habe sich der neuen Regierung zur Verfügung gestellt. Die Hamburger ordneten sich unter seinen Befehl. Berthold wollte über Hamburg, Befehle nicht abwartend, direkt nach Berlin. Doch mußte der Rest der Waffen herbeigeschafft werden. Ich bekam den Auftrag, aus sechs demolierten M. G.s, die noch verstreut in den Ortschaften der Marsch lagen, so viel brauchbare zusammenzubauen und zu übernehmen, als ich immer fertigbringen konnte. Gleich ritt ich los. Am frühen Nachmittag kam ich zurück mit vier instandgesetzten Gewehren und dreitausend Schuß
gegürteter Munition. Das Bataillon stand auf dem Markt, zum Abmarsch bereit. Als wir aber zum Bahnhof kamen, da war alles tot und leer. Ein Heizer kam aus einem der Schuppen, sah uns, grinste, spie seinen Priem auf die Schienen, sagte: «Generalstreik» und verschwand. Wir besetzten den Bahnhof, Berthold suchte nach Sachverständigen, fand zwei Leute in seinem Bataillon, die früher Eisenbahner waren, und sandte sie zum Lokomotivheizhaus. Die Maschine, die sich fand, mußte erst angeheizt werden, dann begann ein wildes Rangieren mit viel Pfiff und Geschrei und mit viel Gelächter über die Brücke gebeugter streikender Eisenbahner. Berthold ging nervös den Bahnsteig auf und ab. Er trug den blauen Friedensüberrock, hatte den rasselnden Säbel losgehakt und ließ ihn aufreizend schleifen. Wir hatten die Gewehre zusammengesetzt und warteten. Alles in allem waren wir etwa vierhundert Mann. Ich hatte mir einen Stoß Zeitungen besorgt und saß Wuth gegenüber im Wartesaal und las. Wer Kapp war, wußte Wuth nicht, aber da waren noch mehr Namen, Jagow und Wangenheim und Pfarrer Traub. Ein bißchen viel alte Herren und alte Namen, meinte ich zu Wuth. Lüttwitz ist auch alter General. Im Baltikum, sagte ich, war zum Schluß der älteste Bischoff, ein junger Major. Ich tippe, sagte ich zu Wuth, auf Ehrhardt, auf niemanden sonst. Von Ehrhardt hatte ich bis dahin kaum gehört, doch sollte er junger Kapitän sein. «Wurscht, ob alte Namen dabei», sagte Wuth, «dies ist doch eine Sache der Jugend.» Und dachte nach und
sagte: «Wir müssen die Revolution rückgängig machen.» «Wir müssen die Revolution weiterführen!» sagte ich und sah Wuth an und dachte, wie doch schon fünf Jahre Altersunterschied einen Spalt treiben. Da war der Zug fertig; wir bestiegen ihn polternd, besetzten die Abteiltüren und die Maschine mit MGs und fuhren dann singend in den dämmernden Abend hinein.
Putsch Niemals werde ich vergessen, wie die Schatten dieses sinkenden Tages unserem Auszuge alle Schroffheit nahmen. Die ganze Süßigkeit der Welt kam aus dem runden und weichen Schimmer des Waldes, brach aus den sich erschließenden Knospen der Birken, die sich zitternd an den Bahndamm schmiegten. Der Boden hielt den Atem an, die dunklen Lieder summten sich in ihn hinein und schwebten lange noch in den Gesträuchen, indes der Zug vorüberstampfte. Und alles in der Welt war Schein, ja, selbst das Dunkel, das sich nun samten senkte, war ein trügerischer Schleier, der uns vom harten Tage schied, der die vielen unter uns zum letzten Male träumen ließ von den Versprechungen des Glücks. Das ließ uns schweigen, legte eine bange Würde über uns, die Ahnung von der zwingenden Gewalt, in deren offne Fänge wir hineinmarschierten.
Der Zug hielt auf offner Strecke. Die schwarzen Wände hochgekanteter Häuser standen rechts und links des Bahndammes in drohender Steilheit. Leutnant Wuth kam hastig am Zuge entlang geschritten und sagte uns, wir könnten nicht weiterfahren, denn am Bahnhof Harburg sei die Strecke gesperrt. Da schrillte auch schon der Befehl: «Alles aussteigen.» Wir sollten nur die Waffen mitnehmen, das Gepäck im Zuge lassen. In Harburg sollte übernachtet werden, für den nächsten Tag in der Frühe war die Weiterfahrt geplant, oder, falls der Zug auch weiterhin nicht über Harburg rollen könnte, der Fußmarsch über die Eibbrücke nach Hamburg. Wir hoben vorsichtig die Gewehre aus den Abteilen, kletterten fluchend und stolpernd über den spitzen Schotter und über tückische Bahnschwellen und kamen an eine Schranke, die eine breite Straße schloß. Hier traten wir an. Die dürftigen Laternen legten einen grünen, fahlen Schein über die dunkle Masse, über der die Gewehre ein wirres Verhau von Schatten bildeten. In den Lichtkegel der Laternen traten plötzlich gespenstisch einige Zivilisten, die erschreckt zusammenfuhren und wie Schemen wieder im Dunkel verschwanden. Die ganze, finstere Häuserfront der Straße zeigte nur ein einziges viereckiges Licht. Es schwebte sehr hoch und ganz unwirklich, beinahe losgelöst von jeglicher Beziehung zur Erde, über unseren Häuptern. Hauptmann Berthold kam säbelklirrend vorbei, ganz allein, und ließ sich von der Finsternis wieder verschlucken. Der Marsch begann. Diese Stadt war feindlich. Wir hatten noch die ruhigen Flächen der Marsch im Blick, den breiten
Spiegel des Stromes, die Geruhsamkeit einer bedächtig hingebreiteten Landschaft. Hier stieß sich in engem Räume Ding an Ding, schwarze Steinmassen bauten sich aus dem Pflaster vor uns auf, Straßenschluchten schnitten gefährliche Löcher in die Starre, an jeder Ecke lauerte ein Geheimnis. Wir hatten nicht den Eindruck, an Wohnungen der Lebenden vorbeizumarschieren, wir glaubten Ruinen zu sehen, riesige Schutthaufen mit kahlen, rauchgeschwärzten, blicklosen Mauern, beengende Kälte von sich speiend, getürmte Steine hinter einer splitternden Fassade von Glas, Eisen und Verputz. Aus den Kellern schien es garstig zu riechen, kein Stern drang durch den gespaltenen Himmel dieser Straßen. Wir klirrten durch einen Dunst von Rauch, Nebel und Gefahr, unsere Schatten wuchsen im Bannkreis der spärlichen Lichter zu scheußlichen Dämonen und schrumpften schüchtern wieder zusammen, unsere Schritte polterten hohl, und es war unmöglich, Gleichschritt zu halten. Vorne bei den ersten Gruppen erhob sich ein dünner, heiserer Gesang. Doch gleich verstummte er wieder, denn ein Fenster schepperte auf, und dann hieb ein grelles, tödliches Lachen in unsere Kolonne, ein Lachen, wie ein höhnischer Schrei, wie ein spitzer, vergifteter Pfeil, der durch die gefolterte Luft schwirrte und unsichtbare Blechwände zerspellte. Das war eine Frau, die so lachte, nein, das war die Stadt selbst oder die Dämonin dieser Stadt. Dies Lachen mußte erschlagen werden, es war unerträglich, es fernerhin zu hören. Brüllen mußten wir, singen, daß uns die Hälse schmerzten, und wir sangen, alle durcheinander, und ich hatte die Hand am Koppel, die Faust umschloß eine
Handgranate, und ich ertappte mich bei dem fast unbezähmbaren Wunsche, die Ladung Sprengstoff wild in das offene Fenster zu schleudern. Doch nun sangen sie im Takt, und wir bogen um eine Ecke, in eine Straße, in der Bäume standen, eine breitere Straße, mit Vorgärten und niedrigen Häusern. Hier tauchten Menschen auf aus dem Dunkel. Aus einer Gastwirtschaft drängten sich Leute ans Staket, ein Gemurmel empfing uns, Fragen schnellten in unsere Reihen. Ich ging neben Hoffmann, und ein Herr trat plötzlich vor uns hin, daß wir fast erschraken, aber der Herr hob die Hände und fragte mit einer Stimme, in der das Alter, der Alkohol und die Freude bebten. «Jungs, holt ihr unsern Kaiser wieder?» — Nun erschrak Hoffmann wirklich und konnte erst antworten, als wir schon zehn Schritte weiter waren. «N-nein, das nicht, das nicht...» murmelte er und sah sich wie erwachend um. Ich lachte leise, zwischen zerdrückten Flüchen, aber es tat mir beinahe leid, daß wir nicht sagen konnten: ja, wir holen den Kaiser wieder, denn dann hätte unser Tun doch wenigstens einen Sinn gehabt — hatte denn unser Marsch keinen Sinn? Auf welchen Gedanken ertappte ich mich da? Das war diese verfluchte Stadt, die dazu verführte, diese vermaledeite, spritzige Dunkelheit, die uns die Sicherheit raubte. Was gestern uns noch klar und zwingend schien, das schwand hier in der satanischen Luft dieser Stadt, in diesem vergiftenden Gemenge aus Furcht und Haß und Schatten nahender Gefahr. Den Kaiser wiederholen? Nein. Hier ging es doch um mehr als um den stillen Mann in Doorn. Ich versuchte mir die Worte des KappProgrammes zu verlebendigen. Doch hier, gerade hier
mußte ich die Spanne klaffen spüren. Begann nicht die Verkündigung mit einer Abwehr? Das zeugte doch wohl nicht von einem Glauben, der seiner Kraft gewiß. Das reichte nicht für diesen Kampf, das verblaßte bei der ersten Probe, und sei sie nur ein hastiges Marschieren in den Rachen einer sprungbereiten Stadt. Das war es nicht, was uns den Weg diktierte, nicht die Worte des Programms. Der Sinn, der Sinn? Im Wagnis lag der Sinn! Der Marsch ins Ungewisse war uns Sinn genug; denn er entsprach den Forderungen unseres Blutes. Wir wissen nicht, doch wie werden anders wir denn jemals wissen? Daß wir nicht wußten, das bewies, es könne unser Tun vielleicht Verbrechen sein, doch niemals Reaktion. Gleich, wie die Würfel fielen, dachte ich, sie sollen fallen, und wir, wir halten prüfend, schüttelnd sie noch in der Hand. Der Gesang war abgebrochen, Geflüster in den Reihen überall. Nicht mich allein traf der Zweifel, packte aus den Sternen fallend das Warum. An einem freien Platze kam das Kommando: Halt! Was suchen denn die bewaffneten Zivilisten da? Mit weißen Armbinden? Bürgerwehr? Und die da mit roten Armbinden? Arbeiterwehr? Wie wichtig die sich tun! Und Berthold verhandelt mit denen? Ach so, wegen des Quartiers! Abmarsch in die Heimfelder Mittelschule! Das ist wohl das große Gebäude da drüben? Kinder, was bin ich müde! Rechts schwenkt marsch. — Wir packen die Gewehre in eine Ecke, stapeln die Munition drumherum; ein Witzbold von den Bayern malt noch hurtig ein paar Karikaturen von Berthold an die Schultafel, dann hauen wir uns auf die harten, schmalen Schulbänke, und ich ärgere mich im
Einschlafen, daß wir gerade ein Klassenzimmer der ABC-Schützen erwischt haben; in den Bänken kann man sich kaum rühren. — Am Morgen stand Hoffmann mit fahlem, unausgeschlafenem Gesicht vor mir und sagte: «Das gefällt mir nicht!» — «Was denn?» — «Komm mal mit», sagte Hoffmann und zerrte mich die Treppe hoch, vorbei an offenen Schulzimmern, in denen sich die erwachenden Soldaten rekelten. An einem Eckfenster der Schule machte er halt. «Da vorne, siehst du, da stehen Maschinengewehre im Hof! Da rechts zwischen den Scheunen schleppen sie jetzt schon seit einer halben Stunde Kästen vorbei, anscheinend Munition; Frauen, Kinder, Männer! Auf den Straßen wimmelt es nur so von bewaffneten Arbeitern. Aber das Schönste ist doch noch dort hinten, auf dem freien Felde, sieh einmal scharf hin, was ist das? Schützengräben, regelrechte Schützengräben! Wir sind, schlicht und einfach gesagt, eingeschlossen.» — «Das ist ja sonderbar! Weiß Berthold? Und Wuth?» — «Wissen beide! Da geht's schon seit einer halben Stunde mit Deputationen und Kommissionen und Verhandlungen! Arbeiterwehr und Bürgerwehr und Reichswehr...» —«Was, Reichswehr liegt hier?» — «Ein Pionierbataillon. Die 9. Pioniere liegen hier, das ist es ja eben; die Schweinehunde haben heute früh ihre Offiziere eingesperrt, die Magazine geöffnet und die Waffen an die Arbeiter verteilt!» — Das war ja lieblich. «Mensch, woher weißt du das alles?» — «Ja, ich bin schon den ganzen Morgen auf den Beinen, ich weiß nicht, ich hab so ein mulmiges Gefühl im Balg. Mich trieb es dauernd rum. Die Stadt
ist schwer erregt.» Wir blickten aufmerksam zum Fenster hinaus. Um die dünne Perlenkette der Posten säumte sich ein breiter Strich von Menschen, Unbewaffneten; die Bewaffneten standen dahinter und verdrückten sich in die Straßenecken. «Wir müssen zu Berthold», sagte ich. Auf den Gängen standen überall die Soldaten herum und starrten erstaunt durch die Fenster. «Ich weiß nicht, was das mit mir ist», murmelte Hoffmann, «ich glaube, das gibt ein Schlamassel, und ich... ich weiß nicht—» —«Was ist dir, Mann, bist du krank? Hier nimm mal 'n Schluck Wasser!» Der Becher an der Kette der Leitung klirrte, ich drehte den Kran, es gurgelte und sprühte ein bißchen, das Wasser lief nicht. «Das ist ja eine nette Bescherung, holla, die Burschen haben das Wasser abgestellt! Nun aber schnell zu Berthold.» Wir rannten die Treppen hinunter. «Das kommt davon», sagte ich grimmig. «Was denn?» fragte Hoffmann. «Daß Flieger ein Infanteriebataillon im Straßenkampf führen wollen! Zum Deubel, hier sitzen wir ja schön in der Mausefalle, alle hübsch auf einem Fleck. Statt sofort alle öffentlichen Gebäude zu besetzen und sich eine starke, bewegliche Reserve zur Hand zu behalten...» Ich öffnete die Tür und hörte Berthold zu einigen Abgesandten der Bevölkerung sagen: «Ja, meine Herren, Sie verlangen Abzug; ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich habe gar nicht die Absicht, hier in Harburg zu bleiben, wir wollen weiter, heute früh noch. Was sollen wir denn in Deibels Namen in Harburg? Die Fahne? Die Fahne wird eingezogen, sobald wir abmarschieren, nicht eher. Wir marschieren bald ab, die Leute packen schon. Wenn Sie
uns nicht aufgehalten hätten, wären wir vielleicht schon weg. Nun gehen Sie bitte und beruhigen Sie die Bevölkerung, damit kein Malheur passiert. Aber nun gehen Sie doch schon, meine Herren!» «Sachen packen?» fragte ich zu Hoffmann hin. Der zeigte stumm durchs Fenster. Der Platz war schwarz von Menschen. Die Posten standen dicht umdrängt, dort, wo die Hauptstraße auf den Platz mündete, war die Postenlinie schon erheblich eingebeult. «So, mein Lieber», sagte ich, «wir werden jetzt keine Sachen packen, wir werden vielmehr die M. G.s in Stellung bringen, das scheint mir wichtiger.» Hoffmann nickte, und wir machten uns in Hast an die Arbeit. An jeder Front des Hauses montierten wir ein Gewehr, eins kam auf den Dachboden. Unten am Haupteingang hatten die Bayern zwei leichte und ein schweres Gewehr, bauten es aber noch nicht auf, sondern hielten es in einem Klassenzimmer verborgen. Der Haupteingang mit dem großen Treppenhaus ging nicht auf den Platz, sondern auf eine breite Nebenstraße zu. Im ersten Stockwerk standen die Hamburger am Fenster. Ich reichte den Wasserkasten des M. G.s herum, und wir füllten ihn unter schlechten Witzen auf eine sehr natürliche Art. Wir hoben das MG auf die Bänke, so daß wir es jeden Augenblick zum Schuß fertig haben konnten. Unten war die Postenkette noch weiter zurückgegangen. Alle Fenster des Platzes waren nun offen, einzelne Köpfe zeigten sich verstohlen; die Straßen, die auf den Platz mündeten, waren angefüllt mit Menschen, soweit wir sehen konnten. Die Massen quirlten erregt durcheinander, viele Frauen, auch Kinder waren zu sehen. Wir hörten das unablässige
Gemurmel breit und betäubend anschwellen. Es schienen vornehmlich Arbeiter zu sein, die da bewaffnet standen. Hoffmann und ich starrten auf den Platz. «Die sind ja dämlich», sagte ich, «was wollen die eigentlich von uns?» — «Ja», sagte Hoffmann und sah mich bleich an, «ja, die Arbeiter sind dumm. Wir waren auch dumm, als wir für Ruhe und Ordnung kämpften. Jetzt sind die dumm.» Hinter uns stand Wuth. Er hatte sein Barett auf. Also gab es heute noch Dunst. Hoffmann sagte leise und eindringlich: «Jetzt wäre die Stunde für die Arbeiter gekommen! Herr Leutnant, wenn man die Macht erobern will, dann muß man auch wissen, wofür. Wir wissen es nicht, ich glaube nicht, daß Kapp und die Herren in Berlin wissen, wofür. Wenn jetzt die Arbeiter schlau sind, dann gehen sie mit uns, dann schaffen wir denen freien Raum, und die zeigen uns, wofür man heute nur Macht haben kann und darf. Wenn die schlau sind, Herr Leutnant, so schlau, wie wir verwegen, dann hat die Geschichte Sinn!» «Die sind nicht schlau», sagte Wuth. Und ich sagte: «Vielleicht sind auch zu viel alte Herren bei unserer Aktion!» — Schreie und Pfiffe tönten auf dem Platz. Wir beugten uns aus dem Fenster. Über die schmale Lichtung, die der Postensaum bis jetzt noch wahren konnte, ging Hauptmann Berthold, barhäuptig, sein schwarzer Scheitel blinkte. Er ging auf die Menge zu, ging durch die Postenkette, bahnte sich einen Weg durch die drängenden Haufen und machte erst mitten zwischen den Massen halt. Er hob die Hand. Mit einem Schlage war alles ruhig. Er begann zu sprechen. Wir konnten
hier oben nicht verstehen, was er sagte. Wir sahen die Massen eng zusammenrücken. Hinten stiegen sie auf Treppen und Schwellen. Trupps mit roten Binden boxten sich durch die Massen. Berthold sprach laut und hallend. Man mußte ihn weit hören. Aber, was drängten da hinten die Bewaffneten so? Was, zum Teufel, sollte das bedeuten, daß plötzlich die Gewehre von den Schultern flogen? Die Bayern und die Hamburger nahmen vorsichtig die Knarren hoch. Jetzt kreuzten sich über dem mit wimmelnden Köpfen gefüllten Platz die magischen Linien der Gewehre. Und Berthold sprach und sprach. Eine Welle dumpfen Hasses stieg aus der Masse zu uns herauf, der Haß zweier Rassen, der blinde Ekel voreinander, der schmerzhafte Widerwille vor den Gerüchen der anderen. Wir starrten mit spitzen Augen auf die Masse, nicht auf die bewaffneten Gegner, die doch viel gefährlicher waren. Allmählich legte sich ein dunstiger, gelber Staub über das Meer von Köpfen da drunten. Ich hatte eine sonderbare Art von Mitleid mit Berthold, der dastand inmitten dieser blicklosen Menge und gegen sie anredete. Der Staub stieg und schien die züngelnden Linien der gerichteten, zielsuchenden Gewehre zu weiten, schien an ihnen zu zerren, zu reißen, daß sie sich in unerträglicher Spannung bogen. Und da fiel der Schuß, auf den wir alle gewartet hatten. Ein ganz schwacher Knall, nichts weiter, aber das Geschoß fuhr durch jeden von uns, es platzte eine Handvoll gepreßter Luft gegen die Mauern, es löste den wirbelnden Aufschrei. Alle Gewehre flogen an die Backe, und dann spritzte das Feuer aus jedem Winkel.
Hoffmann rannte aus dem Zimmer zu seinem Gewehr. Ich kippte die Knarre auf das Fensterbrett und schoß. Ich widerstand der wahnwitzigen Versuchung, mitten in die flüchtende, kreischende Menge zu knallen, der betäubende Lärm, das krachende Splittern, das Beben der Mauern krallte mich zu steinerner Ruhe. An der Ecke der Hauptstraße, in die sich die todesängstlichen Massen wälzten, kauerte eine Gruppe Rotbinden mit vorgeschobenem Gewehr, wartend, daß sich die Menge verlaufe. Sie legte ich mit dem ersten Strich meines knatternden Laufes um. Die Männer lagen, präzis getroffen, in einer Reihe vor der Schwelle eines Hauses, aus dessen offenen Fenstern das Feuer uns entgegenpeitschte. Fenster für Fenster streute ich ab, sah die Scheiben splittern, sah die puffenden Wölkchen im Mörtel und Kalk der Wände steigen. Der Platz war in wenigen rasenden Sekunden von Lebenden geleert. Während der neue Gurt aus dem Kasten rollte, beugte ich mich vor, erblickte dunkle, erbarmungswürdige Häufchen wie hingesät auf dem Platz, Männer, Frauen, Kinder, die knisternde Luft täuschte gequälte Bewegung der hingestreckten Leiber, die Geschosse fuhren durch sie hindurch. Ein wahnsinniger Druck stieg mir aus dem Magen zur Kehle, ich schrie heiser irgendwas, es riß mich auf die Bank, mit halbem Leibe aus dem Fenster ragend suchte ich neues Ziel. Scharf links in einem düsteren Hofe, hinter geschwärzten Mauern, richteten durcheinander hastende Männer ein MG gegen uns. Mein Gewehr flog herum, es hing schief, schwebend aus dem Fenster; ich stemmte das Knie auf das Brett, klemmte mich mit tobenden Nerven in den schwankenden Schlitten und schoß. Da zuckte
das Gewehr, bäumte sich plötzlich auf, daß ich fast aus dem Fenster stürzte, glühheißes Wasser klatschte mir sengend in die Augen, ins Gesicht. Ein zerreißender Schlag schleuderte mich zurück, ich fiel, das Gewehr auf mich zerrend, in den Klassenraum und stürzte zwischen die Bänke. Mein rechter Arm tastete nach einem Halt, griff in Blut und Staub; etwas stöhnte schwer. Da lag der Hamburger, der mir den Gurt gehalten, mit zermantschtem, zerfleischtem Gesicht, rotüberströmt. Das Gewehr hatte fünf Schüsse im Mantel, die tödliche Garbe riß vier Mann vom Leben ins Nichts, und zauberte kreisrunde Löcher in die Kreidekarikaturen Bertholds an der zersplitternden Schultafel. Das ganze Haus zitterte im rasenden Feuer, das gegen die Wände prasselte. Glasscherben flogen mit den Geschossen plärrend in den Raum, knallten splitternd gegen den Boden und ritzten Tote und Lebende. Die Luft explodierte vom harten, knallenden Aufschlag jedes einzelnen der zerspellenden Bleikerne, die Bilder an den Wänden tanzten gespenstisch und polterten zerfetzt zu Boden. In den Wänden barst Stein und Stahl, kleine zackige Klumpen schleudernd, der Kalk rieselte, bestäubte den Raum, überzog Menschen, Leichen und Dinge mit weißlichem Mehl, machte das rinnende Blut zu klebrigem Brei. Holzsplitter flogen zischend, es klaffte die Tür, die Tafel, das Pult, die Wände zernarbten, bröckelten, unzählige kleine körnige Trichter zauberte das Feuer an sie hin. Wir lagen dicht an die Vorderwand gepreßt, unfähig, zu schießen, und ließen den Regen über uns prasseln.
Die Tür sprang auf, Hoffmann trat ein, sank blitzschnell zu Boden und kroch auf allen vieren zu mir hin. Augenblicks donnerte eine Garbe in den Gang, und die Tür sauste, von geheimnisvoller Hand bewegt, bebend hin und her. Hoffmann starrte mich aus bleichem, bestaubtem Gesicht an, wühlte in der Tasche und zerrte einen kleinen Spiegel heraus, den er mir vorhielt. Ich blickte hinein und sah mein Gesicht blutbespritzt. Aus einer winzigen Wunde an der Schläfe quoll es dunkel hervor. Ich wischte mit schmutzigem Taschentuch, das ich bespie, und verschmierte mich ganz. «Gewehr kaputt!» brüllte Hoffmann. Ich deutete fragend auf mein MG, das umgestürzt am Boden lag. Er zeigte nickend mit dem Daumen in die Richtung des Raumes, aus dem er kam. Leutnant Wuth kam gebückt in das Zimmer geflitzt. Sein Barett ließ Samtfetzen flattern. Ein dünnes Rinnsal Blut floß von der Stirn ihm zum Kinn. Sein Blick zerrte uns aus dem Raum. Wir krochen am Boden bis zur Tür und witschten dann einzeln durch in den Gang. Dort konnten wir, geschützt durch die dicken Mauern, aufrecht stehen. «Das hat so keinen Zweck», kreischte Wuth. «In jeden Raum soll nur ein Mann, Schießscharten in die Mauern, beobachten, alles andere in die Gänge. Munition sparen!» — Die Gänge lagen voll von Toten und Verwundeten. Wir schleiften auch die Toten unseres Raumes in den Gang. Ein Hamburger hieb mit einer Eisenstange ein Loch in die Mauer. Hoffmann und ich schleppten die Munitionskästen heraus. Dann hetzten wir in Hoffmanns Zimmer, auch dort die Munition zu bergen. Im Treppenhaus hockten die Leute dichtgedrängt. In der Nähe der Türen und Fenster aber war niemand, nur
Leichen lagen dort. Ich suchte jedes meiner Gewehre auf, stolperte über die Toten und schnellte in die Klassenräume. Aber kein Gewehr, nicht ein einziges von uns, war noch intakt. Nur oben das leichte auf dem Dachboden schoß noch unentwegt. Ich trug einige Kästen Munition hinauf. Die Verwundeten riefen stöhnend um Wasser. Der Doktor und die Sanitäter verbanden blutige Glieder, rissen aus den Hemden der Lebenden und Toten Stoffstreifen, denn das Verbandzeug war aufgebraucht. Der Doktor hielt mich an, fragend auf das Blut an meiner Stirn deutend, doch ich winkte ihm ab. Die Schule wurde von allen Seiten beschossen. Die umliegenden Häuser und Höfe und Felder waren dicht besetzt. Unablässig und gleichmäßig prasselte es gegen unsere Mauern. Der Haß der ganzen Stadt sprühte unerbittlich an den isolierten Stein. Aus einem Schulzimmer kam einer der Hamburger und sagte: «Nun schießen sie MG-Punktfeuer aus noch nicht hundert Meter Entfernung! Jeden Stein schießen sie einzeln heraus!» Der ganze Kasten bröckelte. Wenn unten am Haupteingang einer der Bayern schoß, dann hallte es donnernd im ganzen Hause, als krache eine Mine hoch. Die Bayern lagen schweigend auf den Steinfliesen der Gänge und auf den Treppenabsätzen. Wenn ein Schuß durch eine der Türen fuhr, rückten sie stumpf etwas zusammen. In den Klassenräumen kauerten nur noch die Beobachtungsposten. Hoffmann, Wuth und ich legten uns zwischen die anderen. «Wo ist Berthold?» fragte ich. «Am Haupttor», murmelte Wuth. Ein junger bayrischer Offizier kam langsam über die
hingestreckten Körper geklettert, sah Wuth und sagte mit brüchiger Stimme: «Die Zugwache muß doch hören, was los ist? Es muß doch Nachricht nach Stade gekommen sein? Balla und die anderen Bataillone müssen doch wissen, daß wir im Druck sitzen?» — Wuth schüttelte stumm den Kopf. Der Bayer sagte eintönig: «Die Hamburger Schupo muß doch eingreifen? Ich verstehe gar nicht, man kann uns doch nicht einfach so sitzen lassen?» Wuth stand auf und nahm den Offizier am Arm und führte ihn weg. Einer kam und sagte: «In der Stadt wird geschossen!» Sofort war die Hälfte der Leute auf den Beinen. Die Klassenräume füllten sich wieder, alles lauschte. «Das ist die Zugwache, die anrückt!» — «Nein, das kommt von einer anderen Richtung, das sind Hamburger!» Ich horchte angestrengt, aber ich vernahm keine Abweichung von dem pausenlosen, hämmernden Feuer, das gegen die Schule schlug. Einer behauptete, ein Hurra gehört zu haben. Wuth kam und sagte: «Herrschaften, nur nicht nervös werden. Alles in die Gänge!» Er sah mich an und flüsterte: «Mann, der Zug ist gestürmt, hinten im Felde schwenken sie unsere Flagge.» «Können das nicht die Unseren sein?» «Nein, es sind Zivilisten!» Das Feuer wurde stärker. Es schwoll und prasselte, wie wenn ein Strich Hagel inmitten Platzregens auf Wellblechdächer trommelt. Die Soldaten krochen eng und enger aneinander. Nun aber sonderten sich wie immer in den Augenblicken höchster Spannung die einzelnen. Es hielt uns nicht im dicken Haufen. Wir standen auf und strichen durch die beschossenen
Zimmer, huschten durch die Gänge, kletterten auf den Dachboden, stöberten im Keller, schleppten Munition, immer nur ein paar Mann, von hundert etwa drei bis vier. Ich stolperte mit Hoffmann alle Eingänge ab. Da war eine Tür, die auf den Schulhof führte, und diese Tür lag im toten Winkel. Der Hof war mit einem Bretterzaun umgeben. Konnte man nicht ungesehen bis zu jenen Häusern vordringen? Die Häuser schienen nicht besetzt zu sein. Von dort konnte man vielleicht auf das freie Feld gelangen? Die Schützengräben lagen weiter rechts. Ich winkte Hoffmann, er zeigte nach oben; wir kletterten zum MG ins Dachgeschoß. Ich ging in ein Klassenzimmer und warf mich vor die Schießscharte. Der Bayer wälzte sich stumm zur Seite und legte müde den Kopf auf die Arme. Das Feuer kam von allen Seiten. Der Platz lag völlig tot. Ich konnte nicht einen gegnerischen Schützen entdecken. «Durst», sagte der Bayer. Ich zuckte die Achseln. «Ihr Bayern habt immer Durst.» — «Ach, quassel nicht.» — Ich schlängelte mich wieder hinaus. Hoffmann sagte: «Die Munition wird knapp.» Das Gewehr am Dach hatte noch knapp einen Gurt. Ich stieg die Treppe hinunter. Ein Treppenfenster war noch völlig heil. Es ging auf den Hof zu und war durch den Seitenflügel des Hauses gedeckt. Nur ein ganz schmaler Streifen Feldes war durch dies Fenster einzusehen. Wir traten, Hoffmann und ich, ans Fenster. Unten riefen sie: «Munition!» — «Wir kommen gleich!» schrie ich. Da krachte es ohrenbetäubend und splitterte, zwei Arme griffen in die Luft, das Gewehr polterte die Treppe hinunter. Etwas Schweres schlug mir an die Brust, meine Knie knickten ein, ich fiel — und sah auf
meiner Brust den gurgelnden Kopf, die Wunde, den höllischen Spalt aus Blut, Haar und Hirn — Hoffmann — Hoffmann! — Hoffmann war tot. Sanitä... ja, er war tot. Hoffmann war tot. Ich legte ihn sanft hin. Dann hockte ich mich auf den Treppenabsatz und sah stumpf in den Abgrund. «Wann kommt die Munition?» hallte es von unten. Wuth strich vorbei wie ein Gespenst, stutzte einen Augenblick, sah und murmelte: «Fähnrich, die Munition.» Jetzt krachte es. Das bayrische LMG am Haupteingang donnerte einige unsagbar hallende Schüsse. Ich torkelte hinunter. «Sie kommen, sie kommen!» — Wuth riß mich zu Boden, an das andere Gewehr. Ich machte es mit flatternden Händen fertig zum Schuß. Die Bayern der anderen Bedienung riefen zu uns herüber, sie kämen aus den Häusern, steckten jetzt im toten Winkel. Wir lagen rechts und links des Haupteingangs, auf dem ersten Treppenabsatz, etwa in Höhe des Oberlichtes der Tür. Von den Häusern konnten wir nur gerade noch das Erdgeschoß sehen, von der breiten Straße nur einen kleinen Ausschnitt. Auf der Treppe vor uns lag ein umgestürztes SMG total zerschossen, daneben lagen zwei Tote, beide mit gräßlichen Kopfschüssen, ähnlich wie Hoffmann — «Ruhe», sagte Wuth, «Ruhe!» — Wir lagen bewegungslos hinterm Gewehr. Das andere Gewehr schoß. Von draußen klackte es nur zaghaft gegen die Treppenstufen. Ich konnte nichts sehen, öde lag der schmale Streif der Straße. Dann war
alles still. Nur auf dem Platz bruzzelte eintönig das Feuer gegen das Haus. Oben wurde nach Wuth gerufen. Er stand zögernd auf, stieg dann eilig die Treppe hinan. Die Bayern, es waren drei Mann, fragten, ob wir nichts von der Zugwache gehört hätten, oder ob von Stade oder von Hamburg Verstärkung oder Entsatz käme? Ich zuckte die Achseln. Wuth kam und sagte: «Befehl Hauptmann Berthold, es soll nur im äußersten Notfall geschossen werden.» Er hockte sich auf die Treppe und sah starr vor sich hin. Fünf Stunden ging nun schon diese Schießerei. Ich lugte angestrengt durch den schmalen Spalt der Tür. Da wehte doch eben ein Schatten? Nein, drüben, in den Häusern, in den Fenstern regte es sich. Ich fuhr mit der Hand zum Gurt. «Nicht schießen», sagte Wuth. — Ganz deutlich sehe ich einen Mann mit Gewehr am Fenster. Er schaut angestrengt zu uns her. Ich richte mein MG genau auf ihn ein. Nun scheint er mich zu sehen — ja, er hebt das Gewehr, ja, er zielt... blitzschnell werfe ich mich zur Seite, da knallt es auch schon, spritzt und flackert und schlägt mir an den Arm. Ich sehe erschrocken, wie der Ärmel sich blutig färbt. «Verwundet?» fragt Wuth und ist im Augenblick neben mir. «Achtung!» brülle ich und reiße ihn mit dem linken Arm weg. — Wir untersuchen die Wunde. Ganz harmlos, das Geschoß fuhr in den steinernen Pfeiler neben mir, splitterte und jagte mir die kleinen Sprengstücke in den rechten Unterarm. Es blutete stark. «Rauf, verbinden!» befahl Wuth. Der Doktor wand hastig einen Streifen Zeugs um den Arm. Er kaute abgerissene Worte durch die Zähne und
sah sehr erschöpft aus. «Berthold will verhandeln, verhandeln, wie soll das weitergehn...» Ich ging zum toten Hoffmann. Er lag auf dem Rücken, den Körper friedlich ausgestreckt. Wie, bewegt er sich? Er röchelte doch eben? Hoffmann? Nein, ach nein, das Blut tropfte ihm aus Stirn und Nase in die Kehle und bahnte sich gurgelnd seinen Weg. So schnarchte der Tote noch lange, und jedesmal fuhr ich doch wieder zusammen. Ich konnte nicht so sitzen bleiben, ich mußte weiter; ich streifte scheu an Hoffmanns Hand und ging. Berthold ließ eine Schultafel bemalen: «Waffenruhe! Wir wollen verhandeln!» Die Tafel wurde an Stricke gebunden und dann vorsichtig aus einem Fenster gehängt. Sofort konzentrierte sich das Feuer auf diese Stelle, binnen weniger Augenblicke war die Tafel völlig zerfetzt. — Ich streife nun mit einem jungen großen Bayern durch das Haus. Oben im Dachgeschoß sitzen die zwei Mann des LMG schweigsam und ruhig und lugen auf den Platz. Es sind zwei Bayern. Der eine trägt Tressen, ist wohl Fahnenjunkerunteroffizier. Ich spreche ihn an, er antwortet karg, ja, er ist Student. Ich gehe mit meinem Begleiter wieder hinunter. Wir kommen an einen Gang, in den durch die Türen immer wieder Schüsse knallen. Der Bayer macht sich den blödsinnigen Spaß, aufrecht vorbeizuspringen, und lacht dabei und sieht sich triumphierend nach seinen Kameraden um. Wieder springt er los, schnellt aber, plötzlich eigentümlich gefedert, mitten im Sprung zur Seite und fällt wie ein Klotz, das Gewehr fegt krachend den Gang entlang. Tot.
Da ist der kleine, schmale, bayrische Offizier wieder. «Es muß doch Entsatz kommen?» sagt er und sieht mich beschwörend an. Ich will stumm an ihm vorbei, da schreit es von der Treppe: «Offiziere zu Hauptmann Berthold!» Wuth kommt mir entgegen. Ich gehe mit ihm bis zu dem Raum, wo Berthold die Offiziere versammelt. Es ist ein enges Zimmer, dicht am Haupteingang. Wuth geht mit dem kleinen Bayer hinein, ich sehe im Moment das Häufchen der übriggebliebenen Offiziere dicht um den Hauptmann stehen. Dann schließt sich die Tür. Aber ich kann nicht hier draußen stehenbleiben, ich darf nicht und ich kann nicht. Ich weiß mit entsetzlicher Bestimmtheit, daß da drinnen um die Übergabe beraten wird. Und ich gebe mir einen Ruck, öffne die Tür und trete ein. «Herr Hauptmann!» sage ich heiser, die Worte würgen sich trocken durch die Kehle, «Herr Hauptmann», dann reiße ich die Knochen zusammen und sage: «Bitte, eintreten zu dürfen.» Die Offiziere fahren herum, Wuth tritt auf mich zu mit rascher Bewegung, ich mache einen Schritt zur Seite und sehe den Hauptmann an. Der sagt, den Kopf halb gewendet und sehr bleich: «Ja, was ist?» Ich sage: «Herr Hauptmann, ich weiß, wie es in Halle war, wir dürfen die Übergabe nicht...» — ich beginne zu stammeln, raffe mich zusammen und sage: «Wir können doch noch einen Ausfall machen!» und fahre rasch fort: «Hinten, die Tür zum Schulhof ist nicht eingesehen, ich habe alles ausgekundschaftet, da ist ein Bretterzaun, niemand sieht uns bis zu einer Häusergruppe an offenem Feld. Die Gräben liegen weit rechts-ab, wir müssen so durchstoßen können ins Freie.» Der
Hauptmann hebt die Hand: «Wieviel Munition haben wir noch?» Wuth fährt hoch: «Alles in allem noch etwa fünfhundert Schuß.» Der Hauptmann schweigt. Einige Sekunden lang ist alles still, nur das Feuer draußen plätschert eintönig weiter. Wuth sagt: «Das ist möglich, Herr Hauptmann, nur müßte der Ausfall durch eine Gruppe, die im Gebäude weiterschießt, verschleiert werden.» Schnell sage ich: «Das geht, wir haben noch drei intakte MGs, da bleiben wir einfach und feuern so lange...» — «Und was geschieht mit diesen Leuten dann?» fragt der Hauptmann und schnellt den Kopf zu mir, wie ein Vogel. «Wir können», ich stottere, «Herr Hauptmann, nur ein paar Mann, wir können vielleicht uns doch noch durchschlagen nachher.» Der Hauptmann sagt ruhig: «Nein. Meine Herren, wenn der Ausfall beschlossen wird, dann werden die Offiziere den Ausfall decken.» Die Offiziere fahren mit der Hand an die Mütze. Ich sage: «Herr Hauptmann, ohne Sie gehen die Leute nicht.» Berthold steht auf und sagt: «Dann unterbleibt der Ausfall», überlegt zwei tödliche Sekunden und spricht zögernd: «Wer von den Leuten den Ausfall allein wagen will, kann es tun. — Es ist gut, Sie können gehen.» Ich reiße mich hoch und taumele zur Tür und weiß mit nagendem Schmerz, daß dieser Entscheid Bertholds für ihn der einzig mögliche ist. Ich finde mich bei der Leiche Hoffmanns wieder. Es wird rasch dunkel. Wir haben keine Munition, wir haben kein Wasser, wir haben so viel Tote, daß wir die Lebenden zählen. Wir haben auch keine Hoffnung mehr. Hoffmann schnarcht periodisch. Es ist alles zu Ende. Was kümmert es uns, daß draußen das Feuer nachläßt? Wuth
kommt und sagt, Berthold sei mit den Belagerern in Verbindung getreten. Was kümmert's mich? Der kleine bayrische Offizier tritt hinzu, er ist wie eine Klette, er lauscht mit offenem Mund. Ich habe noch wenige Patronen in der Tasche. Drunten am Eingang wird es lebhaft. Es ist schon sehr dunkel im Haus. Auf einmal stehen zwei Arbeitersanitäter vor uns, ältere Leute, fragen ruhig, wo Schwerverwundete seien. Einer mit roter Armbinde kommt hinter ihnen und sagt mit halber Stimme: «Freier Abzug ohne Waffen zugesichert. Bitte legen Sie die Waffen ab.» Er sagt «bitte». Wuth lächelt fatalistisch und schnallt das Koppel vom Mantel und läßt es zu Boden fallen. Der kleine Bayer sagt aufgeregt zu Wuth: «Aber das Koppel ist mein Privateigentum!» — «Schnall's unter, du Rindvieh!» sagt Wuth grob und dreht sich um. Das Schießen hat völlig aufgehört. Wir drängen uns langsam auf den Haupteingang zu. Schon sind einzelne Leute auf dem Platz, schon stehe ich auf der Treppe und blicke über die schwarze, bewegte Masse der Bewaffneten, da knallt es wieder los. Die vorne spritzen erregt zurück, «Verrat» schreien sie, «Verrat» und «Die Hunde schießen wieder ...» Ich rase sofort hinauf auf das Dach zum letzten MG. Kaum bin ich an der Tür, rattert es auch schon wieder los. Der Kampf beginnt von neuem. Es dauert nicht lang. Wir verknallen die letzten Patronen. Zwei Rotbinden kommen mir auf dem Gang entgegen und sagen: «Es hat doch keinen Zweck, Leute, es hat doch keinen Zweck.» — «Ihr Schweinehunde», sage ich, und fühle, wie ich bleich werde. «So haltet ihr die Abmachung?» Die schweigen.
Schwere Dünste von Blut, Schweiß, Staub und Pulver drücken auf die Lunge. Über die Leiche Hoffmanns steigen mehrere Rotbinden mit vorgehaltenem Gewehr. Ich habe eine irrsinnige Wut. «Die Waffen weg!» rufen sie mir drohend zu. Ich schmeiße das Gewehr beiseite und sage: «Hab sowieso keine Patrone mehr.» Einer sagt, ein ganz junger Kerl: «Ihr seid die Dummen, ihr seid ja bloß verführt. Aber wenn wir einen von euren Offizieren erwischen!» Eben biegt Wuth um die Ecke. Ich zerre ihn schleunigst zurück. «Achselstücke runter!» zische ich ihm zu. Er sieht mich entsetzt an, ich reiße ihm die Dinger kurzerhand vom Mantel. «Auf die Offiziere haben die's abgesehn», sage ich; er zuckt die Achseln. Dann nimmt er langsam und mit tödlich trauriger Miene das Gefechtsbarett vom Kopf. Er hat einen einfachen Mantel an. Ich stülpe ihm die blutige Mütze Hoffmanns auf den Kopf. Er fährt zusammen und sagt: «Schnell zu Berthold!» Unten herrscht ein tolles Durcheinander im dunklen Treppenhaus. Rotbinden, Zivilisten, die Unseren und auch einige wenige Reichswehrleute wühlen sich durcheinander. Da steht Berthold. Sein Pour le mérite leuchtet für kurze Augenblicke. Nur wenige Leute trennen uns noch von ihm. In diesem Moment reißt ein Feldwebel der Reichswehrpioniere einen Mantel hoch, schlingt ihn um Berthold und zischt: «Herr Hauptmann, fliehen Sie, Sie sollen erschlagen werden!» Berthold fährt herum, dann ruft er laut: «Nein, ich bleibe bei meinen Leuten!» Da stößt Wuth wie ein Keil durch den Haufen, er schleudert die Leute beiseite, rennt den Hauptmann an,
boxt ihm die Faust ins Kreuz und zischt ingrimmig: «Los, Berthold, verflucht nochmal, weg!» Der Hauptmann stolpert vor, Wuth jagt hinter ihm drein, treibt ihn mit raschen Stößen, auf einmal sehe ich beide nicht mehr. Ein riesiger Matrose reißt mir den Rock auf und greift in die Brusttasche. «Ist das bei euch so Sitte?» frage ich ihn. Er stößt mich schweigend zurück und drängt sich weiter. Endlich stehe ich an der Tür. Die Straße ist schwarz von Menschen. Eine schmale Gasse öffnet sich, gesäumt von Bewaffneten, für die Gefangenen. Jemand gibt mir einen Stoß, ich taumle vor, sofort erhalte ich einen Schlag auf den Kopf. Ich hebe den Arm, um das Gesicht zu schützen. Die Schläge prasseln auf mich nieder, doch ich spüre kaum etwas, ich sehe nur zu, daß ich weiterkomme. Hinten in der Menge entsteht Tumult, ich bemerke, wie der Haufen sich dorthin drängt, von mir abläßt. Ein großer Bayer ist plötzlich neben mir, er flüstert stockend: «Da erschlagen sie unsere Offiziere!» Immer mehr Gefangene sammeln sich unter dem wüsten Geschrei der Menge. Wir stehen apathisch da, der Kopf ist mir benommen, ich sehe nur ein wirres, unsagbar widerliches Durcheinander von verzerrten Fratzen. Ich kann an nichts denken, ich will an nichts denken. Einige Minuten bin ich völlig betäubt und wünsche mir nur ein Glas Wasser. Da sehe ich Wuth, einige Schritte vor mir. Er steht gleichgültig unter den anderen. Gott sei Dank, denke ich und denke sofort, ach, dann ist Berthold nicht durchgekommen! Aber von Berthold ist nichts zu sehen.
Der Doktor drängt sich, begleitet von dem riesigen Matrosen, zu uns durch, sieht mich, stürzt zitternd auf mich zu: «Wo ist Leutnant Wuth? Wo ist Leutnant Wuth! Ich muß ihm sagen, daß ich jetzt die Verletzten verbinden soll. Wo ist denn Leutnant Wuth?» Der Hamburger neben mir fährt auf: «Halt's Maul, du Idiot! Hier sind keine Offiziere, du Idiot!» Jetzt begreift der Doktor endlich, wird im Gesicht ganz grau, sein Unterkiefer fällt weit herab. «Jaja, so, jaja, ja natürlich, also, damit Sie Bescheid wissen, ich verbinde jetzt die Verletzten. Ja...» Der Matrose zerrt ihn fort. Wir marschieren los. Rechts und links gehen dicht aufgeschlossen die Bewaffneten. Mein verletzter Arm beginnt unerträglich zu schmerzen. Alle Nerven konzentrieren sich auf den einen Punkt. Wir stolpern an dem Zaun entlang, biegen dann rechts in eine stille Straße ab. Die letzten Minuten fahlen Lichts vor dem Einbruch der Nacht tauchen die Häuser in einen verschwimmenden Dunst und lassen unseren Marsch völlig unwirklich erscheinen. «Halt!» schreit eine grelle Stimme. Die vordersten Gruppen stoppen. Es läuft plötzlich wie ein elektrisches Beben durch die Reihen, die Rotbinden wenden jäh uns die entsicherten Gewehre zu. Ich renne erschreckt auf meinen Vordermann auf. Was ist los, da muß Entsetzliches geschehen sein — «Da liegt euer Hauptmann, seht ihn euch an —» — Was, was schreit er da, der versoffene Hund? — Der Hauptmann? Der Hauptmann? — — «Der Hauptmann!» schreien die Bayern, das geht wie ein Ruck durch die aufgestörte Kolonne; die Bayern brüllen, drängen plötzlich vor.
Da liegt der Hauptmann. Da liegt Berthold. Im Rinnstein, in der Gosse. Was haben sie mit dem Hauptmann gemacht — er ist ja nackt, wo ist denn sein Kopf? — Ein blutiger, zertretener, nackter Leib, die Kehle durchgeschnitten, der Arm vom Rumpf gerissen, der Körper voller roter Striemen, und Narbe an Narbe an diesem Körper. Ist das wirklich Berthold? Da liegt sein Kopf! Der Hauptmann! Wir nehmen ihn mit! Wir nehmen den Hauptmann mit. Die Bayern stöhnen auf. Wir nehmen ihn mit! Und stoßen vor. Kolben fahren dazwischen. Doch schon sind die ersten Gruppen heran; einzelne Schüsse krachen los. Wir nehmen ihn mit! Die Rotbinden jagen vor. Die Bayern hinten drängen ruckartig nach. Die ersten Gruppen werden von den folgenden Kameraden fortgerissen, die Masse der Gefangenen wälzt sich weiter, um den Hauptmann zu sehen, doch in diesen flirrenden Sekunden der Verwirrung sind die Rotbinden schon verstärkt und schieben sich dazwischen; Kolbenhiebe prasseln. Wir sind vorbei. — Ein tobender Troß von Menschen begleitet uns. Weiber kreischen fäusteschüttelnd auf uns ein. Steine fliegen, Töpfe, Stöcke. Die Wachleute werden getroffen und rufen nun wütend zu den Weibern hin. In eine Wirtschaft werden wir schnell hineingetrieben, die Menge drängt nach, wird von den Bewaffneten zurückgehalten. Wir kommen in einen mit Gasflammen erleuchteten Tanzsaal. Verstaubter, billiger Vorstadtflitter baumelt an den Wänden, und unter der Decke ziehen sich Papiergirlanden, an denen bunte Lampions hängen. Wir müssen antreten. Die Wachleute komman-
dieren wild herum. Draußen grölt die Menge und poltert gegen die Tür. Jetzt ist mir schon alles gleich. Der Arm schmerzt rasend, ich drehe mich halb um. Wir sind höchstens noch hundert Mann — von vierhundert — und Wuth ist nicht dabei. Einer von den Rotbinden spricht. Ich koche vor dumpfer Wut. Was hat der Kerl für eine große Schnauze! Das ist ein ziemlich junger Kerl noch, schwarzes, langes, buschiges Haar, Hornbrille, sehr rote Lippen, eine dunkle Russenbluse. Aha, den Typ kennen wir. Er scheint der Anführer. Er geht unsere Reihe entlang und fragt schallend: «Wo ist der Mann mit der hellen Mütze, der gleich zu Anfang das Maschinen-gewehr im ersten Stock bediente?» Er bleibt vor mir stehen, stutzt, sieht wohl den besseren Schnitt meines Rockes, meine Reithosen, sagt herablassend: «Was ist denn das für einer. Bist du Gemeiner?» Ich sehe rot. Ich sage: «Nicht so gemein wie du!» und hebe versteckt das Bein, um es ihm sofort in den Bauch zu treten, wenn er sich auch nur muckst. Doch er geht schnell weiter. Meine helle Mütze, ach, die liegt zerfetzt neben Hoffmann da droben in der Schule. Wir legen uns ermüdet auf den Boden. Vor der Tür tobt die Menge. Von Zeit zu Zeit brüllt es los und donnert an das Tor. Dann eilen die Wachleute wichtig dahin. Endlich kommt die große Schnauze zu uns und muß natürlich wieder eine Rede halten. Er fordert uns auf, freiwillig eine Sammlung zu veranstalten für die unglücklichen Hinterbliebenen unserer Opfer. Einige wenige der Gefangenen greifen müde in die Tasche. Aber jetzt gehe ich hoch. «Nicht einen Pfennig!»
knirsche ich den Gefangenen zu. «So wollen wir das Dreckleben nun doch nicht erkaufen!» und fahre auf die große Schnauze zu. «Aber, wenn Sie nichts stiften, dann wird die Menge hier eindringen, Sie müssen die erregten Massen besänftigen!» sagt der Kerl fassungslos. Ich schnappe mir einen Stuhl und setze ihm Wort für Wort dicht vor das zurückfahrende Gesicht: «Wenn die Menge hier reinkommt, dann wehren wir uns mit Stuhlbeinen, Fäusten und Zähnen, und dann könnt ihr zählen, wer von euch noch übrigbleibt.» Die Großschnauze weicht zurück. Ich teile Posten von uns ein, die einige Stunden wachen müssen, damit wir nicht von der vielleicht eindringenden Menge überrascht werden. Dann hauen wir uns auf die Dielen. Ich kann lange nicht einschlafen, der verletzte Arm ist dick geschwollen, das Blut hat den Verband durch-tränkt und schwärzlich verkrustet. Endlich falle ich in eine Art wacher Betäubung. — Am frühen Morgen wurde plötzlich die Türe aufgerissen, das Gejohle der schon wieder oder immer noch vor dem Hause versammelten Menge dröhnte aufreizend zu uns herein, und dann kam eilig eine Gruppe Gefangener von draußen, unter den ersten auch Wuth. Viele bluteten am Kopf, fast alle hatten Striemen im Gesicht und zerfetzte Uniformen. Die Tür wurde eilends geschlossen, wir mußten antreten. Ich schob mich an Wuth heran und stellte mich neben ihn. Er war sehr bleich, sein Gesicht schien erschreckend abgemagert zu sein, sein Eberzahn stach weiß und blank in das zerzauste Bärtchen. Die Soldaten, vornehmlich die Hamburger, standen dichtgedrängt um
ihn herum. Sie kannten ihn alle, — als er in den Saal trat, ging es wie ein Hauch der Erleichterung durch die Gefangenen. Fast alle blickten ihn jetzt verstohlen an. Die verdammte Großschnauze in der Russenbluse sprach mit einem riesenhaften, bewaffneten, mit einer dicken roten Armbinde gezierten Arbeiter. Dessen Rock stand offen, die nackte braune Brust war mit blauen und roten Tätowierungen bedeckt. Er hatte einen für seinen Körper kleinen, Vierkanten Kopf, aus dem über einer starken und kühnen Nase die Augen merkwürdig rötlich und fast ohne Wimpern die Gefangenen musterten. Draußen schwoll das Toben der Masse. Wir hörten die schrillen Schreie der Weiber, Steine polterten gegen die Tür. Der Kerl in der Russenbluse wandte sich nun zu uns und sagte: «Wir wissen, daß noch Offiziere unter euch sind. Ihr habt euch verführen lassen durch diese Schweine. Es soll euch nichts geschehen, wenn ihr uns jetzt sagt, wer von den Offizieren noch unter euch ist. Wer die Offiziere nennt, dem passiert nichts; er wird sofort unter sicherem Schutz nach Hamburg gebracht und freigelassen. Wenn ihr die Offiziere nicht angebt, na, dann werdet ihr ja sehen, was geschieht. Na, wird's bald?» Ich packte mit der linken Hand sofort Wuths Arm und drückte ihn fest zusammen. Ich spürte, wie seine Muskeln sich strafften, wie seine Knochen ein Beben durchlief. Ich preßte eisern sein Handgelenk und zerrte mit ganzer Kraft nach unten. Der ganze, starke, zähe Mann strebte nach vorn. Wollte er sich durch das erste Glied drängen, sich melden, um unsertwillen? Niemals? Niemals darf das geschehen. Unsere beiden
Fäuste rangen miteinander. Ich sah ihm wütend ins Gesicht; das war unheimlich gespannt, die Haut straffte sich über die mageren Backenmuskeln, doch hatte er die Zähne fest zusammengebissen. «Schnauze halten, Wuth!» flüsterte ich. Die anderen Gefangenen standen unbeweglich und stumm. Am rechten Flügel entstand Unruhe. Ich sah erregt hin. Aber Tietje von den Hamburgern hatte nur spielerisch und anscheinend völlig unbeteiligt nach einer Stuhllehne gegriffen. «Na, denn nicht», sagte die Russenbluse. Der Riesenhafte drehte sich kurz um, hieb mit dem Kolben rasselnd auf den Boden und stampfte hinaus. Die Russenbluse sagte: «Ihr werdet jetzt abtransportiert. Aber wir wollen noch eine Weile warten, es sind noch nicht genug Leute draußen, die auf euch lauern.» Er grinste und verkrümelte sich zum Eingang. Sofort war um Wuth ein dicker Klumpen Gefangener. Tietje sagte: «Für was halten uns die Brüder eigentlich?» und schwenkte seinen Stuhl. Wuth zischte durch die Zähne: «Herrschaften, wenn die draußen prügeln, dann wiederprügeln. Keinen Hieb gefallen lassen. Immer hinter oder neben dem Wachmann gehen, damit der auch sein Teil abkriegt von seinen eignen Leuten! Immer dicht zusammenbleiben. Einer dem anderen beistehen. Die größten in die erste und in die letzte Gruppe, die Verwundeten in die Mitte. Seht zu, daß ihr die Stöcke ergattert, aber nicht aus der Reihe springen. Auf mich achten, ich gehe in der ersten Gruppe.» Nach einer kurzen Pause fragte er: «Wieviel Hamburger sind eigentlich noch da?» Einer sagte: «Zwölf.» Wir schwiegen.
Der Tätowierte kam herein, brüllte: «Antreten!» und riß dann die Tür auf. Einige Sekunden lang hörte man nur das Trappen unserer eiligen Schritte. Wuth ging als erster ins Freie. Ich folgte dicht hinter ihm. Wir rannten mit vorgeneigtem Kopf, die Arme abwehrbereit erhoben, wie weggeschleudert in den dumpfen Haufen. Sofort spaltete sich die Menge; es war, wie wenn ein Keil in sie hineingetrieben wäre; eine schmale Gasse riß sich in den Kern der Menge, wir stießen in sie hinein. Wir wußten nicht, wohin sich unser Weg ziehen sollte; wir wußten nicht, ob wir ausgeliefert waren an die Masse, ob eine sichre Zuflucht winkte irgendwo; wir wußten nur, daß wir jetzt uns zu wehren hatten; wir wußten, daß wir jetzt nur durch unerbittlichen, keuchenden, letzten Ansprang alles setzen mußten an das bißchen Lebensmut, das uns die Welt erträglich machte. Ein Geflirre von stolpernden Füßen war vor meinen Augen, und die linke Faust stieß in ein Gesicht und fühlte, wie etwas Knorpeliges brach. Ein schwerer Schlag sauste auf meinen Kopf, vom Arm halb aufgefangen. Ein manchestersamt-bespannter Bauch sprang ins Blickfeld und beulte sich nach zielgenauem Stoß. Es fiel ein steifer, schwarzer Hut; mein Fuß zerstampfte ihn, warum gab mir das solche wilde Freude? Was dröhnt mir auf den Kopf? Was hämmert mir die Schulter wund? Da ist ein Schienbein, hin den Nagelschuh! Ein Hieb zuckt schmerzend auf den rechten Arm. Ein ungleich Spiel, von denen kriegt nur jeder einen Schlag — doch wieviel Schläge treffen uns? Der Kerl, der Tätowierte, trabt jetzt neben mir. Er hat die Knarre halb erhoben, doch sieht er unempfindlich
gradeaus und läßt die Schläge auf uns prasseln. Ich sehe, wie ein Kuli einen langen Schlauch weit ausholend niedersausen läßt, sofort spring ich zurück, der Schlauch klatscht nieder, schlängelt pfeifend um den tätowierten Wachmann. Der brüllt auf und fährt herum und haut dem Kuli in die Fresse. Nun kommt er doch in Fahrt, der Wachmann! Wuth boxt gekrümmt, drei Schritte vor mir. Weiber dringen auf ihn ein. Die Weiber, breit, in blauem Zeuge, mit nassen Schürzen und zerschlampten Röcken, fauchrot die faltigen Gesichter unter wirrzerzaustem Haar, mit Stöcken, Steinen, Schläuchen und Geschirren, sie hämmern auf uns los. Sie spucken, keifen, kreischen, — wir sind heran, nun durch. Es röchelt neben mir im schnellen Lauf ein kleiner Bayer, älter schon, und wie wir an den Weibern sind, da hör ich eine kreischen: «Was schlagt ihr denn die jungen, die alten Böcke müßt ihr prügeln!» Der arme kleine Bayer kriegt sein Teil. Da ist einer an der engen Gasse, ein junger, starker Kerl, der ist mit großem Ernste bei der Arbeit. Er sucht sich seine Leute aus, blickt prüfend und bedächtig erst die Reihe längs, bevor er schlägt. Dann aber haut er voller Wucht dem Auserwählten von unten rauf mit ganzer Faust vom Kinn her an die Nase, daß die rote Brühe spritzt. Er kommt an Wuth; das war verkehrt, denn Wuth duckt blitzschnell sich, der Bursche taumelt, und Wuth rennt ihm das Knie, die Wucht des ganzen Körpers hintersetzend, in den unbewehrten Unterleib. Der knickt zusammen, fällt, doch Wuth fällt mit ihm, beide rollen. Ich bin heran und schnappe Wuth am Kragen und zerr ihn hoch, wir rasen weiter. Jetzt spüre ich den Schmerz des Armes nicht, jetzt schlag ich auch,
wo niemand mich bedroht. Die Bewaffneten laufen neben uns. Es krachen Schüsse hinten, Schreie dröhnen, es kommt Bewegung in die Massen. Doch aus einer Seitenstraße bricht ein neuer Trupp, vornehmlich Weiber. Die Weiber sind die schlimmsten. Männer prügeln, Weiber spucken auch und keifen, und man kann so ohne weiteres nicht die Faust in ihre Fratzen pflanzen. Da steht, Idylle im Gewirr, ein altes Weib und stützt sich auf den Schirm. Die guten alten Augen, ach, unter jettbesticktem Häubchen! Kaum stehen kann sie, ernsthaft blickt sie uns entgegen und hebt — und hebt mit zitterigem Arm den alten Schirm, und schlägt mich, schlägt mich! Heiland! Schon wieder Schüsse. Wir laufen jetzt gehetzt, gepeitscht von Schrei und Schlag. Die Massen rennen hinter uns. Es baut sich eine hohe, rote Mauer vor. Ein Tor fliegt auf. Wir flitzen durch. Wir sind jetzt in der Pionierkaserne. Die Rotbinden sammeln sich am Tor und wehren den Nachdrängenden den Eingang. Wir stehen keuchend, blutend und zerschlagen auf dem Hof. Die Reichswehrleute weisen uns zurecht und drängen uns in das Quartier. Die Reithalle, der ganze Boden dicht bedeckt mit grauem Erbsstroh, nimmt uns auf. Es wurden sieben Mann von uns bei diesem Sturmlauf von der Masse erschossen und erschlagen. Wuth knirschte, auf den Boden der Halle hingeworfen: «Das nächste Mal, bei Gott, da kommen wir mit Fünfzehner-Langrohr über diese Stadt.» Doch Tietje, unverbesserlich, behauptet: «Prügeln ist immer fein, auch wenn man selber Hiebe kriegt.» — Drei Tage lagen wir in der Reithalle. Wir lagen im knisternden, staubigen Stroh, gereizt, müde, verbraucht,
voll einer dumpfen, fressenden Wut. Einer der Bayern erzählte Tag für Tag eintönig, wie Berthold starb. Der Mann war bis zuletzt bei dem Hauptmann gewesen. Berthold war im Schutze des Mantels bis zu jener Seitenstraße gelangt. Da kamen ihm Matrosen und Arbeiter entgegen. Einer von denen erkannte ihn am Pour le mérite. Sie fielen über ihn her, er wehrte sich, er schlug um sich, ein Kolbenhieb auf seinen bloßen Kopf ließ ihn umsinken. Er zog mühsam den Säbel, den er noch umgeschnallt trug, doch wurde der ihm entrissen. Er, halben Leibes an einen Laternenpfahl gelehnt, kämpfte um den Orden. Man riß ihn herunter, sie trampelten ihm auf die Beine, sie zerrten ihm den Rock ab, sie brachen ihm den mehrfach zerschossenen Arm. Berthold entriß einem Matrosen die Pistole, schoß ihn nieder, sie stürzten sich auf ihn, ein Messer gleißte, zerschnitt ihm die Kehle. Langsam verröchelte er, einsam, kämpfend, in den Kot getrampelt. Seine Mörder teilten sein Geld. Der Bayer lag in einem Hausflur, verwundet, bewacht. Einer von der Zugwache erzählte, wie sie angegriffen und aufgerieben wurden, nur ganz wenige lebten noch. Das Gepäck wurde geraubt. Von den Reichswehrpionieren erzählte einer von den gewaltigen Verlusten, die wir den Harburgern zugefügt. Wir sagten diesem Soldaten, was wir von seiner trefflichen Formation dächten, und er zog sich gekränkt zurück. Aber der Feldwebel, der unsere Bewachung leitete, berichtete schadenfroh, daß der Berliner Putsch zusammengebrochen sei. Wir hörten ihm erstaunt zu. Dann sagte Tietje: «Ja, richtig, wir wollten ja eigentlich
einen Putsch machen. Na, Putsch ist futsch und Kapp ist hin.» Und wir ließen diesen Heldenjüngling stehen und hauten uns ins Stroh. Was mit uns geschehen sollte, wußte niemand. Wir saßen da und warteten und hatten viel Zeit zum Nachdenken. Die Schwester des Hauptmanns kam und brachte uns Zigaretten. Die Bayern standen stumm und mit zuckenden Gesichtern um sie herum. Sie war still und tapfer. An dem Abend dieses Besuches sprach in der Reithalle keiner ein Wort. Am dritten Abend sagte ich zu Wuth: «Je mehr ich es mir überlege, desto sicherer weiß ich, daß unser Kampf nicht zu Ende ist. Aber ich weiß auch, daß wir bislang notwendig scheitern mußten. Wir werden niemals wieder als Truppe eingesetzt werden. Jetzt muß jeder einzelne seinen eigenen Kampf angehn. Was wirst du tun, Wuth?» Er lag und blickte, die Arme hinterm Kopf verschränkt, an die Decke der Halle und sagte: «Siedeln! Ja, siedeln. Wir werden, meine letzten zehn Mann und ich, die letzten Hamburger, wir werden uns zusammentun und siedeln. Bauer werden. Irgendwo, verdammt, im Lokstedter Lager oder in der Lüneburger Heide oder im Bremer Königsmoor, da werden wir siedeln, Häuser baun, Bauern und Soldaten, das ist eine gesunde Mischung.» Ich sagte: «Ja, das ist ein Stück Arbeit. Aber keine Arbeit für mich. Denn, siehst du, das ist wie eine Krankheit. Ich glaube, ich werde niemals zur Ruhe kommen. Was wir bis jetzt taten, das war bei Gott nicht umsonst. Blut fließt nie umsonst, es meldet immer
seine Ansprüche an, die doch einmal erfüllt werden. Aber für diesmal und jetzt, da scheint mir die Spanne zwischen Aufwand und Erfolg zu groß. Das kommt, glaube ich, daher, weil wir Abseitige waren im Grunde — versteh mich recht, trotzdem wir immer im Brennpunkte standen, wir kämpften doch auf einer ganz anderen Ebene, als sie sich für das Reich gültig erwies. Ich meine, was sich da nun formte, was nun sogar vor unserem Putsch zusammenhielt, das entstand anders, als wir dachten.» Wuth setzte sich aufrecht hin und sah mich an. Ich fuhr eifrig fort: «Ich meine, das entstand im Grunde nicht durch Bewegung, sondern durch Gewicht. Das, was am passivsten war, das hat sich durchgesetzt, einfach, weil die aktiven Teile sich gegenseitig auffraßen. Es ist ja doch nichts Neues entstanden durch die Novemberrevolte. Wir haben keine Umschichtung erlebt, geschweige denn eine Revolution. Alle die alten Werte sind wieder da, sie sind nie verschwunden, aber jetzt zeigen sie sich ohne die glänzende Bemalung, die ihnen vor dem Kriege die Gültigkeit verlieh. Kirche, Schule, Markt, Gesellschaft, es ist noch alles da, genau so, wie es früher war. Nur das Heer ist futsch, und das war noch das Beste an der ganzen Vorkriegsepoche. Und die Fürsten — na ja. Sieh dir mal die Namen und die Gesichter der Parlamentarier und Minister an. Wir haben den Krieg verloren unter der alten Schicht. Da die neue die gleiche ist wie die alte, von dem gleichen Wortschatz lebt, — sie haben nur ein bißchen «Verwechselt das Bäumchen» gespielt — den gleichen Bedingungen und Verpflichtungen unterliegt, so kann diese Schicht auch nicht den Verlust des Krieges
wettmachen, scheint mir. Ich hab Gründe zur Annahme, daß sie das nicht einmal will. Es ist schon richtig, was die Kommunisten sagen, nämlich, daß dieselbe Bourgeoisie heute öffentlich herrscht, die bis zum November 18 unter der Oberfläche herrschte. Also haben wir keine Revolution gehabt. Also können wir gegen die Revolution nicht angehn. Und sind wir zufrieden mit dem, was heute ist? Gibt es auch nur einen Ton, einen einzigen armseligen Ton dieses Konzertes aus Verordnungen und Reden und Programmen und Akten- und Zeitungspapier, der in uns anklingt? Gibt es nur einen Namen, zu dem wir Vertrauen haben? Gibt es nur ein Wort, dem wir glauben können? Ist uns nicht alles in Bruch gegangen durch den Krieg erst? Schön, es war nicht schade drum, scheint mir, um das, was da in Bruch gegangen ist; aber nachher, bot sich auch nur ein einziges Ziel in dem Gemenge von angeblichen Erfordernissen und Aufgaben? Ist nicht alles, was wir wollten, verhöhnt und belächelt worden? Also, wenn dies so war, wenn dies so ist, und wir erahnen, daß noch etwas auf uns wartet, daß wir zu anderem berufen sind, als diesen Dreh mitzumachen, was dann? Wenn die Revolution nicht stattgefunden hat, was dann? Dann müssen wir eben die Revolution machen.» Jetzt lächelte Wuth. Ich schlug die Augen nieder und sah angestrengt auf die Fußspitzen. Ich sagte: «Ich habe die Auffassung, daß die Revolution nachgeholt werden muß. Die parlamentarische Demokratie — na, schön. Das war mal 1848 modern. Da hatte es vielleicht seinen großen Sinn. Obgleich wir im Kadettenhaus dies Jahr im Geschichtsunterricht nur spärlich durchzupauken
brauchten — denn was braucht ein königlich preußischer Kadett vom Jahre 1848 viel zu wissen? —, bin ich doch in einer Atmosphäre aufgewachsen, die noch von diesem Jahre gesättigt war. Die Paulskirche in Frankfurt — also da gibt's nichts. Das waren sehr ehrliche Leute. Damals hatte das wohl viel Sinn. Und der Marxismus? Da ist ein festes und solides Programm, an das man wohl glauben mag, das man wohl zur Bibel der Revolution machen kann. Aber die Revolution ist doch nun mal nicht gekommen! Das Ergebnis von 1918, das ist ein Gemix von 48, von Wilhelminismus und Marx. Und so sieht es auch aus. Alle Restbestände des Lagers sind mit hineingenommen in die neue Firma. Und wir stehen davor. Und haben für Ruhe und Ordnung gekämpft. Ja.» «Nun bin ich doch verdammt neugierig, worauf dieser Jüngling eigentlich hinauswill!» sagte Wuth. Jetzt hörten alle Hamburger zu. Ich sagte: «Vielleicht kann ich mich nicht so ausquetschen, wie ich möchte. Ich bin kein Volksredner. Ach nein. Aber ich meine, wir müssen Revolution machen. Sozusagen 'ne nationale Revolution. Na ja. Und ich meine, wir haben schon angefangen damit. Denn: wehren wir uns nicht alle, wenn gesagt wird, unser Putsch sei reaktionär? Ich meine, alles, was wir bis jetzt taten, war schon ein Stück Revolution. Im Ansatz. Nicht im Wollen vielleicht, aber darauf kommt's ja nicht an. In der Wirkung, nicht im Bewußtsein. Ich meine so: alle Revolutionen der Weltgeschichte begannen mit dem Aufstand des Geistes und endeten mit dem Barrikadensturm. Wir haben es genau umgekehrt gemacht. Wir fingen mit dem Barrikadensturm an. Und
sind gescheitert. Der Aufstand des Geistes, den meine ich, wenn ich sage, wir müssen die Revolution nachholen. Damit müssen wir jetzt beginnen.» «Ach, mein Guter», sagte Wuth, «den Geist möchtest du jetzt suchen? Mögest du ihn finden. Und möge es ein guter sein.» Ich sagte: «Du mußt schon entschuldigen, wenn ich mich unklar ausdrücke. Aber weißt du, wie die russische Revolution sich vollzog? Ich meine von ihren ersten Anfängen an? Weißt du, wieviel «Bolschewiken» es bis zum Jahre 1917 gab? Ich meine echte Bolschewiken, die diese und keine andere Revolution wollten? Nicht ganz dreitausend, im ganzen Riesenreich nicht ganz dreitausend, habe ich mir sagen lassen, und ein guter Teil von denen hockte noch im Ausland, in der Schweiz und weiß der Kuckuck wo noch. Aber das waren Leute, die unermüdlich an der Arbeit waren. Theoretiker der Revolution zuerst und dann Praktiker. Da stand' Zug um Zug fest, Wort um Wort, Idee um Idee. Und die Leute beherrschten die revolutionäre Taktik wie die revolutionäre Strategie. Zugegeben, sie hatten einen Anhalt an der Marxschen Theorie. Aber das war schließlich nur die Theorie, um die die Revolution gemacht werden sollte, nicht die Theorie der Revolution selbst. Wir müssen die Revolution um der Nation willen, um die Nation machen. Und da müssen wir erst mal wissen, was Nation eigentlich ist. Wissen meine ich, nicht ahnen. Wir ahnen alle schon. Aber wissen. Und dann müssen wir wissen, wie wir die Nation, die wir heute nicht haben, auch hinstellen. Und das zu lernen, das scheint mir die Aufgabe.»
Ich schwieg, erschüttert über den Fluß meiner eigenen Rede. Die Hamburger schwiegen auch. Ich stand auf. Wuth fragte: «Was machst du jetzt?» Ich sagte: «Ich gehe.» — «Wohin?» — Ich sagte: «Raus!» Und ging auf die Posten an der Tür der Reithalle zu. Die Hamburger sahen hinter mir her. Bei den Reichswehrpionieren war ein Unteroffizier, der war scharf auf meine Reithosen. Schon zweimal hatte er mich gefragt, ob ich sie ihm nicht verkaufen wolle. Jetzt nahm ich ihn beiseite und sagte: «Kannst die Hosen haben.» Er fragte sofort: «Was soll ich dafür ausgeben?» Ich sagte: «Paß mal auf: Ein Paar alte Buchsen von euch, ein Koppel mit Säbeltroddel, ein Paar Achselklappen von euch und eine Reichswehrmütze mit dem schönen Eichenkranz, den ihr tragen dürft, weil ihr so tapfer gesiegt habt.» — «Das geht nicht», sagte der Pionier. «Du kannst mich mal», sagte ich und drehte mich um. «Halt, renn doch nicht gleich weg!» Er stand und schaute unschlüssig. Dann fragte er: «Ist das gutes Leder?» Ich sagte: «Eins ALeder, viel zu schön für dich, du machst es ja bloß voll, du Hampelmann.» Er schaute und sann und sagte: «In 'ner halben Stunde bring ich das Gelump. Ich hab' dann die Wache am Kasernentor. Hier kannste aber nicht durch, hier stehn auch Arbeiter Posten.» — «Schön, du Heldenjüngling, du hast ja kapiert. Also in 'ner halben Stunde.» Dann ging ich zu den Hamburgern und zog meine Reithose aus. Wuth verstand sofort. Ich nahm Abschied von den Hamburgern. Ich drückte jedem einzeln die Hand und viel Worte wurden nicht gemacht. «Mach's gut» und «Hals- und Beinbruch» und dann ging ich ins Stroh dicht an der Tür. Der Pionier kam
und steckte mir vorsichtig die Sachen zu. Ich gab ihm die Reithose. Dann ging ich an das dunkle, hintere Ende der Reithalle. Dort lag das Stroh hochgetürmt bis zu einem Fenster, das klein und vergessen in der Mauer stak. Keiner achtete auf mich, außer den Hamburgern. Ich setzte die Reichswehrmütze auf und schnallte das Koppel um und befestigte die Achselklappen an meinem Rock. Dann griff ich nach dem Fensterbrett. Ich drehte mich noch einmal um nach den Hamburgern und winkte. Die Hamburger fingen auf einmal an, leise zu singen. Die Bayern horchten erstaunt auf, die Wache am Tor drehte sich ihnen zu. Die Hamburger — die letzten zehn Mann der Kompanie, die einmal ein Bataillon war — die Hamburger sangen das Seeräuberlied. Ich zog mich hoch und schwang mich durch das Fenster. Draußen klammerte ich mich an den starken Ast einer großen Kastanie, ließ die Beine baumeln und hangelte mich zu Boden. Dann ging ich über den dunklen Hof zum Tor. Der Unteroffizier stand dort, trat zwei Schritt zurück und ließ mich schweigend vorbei. Durch die leeren, nächtlichen, hallenden Straßen ging ich unendlich einsam, auf Hamburg zu.
DIE VERSCHWÖRER
Auftakt
Es bedurfte nur des Loslösens von der kriegerischen Gemeinschaft, um mir sofort ins Bewußtsein treten zu lassen, wie sehr siebzehnjährig ich war. Vollzog sich auch die Trennung mit einem schneidenden Schmerz, so hatte sie doch jene selbe Leichtigkeit des plötzlichen hellsichtigen Aufgebenkönnens bisher gültiger Vorstellungen und Maxime für mich im Gefolge, die mich in der Novembernacht des Jahres 1918 zugleich erschreckte und beglückte. Mich beunruhigte der durch unvermutete Scham nicht ganz zu Ende verfolgte Gedanke, daß ich eine besondere Federung des Herzens haben müsse, eine Art innerer Auffangkonstruktion, die mir jeden waghalsigen Sprung, jeden abenteuerlichen Vorstoß erlaubte, ohne mich fürchten zu lassen, daß ich nach unvermeidlichem Rückstoß in das Bodenlose fiele, in den offenen Rachen des scheußlichen Untiers, das in der Brust jedes Menschen wohnend geglaubt wird. So konnte es wohl kommen, daß ich, nun ausgeliefert der in ihrer realen Nüchternheit platten Welt, völlig allein gegenüber dem unbekannten, saugenden Rhythmus eines durch anscheinend sinnlose und doch unerbittlich harte Mechanik geregelten Lebens, fast symbolisch zuerst zu dem griff, was mir einen vagen Begriff vom Leben auch zuerst vermittelte, zum Buche. Bevor ich auszog wie der reine Tor der Sage, hatte ich durch Bücher mir einen Damm gebaut gegen die täglichen Kümmernisse meiner etwas
schwierigen Aufzucht. Nun aber, in diesem Augenblicke, da mir, was auch immer ich sah und spürte, so voll fahler Schatten und farblos schien, konnte mir das Schaufenster einer Buchhandlung wie auf einen geheimen Anruf hin die wütende Sehnsucht nach jener leuchtenden Unmittelbarkeit erwecken, die mir die Bücher gaben, ehe ich versuchte, meinem Bruder Simplicius Simplicissimus nicht nur in der Phantasie zu folgen. Im Schaufenster aber lag, etwas in die Ecke gerückt und ein wenig angestaubt, ein Buch mit dem Titel «Von kommenden Dingen». Und durch diesen Titel eigen-tümlich angezogen und berührt, ging ich in den Laden und erstand mir das Buch. Ich stieg zu meiner Mansardenstube hinauf, zündete mir die letzte große Kerze an, setzte mich in den alten Plüschsessel, von dem schon ein Bein verheizt war, nicht ohne das ächzende Möbel durch eine Handgranatenkiste gestützt zu haben, und begann frierend zu lesen. Ich las die ganze Nacht hindurch. Das Buch war von Walther Rathenau, dessen Name mir dunkel als der eines Großindustriellen und Wirtschaftsführers im großen Kriege in der Erinnerung war. Gleich die ersten Sätze des Buches, die betonten, es handele von materiellen Dingen, jedoch um des Geistes willen, verliehen mir eine eigentümliche Befriedigung: gerade das schien mir zu lesen jetzt gut und notwendig zu sein. Es war dies Buch mit einer flüsternden Eindringlichkeit geschrieben, seltsam unplastisch und ganz ohne Pathos, und selbst die wenigen Sätze, in denen das warme Licht eines verklärten Optimismus leuchtete,
waren beschattet von einer Wehmut, die mich sofort ergriff. Von kommenden Dingen war ich begierig von dieser fernen, leidenschaftlichen, getragenen Stimme zu hören, und ich las, das Ziel sei die menschliche Freiheit. Da blätterte ich ernüchtert vor und zurück und sah das Erscheinungsjahr 1917, und war wieder gefangen von der Botschaft der Verklärung des Göttlichen aus menschlichem Geiste, und es erging mir so, daß ich gebannt die Zeilen verfolgte, und es erging mir so, daß ich minutenlang aufwärts sah und zweifelnd erwog, ob ich hier beteiligt sei. Denn dies Buch war fremd und nah, es war gütig und kalt, es war tief und schwerelos, es zeigte die schmalen Beziehungen zu den Hintergründen, aber es zeigte die Hintergründe nicht. Da war so vieles, was ich nicht verstand, da war so vieles, was ich selbst gedacht, da sprach mich hemmungslos Jugend an, und da dozierte mahnend ein überlegener Greis. Jedwedes Ding war rundherum beleuchtet und schimmerte, von spielerischer Hand emporgehalten, gleich einem geschliffenen Kristall, und ein Kristall, so dachte ich, kann freilich kein drängendes Leben zeigen. Etwas fehlte hier, und etwas war dort zu viel. Etwas strich sanft über die Wirre und sänftigte sie, und etwas klang feindlich dazwischen. Ich konnte lesen und Ja sagen, einmal Ja, zweimal Ja und dreimal Ja und immer wieder fiebernd Ja und konnte das Land schon ahnen, zu dem der Weg mich führte, konnte die Landschaft schon liegen sehen, bestrahlt, hingebreitet, nur wenig des Gestrüpps trennte noch — und dann war eine Grenze da, dann wurde auf einmal der Schritt müde, dann flatterte nur eine vage Handbewegung über die kommenden Dinge, und voll
einer erbarmungswerten Resignation verlor der Klang der eifervollen Stimme sich in dem Chor der Geister, die sie selbst beschwor. Dinge, die mir wie Kiesel waren, die der Fuß achtlos beiseite schiebt, erschienen hier wie starre, die Ebene beherrschende Felsen, Dinge, die mir verwickelt schienen wie Schlangenknäuel, lösten hier sich einfach und klar und waren geordnet mit sachter Hand, Dinge, die mich plastisch dünkten und schlicht in den Linien und ohne Geheimnis, hier zitterten sie plötzlich in magischem Schein. Dies war ein außerordentliches Buch, und außerordentlich war die Landschaft, die es zeigte, das mechanistische Reich der Welt und die seelische Kraft des Geistes, die dieses Reich zu kommenden Dingen forme. Aber eben dies, die schmale Hoffnung auf eine Beseelung der Mechanik durch den Geist, schien mir eine nur magere Antwort auf das drängende Suchen, das sich in diesem Buche wie in den Herzen der Jugend auf einmal anmeldete; und da ich die Antwort nicht fand, nicht das Eigentliche, nach dessen Enthüllung ich lechzte, so mußte es mich bitterer noch schmerzen, zu finden, daß auch keine Frage schärfer gestellt, keine Verantwortung klarer umrissen sich zeigte, als es die Verkündigung von der neuen Gerechtigkeit, von den Gütern der Seele, heischen müßte. So war dies Buch eine Bestätigung; denn da es den Stoff zu veredeln suchte, erkannte es seine Herrschaft an. Dies war, nun glaubte ich es zu erkennen, ein im Geistigen reaktionäres Buch. Ein Verspäteter sprach hier, nicht ein zu früh Geborener. Es blieb seine Prophetie Kritik, und die Kritik am Seienden geschah somit auch um des Seienden willen. Die Forderungen,
die erwuchsen, sie konnte man auf allen Gassen hören, Volksstaat, Demokratie — es wälzten sich die Worte lüstern lange schon in den Mäulern der Pausbäckigen, dieselben Worte, deren edle Energien ein im tiefsten Einsamer zu spät für die da draußen nun erkannte. Ich glaubte die wehen Züge des Blinden zu sehen, der in der Wüste sprach und horchte, da die Menschen schwiegen, ob nicht die Steine sprächen. Aber die Steine schwiegen auch. Was sollten die Werte, da die Worte genügten? Ich las und las und näherte mich dem Ende. Es erschien mir alles wie ein Traumgebilde, wie durch Glas gesehen, wie durch ein mattes, behauchtes Glas, durch das die Welt fahl und bläulich schimmerte, ja, wie eben die Landschaft, die ich nun durch das Fenster sah — denn die Nacht neigte sich ihrem Ende, und die Kerze verglomm, und die klotzigen Umrisse bis unter das Dach mit Menschen vollbepackter Mietskasernen, das Gewirr der Schlote und Kamine, die brüchigen Linien der Dächer lösten sich gespenstisch vom samtenen Hintergrund. Da stand ich auf und lehnte mich hinaus und schaute in die Schluchten der Hinterhöfe, in denen der Lärm des nahenden Tages schon hallte, und fühlte mich siebzehnjährig genug, um zu wissen, daß dies hier gebändigt werden müsse und nicht beseelt, und ich klappte das Buch zu und dachte, der leichte Schauer, der mir vom Nacken rieselte, rühre wohl von der Morgenkühle her, die nun durch das Fenster prallte. In diesem Augenblicke rückten die Franzosen in die Stadt. Ich hörte das Schmettern ihrer Clairons und stürzte auf die Straße und sah. Die Wucht der
marschierenden Kolonnen klemmte mich fast an die Mauern. In mir faserten noch die Gedanken des Buches, das ich in der Nacht gelesen hatte. Hier zerklirrte ein gläserner Traum unter dem gellenden Siegesjubel, der über die Gewehre und Helme fuhr. Ich tastete mir nach dem Gesicht, als wolle ich Spinnweben von der Stirne wischen, und lauschte auf den höhnischen Triumph, der durch die Straßen knallte, und sah die Siegessicherheit, die Eleganz, die lächelnde Verachtung, die von der Bestrafung reden durfte und von Vergeltung. Die Stadt war ausgeliefert einem fremden Willen, die Würde angetastet, und daß wir es dulden mußten, das war unerträglich. Wie am Draht gezogen schoben sich die glänzenden Glieder heran, gleich riesigen Kellerasseln wälzten sich Tanks, eine unerbittliche Masse gepanzerter Leiber, und ich stand geduldet und waffenlos. In mir stieg die dumpfe Proletarierwut. Ich sah, daß diese kleinen, schwarzen Offiziere Lackstiefel trugen, schlanke Taillen hatten, ich sah die gutgepflegten Pferde, die lässig stolzen Blicke, Ordensbänder, ich sah, daß jener Capitaine mit seinem Reitstock lachend zu dem Mädchen grüßte, das nun vom Fenster erschreckt verschwand. Ja, daß sie lachen durften, während wir verbrannten, daß sie marschieren durften, mit ihrem Kriegerstolze prunken, und wir in Demut standen, das jagte mir den roten Haß ins Herz. Ich lief den ganzen Vormittag durch die Stadt und heulte fast vor Wut. Die Menschen, die mir begegneten, gingen bleich und hastig, selbst den Lärm der Straße schien ein leichtes Zittern zu durchwehn. Überall gingen die Patrouillen der Franzosen zu drei und vier
Mann, und diese schritten schnell, knapp, mit verschlossenen Gesichtern, gleichsam eine unsichtbare Wand um sich tragend, indes stärkere Kolonnen sich trippelnd durch die Straßen schoben und die Soldaten fröhlich neugierig die eroberte Stadt zu mustern und bekömmlich zu finden schienen. An einzelnen Plätzen, am Hauptbahnhof, an der Oper, an der Hauptwache, hatten sich Truppenlager gebildet, Maschinengewehre standen schußbereit an den Ecken, die Gewehre waren zusammengesetzt und zu kurzen Pyramidenreihen aufgebaut. Offiziere schlenderten, nie allein, immer zu zweien oder dreien, mit wippenden Reitstöckchen, auf den Bürgersteigen, und die Mienen der Passanten wurden starr und ausdruckslos, wenn sie ihnen begegneten. An einem Hotel wurde von geschäftigen Poilus die Trikolore hochgezogen, indes die Offiziere aus- und eineilten. Ich versuchte meine Gedanken zu kontrollieren. Irgend etwas anzuerkennen, etwa das starre und exakte Funktionieren der militärischen Maschinerie, das gute soldatische Aussehen der Truppen, die sauberen, blonden und heiteren Gesichter der Leute, das erschien mir wie Verrat. Ich wollte nichts anerkennen, ich wollte, der Haß der Menge sollte eine granitene Mauer um diese Sieger bauen, sie sollten sich in tödlicher Isolierung finden, stets auf der Wippe zwischen Furcht und Schrecken. Da kam eine Gruppe Neger, geführt von einem weißen Korporal. Die Neger hatten dünne, wadenlose Beine, an denen die Wickelgamaschen rutschten, und gingen mit einwärts gestellten Füßen. Sie grinsten unter den flachen Helmen mit großen, leuchtenden Zähnen, drehten sich unbekümmert um
und kosteten sichtlich das Gefühl einer unvermuteten Überlegenheit. Hier also marschierten die Vertreter der Humanität und Demokratie, in ihrem Namen aus allen Winkeln der Welt geholt, uns Barbaren zu züchtigen. Vorzüglich, und nur keine falsche Scham! Wie, sind wir nicht Barbaren? Nun, wir wollen Barbaren sein. Und der letzte Rest des bebenden Traumes dieser Nacht zersplitterte; denn hier zu widerstehen, reichten die Güter der Seele nicht, die sich aus dem Geiste der Gerechtigkeit speisen. Die ganze Stadt war aufgestört. Nur zweimal hatte ich bis dahin die Stadt unter solchem flirrenden Dunst liegen sehen, in den Augusttagen des Jahres 1914 und am Tage der Revolte. Es war, als habe sich die Unruhe aller Herzen zum Nebel verdichtet und sei vibrierend aufgestiegen, nun alles mit zitternder Spannung erfüllend. An den Straßenecken bildeten sich kurze Gruppen, die sofort vor den heranklirrenden Schritten der Patrouillen wichen, aber hinter ihnen wieder zusammenflössen. Um einen entwaffneten Sicherheitspolizisten herum schob sich eine Menge, schweigend und nervös. Alle fühlten, wie die Zeit brannte, alle warteten auf etwas, das sich unerbittlich näher schob, doch wußte niemand, wie die plötzliche Entladung erfolgen werde. Im Hofe der Hauptpost trat eine Kompanie an. Vor den Toren der Einfahrt sammelte sich eine Menge, mit der ich sofort Kontakt spürte. Überall schien durch die Kruste des Alltags Elementares durchzubrechen. Die Menschenmauer verdickte sich und ließ die Wellen eines finsteren, kaum gebändigten Hasses in immer kürzeren Räumen gegen die Truppe branden. Der
kommandierende Offizier klirrte unruhig hin und her, die Soldaten schoben sich eng aneinander. Der Offizier befahl etwas, die Soldaten rissen eilfertig die Bajonette aus den Scheiden und pflanzten sie auf die Gewehre. Ich begann zu johlen, laut «Oh!» zu rufen, sofort wogte das Geschrei weiter. Der Offizier drehte sich zu uns um, er war sehr bleich und hatte ein kleines schwarzes Bärtchen und dunkle Augen und versuchte mit ihnen zu funkeln. Das Gejohle schwoll. Nun trat er zurück, wandte sich zu seiner Truppe und kommandierte. Die Kompanie nahm Gewehr über. Aber es klappte nicht; die Soldaten, unruhig geworden, klirrten mit den Läufen gegeneinander, einem rutschte der Helm. Wir schrien und lachten, der Hohn zwang sich durch den Haß, eine gelle Strimme rief, sich überschlagend: «Das Gewehr — über! Schlapp, noch mal!» Aus allen Kehlen hallte Gelächter. Die Torbogen warfen das Echo in die Winkel des Hofes. Der Offizier, völlig irregemacht, ließ wahrhaftig noch einmal Gewehr bei Fuß nehmen, um den Griff zu wiederholen. Nun kannte das Gejohle kein Ende mehr. Da drehte sich der Himmelblaue um, und plötzlich rückten die Soldaten an, eine geschlossene, entschiedene Masse. Wir sahen die weißen, gespannten Gesichter; da waren sie auch schon heran. Die fürchterliche Drohung, die in diesen Mienen lag, ließ die Menge zurückweichen; gleichzeitig trabte eine starke Patrouille Marokkaner durch die Zeil, drängte sich mit vorgeschobenen Läufen an den Bürgersteig, die Menge platzte. An den Ecken der Nebenstraßen sammelten sich wieder kleine Haufen, begleiteten den marschierenden Trupp mit höhnischen Rufen, wichen hier vor den Patrouillen und klebten dort
wieder zusammen. Ein größerer Strom zog sich zur Hauptwache. Ich folgte ihm. Massen umsäumten den Platz. Vorm Schillerdenkmal stand eine Gruppe Offiziere; die Soldaten lagen auf dem Boden, erhoben sich aber bald und formierten sich zu ungeordneten Gruppen in der Nähe ihrer Gewehrpyramiden. Marokkaner, Neger und Weiße ballten sich um die aufgestellten Maschinengewehre. Schiller sah unbewegt und mit kühner Nase über den Platz. Vor der Hauptwache, direkt am Eingang für «Frauen», stand ein sehr junger französischer Offizier, der sich das Vergnügen machte, die Passanten, die zur Straßenbahnhaltestelle wollten, mit einem Fuchteln seines Reitstöckchens vom Steige zu weisen. Frauen und Mädchen gegenüber aber war er von aufdringlicher Galanterie. Die Bürger, die sich an der anderen Seite der Hauptwache sammelten, standen murmelnd und finster da und sahen zu dem Schlankgeschnürten hin. Von der Schillerstraße kam im Strom der anderen Passanten ein junger Mensch in blauem Anzug, mittelgroß, stämmig und mit auffallend großen und dunklen Augen. Der bog nicht mit den anderen vor der Insel aus, die sich um den Offizier gebildet hatte, sondern ging unbekümmert weiter, mit einer etwas breiten Eleganz und großer Sicherheit. Er wollte an dem Offizier vorbei, der rief ihm etwas zu; der junge Mann kümmerte sich nicht darum; der Offizier wurde puterrot und rannte ihm nach, und als der sich nicht einmal wandte, berührte er ihn mit der geschlenkerten Reitpeitsche.
In diesem Augenblick schrie die Menge auf. Denn der junge Mensch drehte sich blitzschnell um, stieß mit dem Arm von unten hoch, entriß dem Offizier die Peitsche, fitzte sie ihm einmal über das Gesicht und knackte sie dann zu drei Teilen, die er dem Franzosen vor die Füße warf. Der Franzose taumelte zurück, dann schnellte er zusammen, pumpte sich voll Luft und stürzte sich, indes sich der schmale Strich auf seiner Wange weiß im blutrot gewordenen Gesicht abzeichnete, mit einem dumpfen Knurren auf den jungen Mann. Der stand breitbeinig, unbeweglich, mit gefährlichem Blick, bis der Franzose auf einen halben Schritt heran war, dann federte er kurz in den Knien, griff zu, schnappte den Offizier an Brust und Hüfte und hob ihn mit Grandezza hoch. In der Luft legte er den Strampelnden quer, trug ihn drei Schritte weiter und warf ihn dann fast nachlässig die Treppe zu «Frauen» hinunter. Dann drehte er sich um, bog mit einer schlanken Wendung um das niedrige Gebäude und verschwand mitten unter der Gruppe der französischen Offiziere, die überrascht auseinandertraten. Ein Marokkaner half dem gezüchtigten Offizier hoch, der erregt zu seinen Kameraden stürzte; gleich danach entstand heftige Bewegung, und wenige Sekunden später knallten Schüsse vom Roßmarkt her. Aber nun drängten plötzlich die Massen an. Ein wütendes Aufbrüllen scholl über den Platz. Die Franzosen rannten durcheinander, die Posten ballerten los. Ich lief quer über den Platz auf die Katherinenpforte zu. Die Schüsse peitschten das Pflaster, witschten mir um die Beine, knallten in die Mauern.
Die Menge spritzte auseinander, um aus einer anderen Ecke wieder vorzubrechen. Ich bog in eine Nebenstraße, auch hier pfiffen die Geschosse. Da sprang ich in einen Hausgang. Gleich darauf wehte etwas durch das Tor hinter mir herein. Ich sah hoch und erkannte den jungen Menschen, der nun, mit verschränkten Armen und sehr gelassen, sich an das Treppengeländer lehnte. Draußen war Geschrei und Knallen. Ich ging auf den jungen Menschen zu und sagte begeistert: «Das war zackig!» «Ach, reden Sie nicht», sagte der, «helfen Sie mir lieber. Wir müssen diese Stadt aufputschen!» «Natürlich helfe ich!» schrie ich und stellte mich, meinen Namen nennend, vor. Der junge Mensch gab mir die Hand, verbeugte sich und sagte: «Kern».
Sammlung Die Stadt ließ sich nicht aufputschen. Nach der ersten Probe ihres barbarischen Mutes versicherten die Bürger der urbanen Handelsmetropole, die Franzosen seien auch Menschen, wogegen sich füglich nichts einwenden ließ. Doch schienen die Franzosen immerhin Menschen zu sein, mit denen man nicht verkehren konnte. Denn niemals gelang es ihnen, Eintritt zu erhalten in die bürgerlichen Kreise, in die Gesellschaft nicht, auch nicht in die Familien, bei denen sie
einquartiert waren. Niemals sah man ein Mädchen mit einem Franzosen gehen. Die Franzosen waren völlig isoliert, in einen eisigkühlen Bannkreis gestoßen. Vielleicht beruhte diese Verhärtung der Gefühle nicht auf Haß, sondern auf Enttäuschung, auf jener Enttäuschung etwa, die ein Kaufmann empfindet, wenn ein geschätzter und langjähriger Geschäftsfreund sich plötzlich zum gefährlichen Konkurrenten wandelt und dabei durch Anwendung unsauberer Mittel triumphiert. Denn diese Stadt war immer stolz gewesen auf ihr Weltbürgertum, auf ihre weite und großzügige Libertät, es war eine Stadt, die dem Gedanken des Fortschritts der Menschheit immer gehuldigt, und da waren früher doch so viele innige Beziehungen gewesen zwischen Frankreich und der Stadt, zwischen der Stadt und Paris, dem glänzenden, ein wenig bewunderten und auch ein wenig nachgeahmten Vorbild der Lebensart. Und nun dies, nun diese Methoden: Besetzung durch die Horden der französischen Soldateska, Siegerübermut und verblendetes Rachegeschrei und Gewalt! Nun dies dem Geiste der wahren Demokratie so abgewandte Pochen auf die kriegerische Vertretung, dies Überreichen von brutalen Forderungen auf den Spitzen der Bajonette! Die Stadt verharrte in schweigender Verachtung. Und nach einigen Monaten, nachdem die Reichswehr, die den Aufstand der Roten Armee um Wesel niedergeworfen hatte, die neutrale Zone im Ruhrgebiet räumte, verschwanden die Franzosen, ohne zum Abschied noch einmal die Clairons gellen zu lassen, nichts hinterlassend als einige Plakate mit der Versicherung, daß Frankreich alle Verträge und Versprechungen heilighalte.
Krieg und Revolte hatten der Stadt viel von ihrer Eleganz, wenig von ihrer Behäbigkeit und nichts von ihrer Liberalität geraubt. Aber die Luft der Stadt war bitter, wie des ganzen Reiches Luft in diesem und in den folgenden Jahren. Das ganze geruhige Leben der Stadt war durchzittert von einer dicht bis an den höchsten Grad gesteigerten inneren Nervosität. Die kommenden Konflikte warfen ihre Schatten voraus, die sich mit den unausgetragenen alten Konflikten mengten, und schufen eine Atmosphäre, in der das Bestreben, nach dem Gebote altväterischer Tugenden die Herrschaft der Gemütlichkeit zu wahren, völlig sinnlos erscheinen mußte. Daß trotz der scheinbaren Ruhe etwas nicht stimmen konnte, wußte jedermann. Jedermann spürte den Betrug, und jedermann scheute sich, ihn aufzudecken. Denn sobald die Decke gelüftet war und die Ordnung erschüttert, mußte ja das andere hervorbrechen, das Unbekannte, das Gefährdende, das, von dessen eruptiver Gewalt nur schaudernde Ahnung in den Gemütern der Menschen lebte. Und doch war da etwas, das entschiedener leben wollte. Unter der Oberfläche kräuselte sich der Rand einer Bruchstelle, es stieg der Spiegel eines neuen Inhalts in die alte Form. Viele waren heimatlos, und viele fühlten sich ohne Maßstäbe noch, und viele waren bereit, zu erkennen, daß neue Tugenden auf neuen Ebenen wachsen müssen und daß die tiefsten Wünsche nicht mehr im bloßen Fortschritt reifen konnten. Nachdem ich einige Wochen lang in einer Gummifabrik Konservengläserringe im Akkord gestanzt hatte, erfuhr der Betriebsrat, daß ich im Baltikum gewesen
war. Ich hatte das beinahe schon vergessen; das Baltikum lag hinter mir wie ein wüster, verworrener Traum. Doch der Betriebsrat drohte mit einem Streik der Belegschaft, wenn ich weiter beschäftigt würde, und ich wurde entlassen. Darauf versuchte ich es als Lehrling in einem Filmkonzern, doch hatte ich bald Differenzen mit dem Chef, die mit einer gedrohten und einer gehauenen Ohrfeige endeten. Gedroht hatte der Chef. Endlich schrieb ich acht Stunden täglich in einem Versicherungsbüro Prämienquittungen aus. Der Abteilungsvorsteher lobte meinen Fleiß und tadelte meine Handschrift. Von vier Uhr nachmittags an war ich frei. Auf den Betriebsversammlungen erörterten die Kollegen mehrfach, ob es nicht angebracht wäre, dem Direktor mit seinen 60000 Mark Jahreseinkommen eine Schreibmaschine ins Kreuz zu schmeißen, um ihn zu belehren, daß die untere Angestelltenschaft am Verhungern sei. Ich ermahnte die Kollegen ernstlich, nur mit geistigen Waffen zu kämpfen. Zwar hatte ich immer Hunger, doch schien mir dessen Stillung eine Frage untergeordneten Ranges. Einen Mantel hatte ich nicht. Einen Hut hatte ich nicht. Wenn ich ein frisches Hemd anziehen wollte, dann mußte ich es abends waschen und über Nacht trocknen lassen. Die Schuhe hielten, es waren erbeutete englische aus dem Baltikum. Was nicht hielt, das war die Hose. Sie zu flicken bedeutete mir tägliche Erniedrigung. Auch der Rock löste sich langsam aber beharrlich auf. Doch in der Krawatte trug ich eine auffallend große, altertümliche Nadel, das letzte Stück der Familienkleinode.
Meine Mansarde war vollgestopft mit den Waffen, die ich in den Tagen der Revolte gesammelt. Unter dem schmalen Eisenbett lagen drei Handgranatenkisten und zehn Kästen Gewehrmunition. Die Gewehre, eingefettet und verschnürt, nahmen gebündelt fast ein Drittel des ganzen Raumes ein. Kern, der noch aktiver Seeoffizier bei der Reichsmarine war, kam alle Monate einmal auf der Durchreise nach München, wo er geheimnisvolle Konferenzen pflog, zu mir auf die Dachkammer gestiegen. Er blieb dann meist ein oder zwei Tage und schlief in einer Hängematte. Einmal wühlte er in meinen Büchern. Ich hatte mir aus Kistenbrettern ein Regal zusammengenagelt, auf dem Rathenau und Nietzsche, Stendhal und Dostojewskij, Langbehn und Marx wirr durcheinanderstanden. «Dies kann ich mir einmal mitnehmen?» fragte Kern und hatte «Von kommenden Dingen» in der zögernden Hand. «Gern», sagte ich, und war begierig, sein Urteil zu hören, und war froh, daß er meine allerdings auffallende Neigung zu Büchern nicht in den Bereich persönlicher Schrullen verwies. Ein großer vaterländischer Verband, aus einer Zeitfreiwilligenformation hervorgegangen, wollte in der Stadt eine Ortsgruppe gründen. Ich ging mit Kern zur Gründungsversammlung. Die Herren trugen alle weiße Stehkragen. Sie redeten sich untereinander mit Bruder an. Wir stellten uns vor, und es berührte mich angenehm, daß ich trotz meines etwas derangierten Aufzuges von den Herren Brüdern durchaus als ihresgleichen angesehen wurde. Doch
hatte dies seinen Grund; denn gleich die ersten Worte des Versammlungsleiters wiesen eindringlich darauf hin, daß der Orden es sich zur heiligen Pflicht und Aufgabe gemacht habe, besonders die Überbrückung der Klassen- und Standesgegensätze zu pflegen. Ich lauschte aufmerksam und fürchtete nur den Kellner, der mir immer ein Glas Bier hinstellen wollte. Es waren etwa vierzig Herren im Lokal, meist jüngere und alle aus den sogenannten besseren Ständen. Bei Zitierung des Frontgeistes wurde die Stimmung wärmer. Dann war vom achteckigen Kreuz der Wiedergeburt die Rede, und mich interessierte das, weil ich, nach dem, was ich von den Symbolen und Gebräuchen dieses Bundes gehört hatte, hoffte, hier den Schimmer einer neuen Romantik, den ersten Glanz eines mystischen Lebensbewußtseins zu spüren. Ich beugte mich zu meinem Nachbarn und fragte ihn flüsternd, was es mit diesem Wiedergeburtskreuze auf sich habe. Er antwortete: «Wees nich, is ja ooch wurscht!» Ich fuhr einigermaßen erschrocken zurück und muß sagen, daß ich etwas ernüchtert war. Der Bruder Gefolgschaftsmeister, so wurde der Vortragende genannt, war, wie ich bei der Vorstellung erfuhr, Privatsekretär einer Großbank. Nun sprach er von der Realpolitik und forderte demgemäß ein einiges Großdeutschland und die Ablehnung des durchaus undeutschen Sozialismus. Die älteren Herren Brüder nickten eifrig, die jüngeren hörten interessiert, aber schweigend zu. Der Parteigeist, so sagte der Bruder Redner, habe das deutsche Vaterland an den Abgrund des Verderbens geführt, und nur eine sittliche, kulturelle, religiöse und politische Erneuerung im Geiste der Brüderlichkeit des Ordens
könne es aus den Schmachbestimmungen des Schanddiktates befreien. Der Beifall war groß und der Kellner wollte mir wieder ein Glas Bier hinstellen. Ein Herr dankte dem Redner für seine lichtvollen sowie warmherzigen Ausführungen und eröffnete die Aussprache. Sofort sprang ein ziemlich dunkellockiger Herr, der die ganze Zeit schon sichtlich nervös in meiner Nähe gesessen hatte, in die Höhe und fragte mit einiger Erregung, wie es der Orden mit der Judenfrage halte. Es folgte ein betretenes Schweigen, endlich räusperte sich der Bruder Gefolgschaftsmeister und bemerkte, daß der Orden in religiösen Dingen absolute Neutralität bewahre. Der taktlose Frager, der so die Sympathien für seine Rasse, wie mir schien, nicht zu erhöhen vermochte, setzte sich stracks, und zwar neben mich. Dann teilte er mir mit, daß er Vorstandsmitglied des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutz-Bundes sei, drückte mir begeistert einen Pack Schriften in die Hand und sprudelte mir sämtliche Geheimnisse der Weisen von Zion ins Ohr. Schon lag die Mitgliedskarte unter seinem Federhalter, aber als ich ihm meinen Namen nannte, wurde er merklich kühler und setzte sich bald wieder an einen anderen Platz, mit seinem Nachbarn eifrig tuschelnd. Inzwischen wurden noch verschiedene Fragen gestellt, Hausbesitzer und Gewerbetreibende, Vegetarier und pensionierte Majore heischten ein Eintreten des Ordens für ihre wahren Ideale. Aber der Orden war zu absoluter Neutralität jedesmal entschlossen. Ich blickte zu Kern, der die ganze Zeit schweigend dagesessen hatte, dann erhob ich mich schüchtern und erlaubte mir die Frage, welche konkreten Aufgaben sich der Bund denn gestellt habe.
Ich vermute, er solle zuerst einmal eine Art Sammelbecken oder eine Fortsetzung der Zeitfreiwilligenformationen darstellen, um so den drückenden Fesseln des...? Da unterbrach mich auch schon ein älterer Herr Bruder, Universitätsprofessor, wie ich erfuhr, und erklärte eindringlich, nur auf legalem Wege könne und wolle der Orden seine Bestrebungen verwirklichen! Ich fragte, aber was, aber was denn nun um Gottes willen die Bestrebungen des Ordens seien? Und ich spürte, daß ich mich unbeliebt zu machen auf dem besten Wege war. Doch schüttelte mir mein Nachbar plötzlich die Hand und stellte sich vor. Er hieß Heinz und sagte, er wolle gern mein Bier bezahlen. Ich war ihm herzlich dankbar dafür. Die Aussprache war beendet, und nun konnte, wie der Bruder Gefolgschaftsmeister launig bemerkte, die Fidelitas beginnen. Allmählich stieg der Bierkonsum. Und wenn beim ersten Glase von der Überbrückung der Klassen- und Standesgegensätze die Rede war, so wurde beim zehnten Glase «Heil dir im Siegerkranz» gesungen. Dies ärgerte mich nicht. Vielmehr ärgerte mich, daß vor diesem Gesang sorgfältig die Fenster geschlossen wurden. Kern erhob sich. Heinz und ich folgten ihm. Ziemlich betroffen machten wir uns auf den Heimweg. Die patriotischen Verbände wuchsen wie Pilze aus der Erde. In ihnen sammelten sich die Gläubigen der aufgestörten Schichten. Es war dasselbe Gemisch der Meinungen und der Menschen überall. Was immer an Fetzen und Bruchstücken vergangener Werte und Ideologien, Bekenntnisse und Gefühle aus dem
Schiffbruch gerettet wurde, mengte sich mit den zugkräftigen Parolen und Halbwahrheiten des Tages, mit verquollenen Einsichten und echter Witterung zu einem stetig kreisenden Knäuel, aus dem der Faden sich spann, von tausend geschäftigen Händen gezogen und gewoben zu einem Teppich von verwirrender Bunte. Aus dem grauen Grundton der Theorien wuchsen die Blümelein redseliger Rauschebärte, spritzten die Farbschreie betrogener und lichtdürstender Jugend, zog sich deutscher Frauentugend zierliches Geranke. Die Welt der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer steuerte ihr Scherflein sozialer Problematik bei; es pflanzte seine Lichter der Wüstenruf glatzköpfiger Parteivorstände nach der jungen Generation; es schoben sich verschmitzt die Interessen mannigfaltigster Gewerbe in den Raum. Bismarck, umrahmt von dekorierten Generälen, drohte und begeisterte in Gips aus Lorbeerbäumen; Windjacken und Entbehrung, Fanfaren, Fahnen und Paraden und die Qual nach echtem Ausdruck echter Kraft bestimmten das Gepränge und Gepräge; ein wunderlich Gemisch aus Bierdunst, Sonnenmythos, Militärmusik erschlug die blasse Lebensangst. Der Grundakkord sehr lauten Mannestumes ward in Weihe übertönt von Schillerzitaten und Deutschlandlied; dazwischen grollte Runengeraune und Rassegerassel. Rund um das gesprenkelte Gemälde wand sich der Narrensaum mit seinen Fransen von Sekten und Gemeinden, Propheten und Aposteln. Die krauseste Romantik schloß Verträge mit der nackten Zivilisation. Und Träume flirrten überall, sie wirbelten durch alle Hirne, alle Herzen; die Not, der Glaube und die brache Kraft erzeugten Pläne,
die den Rhein mit U-Booten bevölkerten, die englische Flotte mit Todeswellen vernichten ließen und den Polnischen Korridor mit sensenbewaffneten Bauernhaufen aufrollten. Diese Bünde waren ein Symptom. Hier sammelten sich die Menschen, die sich von der Zeit verraten und betrogen fühlten. Nichts war mehr wirklich, alle Pfeiler schwankten. Da drängten sich die Hoffenden und die Verzweifelnden, die Herzen waren alle offen, die Hände klammerten sich dem Gewohnten an. Ihre Sammlung förderte jenen geheimnisvollen Strudel, aus dem in Spiel und Widerspiel, in Glaube und Widerglaube das aufsteigen konnte, das wir das Neue nannten. Wenn irgendwo, dann blüht das Neue aus dem Chaos, dort, wo die Not das Leben tiefer macht, wo in erhöhter Temperatur verbrennt, was nicht bestehen kann, geläutert wird, was siegen soll. In diesen gärenden, brodelnden Brei konnten wir unsere Wünsche werfen, aus ihm konnten wir unsere Hoffnungen dampfen sehen. Kern hatte Heinz und mich aufgefordert, aus all den vaterländischen Bünden die besten und aktivsten Burschen herauszulesen, in jedem Verein eine Zelle zu unterhalten und somit eine kleine, aber gehärtete Schar zu sammeln, mit der man nicht nur Deutsche Abende und fröhliche Kommerse, sondern auch gewisse Dinge unternehmen könne, die allerdings mit der bestgemeinten patriotischen Begeisterung allein nicht geschafft werden konnten. Die Stadt, so rechnete Kern, konnte unter Umständen das Zentrum einer großangelegten Widerstandsverschwörung gegen die interalliierte Besatzung im Rheinland werden. Das
Reich, so schien es, stand dicht vor dem völligen Zerbröckeln. Es galt für den Augenblick des Zerfalls gerüstet zu sein. Jede Stadt, jedes Dorf, so meinte Kern, müßte dann gehalten werden. Verbindungen, so sagte er, nach Ungarn, nach der Türkei, nach den übrigen unterdrückten Völkern seien schon geschaffen. Und in der Tat: da kamen geheimnisvolle Unbekannte genug, von Kern gesandt, die kurze Nachricht brachten und dann weiterreisten, die von Stadt zu Stadt, von Bund zu Bund, von Land zu Land mannigfache Botschaft trugen und so an einem lebendigen Netze arbeiteten. Überall warteten kleine, zum Letzten bereite Trupps der Jugend, die Patrouilleure der Erhebung — sie galt es für uns auch hier zu sammeln. Wir sammelten. Heinz hatte den Kopf voller Ideen. Er war blutjunger Offizier gewesen, viermal verwundet, in Freikorpskämpfen erprobt, nun heimlicher Dichter und mit Betonung Ästhet. Er liebte es, erbitterter Hasser jeglicher Sentimentalität, melancholische Gefühlsschwummrigkeiten mit einem einzigen Wort voll grausamster Ironie zu töten. Tausend duftige Wässerlein standen auf seinem Nachttisch — doch erfand er eine neue Art, aus Dreck Sprengstoff herzustellen. Er machte vorzügliche Sonette und schoß Herz As aus 50 Meter Entfernung. Wir beide traten achtzehn Vereinen bei. Wo ein junger Kerl war, der sich empörte gegen die langsame Verkrustung mit patriotischen Sentiments, gegen die unablässig plätschernden Reden geehrter Greise und betagter Koryphäen, da traten wir an ihn heran und lockten ihn. Wir griffen uns Arbeiter und Studenten, Schüler und junge Kaufleute, Nichtstuer und
Alleskönner, glühende Idealisten und höhnende Fanatiker. Wie wir in den Bünden die Fronde organisierten ohne Organisation, so bildeten wir eine Saalschutztruppe ohne Verpflichtung. Wir sicherten die Versammlungen der nationalen Parteien und schlugen uns mit den eindringenden Kommunisten herum. Wir drangen in die Versammlungen der Demokraten und Mehrheitssozialisten mit den Kommunisten gleichzeitig ein und sprengten sie mit ihnen vereint. Wir versuchten, Kommunistenversammlungen zu stören, und das bekam uns schlecht. Aber bald wuchs die Schar und spielte sich aufeinander ein. Der Anführer des kommunistischen Stoßtrupps wurde Otto gerufen und hatte die Rußbomben erfunden, raffinierte Mischungen aus Gips, Ruß und Wasser, die, in dem beworfenen Antlitz platzend, aus einem klargesichtigen Bäcker einen blinden Schornsteinfeger machten. Otto war bei jeder Keilerei zu sehen. Wir kannten uns und grüßten uns, wenn wir uns auf der Straße oder vor dem Gefecht begegneten. Bald waren wir Freunde. Jörg war Schupomann. Einmal räumte er ganz allein eine Gastwirtschaft voller tobender polnischer Wanderarbeiter, indem er eine Handgranate abzog und sie still vor sich hinhaltend gegen die dichten Haufen anrannte. Erst im allerletzten Augenblick warf er sie durchs Fenster. Er schloß sich uns an, nachdem er Mahrenholz, den Studenten, der in einer Arbeiterversammlung erklärte, er wisse wohl, daß er hier Perlen vor die Säue werfe, und daraufhin halb totgeschlagen wurde, mit uns herausgehauen hatte.
Wir stöberten in den entferntesten Bereichen. Wo einer war, der bei irgendeiner noch so törichten Gelegenheit Mut bewies, da machten wir uns an ihn heran, und immer war er unser. Wir erkannten uns meist schon beim ersten Blick. Unter hundert waren immer drei, vier Mann, die fast von selber zu uns kamen. Jörg schleppte Kameraden und Otto Genossen herbei, knarsche Jungs; wir beschnüffelten uns ein weniges und stellten fest, daß unsere diesbezüglichen Weltanschauungen an den entscheidenden Punkten beglückend übereinstimmten. Den Vogel schoß Heinz ab. Er brachte uns einen überzeugt gewesenen Pazifisten von der kriegerischsten Sorte. Als wir fünfzig Mann stark waren, kam Kern angebraust und stoppte die Werbung. Fünfzig Mann waren vorläufig reichlich genug. Eine Zeitlang reizte mich die Nationalökonomie. «Wir haben», erklärte ich Heinz, «ja keinen blassen Dunst von den wirtschaftlichen Bedingnissen und Zwangsläufigkeiten!» «Wir reden», sagte ich, «völlig blind daher!» — «Wir müssen», sagte ich, «noch gewaltig lernen!» Und ich berannte die Vorlesungen im Volksbildungsheim und in der Universität; ich kaufte mir Bücher mit Statistiken und Anmerkungen und Quellenangaben; meine Taschen steckten voller Broschüren und Tabellen. Nichts verstand ich. Nichts begriff ich. Das kommunistische Manifest kannte ich auswendig und schlug so mit ihm in der Debatte glatt den Otto. Dann hatte ich's mit der Religion. «Die Erneuerung», sagte ich zu Heinz, «muß mit religiöser Inbrunst
verbunden sein.» — «Sind wir», fragte ich ihn, «etwa religiös? Keine Ahnung davon!» — «Und doch», sagte ich ihm ernst, «was uns treibt, ist religiösen Ursprungs. Suchende sind wir, noch nicht Gläubige.» — «Wir müssen», beteuerte ich, «Gläubige werden!» Und ich besuchte die Kirchen, evangelische und katholische — aus der Synagoge wurde ich ausgewiesen. Ich ließ mich gefangennehmen von der volltönigen Begeisterung des Predigers der Paulskirche, spürte die Schauer des göttlichen Geheimnisses im Hochamt des Domes, rief mit blonden Jungen im Taunus die Sonne an, debattierte mit Jugendbewegten aller Bekenntnisse, landete bei Nietzsche, verzweifelte und berauschte mich und erklärte, wir müßten über Nietzsche hinaus. «Die Literatur!» sagte ich zu Heinz. «Wir wissen ja gar nicht, aus welchen geistigen Quellen sich unser Handeln speist! Wenn wir die Deutschheit erkennen wollen», beschwor ich ihn, «müssen wir die Werke erobern, in denen sie sich spiegelt!» Und ich las. Ich las mit wütender Inbrunst, Nächte hindurch, war der Schrecken bücherbesitzender Freunde, Stammgast der Stadtbibliothek, las wild durcheinander, von der Edda bis Spengler, gleich, wie es kam, war Kunde der kommunistischen «Bücherkiste» in der Passage und des Borromäusvereins. Heinz bewarf mich mit dröhnenden Gesängen der Göttlichen Komödie, ich schmiß ihm peitschende Monologe Shakespeares entgegen; schließlich einigten wir uns auf Hölderlin. All die Monate hindurch schrieb ich täglich acht Stunden lang Prämienquittungen. Die Kollegen wußten immer, wenn in der Stadt eine politische Versammlung gewesen war. An der Anzahl der Beulen an meinem
Kopfe glaubten sie die politische Richtung des jeweiligen Redners erkennen zu können. Sie belächelten mich ob meines Unverstandes, mich in Dinge zu mischen, die mich nun einmal partout nichts angingen. Aber dafür nahmen sie es mir auch nicht weiter übel, daß ich mich an ihren stundenlangen Debatten über Gehaltserhöhungen und Manteltarife und Verbandswahlen durchaus nicht beteiligte. Ich lebte das Leben dieser Stadt. Ich stellte mich vier Stunden an der Theaterkasse an, um noch eine Karte für die Galerie zu erlangen, und schloß dabei Freundschaft mit den einzigen Sachverständigen unter den Zuschauern. Ich bettelte um Freikarten für die Montagskonzerte des Philharmonischen Orchesters, ich schmuggelte mich ohne Eintrittskarte durch die Eingangspforte des Palmengartens, tuend, als sei ich langjähriger Abonnent. Ich promenierte vor dem Konzertpavillon mit den anderen in der Lästerallee, schmiß sieghafte Blicke zu den Mädchen und führte philosophische Gespräche. Anfangs genierte ich mich ein wenig über den Zustand meiner Garderobe, dann machte ich eine Tugend aus der Not und benahm mich erst recht wie ein Rüpel. Ich nahm Tanzstunde. Sie kostete mich nichts, denn Madame Grunert, in Verzweiflung, daß so wenig Herren und so viele Damen ihr Institut beehrten, drückte wohlwollend und mit äußerstem Takt beide Augen zu. Es gab keine Kerb auf den Bauerndörfern der Umgegend, auf der ich nicht zu finden war. Ich fiel in Liebe. Ich fiel in die tiefste Schlucht wilder Todessehnsucht und wurde im gleichen Augenblick an die glühende Sonne der äußersten Lebensbejahung
geschleudert. Auf einen Wink von ihr war ich bereit, mich, das Haus, die Stadt, die Welt in die Luft zu sprengen. Dann kaufte ich das Büchlein in Streichholzschachtelformat «Mozart auf der Reise nach Prag» und wickelte es in zwölf Folioseiten enggeschriebenen Gedichts von mir an sie. Ich erwog, daß ich bald eine zahlreiche Familie zu ernähren haben werde, und beschloß, Überstunden im Prämienquittungenschreiben zu machen — und Gott allein weiß, wie schwer mir das fiel. Die Kollegen auf dem Büro wunderten sich, daß ich nun jeden Tag rasiert war. Ihr schenkte ich vom ersten Überstundengeld ein goldenes Kettchen; dann ließ ich mir ein Wunderwerk von Anzug bauen. Übrigens wurde sie zehn Jahre später meine Frau. In jenen Tagen führte die Reichsregierung die große Entwaffnungsaktion durch. Jedermann, der ein Gewehr ablieferte, sollte hundert Mark erhalten. Kaum erfuhren wir dies, so rannten wir los. Wir suchten jeden vermögenden Mann auf, den auch nur von ferne ein patriotisches Rüchlein umwitterte, wir klapperten die Güter der Umgegend ab, wir rannten den Damen der Gesellschaft die Häuser ein. Und bettelten. Wir bettelten um Bargeld, schwindelten, wo uns der Mann nicht sicher schien, brausten begeistert mit der Wahrheit heraus, wo er gewaltig auf Regierung und Franzosen schimpfte. Heinz bekam von einem Rittergutsbesitzer statt Geldes eine Wurst geschenkt. Mir reichte eine mildtätige Dame einen Teller Suppe ins Treppenhaus. Auf deutschen Abenden beschworen wir die Bürger, uns die Gewehre abzuliefern. Otto suchte
seine Genossen auf, doch wußten diese selber, wozu Gewehre nützlich sind, und behielten sie. Wir stellten uns in der Nähe der Polizeiwachen auf und blinzelten den würdigen Herren zu, die, auf der Schulter das Gewehr, für hundert Mark ihre staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen wollten, und zerrten günstig gesinnt Scheinende in eine dunkle Ecke und boten hundertfünf. So entrissen wir zahlreiche Waffen dem Moloch der Vernichtung und schleppten sie nach Hause. Das fiel nicht auf, denn auf allen Straßen schritten ernst die Bürger mit den verpackten Flinten. Nur den Otto hielt ein Kriminalbeamter an; denn Otto war zu wohlbekannt. Doch sah der Otto treu dem Kripo in das Auge und erklärte: «Grade wollte ich's abliefern!» Der Kripo aber ließ es sich nicht nehmen, den Otto bis zur Wache zu begleiten, und so bekam der Otto seine hundert Mark und verlor auf diese Weise fünf. Jörg und seine Schupos aber schleppten die Gewehre handkarrenweise weg. Allmählich hatte jeder von uns ein Waffenlager so groß wie das meine. Aus der zahmen bürgerlichen Mitte schwammen die Waffen so zu den Aktivisten nach rechts und links. Es war dies der Erfolg nicht ganz, den von dieser Aktion die Reichsregierung erhoffte. Es lag begründeter Anlaß vor, zu zweifeln, ob die Reichsregierung überhaupt in der Lage war, irgend etwas zu wünschen, außer der Möglichkeit ihrer Existenz. Kompromißprodukt aller Gegensätze, die das Reich spalteten, vermochte sie nicht, etwas Entscheidendes zu wagen; denn jedes Entscheidende ist ein Wagnis, und da sich alle widereinander drängenden
Kräfte die Waage hielten, mußte ein einziger Schritt ins Ungewisse den Balken mächtig, unberechenbar tief nach unten schlagen lassen. Der Westen drohte unerbittlich mit den Keulenschlägen der Milliardenforderungen. Ein Nein ihm gegenüber hieß, die Schleusen öffnen jener Flut, die schon die Dämme Polens überschwemmte, das Ja der Unterwerfung hieß Erstickungstod. Die Reichsregierung konnte nichts, als ihre Not ermattet in papierne Formeln kleiden, Noten senden, Ultimaten wehren, bitten, protestieren, appellieren und verzichten. Und wie das Reich zermürbt, zerrieben stand zwischen den Gewalten Ost und West, die um Herrschaft und um Leben rangen, so stand des Reiches Regierung zwischen allen Lagern, in denen in der feurigen Erregung der Gefahr die Scharen sprungbereit des Gegners Blößen witterten. Nie werden wir vergessen, wie uns das Schicksal fallen ließ, weil wir uns nicht zu ihm bekennen konnten. Nie werden wir vergessen, wie das Leben selbst sich seinen Ausweg suchte, wie die drängenden Gewalten langsam und taumelnd zwischen allen Gegensätzen sich ineinanderschroben und verbissen, wie aus Druck und Gegendruck die tote Formel wuchs. Nie werden wir vergessen, wie so des Reiches Formung wurde, die Formung, die nimmermehr Gestaltung war, wie über der Bewegung, wie über allem fieberhaften Suchen, Wollen, Glühen langsam sich die Kruste deckte. «Stickluft, Stickluft!» sagte Kern. «Man muß Löcher in die Kruste schlagen, damit ein frischer Wind in unsre dumpfen deutschen Räume fährt!»
Er kam in meine Kammer und berichtete, er habe seinen Abschied von der Reichsmarine genommen. Nun gelte es, in hundert kleinen Einzelunternehmen den Boden für die entscheidende Aktion zu schaffen. Er saß gespannt, geduckt auf den Patronenkästen und schilderte, wie überall im Reich im Meer der Müden, Hungernden, Verbrauchten die Einzelnen sich rüsteten, gleich uns. Noch, meinte er, sei nicht der Weg und nicht das letzte Ziel bekannt. Doch bürge schon der Schrei, der nach dem starken Manne in allen Gassen sich erhebe, daß, da das Wort noch nicht geboten worden sei, die Tat fürs Wort die Ohren öffnen müsse. Er glaube, sagte er, an die innere Zwangsläufigkeit des Geschehens. Der erste Vorstoß müsse uns in einen Wirbelwind verketteter Gefahren schleudern, die leicht und spielend uns begrüßten, um dann an unserm Tun zu wachsen, um dann gewaltig, unentrinnbar uns in ihren Bann zu ziehen. Nach langer Unterhandlung stand er auf. Er holte, sich besinnend, das Buch, das ich ihm lieh, aus seiner Mappe und stellte es aufs Brett. Ich sah ihn forschend an. Kern sagte nur: «So viel Funken und so wenig Dynamit!»
Vorstoß Zu uns kam zu Beginn des Jahres 1921 ein junger Mensch namens Gabriel. Wir saßen, Kern, Heinz, ich, in Heinzens Zimmer. Gabriel sagte: «Man hat mir berichtet, daß hier Männer wären, die mir helfen. Ich stamme aus der Pfalz. Ich war Offizier in einem bayerischen Regiment. Ich hatte eine Schwester. Vor vier Monaten ging ich mit ihr außerhalb des Gutsbezirks. Wir waren bei einer befreundeten Familie; es war schon spät abends, als wir uns auf den Heimweg machten. An einer Feldscheune, etwas abseits des Weges, kamen uns Franzosen entgegen. Eine Patrouille, bestehend aus einem betrunkenen Offizier und vier Mann. Sie hielten uns an. Der Offizier verlangte einen Paß. Ich sagte ihm, es sei ein Paß nicht nötig, wir brauchten niemals einen Paß, außer, wenn wir zur Stadt führen. Ich versuchte vergebens, den Offizier zu bereden. Er schrie mich an. Auch ich wurde laut und fragte, ob das die vielgerühmte Disziplin der französischen Armee sei. Der Mensch, der Kerl schlug mich ins Gesicht. Ich hielt an mich. Meine Schwester war bei mir. Meine Schwester schrie auf. Der Franzose packte sie am Arm. Ich sagte ihm, er solle meine Schwester freilassen. Er sagte, wir müßten zur Wache, und schob seinen Arm unter den meiner Schwester. Meine Schwester versuchte, sich loszumachen. Da wollte der Kerl sie küssen. Ich riß seine Hand von ihr. Da griff die Wache mich. Sie schlugen mich, sie zerrten meine Schwester fort. Ich sah, wie sie versuchte zu
entfliehen. Sie schleppten sie, am Boden halb, zur Feldscheune. Mich hielten sie fest. Mich prügelten sie. Ich schrie, ich fluchte, ich drohte. Sie banden mich. Sie rissen mich auf die Knie, sie fesselten mich an einen Baum. Sie stopften mir einen Fetzen Zeugs in den Mund. Meine Herren, ich habe mich gewehrt bis zuletzt. Glauben Sie mir das, bitte, glauben Sie mir das! Die Kerle rannten ihrem Offizier nach in die Scheune. Dann hörte ich meine Schwester schreien. Ich hörte...» «Genug!» schrie Kern, Er sagte aus trockener Kehle: «Ich habe auch Schwestern.» Gabriel fuhr leise fort: «Sie ertränkte sich einige Tage später. Ich war beim Ortskommandanten, ich schilderte den Vorfall; aber er höhnte, drohte, sagte etwas von deutschen Huren. Seit vier Monaten suche ich den Kerl, der meine Schwester auf dem Gewissen hat. Nun habe ich ihn gefunden. Er ist jetzt in Mainz. Wollen Sie mir helfen?» — Wir halfen ihm. Mit der Empfehlung eines unserer Freunde in Kassel kam ein geheimnisvoller Herr zu uns, ein stattlicher, geradegereckter Herr mit sehr hohem, weißem, steifem Kragen und gebräuntem Gesicht, das nur auf der Stirn über einem glatten Strich noch gebleicht war. Der Herr, vornehm und zurückhaltend, ließ vorsichtig durchblicken, daß er über unsere Tätigkeit informiert sei und sie, bis auf einige kleine Vorfälle vielleicht, billige. Der Herr erinnerte Kern und Heinz, daß sie ja Offiziere gewesen seien, und sprach einige gesetzte Worte über die Not unseres Vaterlandes, über die unermüdliche Arbeit, mit der ernste Männer und glühende Patrioten selbst unter den veränderten Verhältnissen an den Wiederaufbau gegangen seien
und gehen müßten, über das Opfer, welches das Vaterland von jedem von uns verlange, ein Opfer, das sogar so weit gehe, eine Mitarbeit unter scheinbarem Aufgeben der selbstverständlich nach wie vor unantastbaren Gesinnung anzunehmen. «Kurz», sagte Kern, «Sie wünschen etwas Bestimmtes von uns, Herr Hauptmann?» Der Herr wehrte entsetzt: «Bitte, Pardon, nicht Hauptmann, nicht mehr Hauptmann, meine Herren!» Und erklärte dann, es habe sich herausgestellt, daß die französische Nachrichtenabteilung mit einem Heer von deutschen Spitzeln arbeite. Die Tätigkeit dieser Spitzel gelte es zu unterbinden. Ob nicht die Möglichkeit bestünde, daß von uns aus eine Gegenorganisation, eine Art Spitzelabwehr, gegründet werde, natürlich ganz privat, denn der Friedensvertrag verbiete ja leider, leider den deutschen Behörden diese Art Tätigkeit — doch könne er — hier sah sich der Herr vorsichtig um und flüsterte vorgebeugt, könne er wohl zu verstehen geben, daß Schwierigkeiten irgendwelcher Art von seiner Behörde jedenfalls kaum zu er warten seien. Der Herr dämpfte seine Stimme noch etwas mehr und hielt einen längeren Vortrag. Zum Schluß sagte der Herr: «Natürlich meine Herren, muß Ihre Tätigkeit unter allen Umständen geheim bleiben. Absolut geheim und unter allen Umständen. Selbst meine Behörde darf...» — «Ich verstehe», sagte Kern verächtlich. Heinz fragte sinnend: «Wenn ich Sie recht begriffen habe, Herr..., geht also unsere Aufgabe dahin, Namen und Persönlichkeiten der in französischem Sold stehenden deutschen und französischen Spitzel festzustellen...? - «Und die weitere Tätigkeit dieser Leute», sagte der Herr voll Würde, «zu unterbinden!»
«Das heißt also», sagte ich und war bemüht meiner Stimme die angemessene militärische Schärfe zu geben, «das heißt also, sie zu erledigen?» Der Herr war peinlich berührt. «Das heißt: mit den Mitteln, die Ihnen zur Verfügung stehen, an ihrem verderblichen Handwerk zu hindern!» sagte er. Heinz stützte das Kinn auf die Hand und sagte: «Gesetzt, einer von uns käme im Verfolg sei ner Aufgabe durch einen unglücklichen Zufall in einen Konflikt mit den Gesetzen, die...» — Der Herr erhob sich zu seiner ganzen, achtunggebietenden Größe: «Meine Herren! Sie sind deutsche Männer! Wir alle müssen Opfer bringen. Wir alle müssen unsere kleinen persönlichen Sorgen zurücktreten lassen vor den großen und erhabenen Forderungen unseres geliebten Vaterlandes! Wir alle...» — «Es ist gut», sagte Kern, stand auf und hielt die rechte Hand beharrlich hinter seinem Rücken. Der Herr ging. Ein glühender Patriot, unantastbar, pflichtbewußt. Schon war das Netz gespannt. In der Pfalz wirkte Gabriel. Er stand auf gefährlichem Posten; denn der Kommandant seines Heimatortes kam von einem Jagdgang nicht zurück, und Gabriel war in Verdacht. In Mainz, in Köln, in Koblenz, überall bildeten sich die kleinen, elastischen Gruppen; in Worms, in Trier, in Aachen nisteten sie, immer gefährdet, versteckt, unermüdlich. Im Gewirr der Städte, an den Weinhängen der Mosel und der Saar, in den weiten Ebenen des Niederrheins, in den Dörfern der Pfalz strichen die Jungen, im Schatten des Verrats, knüpften die Verbindungen, lauerten, forschten, berichteten. Sie
bohrten sich in das Gefüge, das, vom Deuxieme Bureau routiniert aufgebaut und durch den unablässig rollenden Franc mit einer Armee von Spitzeln deutscher Staatsangehörigkeit aufgefüllt, alle Gebiete des deutschen öffentlichen und nicht öffentlichen Lebens beherrschte. Sie spürten den geheimen Wegen nach, die der Franc nahm. Sie schlichen um geschlossene Häuser, hinter deren verhängten Fenstern die Schatten huschten, sie lungerten in den Kneipen, in denen sich verdächtige Gestalten trafen und von dunkelblickenden Herren mit schwarzem Mantel und Melone Anweisungen entgegennahmen. Sie traten plötzlich, jung, kühn, ohne jeglichen Respekt, vor gewichtige Körperschaften, warnten, drohten, rieten. Sie führten das große Wort in den Versammlungen erregter Arbeiter, auf den Fabrikhöfen, an den Förderschächten, in rauchigen Sälen. Sie standen plötzlich auf den Trittbrettern der Autos eiliger Separatistenführer, den gezückten Photographenapparat in der Hand, sie fetzten die Plakate der Separatisten von den Wänden, tauchten mit Gebrüll in deren Versammlungen auf, Anführer von inventarzertrümmernden Haufen. Sie waren wie das wache Gewissen der Provinz. Die Mädchen, die mit den Franzosen gingen, fürchteten für ihre Zöpfe. Die Bürger, die mit den Offizieren der Besatzung verkehrten, sorgten, daß dies heimlich geschehe. Die französische Gendarmerie, die Kriminalpolizei — und nicht nur die französische! — hetzte hinter ihnen her. Die deutschen Verwaltungs-behörden mieden sie wie die Pest. Sie, ohne Hoffnung, ohne Mittel, ohne Dank, standen in allen Lagern, sprachen in allen Idiomen, waren für die Franzosen die einzige
nahe Gefahr. Sie waren in keiner Stadt mehr als zwanzig Mann. Uns gingen die Berichte zu von Rheinhessen und dem Saargebiet. In Elberfeld war die Zentrale für die Rheinprovinz, in Mannheim für die Pfalz. Einen von den Mainzern nahmen französische Kriminalbeamte fest. Auf der Wache wurde er verprügelt. Zwei Zähne wurden ihm ausgeschlagen. Er sollte sagen, wo die Waffen lagerten. Er sollte sagen, wer Heinz, wer Kern wäre. Er schwieg. Sie rissen ihm die Kleider vom Oberkörper, sie schlugen ihn mit Fahrerpeitschen. Er biß die Zähne aufeinander, blutend, wankend, schwieg. Ein Franzose zündete sich eine Zigarette an, trat dicht vor ihn und näherte das glühende Pünktchen seiner Haut. Er schrie vor Schmerz, der Franzose betupfte ihn mit der Glut, fragte mit höhnischer Höflichkeit. Doch er schwieg. Nach drei Wochen mußten ihn die Franzosen entlassen, die deutschen Behörden wurden unbequem. Wir wurden also bespitzelt. Kern war bleich vor Zorn. Selbst in so kleinen Gemeinschaften also mußten Verräter stecken! Es galt, um jeden Preis, zu erfahren, wer im Solde der Franzosen stand. Heinz fragte, ob unter den Männern der Gruppe einer sei, der zu zoten pflege. Wer zotet, übt Verrat. Kern und Heinz waren, wie so oft, in geheimer Mission verreist. Müllnitz, Sohn eines Generals, Student und Fähnrich, kam zu mir und brachte eine ältere Dame mit. Die Dame erzählte, sie betreibe ein kleines Handelsgeschäft in Spitzen und Bijouterien. Ihr Handel führe sie auch des öfteren in das besetzte Gebiet, nach
Wiesbaden und nach Mainz. Im Kurpark zu Wiesbaden, wo sie mit einer Geschäftsfreundin einen gelegentlichen Kauf abschloß, stellte diese ihr einen französischen Offizier vor. Der war, wie es sich herausstellte, Elsässer, hieß früher Schröder und leitete nun die französische Nachrichtenstelle in Mainz. Dieser Herr wußte im Laufe des liebenswürdigen Gesprächs ihr nahezubringen, daß mit ihrem Handel doch nur wenig Geld zu verdienen sei im Vergleich zu einer Tätigkeit, mit der sie ihm persönlich noch obendrein einen Gefallen erweisen würde. Die Dame, verwirrt, unbekannt mit den Gebräuchen der niederen Politik, verharrte als erfahrene Geschäftsfrau abwartend, doch nicht unfreundlich. Der Offizier, Capitaine im Range, redete auf sie ein, spitze, widerhakige Andeutungen fallen lassend, harmlos mit den Augen zwinkernd, um den Kern der Sache schleichend, geduldig, zäh und seiner Sache gewiß. Nur nötig sei, ihm gute Bekannte der Dame zuzuführen, vielleicht Herren, die einmal in der Reichswehr waren oder noch dort Dienst taten, oder vielleicht in der Schutzpolizei? Herren, die gerne in diesen schlechten Zeiten sich einen kleinen Nebenverdienst erwerben möchten, nicht wahr, oder, wer weiß, vielleicht sogar einen großen? Die Dame blieb still. Sie ließ die Sache offen. Der Capitaine, durchaus nicht böse, gab ihr seine Adresse, entfernte sich nach verbindlichem Abschied. Die Geschäftsfreundin aber drängte, sie solle doch nicht töricht sein, es wäre doch nichts dabei, der Herr Capitaine sei so nett und sehr, sehr freigebig; sie selbst habe doch schon... natürlich nur Kleinigkeiten, hier und dort eine kleine Gefälligkeit, ganz ohne Gefahr, Tausende täten
es. Die Dame, die im Müllnitzschen Hause verkehrte, teilte dort den Inhalt dieses Gesprächs zitternd mit. Wir berieten. Dann entschloß ich mich, die Spinne in ihrem Schlupfwinkel aufzusuchen. — Monsieur le Capitaine ließ bitten. Wir traten ein. Das Zimmer war geräumig, in der Mitte stand ein riesiger Schreibtisch. Der Capitaine, ein noch junger, dunkler Herr, glattrasiert, gepflegt, gewandt, begrüßte die Dame mit Herzlichkeit. «Ich habe Ihnen», sagte sie, «hier zwei junge Freunde mitgebracht, die unter Umständen geneigt wären, Ihnen nützlich zu sein. Der eine der Herren», sagte sie und wies auf Müllnitz, «ist Angehöriger der Reichswehr, der andere ist bei der Schutzpolizei.» Der Herr Capitaine war erfreut. Zwar gab er nur der Dame die Hand, doch bat er zuvorkommend, Platz zu nehmen. Ich setzte mich auf einen Stuhl, der dicht hinter dem Schreibtisch stand, die Dame saß auf der anderen Seite, dem Capitaine halb im Rücken, Müllnitz ihm direkt gegenüber. Müllnitz sagte stockend, er habe gehört, der Herr Capitaine sei dankbar für Informationen. Der Capitaine holte eine blaue Mappe hervor, hob sacht die Hand und bat um unsere Namen. Auf der blauen Mappe, ich entzifferte mühsam die Buchstaben, da ich sie verkehrt lesen mußte, stand mit Rotstift geschrieben: «Journeaux des canailles». Der Capitaine wandte sich zu mir. «Ich heiße Schröder!» sagte ich. Der Capitaine zuckte etwas zurück, sah mich brennend an. Ich blickte ihm steinern ins Gesicht und reichte ihm einen Paß. Der Paß lautete auf Unterwachtmeister Schröder von der Schutzpolizei.
Mein Bild klebte gestempelt auf dem Deckblatt. Der Capitaine schlug die Mappe auf und trug den Namen in eine lange Liste ein. Müllnitz nannte seinen Namen. Er war ungeheuer bleich, und ich sah, wie seine weißen Finger am Stuhlrand zitterten. Der Capitaine schlug die Mappe wieder zu und schob sie an den Rand des Schreibtisches, dicht vor mich hin. Ich warf blitzschnell einen Blick zu Müllnitz; er verstand. «Ich bin Schleswiger», sagte ich zu dem Capitaine, «ich stamme aus Hadersleben.» Der Capitaine sagte sofort: «Ah, ich habe die Ehre, in Ihnen den Angehörigen eines Volkes zu begrüßen, das, von preußischer Willkür bedrückt, die Wiedervereinigung mit seinem Vaterlande erstrebt?» Ich, unfähig ein Wort weiter zu sagen, verneigte mich. Der Capitaine sprach deutsch ohne jeden Akzent. «Und Sie, Herr Müllnitz?» Müllnitz würgte heraus, und seine Backenmuskeln bebten: «Mein Vater ist General, und...» O Gott, weshalb sagt er das, zuckte es mir durch den Kopf, doch der Capitaine, gewandt, unterbrach ihn schon: «Ich begreife, meine Herren, Sie sind Ihres Standes entsetzt, verarmt, dienen ohne Überzeugung. Die Bolschewisten sind eine Gefahr. Nicht nur für Sie. Die größte Gefahr steht noch bevor: Preußische Bolschewisten. Sie sind, Herr Müllnitz, wie ich ersehe, Bayer?» Müllnitz bejaht. Der Capitaine beginnt, plaudernd, flüssig, elegant, zu fragen. Er wendet sich fast immer an Müllnitz. Aus der blauen Mappe vor mir blinkt ein Zipfel weißen Papiers. Langsam hebt sich meine Hand, hegt auf dem Tisch, rückt unmerklich zur blauen Mappe vor. Müllnitz stammelt, plappert, erzählt Persönliches, will begreiflich machen, warum er Verbindung mit dem Herrn
Capitaine suche. Der trommelt mit den Fingern auf der Stuhllehne. Ich werfe einen beschwörenden Blick auf die Dame, die schweigend dasitzt. Sie beugt sich auf einmal vor, Müllnitz wendet sich: «Nicht wahr, gnädige Frau?» zu ihr; sie sagt etwas, der Capitaine dreht sich sogleich höflich zu ihr; meine Hand beginnt rasend zu zittern, zieht, zupft, der Bogen segelt plötzlich zu Boden, mir zu Füßen. Ich höre, wie der Capitaine scherzt, der Franc stünde besser als die Mark. Ich bücke mich, tue, als bringe ich den Schuhsenkel in Ordnung, rolle den Bogen und schiebe ihn mit flatternden Händen in den Strumpf. Müllnitz stiert mich an, ich nicke ihm unmerklich zu, muß auf die Zähne beißen, muß die Füße aneinanderpressen, um den Aufruhr meines Blutes zu ersticken. Müllnitz, kurz entschlossen, erhebt sich, verspricht, mit Material wiederzukommen. Wir murmeln Abschiedsworte, der Capitaine reicht Madame die Hand, verbeugt sich knapp; wir gehen. Der Bogen, den ich stahl, enthielt eine lange Liste, die Namen der Canailles. Der Herr in Kassel konnte zufrieden sein. Wir saßen bis spät in die Nacht und warteten auf Jörg, der uns Bericht geben sollte über den Verlauf einer Waffenschiebung in einen Taunusort. Kern war beunruhigt, Jörg hätte schon am Nachmittag da sein sollen. Gegen Mitternacht stürmte er die Treppe hoch und taumelte ins Zimmer, bleich, verstört, verschwitzt. «Otto und Mahrenholz ...», keuchte er, «beide geschnappt. In Mainz.» —
Die Waffen waren glücklich durch die Demarkationslinie gebracht. Am verabredeten Ort warteten die Empfänger, Bauernburschen der Gruppe des Taunusgebietes. Die Waffen wurden gleich verteilt und versteckt. Dann gingen die Kameraden in ein Gasthaus, um auszuruhn. Jemand mußte den Franzosen Nachricht gegeben haben. Auf dem Heimweg, am Ausgang des Ortes, kamen Marokkaner, geführt von französischen Gendarmen. Sie traten plötzlich aus einem Hofe, mit angelegten Gewehren. Die Gruppe spritzte sofort auseinander; die Franzosen schossen, vier Mann wurden umzingelt und gefangen, darunter Otto und Mahrenholz. Jörg konnte sich durchschlagen. Er hetzte übers Feld in ein benachbartes Dorf, holte sich dort ein Fahrrad bei einem befreundeten Bauern, fuhr, überall am Wege verstohlen fragend, nach Mainz. Die vier waren noch nicht ins Gefängnis gebracht worden, sondern saßen in der Marokkanerkaserne, sollten wahrscheinlich noch eingehender verhört werden. Noch in der Nacht trieben wir Müllnitz aus dem Bett, der seinen Onkel wiederum bedrängte. Dieser Onkel hatte einen alten, aber schnellen Adlerwagen. Ich schrieb einen Zettel für meine Firma, der, wie so oft schon, vermeldete, ich sei krank und müßte leider das Bett hüten. Am Morgen fuhren wir los, Kern und ich im Wagen, den Müllnitz lenkte, Heinz, Jörg, zwei Schupos in Zivil und ein junger Kommunist, Freund Ottos, mit der Bahn. Jeder von uns hatte in beiden Hosentaschen je eine Pistole, in beiden Rocktaschen je eine Eierhandgranate. Kern hatte noch zwei Stielhandgranaten im Mantel.
Die Mainzer, schon am vergangenen Tag durch Jörg ins Bild gesetzt, hatten erfahren, daß die Gefangenen innerhalb der Marokkanerkaserne, einer früheren Schule, in der Turnhalle eingesperrt seien. Kern ließ sich die Lage der Halle aufzeichnen und berichtete seinen Plan. Dann machten wir uns auf den Weg. Das Auto wartete in der Nähe der Kaserne, gedeckt von Jörg und Heinz. Die Mainzer und die anderen drei verteilten sich auf die umliegenden Straßen. Kern und ich gingen, ohne daß das Tempo unserer Schritte mit dem unseres Herzschlages übereinstimmte, auf das Tor der Kaserne zu. Ein Marokkaner stand Posten. Er ging mit kurzen, trippelnden Schritten auf und ab. Unzählige französische Soldaten und Offiziere gingen vorbei, schlenderten durch das Tor. Die Turnhalle stand frei im Hof. Ich blieb in der Nähe des Postens stehen, beide Hände in den Hosentaschen, die Griffe der Pistolen umklammert, die Pistolen entsichert. Kern bog elegant um die Ecke, strich mit höflichem Hutschwenken an dem Posten vorbei. Der ließ ihn ohne weiteres durch. Es ist unbegreiflich, wie viel ich in den wenigen folgenden Sekunden sah. Die Sonne bestrahlte prall den Hof, blinkte in vielen Kieseln wider, ließ Fensterscheiben blitzen und die Glasscherben auf den Mauern. Eine Schar Sperlinge schilpte auf einem Fleck, im Schatten einer großen Kastanie, die im ersten Schmuck des Vorfrühlings braunglänzende Knospen mit zartgrünen Spitzen stolz in die Höhe reckte. Wie anmutig schief saßen die Käppis der vorbeiflanierenden Franzosen.
Der Posten hatte ein gelbes, fahles Gesicht und tiefliegende Augen mit bläulichen Schatten. Seine Uniform schlenkerte um den schmalen Körper; er war behängt mit grobgewebtem, festem Koppelzeug, der flache Helm saß ihm im Nacken. Und Kern, Kern ging mit selbstverständlicher Leichtigkeit, sein Lodenmantel bauschte sich durch seinen schnellen Schritt, einzelne Kiesel flogen und spritzten unter seinem Fuß. Nun stand er am Tor der Halle. Nun griff er in die Manteltaschen... Ich krächzte heiser, machte ein, zwei Schritte auf den Posten zu, der sich zu mir wandte. Und Kern holte eine Handgranate vor, hängte sie an die Klinke der Tür und zog ab. Und trat mit kurzer Wendung an die Seite, schmiegte sich an die Mauer, in einen Winkel hinein. Der Posten musterte mich befremdet. Ich sah ihm starr ins Gesicht und zählte in Gedanken mit. Fünf Sekunden, fünf Sekunden, dann... Ein dumpfer Krach. Der Posten schrak zusammen, fuhr herum. Mit zwei Schritten war ich an ihm. Ich sah jetzt nichts, ich sah den Posten nur, der starrte aus geweiteten, geschwärzten Höhlen, ließ den Unterkiefer fallen, zerrte am Gewehr. Da schnellten meine Hände aus den Taschen, die Pistolen zuckten hoch, ich schrie: «A bas les armes!» Der Posten taumelte zurück, weit offen, unbegreifend Aug' und Mund, und starrte in die Mündungen. Da, Schritte, Schatten, Lärm. Kern war da, die andern auch, Franzosen wimmelten herbei; ich sprang zurück, ich sah, wie Otto einem herangeeilten Poilu die Faust unter das Kinn setzte, daß der seinem Kameraden in die Arme taumelte. Und Kern, beide
Arme hoch, feuerte die Schüsse in die Luft; ich wandte mich und stolperte und raste los. Dies verfluchte Pflaster dieser Stadt! Wieviele Menschen waren auf den Straßen! Das waren Menschen doch, oder Schatten? Bleiche Scheiben, statt Gesichter, schmale Striche, statt Gestalten; weiter, weiter. Da ist Jörg, da das Auto. Die Schläge fliegen auf, wir werfen uns hinein; der Wagen stöhnt und ruckt und fährt. «Schnell zur Brücke», ruft Kern, «so schnell wie möglich über die Brücke!» Laut hupend braust der Wagen, Müllnitz hockt am Steuer wie aus Stein. Wir liegen aufeinandergewürfelt. Otto, Mahrenholz, die beiden Bauernburschen. Kern neben Müllnitz. Ich teile Pistolen aus. «Geladen und gesichert», sage ich. Jeder hält jetzt eine Waffe schußbereit in der Faust. Wir rasen über die Brücke. Wie behäbig breitet sich der Strom. «Der Rhein, der Rhein», sage ich, murmle immer wieder: «Der Rhein.» Bis wir drüben sind. Der Wagen schlingt das grauweiße Band der Chaussee. «Obacht geben an der Demarkationslinie», wendet sich Kern, den Hut haltend. «Sicher haben sie allen Posten telephoniert!» Wir nicken und schweigen. Der Wald streicht vorbei. Mahrenholz sieht mich lachend an, nickt, breitet die Arme. Ich verstehe; er will sagen: schön ist die Welt. Eine Gruppe Häuser. Soldaten auf dem Weg. Schon sind wir heran. Die Soldaten schwenken die Gewehre, immer neue eilen aus dem Gehöft. «Durch!» schreit Kern. Müllnitz gibt noch einmal Gas. Der Wagen macht einen Sprung, quietscht, heult, rast. Es knallt, sie schießen...
Und wir sind durch, wir sind durch! Mahrenholz bückt sich vornüber. Was hat er? Blut auf seiner Backe? Mahrenholz ist tot. Viele noch werden ihm folgen. O.S. Im Jahre 1917 wurde von deutschen Politikern, Generälen und Staatsmännern das Königreich Polen neugegründet. Im Jahre 1918 verwandelte die dankbare und befreite Bevölkerung des Königreiches dies Reich in eine Republik, und in den deutschen Provinzen Posen und Westpreußen die proletarische Revolte in eine polnische. Im Jahre 1919 vollzog sich in erbittertem Kampfe mit den schwachen deutschen Grenzschutzkräften, jedoch nicht ohne das Wohlwollen deutscher Behörden, die polnische Besetzung der beiden Provinzen und wurde durch den Friedensvertrag von Versailles sanktioniert. Gleichzeitig schuf der Friedensvertrag den Freistaat Danzig, den Polnischen Korridor und das Abstimmungsgebiet Oberschlesien. Die deutsche Nationalversammlung und Regierung erhob gegen den Vertrag Protest und unterschrieb ihn. Das Reichtaler Ländchen, dicht nordöstlich von Namslau, der Geburtsort des ehemals deutschen Reichtstagsabgeordneten Korfanty, wurde von den Polen im Eifer der Besetzung gleich mit in die Grenzen des neuen polnischen Staates einbezogen; obwohl der Friedensvertrag diesbezüglich anders lautete, fiel dies nicht weiter auf. In Oberschlesien erfolgte der erste polnische Insurgentenaufstand und wurde von deutschen Freikorps und Grenzschutztruppen niedergeschlagen.
Im Jahre 1920, am 11. Februar, übernahm unter Führung des französischen Generals Le Rond die Interalliierte Abstimmungs-Kommission, genannt IAK., die Regierungsgewalt in Oberschlesien. Im Sommer dieses Jahres brach der russisch-polnische Krieg aus. Die Reiterarmee des sowjetischen Generals Budjonni schlug die Polen und drang bis weit in den Polnischen Korridor in ehemals deutsches Gebiet hinein. Polen schien verloren. Deutsche Phantasten, die als Nationalbolschewiken dem Fluch der öffentlichen Lächerlichkeit verfielen, hofften, daß dieser einmalige, nie wiederkehrende Augenblick, der allen deutschen Möglichkeiten die Tore öffnete, von Deutschland ausgenutzt, eine deutsch-russische Waffenbrüderschaft herbeigeführt und Polen und damit der stärkste östliche Pfeiler des Westens vernichtet werde. Doch wurde in Ostpreußen und in der Grenzmark die Schutzpolizei verstärkt, ein Internierungslager für übertretende Bolschewiken eingerichtet und strengste Neutralität gewahrt. Im August 1920 brach in Oberschlesien der zweite polnische Aufstand los, nachdem es einer von französischen Offizieren organisierten, ausgerüsteten und geführten polnischen Armee gelungen war, die in der Luft hängenden sowjetischen Truppen abzuriegeln oder zurückzuwerfen. Der zweite polnische Aufstand in Oberschlesien, durchgeführt von den Sokoln, wurde von deutscher Schutzpolizei unterdrückt. Nachdem dies geschehen war, verfügte die IAK. — im Oktober — die Entfernung der Schutzpolizei und richtete eine zur Hälfte aus Polen und zur Hälfte aus Deutschen bestehende Abstimmungspolizei, die Apo, ein. Der 20.
März 1921 wurde von der IAK. für die Abstimmung festgesetzt. Inzwischen waren drei Konferenzen, Spa, Brüssel und London, in denen über die Reparationsfrage verhandelt wurde, in für Deutschland ungünstigem Sinne verlaufen. Die Entente hatte die Ruhrhäfen Duisburg, Ruhrort und Düsseldorf besetzt und drohte mit weiteren Sanktionen. In diesem Zeichen fand die Abstimmung in Oberschlesien statt. 70 Prozent der abgegebenen Stimmen wurden für Deutschland gezählt. Die deutsche Öffentlichkeit feierte erfreut diesen Sieg. Korfanty verlangte auf Grund des Abstimmungsergebnisses die Oder als Grenze Polens. Er organisierte unter den Augen der IAK die polnischen Sokoln, er stellte eine Armee von Insurgenten auf, er sammelte reguläre und irreguläre Truppen an den Grenzen, bewaffnete sie und bereitete so den Aufstand vor. Die deutsche Regierung führte etwa gleichzeitig die große Entwaffnungsaktion durch und löste die Orgesch und die ihr verwandten Organisationen auf. Am 3. Mai 1921 begann der dritte polnische Aufstand in Oberschlesien. Insurgenten, Sokoln und Hallertruppen drangen westlich bis zur Oder, nördlich bis über Kreuzburg hinaus vor, besetzten das Land, von den Franzosen offen, von den Italienern heimlich, von den Engländern durch Abwarten unterstützt. Einzig in den Städten des Industriereviers versahen Apo und alliierte Truppen noch Dienst. Auf der Protestversammlung gegen die Vergewaltigung Oberschlesiens sprach am 22. Mai 1921, sieben Tage vor der Übernahme des Wiederaufbauministeriums im
neugebildeten Kabinett Wirth, Dr. Walther Rathenau. Er sagte: «Als am 4. August 1914 ein deutscher Staatsmann das unglücklichste politische Wort sprach, das je in unserem Lande vernommen wurde, als er von einem Fetzen Papier sprach und einen Vertrag meinte, da ging ein Sturm durch das britische Weltreich, und dieser Sturm führte zum Kriege. Wir sagten damals: es ist Notwehr. Aber das britische Imperium sagte: Verträge müssen gehalten werden. Darin liegt Wahrheit. Denn gegenüber der rücksichtslosen Gewalt, in die Völker verfallen, wenn sie ungebändigt ihre Interessen verfolgen, gibt es nur ein einziges völkerrechtliches Mittel, das Mittel des Vertrages, das Mittel des geheiligten Vertrages zwischen Völkern. Ein solcher Vertrag ist abgeschlossen worden zwischen allen zivilisierten Nationen der Erde. Nicht ein Vertrag der Gerechtigkeit, aber ein Vertrag, der unterschrieben wurde von 28 Völkern, versehen mit allen Zeichen der Heiligkeit, die internationalen Verträgen zugebilligt wird. Zwei Jahre besteht dieser Vertrag. Was ist aus ihm geworden? Wo ist die Heiligkeit dieses Vertrages von Versailles geblieben? Angenagt im Westen und gebrochen im Osten. Wer hat diesen Vertrag im Osten gebrochen? Das Volk der Polen. 120 Jahre lang haben die Polen in der Welt sich beklagt über geschehenes Unrecht, über Vergewaltigung. Ihre Männer sind als Sendboten durch die Länder der Erde gezogen und haben aufgerufen für das Recht und gegen die Gewalt. Und jedesmal, wenn dieser Aufruf durch Europa ging, hat er Widerhall gefunden. Selbst in Deutschland. Denn nie hat sich das
deutsche Gewissen dem verschlossen, der Recht suchte und der an Gerechtigkeit appellierte. Dieses Polen ist wiederum erwacht zur selbständigen und souveränen Nation. Seine erste Handlung ist die des Bruches desjenigen Vertrages, dem es seine Souveränität und Nationalität verdankt. Lloyd George hatte die Polen gefragt: Worauf stützt ihr euch denn, habt ihr diesen Vertrag von Versailles verfochten, mit wessen Blut ist dieser Krieg und Sieg erkämpft worden, etwa mit dem Blute der Polen? Diese Frage hat man in Warschau beantwortet mit einer Flut von Insulten. Eine Antwort der Vernunft konnte nicht gegeben werden. Die Vergewaltigten aber sind wir. Wir haben den Vertrag unterschrieben. Wir haben das Ultimatum unterschrieben. Und da wir eine Nation der Billigkeit sind, so werden wir das halten, wozu wir uns verpflichtet haben. Wir rufen unser Volk nicht auf zum Haß und nicht zur Revanche. Aber dafür verlangen wir die Gerechtigkeit vor der Welt, und diese Gerechtigkeit kann uns nicht verweigert werden. Die Gerechtigkeit hat sich noch immer auf Erden wiederhergestellt nach langer oder nach kurzer Zeit. Wir haben in Deutschland Unsägliches dulden müssen. Unser Land ist zerfleischt, unsere Mittel sind erschöpft. Wir sehen einer trüben Zukunft entgegen. Was uns aber aufrecht erhält, das ist der Glaube an unsere unverbrüchliche Gemeinschaft. Der Aufruf zur Einigkeit, den Sie gehört haben, ist der Aufruf zur Stunde. Wir sind und bleiben ein Volk von 60 Millionen, und die Welt soll wissen, daß dieses Volk sich seiner Kraft bewußt ist. Nicht zum Kriege,
aber zur Arbeit. Und nicht nur zur Arbeit, sondern auch zur Vertretung seines Rechts. Mit friedlichen Mitteln werden wir dieses Recht vertreten. Aber es wird uns nicht genommen werden können. Und wenn der unglückselige Fall eintreten sollte, wenn unverantwortliche Menschen es wagen sollten, dieses Land vorübergehend von Deutschland zu trennen, dann wird ein Fall in der Welt entstehen, der weit schwerer auf dem Frieden und auf dem Gewissen der Nationen lasten wird als Elsaß-Lothringen. Dann wird eine Wunde in der Mitte von Europa entstehen, die sich niemals schließt und die nur geheilt werden kann durch Gerechtigkeit. Diese Versammlung ist ein Aufschrei unseres Gewissens, und dieser Aufschrei richtet sich an alle Mächte der Sitte, der Vernunft und des Gewissens in der Welt. Diese Mächte sind nicht erstorben. Es ist von einem der Herren Redner ein Wort unseres großen Freiheitsdichters erwähnt worden. Deswegen mag die Versammlung ausklingen in einem anderen Wort desselben großen Dichters, den wir in dieser schweren Zeit doppelt als den unseren fühlen. Er legt es einem Volk in den Mund, das ebenso wie wir Unrecht leidet, und er sagt: «Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last — greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.»
Am gleichen Tage, zu derselben Stunde, da der künftige Minister in Berlin diese Rede hielt, wurde Müllnitz, auf entferntem Posten Wache stehend, von Polen überfallen, erschlagen und schändlich zugerichtet. Am gleichen Tage fiel Paul Töllner, Marburger Teutone, mit einem Herzschuß beim Vorgehen auf die besetzte Mühle von Leschna. Am gleichen Tage scholl der Lärm nächtlichen Gefechts von Zembowitz herüber, dröhnte das Rollen der polnischen Munitionskolonnen auf der Straße Guttentag—Rosenberg dicht vor uns, schlichen die Patrouillen der Hallerarmee durch den Eichenforst, der Leschna, das von uns besetzte Walddorf in Oberschlesien, südöstlich Kreuzburg-Sausenberg, von allen Seiten dunkel rauschend umgab. Am gleichen Tage war die Lage der Insurgentenarmee verzweifelt, denn der Sturm des Korps Oberland auf den Annaberg hatte dem polnischen Sieg ins Herz getroffen. Am gleichen Tage warteten die versprengten, fechtenden, siegenden, vorstoßenden Trupps der deutschen Jugend, die Befreier Oberschlesiens, die Erstreiter der Nation, auf den Befehl — was sag ich — auf die stille Duldung der Reichsregierung, die den vor der Abstimmungszone harrenden Selbstschutzformationen den Weg zu ihren kämpfenden Kameraden freigab; denn es stand der deutsche Sieg auf Nadelspitze. Am gleichen Tag kam die scharfe Note Briands über die Auflösung der deutschen Selbstschutzformationen. Am nächsten Tage erließ die Reichsregierung auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung folgende Verordnung:
§ 1: Wer es unternimmt, ohne Genehmigung der zuständigen Stellen Personen zu Verbänden militärischer Art zusammenzuschließen, oder wer sonst an solchen Verbänden teilnimmt, wird mit Geldstrafe bis zu 100 000 Mark oder mit Gefängnis bestraft. § 2: Diese Verordnung tritt sofort in Kraft. Unter denen, die todesbereit und kampfbegierig nach Oberschlesien gezogen, war nicht einer, der es um der Heiligkeit der Verträge willen tat. Nicht einer marschierte in den Reihen, um an die Mächte der Sitte, der Vernunft und des Gewissens zu appellieren. Und wenn unter ihnen einer je am Himmel droben ein ewiges Recht unveräußerlich hangen sah, dann war es das Recht der Jugend, in der Rache die Gerechtigkeit zu suchen. Denn zum ersten Male im deutschen Nachkrieg war hier ein Kampf von aller Problematik frei. Es traf der Ruf uns in das Herz, er tötete im Augenblicke alle zweifelnde Erwägung. Dies Land war deutsch, es war bedroht, und wir marschierten, es aufs neue zu erstreiten. Nichts schmälerte die Wucht der Forderung, die uns auf einmal zwingend überfiel, nichts konnte sie verstärken. Was sollte uns der Angstruf der Regierung, der sich nicht an uns, nicht an die wache Kraft der Jugend wandte, sondern an das Weltgewissen? Was mochten uns die Argumente kümmern, tausendfältig von der Presse, von den Ämtern, aus lauem Munde ausgespien? Nicht ging uns an, was mit Zahlen und Statistiken, mit Noten, Ultimaten, mit Erbanspruch und Wahlergebnis zu begründen war. Doch daß die Polen
nun im Lande standen und uns Hohn zu bieten wagten, das ging uns an. Die Provinz, fern, kaum bekannt, ein Keil, der eingeschoben zwischen Polen und Tschechei angreiferisch — und drum von uns geliebt — in seiner Spitze alle Energien barg, stand, weil gefährdet, nun im Brennpunkt der Nation. Das war erkannt von allen, die das metaphysische Gesetz beherrschte, durch welches die Nation allein erfaßbar wird. Dies Gesetz verlangt den Einsatz. So wurde Oberschlesien uns zum Prüfstein, uns, dem Lande und dem Volke. Es handelte im letzten sich nicht um Industrie und Kohlenproduktion, um Volkswirtschaft und Kartoffelbau, nicht um die Erhaltung der deutschen Kultur und nicht um das Wohlergehen der Bewohner der Provinz. Es handelte sich darum, das Gesetz der Nation zu erfüllen. Für die, die darum wußten, gab es kein Warum. Ich stand als Posten an den Unterstand gelehnt. Rund um das Gehöft zogen sich die dunklen Linien des Grabens. Die anderen Postenstände lagen, verschluckt von der Dunkelheit, an der Dorfstraße und an den Feldund Waldwegen. Ganz schwach klang Gewehrfeuer von Zembowitz her und von Rosenberg. Rund um die schmale Lichtung, in der das Dorf Leschna gebettet lag, wölbte sich voll brütender Geheimnisse der Eichenforst. Mich überfiel das Staunen über die unbekannte Macht, die mich an diesen Ort geschleudert. Und doch war das, was mich umgab, trotz der blauen, magischen Schleier der leise heranglimmenden Dämmerung, voll zwingender Wirklichkeit. Ganz unwirklich aber schien mir die laute Bewegung der vergangenen Tage, schien
mir der Nachhall jener Welt, die mich doch eben noch im Bann gehalten. Ich dachte an die Stunde, da die Zeitungen die ersten Nachrichten vom polnischen Aufstand brachten, am 4. Mai des Nachmittags um 6 Uhr. Ich las, auf der Straße stehend, und sagte mir, es sei Zeit. Ich ging nach Hause, packte den Rucksack und beeilte mich, zum Neunuhrzuge zurechtzukommen. Auf dem Wege zum Bahnhof traf ich einen älteren Kollegen meiner Firma; ihm sagte ich, er möge bitte der Direktion mitteilen, daß ich nicht mehr ins Büro kommen könne, ich führe nach Oberschlesien. Der Kollege murmelte erstaunt und wohlwollend, ja, ja, die jungen Leute hätten's gut, wer sich doch auch noch verändern und verbessern könnte, und viel Glück wünsche er mir und hoffentlich bekäme ich in meiner neuen Stellung mehr Gehalt. Sichtlich glaubte der wackere Kollege, ich ginge nach Oberschlesien, um dort Prämienquittungen auszuschreiben. Ich klärte ihn nicht auf, ich wandte mich eilends grüßend ab, doch schon kam mir Major Behring entgegen, Vorstand vieler Vereine; ihm sagte ich, was ich vorhatte, und er schüttelte mir mit markigem Männerdruck beide Hände und sagte, solange Deutschland über solche jungen Helden verfüge wie mich, könne es nicht untergehen. Und ich solle doch ja nicht verabsäumen, ihm eine der oberschlesischen Abstimmungsbriefmarken für seine Sammlung mitzubringen, natürlich mit dem Poststempel des Abstimmungstages. Der Zug brauste in die Nacht. Ich stand auf dem Gang und schmeckte mit dem Kohlenrauch, der durch alle Ritzen drang, die Ahnung kommender Ereignisse.
In Bebra stieg einer in Windjacke in den überfüllten DZug-Gang und trat mir auf den Fuß. Da ich wiedertrat, ergab sich ein Gespräch, dessen Wirkung bald durch blitzhaftes Erkennen stark gewandelt wurde. Das war einer von der Elberfelder Gruppe, mir dem Namen nach bekannt. Versöhnt strich ich mit ihm durch die Gänge. Überall, in allen Abteilen, saßen oder standen junge Leute. Sie hockten neben schnarchenden Handlungsreisenden und stullenverzehrenden Geschäftsleuten; sie wurden mißtrauisch beobachtet von den Bahnbeamten, sie trugen verschossenes Feldgrau und geflickte Breeches gleich mir, sie sahen mit ihren blonden Schöpfen und hochmütigen Gesichtern einer dem andern außerordentlich ähnlich, ohne daß der Grund dieser Ähnlichkeit für den, der nicht um die Gleichartigkeit ihres Schicksals wußte, erkennbar war. Wir erkannten uns sofort, wir begrüßten uns, wir kamen aus allen Teilen des Reiches, Kämpfe witternd und Gefahr, ohne voneinander zu wissen, ohne Marschbefehl und ohne ein bestimmteres Reiseziel, als einfach dies: Oberschlesien! Noch im Zuge, bildeten wir schon den Stamm einer Kompanie, ein Führer war nach wenigen Minuten des Gesprächs bald erkannt, sofort und selbstverständlich in seiner Autorität geachtet; einer machte, zukünftiger Kompaniefeldwebel, schon eine Liste fertig. In Leipzig stiegen junge Leute ein, die an ihren Mützen eine Feder trugen, bayrisch sprachen und seltsames Gepäck mit sich führten: Wagenräder und in Leinwand verschnürte schwere Walzen und sonderbare, in Kartons verpackte Eisenteile. Ich strich an ihnen vorbei, klopfte an eine solche Walze und flüsterte:
«Geschütze?» Und der zunächst stand, grinste: «Oberland!» In Dresden kam ein Trupp Forstschüler, grüne Uniform, Hirschfänger, aufgeschlagener Jägerhut, Studenten einer Forstakademie. Die ganze Akademie, die Lehrer als Offiziere, war aufgebrochen nach Oberschlesien. Sie verstauten sorglich schwere Waschkörbe in die Gepäcknetze und versicherten dem Schaffner, dies seien Vermessungsinstrumente für die oberschlesischen Wälder. In Breslau erklärte der Bahnhofsvorsteher, die Demarkationslinie sei gesperrt, und Selbstschutzformationen seien illegal und würden nicht weiterbefördert. Unbehaglich und scheu wichen die Reisenden, als wir einen Zug beschlagnahmten und bestiegen und erklärten, wir würden den Bahnhof zusammenhauen, wenn der Zug nicht sofort weiterführe. Der Zug fuhr weiter. In Namslau stiegen wir aus, und hier formierte sich aus den mit jedem Zuge eintreffenden Freiwilligen das Selbstschutzbataillon. Aus allen Landschaften und allen Bünden hatten sich die Kämpfer, die Suchenden ausgesondert, vielerlei Dialekte waren zu hören und viele Abzeichen zu sehen. Jungdeutsche waren da, Stahlhelmer, Roßbacher, Baltikumer, Landesjäger, Kapp-Putschisten, Leute von Rhein und Ruhr, aus Bayern welche und welche aus Dithmarschen. Ganze Studentenverbindungen waren geschlossen erschienen, Arbeitskommandos, Siedler und Soldaten traten an. Arbeiter und junge Kaufleute. Balten und Schweden und Finnen, Siebenbürger und Tiroler, Ostpreußen und Saarländer kamen, alle jung, alle bereit. Und jedem
dritten Manne war ich irgendwo und irgendwann schon einmal begegnet in einem der Gefechte des deutschen Nachkrieges. Und wem ich nicht schon begegnet war, der hatte einen Freund, der mich kannte, den ich kannte, oder der hatte einmal auf demselben Felde gefochten wie ich; nach dreiminütigem Gespräch wußten wir voneinander Bescheid. In wenigen Tagen stand eine Kompanie abmarschbereit. Auf dem Bahnhof Namslau rollten versiegelte Waggons auf ein Nebengleis. Im Morgengrauen traten wir an und luden aus. Auf dem Frachtschein stand: Maschinenteile. Nun hatte jeder ein Gewehr, doch blieb die Munition immer knapp. Ich traf Schlageter. Er, aus den Städten im Süden kommend, Waffen zu schmuggeln und Behörden zu bearbeiten, erbarmte sich unserer ihm von mir geschilderten Not. Nachts brachen wir in das Waffenmagazin der verärgerten Reichswehr ein und stahlen ein L. M. G. und viele Kästen Patronen. Schlageter berichtete mir, er habe Heinz gesehen, der schon unten im Städtedreieck des Indusrriereviers in Fühlung mit der Spezialpolizei Hauensteins an der Arbeit sei. Dann erfuhr ich, daß Müllnitz bei der Nachbarformation stecke und Otto bei Oberland im Süden. Jörg traf ich wenige Tage später; er hatte den Auftrag erhalten, ein Geschütz von Waldeck-Pyrmont nach Oberschlesien zu schaffen. Da zog er mit seinen drei Schupos ohne Urlaub los, requirierte aus einer schlechtbewachten Brauerei einen Lastkraftwagen, belud ihn mit Munition, band die Kanone mit starken Stricken hinten an und fuhr, quer durch Sachsen und Schlesien, als Schupo von niemandem angehalten, in sanfter Forsche nach Oberschlesien. Ich aber
befürchtete ein Versagen meines sonst so wachen Instinktes, der mich doch stets an die Stätten der Entscheidung geführt hatte und diesmal mich im Norden der Provinz landen ließ, indes im Süden der Kampf entbrannte. Wir hörten mancherlei Gerüchte von Oppeln her, von Schloß Löwen, wo General Höfer saß, der Führer der Selbstschutztruppen, von Cosel und Ratibor und Beuthen. Wir wußten, daß Verhandlungen im Gange waren, Verhandlungen! Und wir wußten, daß bei diesen Verhandlungen nichts anderes würde verhandelt werden als wir und das Land, und wir wußten, daß es auf jede Stunde ankam, in der gefochten wurde. Einförmig bogen sich die Halme. Ein Teil der Böschung bröckelte und klatschte dumpf und zerstiebend auf die Grabensohle. Ich horchte angestrengt und bohrte meine Augen in die Dämmerung. Nichts war zu hören im Wald, nur von Rosenberg her tönte der verlorene Schall des Gewehrfeuers heftiger. Dort lagen die Roßbacher vor der Stadt. Sie hatten hier im Norden den ersten Stoß geführt. Sie hatten Kreuzburg befreit und Sausenberg gestürmt und das Schloß Wendrin. Nun lagen sie vor der Stadt und konnten nicht weiter. Und wir lagen hier versprengt im weiten Forst und konnten auch nicht weiter. Warum, warum konnten wir nicht weiter? Niemand gab uns die Antwort, uns band ein Befehl. Ein Befehl, nichts sonst; denn die Polen widerstanden uns kaum, sie wichen vor uns überall; aber wir lagen nun hier und ließen ihnen Zeit, sich erneut zu sammeln. Als wir bei Konstadt über die Abstimmungsgrenze rückten, verschwand die italienische Wache auf einen Schlag, wie nach Befehl,
in ihre Häuser. Die Engländer, die mit ihren schnellen Autos die Straßen bevölkerten, grüßten unsere Kolonnen. Kurz bevor Schlageter uns wieder verließ, um in die Städte sich durchzuschlagen, sprach er mit einigen englischen Offizieren, die von ihren Verbündeten, den Franzosen und Italienern, und von den Polen zusammenfassend nur als von den weißen Niggern redeten. Die Engländer dünkte ihre eigene Rolle in diesem oberschlesischen Spiel nicht sauber. Sie murmelten uns durch die Zähne zu, wir sollten, damned, doch die white niggers zum Teufel jagen. In Sausenberg begannen wir mit diesem Geschäft. Wir sollten sogleich eingesetzt werden. Leschna nehmen, Verbindung sichern von Rosenberg nach Zembowitz und die Straße Rosenberg — Guttentag beobachten. Und nun lagen wir hier, weit vorgeschoben, inmitten des Waldes, nun lagen wir hier, vier Tage schon, und kamen nicht weiter. Ich hörte das Klirren eines Gewehrverschlusses. War das vorn? Der Tag war da. Der Postenstand am Gasthaus war zu sehen. Ich winkte hinüber, der Posten fummelte an seinem Karabinerschloß, in das wohl Sand geraten sein mochte. Als wir vor vier Tagen, kurz vorm Sinken der nächtlichen Schatten, vorsichtig aus dem Schutz des Waldes traten, tönte uns aus dem Gasthaus Musik und Kreischen entgegen. Wir schlichen mit vorgehaltenen Gewehren durch die menschenleere Dorf straße. Denn in Leschna sollten die Polen liegen, und außerdem hatte das ganze Dorf, mit Ausnahme einer einzigen Stimme, polnisch gewählt, und die Leschnaer hatten bei Ausbruch des Aufstandes, wie uns berichtet wurde, die deutschen Sausenberger überfallen und viele
erschlagen und mißhandelt. Denn so war der Aufstand hier im Norden geschehen; die örtlichen Sokoln rissen die Macht an sich, und die deutschen Dörfer wurden von den polnischen angegriffen, und lange konnten sich die Heimattreuen nicht wehren, denn hinter den Insurgenten rückten reguläre polnische Truppen nach, kongreßpolnische von jenseits der Grenze und Hallerlegionäre. Die Polen leugneten das, und wir waren begierig, es ihnen zu beweisen. Als wir die Musik hörten, hielten wir es für eine Falle; auch krachten bald einige Schüsse. Schnell stürmten wir vor und sahen, wie eine Menge Burschen bewaffnet aus der Tür des Gasthauses stürzten und dem nahen Walde schreiend zuliefen. Wir knallten hinter ihnen her, aber als wir zum Gasthause gelangten, erkannten wir, daß gerade Hochzeit gefeiert wurde; das ganze Dorf war versammelt; nun blieben nur die heulenden Weiber zurück. Uns entgegen trat bleich die Braut, die hohe, stolze, grüne Brautkrone noch auf dem Haupt, ein Prunkgebäude aus Tannen- und Eichenzweigen, mit roten und weißen Bändern geschmückt. Die Tische waren besetzt, und Schnapsflaschen standen herum; wir dachten an Seydlitz bei Roßbach und setzten uns schleunigst an die Tische zum Hochzeitsmahle, und einige polnische Mädchen waren gar nicht so feindlich, wie wir dachten; die Braut freilich zürnte uns weinend. Am nächsten Morgen in der Frühe griffen die Polen an. Sie schossen plötzlich und überraschend aus dem Gebüsch, aber eine starke Patrouille von uns brach auf und stieß ihnen in die Flanke, und unser M. G., auf das Dach eines Hauses montiert, setzte ihnen derb zu. Sie mußten zurück, aber im Gebüsch ließen sie
Verwundete liegen, und einer der Verwundeten war der Bräutigam. Er hatte einen bösen Lendenschuß, und wir trugen ihn zögernd in das Haus, in dem seine Braut noch im Brautstaat hinterm Ofen saß, und dann sandten wir den Sanitäter hinein und standen draußen in Gruppen herum. Aber wir hörten die Braut nicht aufkreischen, wie wir es gefürchtet, und etwas später, als der Kompanieführer zum Verhör schritt, saß das Mädchen, oder die junge Frau, zwar bleich und mit geröteten Augen, aber still am Bett. Der Verwundete war ein großer, schlanker Bursche, mit frischem, offenem, intelligentem Gesicht, der Sohn eines der reichsten Bauern im Ort. Gefragt, sagte er, und es klang ein merkwürdiger Stolz aus seinem Wort, er sei Soldat gewesen und im Feld und habe bei den Elisabethern gedient. Und als wir ihn überrascht fragten, wie er zu den Insurgenten käme, sagte er, er sei Pole, aber er sprach deutsch besser als kongreßpolnisch, war nie in Polen drüben gewesen, er war gern Soldat, und sein Bruder war heimattreu, er aber sei Pole. Der Sanitäter, stud. med. im achten Semester, erbat sich Ruhe für den Verletzten, und wir zogen kopfschüttelnd und debattierend ab. Und dann kam der zweite Angriff. Wir wurden an jedem Tag zweimal angegriffen. Wir zogen Gräben um das Gehöft am Südrande des Dorfes und stellten Wachen aus und sandten Patrouillen weit herum. Am zweiten Tage fiel Toellner beim Gegenstoß auf die Mühle von Leschna, die in einem Waldgrunde lag, dicht an der Straße, und wir mußten für kurze Zeit zurück, und als wir wieder vorstießen, fanden wir den Leichnam entkleidet und verstümmelt. Und da beschlossen wir, daß der verwundete Bräutigam der
einzige Gefangene sein müsse, den wir am Leben ließen. Noch am Nachmittage fuhren wir einer polnischen Angriffskolonne überraschend in den Aufmarsch, zerschlugen sie und machten zwei Gefangene, Soldaten des regulären polnischen InfanterieRegiments 27, in polnischer Ausrüstung und mit französischen Gewehren. Hier hatten wir den Beweis, daß reguläre polnische Regimenter gegen uns fochten, und ich widersetzte mich heftig, daß diese lebenden Beweisstücke durch Erschießen ihres Wertes beraubt würden; doch wurde ich noch zwei Tage lang bezichtigt, humanitären Einflüssen nicht unzugänglich zu sein. Die Gefangenen wurden nach Sausenberg gesandt. Eine Lerche stieg vorn aus dem Kornfeld hoch. Dort mußten noch viele polnische Leichen liegen; am Tage, wenn die glühende Sonne dieses heißen Maimonats auf das Feld brannte, kamen schwere Dünste herüber. Niemand von uns hatte sich die Mühe gemacht, nachzusuchen; wir lagen tagsüber völlig entkleidet im glühheißen Sand und ließen uns von der Sonne braten, und als wir am Nachmittage angegriffen wurden, war nicht Zeit gewesen zum Ankleiden, und seltsam genug mochte der Anblick der nackten Männer gewesen sein, die in den Gräben standen und schössen, die dann zum Gegenstoße vorgingen, blanken Leibes, nur das Gewehr in der Hand, weiße, glänzende Jugend, nackt und wehrhaft in der gleißenden Sonne. Noch im Walde schimmerten die schlanken Körper durch die Stämme, und dieser unser Angriff war der tollste und beschwingteste, den ich je erlebt. —
Es war völlig Tag geworden. Der Tau glitzerte an den Halmen, und der weiße Sand war feucht. Aber nichts rührte sich in den Gräben. Da lag nun die Kompanie. Welcher Wind hatte uns zusammengeweht? Da lagen die Männer in den Erdlöchern, eng aneinandergepreßt. Da lag Lindig, der Schmiedegesell, und Busch, Oberleutnant zur See a. D. Sie bliesen sich ihren Atem gegenseitig ins Gesicht, und ihr Atem mischte sich; da lag Nawroth, oberschlesischer Bergarbeiter, und v. Unruh, Sohn eines willhelminischen Staatsministers; da lag Kenstier, siebenbürgischer Bauernsohn, und Bergson, baltischer Student. Aus allen Bereichen kamen wir und waren uns doch nicht fremd. Wir waren uns nah, wir waren immer uns nah gewesen. Und keine Dämme konnten bestehen; denn wir dienten alle demselben Gesetz, einem einzigen Gesetz. Und darum waren wir wahrhaft frei. Darum konnte uns nicht gelten, was bürgerlicher Wertung unterlag, darum gab es für uns keine Fragestellung der Vergangenheit und der Gegenwart, die unlösbar wäre. Und keinem von uns fiel es auch ein, den Lösungen nachzugrübeln. Einmalig war unser Geschick, und darum voll der höchsten Potenz. Glücklich waren wir, die im Reiche kaum einer verstand, glücklich waren wir in der Wirre, denn wir fühlten uns eins mit der Zeit. Glücklich waren wir unter der Last und glücklich im Schmerz; denn wir wußten, daß wir wert befunden wurden, so alle Elemente des Lebens in unseren Herzen zu erfahren. Wir wußten, daß es uns vergönnt war, entschiedener zu leben, und so zeigten sich uns auch die Verwandlungen des Lebens entschiedener an. Wir hatten teil an den tiefsten
Energien, die nun zum Durchbruch drängten, und fühlten uns durchbraust von ihren Wirbeln, und wurden so zum Tode mehr noch als zum Leben reif. Es knackte im Unterholz. Die Halme rauschten, verworren mischte sich Lärm in das Schwirren der Blätter. Ich hastete durch den Graben und keuchte in jedes Erdloch, und das alte Zauberwort der Front: «Sie kommen!» stieß die Schlafenden hoch, zerriß die Schleier der Träume, spannte die Nerven, füllte die Gräben. Wir hörten sie schreien. «Na pravo» — «Na lewo» — die Polen entwickelten im Walde die Linie zum Angriff. Sie schnatterten sich zu, sie mußten sich mit mutigen Worten das Zittern aus den Gliedern treiben. Dies Schnattern vor dem Angriff ist das Kennzeichen der Soldaten kleiner Völker. Die Esten, die Letten, die Litauer schnatterten so, diese Völker standen zu lange unter dem Druck, als daß sie schweigende Entschlossenheit kennen konnten. Der Kompanieführer eilte durch den Graben: «Keinen Schuß, bevor ich's befehle!» Das M. G. richtete ich auf die Senke ein, die den Weg im Walde aufnahm. Da brach es durch das Gebüsch am Waldrand. — Wir schossen. Warum ging es nicht weiter, warum mußten wir zurück, wer gab den verräterischen Befehl? Die Polen liefen doch, wo wir kamen? Wo wir marschierten, jubelten uns die Deutschen zu! Und nun zurück, zurück in die alten Quartiere um Konstadt, nun wieder warten und zweifeln und verdammt sein zu lähmender Unrast, und dies im rauschhaften Augenblicke des Siegs?
Heinz kam, wund, fiebernd, mit zerschossenem Arm, und erzählte uns. Von Neustadt aus hatte Korps Oberland, insgesamt eintausend Mann, in den ersten Stunden des 21. Mai 1921 den Angriff gegen den Annaberg vorgetragen, gegen die Schlüsselstellung der Insurgentenfront. Die Oberländer stürmten durch die Wälder, über die Senken, über die Hänge, in drei Gruppen, trafen überraschend den Polen, der den Angriff vom Süden erwartete, erstiegen im Feuer, das aus allen Büschen, aus allen Luken der Häuser zischte, die Höhen. Um 12 Uhr mittags war der Annaberg in deutscher Hand und über ein Viertel der Oberländer lebte nicht mehr. Und dann stießen die Bayern, die Tiroler, die Schlesier, die versprengten Kämpfer aller deutschen Stämme, in das Land hinein, hinein in die unübersichtlichen, verschwimmenden Wälder, hinein in fliehende, hastende, aufgelöste Kolonnen der Polen — und sie rissen den Sieg mit sich und verbreiterten den Keil, und in Hunderten von befreiten Orten läuteten die Glocken, wehten die deutschen Fahnen, und sie schnellten voran und das Land verschluckte sie. Denn hinter ihnen kam nichts. Als sie zur Besinnung kamen, waren sie allein. Allein und verloren standen sie im Land, kleine, verwegene Haufen, versteckt in Gehölzen, rastend in verlassenen Gehöften, schnaufend in Schlucht und Tal. Und vor ihnen bildete sich erneut die Insurgentenfront. Die deutsche Regierung aber sperrte die Grenze West von Oberschlesien. Die deutsche Regierung sandte im Augenblick des Sieges ihre Sipohundertschaften und drohte mit Gefängnis und hielt die an der
Oder, an der Linie lagernden Selbstschutzbataillone an. Und vorne wurde jeder Mann gebraucht. Vorne ging es um das Letzte, ging es darum, daß frische Kräfte die vorgeschnellten Trupps von Annaberg mit neuer Wucht erfüllten, um in einem Zuge durch die verwirrten, aufgestörten Insurgentenhaufen das Land zu fegen, die Städte zu befreien. Ein letzter Stoß, ein Stoß mit nicht nur ausgepumpten Gruppen, und das Land war frei. Und an der Grenze West harrten die Bataillone, tobten, grollten — sie durften nicht, sie konnten nicht. So, wie auf Befehl der Reichsregierung die Sipo Grenzwacht hielt, so hatten die Italiener nicht und nicht die Franzosen Grenzwacht gehalten. Die vom Annaberg aber wußten, daß sie verraten waren. Als Rosenberg sturmreif war, kam eine Abteilung Franzosen, marschierte an uns und den Roßbachern vorbei und besetzte die Stadt. Der Bürgermeister und die Ehrenjungfrauen empfingen festlich und mit hohen Worten preisend die «Befreier» — die Polen flüchteten ungehindert. Die Franzosen zogen eine neue Linie, schufen eine neutrale Zone, vier Kilometer breit, und in dieser Zone durften die Polen schweifen, und wir konnten erst dazwischenknallen, wenn wir uns durch die Postenketten der Poilus hindurchgeschlängelt hatten. Die Korfanty-Linie war durch unsere Aktion zerfetzt. Der ganze Norden der Provinz konnte von den Polen nicht gehalten werden. Bis zu den Kreisen Pleß und Rybnik im Süden war unsere Linie nicht vorgedrungen.
Dort war die polnische Herrschaft sanktioniert. In den Städten aber tobte der Kampf weiter. Durch die Städte, über denen der Kohlendunst hing und der Hunger und die Verzweiflung, strichen, abgerissen, gehetzt, verleugnet, die Gruppen. Kleine Trupps, die nicht der Zufall, die der Anruf der Nation zusammenwürfelte, die jungen Burschen, die der Teufel nicht vergaß und nicht der Tod, die Ekstatiker ihrer kargen, rußgeschwärzten Heimat kämpften hier, funkten durch das Dunkel von Schüssen zerrissener Nächte, immer bereit, immer auf dem Sprung, das Letzte zu wagen, krochen, vom Verrat umwittert, durch die engen Gänge der Gassen, schlichen zwischen Halden und Kühltürmen, verloren sich in den Schächten, kletterten über die Dächer, hockten an den Eingängen der Landstraßen und sicherten, von niemandem gekannt und von allen mißtraut, die Städte, verteidigten sie gegen die Insurgentenhaufen, die vor den Toren gierig lungerten, verteidigten sie gegen die IAK und französische Wachabteilungen, gegen polnische Apo und gegen die feigen Gelüste ruhesüchtiger Bürger, verräterischer Beamter, geschäftewitternder Bourgeoisie. Aber einer nach dem anderen von ihnen verschwand. Die Leute Hauensteins, die das heimliche Netz organisierten, bei den hohen Behörden als die Männer der Spezialpolizei bekannt, verzweifelten fast, wenn täglich die Nachrichten einliefen, wenn die kargen Berichte kamen, wenn sie erfuhren, erlebten, wie die Gruppen zusammenschmolzen, wie hier einer erschossen aufgefunden wurde, wie dort einer verröchelte unter den Kolbenhieben. Eine Armee von
Spitzeln umsurrte die Einsamen, die Gefängnisse verschluckten sie, an den Mauern spritzte ihr Blut — Bergerhoff sank und Krenek, den Nauenstein holten sie in letzter Sekunde aus dem Gefängnis, Schlageter hieb sich dreimal durch, Jörg schoß den Otto aus einem tobenden Insurgentenhaufen heraus, doch starb Otto am nächsten Tage, seine Gedärme waren zerfetzt. Die anderen aber, Eichler und Becker und Fahlbusch und Klapproth und wie sie alle hießen, die Letzten, die Versprengten, sie hielten stand. Die Städte, in denen die Gruppen zerrieben waren, in denen kein Mann mehr focht, wurden von den Franzosen den Polen überlassen. Die Städte, in denen hohläugig, fanatisch die Reste der Gruppen noch die verrieselnden Energien bannten, blieben von der IAK weiter besetzt, blieben von Insurgenten befreit. Und so zog sich die neue Linie, Sforza-Linie genannt, weil ausgetüftelt von dem italienischen Kommissar Sforza, quer durch das Kohlenrevier, quer durch die Provinz, festgelegt vom geheiligten Völkerbund, anerkannt von der Reichsregierung, knurrend ertragen von Korfanty und den Polen. Und es erwies sich, daß die Linie fast genau verlief wie jene, die die Front des deutschen Selbstschutzes nach dem Annabergsturm und nach der Roßbachaktion gebildet. Und es erwies sich, daß Beuthen, daß Gleiwitz, daß Hindenburg deutsch blieben, obgleich selbst Sforza die Städte für Polen in seine Linie einbezog, deutsch blieben, weil dort noch die bröckelnden Reste der deutschen Aktionsgruppen die Städte gehalten, gehalten trotz des Verrats, trotz der nagenden, vergeblichen Hoffnung auf deutschen Entsatz. Der
Selbstschutz hat zwei Drittel der Provinz für Deutschland gerettet, und das letzte Drittel konnte er nicht retten, denn eine deutsche Verordnung brach ihm das Kreuz. Denen, die Polen mit dem Weltgewissen drohten und uns mit Gefängnisstrafen, hatten wir einen Sieg wie eine kostbare Schale auf unseren opferbereiten Händen angetragen. Und sie ließen den Sieg fallen, und er zerschellte zu ihren Füßen. Indes in den Kneipen, in den Biersälen überall in Deutschland ungezählte Protestversammlungen Oberschlesiens Schicksal betrauerten, bargen wir, um zu retten, was noch zu retten war, wenigstens die Waffen, die wir geführt. Wir schmuggelten sie auf verschlungenen Wegen durch die Grenze West — denn die preußische Polizei belauerte unser Tun mit scheeleren Augen als die IAK. Wir vergruben sie in den Wäldern, gaben sie in die Hände der Heimattreuen, verfrachteten sie unter harmloser Deklarierung ins Reich, ins Ruhrgebiet, in die Provinzen, von denen wir schnüffelnd witterten, dort wurden sie gebraucht. Zwei Monate lang blieben wir noch in Oberschlesien. Freiwillige Landarbeiter, hieß es, seien wir, und tagsüber banden wir Garben, stakten sie auf schwankende Wagen, droschen und mähten. Des Nachts schmuggelten wir Waffen, sicherten die polnische Grenze. In der brütenden Hitze dieses dürren Sommers 1921 aber wuchs aus Blut, Wirre und Gefahr ein Gespenst. Von ihm erzählten sich tuschelnd die Menschen, die Ungläubigen lernten zu schweigen, die Verantwortlichen traten vorsichtig zurück. Aus wütendem Brodel
stieg es auf, gesättigt von der wüsten Ernte unserer Erfahrungen, und seine Parole tropfte wie glühendes Blei in die Herzen: Verräter verfallen der Feme!
O.C. Es begann in München. Dort wurde der Abgeordnete der Unabhängigen-Sozialdemokratischen Partei, Gareis, in der Nähe seiner Wohnung auf der Straße erschossen aufgefunden, nachdem er am Abend vorher Enthüllungen über das geheime Fortbestehen der Einwohnerwehren angekündigt hatte. Sein Tod erregte großes Aufsehen, doch gelang es nicht, den oder die Mörder dingfest zu machen. Wenige Wochen später ging der Abgeordnete Matthias Erzberger, Reichsminister a. D., mit seinem Fraktionskollegen Diehl am Fuße des Kniebis im badischen Schwarzwald, Nähe Griesbach, spazieren. Ihn überholten zwei junge Leute, die sich plötzlich wandten und den Abgeordneten fragten, ob er Erzberger sei. Auf die erstaunt bejahende Antwort zogen die jungen Leute Pistolen und schossen Erzberger nieder, indes der sofort und eilends flüchtende Abgeordnete Diehl einen Armschuß erhielt. Als Täter wurden ermittelt zwei ehemalige Seeoffiziere, frühere Angehörige der Brigade Ehrhardt.
Die Polizei, bemüht, mit einem bis dahin noch nicht gekannten Aufwand an kriminaltechnischen Mitteln, den geheimnisvollen Mord aufzuklären, fand Spuren, die nach München, nach Oberschlesien, nach Sachsen, nach Ungarn, nach dem Rheinland, nach Berlin, nach Frankfurt am Main führten. Es gelang ihrem unermüdlichen Eifer, zahllose Verhaftungen vorzunehmen, die sämtlich wieder rückgängig gemacht werden mußten. Es gelang ihrem Eifer ferner, die beiden Täter nicht zu verhaften. In einer Fülle von sachdienenden Zuschriften und Beobachtungen jeder Art offenbarte sich die Entrüstung weiter Volkskreise über die schändliche Tat. Die Polizei entdeckte ein Dokument, welches das Bestehen einer Geheimorganisation mit Namen O. C. zu beweisen schien. Eine der Statuten dieses Bundes lautete: Verräter verfallen der Feme. Nach Bekanntgabe dieses außerordentlichen Fundes wurde die Fülle der Zuschriften mager. Die Leute, die sich gewundert hatten, wie es möglich war, daß binnen weniger Tage in Oberschlesien plötzlich eine deutsche Armee stand, bewaffnet und kampfbereit, ohne daß die deutsche Öffentlichkeit auch nur den Schimmer einer Mobilmachung erblickte, wunderten sich nicht mehr, als sie von dem Bestehen einer Geheimorganisation erfuhren. Sie wunderten sich auch nicht, als langsam dunkle Kunde von Oberschlesien her ins Land drang, getuschelte Berichte kamen, seltsam im Zwielicht bleibende Andeutungen. Ihr Staunen wich vielmehr einem zum Schweigen verpflichtenden Schrecken. Denn das Walten der O. C. wurde bald fürchterlich offenbar.
Durch die Gassen schlich der Mord. Gift, Dolch, Pistole und Bombe schienen die Werkzeuge einer aus dem Dunkel der deutschen Wirrnis emportauchenden Schar kaltherziger Verbrecher. In den Städten krachten Detonationen. Männer, die weithin sichtbar standen, als Führer von den Massen geduldet und in der Tat ihrer wert, fielen im Feuer. Das Volk, ausgehungert, störrisch, verbittert, streikend, geriet in dumpfe Bewegung. In wütende Demonstrationen mitgerissen, protestierte das Volk gegen eine unfaßbare, deutliche Schatten vorauswerfende Gefahr. Jede einzelne Tat schlug ihre Kreise. Die Kreise aber schnitten sich, wuchsen ineinander. Bald konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß hier nach einem einheitlichen, düsteren Plan gehandelt wurde. Die O. C. begann anscheinend in voller Öffentlichkeit ihr verwerfliches Handwerk zu treiben. Die Erregung wuchs, mit ihr der Abscheu. Aber es wuchs auch zugleich eine unbegreifliche magnetische Kraft, die immer größere Teile des Volkes in den verbrecherischen Strudel sog, der sich unterhalb der Oberfläche gebildet hatte. Die allgemeingültige Vorstellung von der O. C. ließ überall ihren Einfluß wittern. Jedwedes Tun erzeugte die flirrende Luft, in der die Spiele der Phantasie Gestalt annahmen. Es war wie eine Pest, welche die friedlichen Bürger heimsuchte. Die Luft war geschwängert mit den Stickgerüchen der Katakomben. Es drang aus den Türritzen verschwiegener Hinterzimmer mit dem säuerlichen Hauch der Verschwörung. Der scharfe Wind messerkalter Zynismen fuhr selbst aus den Bezirken als legal und idealistisch bekannter Vereine. Bald fühlten sich ungezählte Liedertafeln als Organe
der geheimnisvollen Macht und spürten sich berufen und gebenedeit, Retter des Vaterlandes zu sein. Das ging mit husch und husch und pst und pst durch alle Kneipen, Keller, Kammern. Mehr noch, das Lied der Brigade Ehrhardt, die Melodie eines alten englischen Operettenschlagers, mit den abgehackten Sätzen des Soldatentextes, erscholl auf allen Gassen. Die Kinder sangen das Lied, vaterländische Verbände pflegten es auf ihren deutschen Abenden, in den Lokalen spielten es auf vielfachen Wunsch die Kapellen. Durch die Schauer des Geheimnisses, die den Bund und sein Tun umwitterten, wuchs um das Lied der kecke Trotz der Auflehnung. Der Männer waren Legion, die sich hohen Ruhmes befleißigten und dies zu beweisen suchten. Sie flüsterten das Zauberwort, «Befehl vom Chef», und niemand wagte, nachzuforschen, und die Gefolgschaft war gesichert. Wenn irgendwo im Volke die Geschichte einer Waffenschiebung, eines Bombenattentates, eines Mordanschlages ruchbar wurde, dann wußte man: O. C. Und es war seltsam und bedenklich zugleich, daß die brausende Entrüstung nur allzuoft und allzubald gemengt war mit einem heimlichen Vergnügen, die bange Furcht mit einem süßen Kitzel. Es gab Augenblicke, hervorgerufen durch gespenstische Kunde von der O. C., wo selbst dem genügsamsten und staatstreuesten Subalternbeamten die Begeisterung emporstieg wie der Schaum in dem vor ihm stehenden Bierglase. Wie eine gasgefüllte Wolke dehnte sich der ruchlose Geist des Geheimbundes aus. Bald schien es gar eine Ehre, ihm anzugehören. Viele brüsteten sich im
vertrauten Kreise, Mitglieder des Bundes zu sein, manche brüsteten sich sogar öffentlich. Es gab Männer, von denen die ganze Stadt wußte, daß sie führende Persönlichkeiten der O. C. waren, und die Verwunderung wechselte mit der Entrüstung, daß sie nicht schon längst ergriffen und ins Zuchthaus gesteckt waren. Die Angelegenheit wurde zu einem öffentlichen Skandal. Die schärfsten Verfügungen und Dekrete der Behörden, die strengsten Verfolgungen führten zu keinem Ergebnis. Alle staatserhaltenden Begriffe von Ehre, Moral, Sitte und Pflicht mußten bald ins Wanken geraten. Aber selbst bis in die höchsten Kreise drang das Gift. Diesem Treiben mußte ein Ende gemacht werden. Alle verantwortungsvollen Elemente begrüßten es mit Genugtuung, als die Polizei endlich in manchen offenkundigen Fällen zu Verhaftungen schritt. Aber hier zeigte sich erst die ganze Gefährlichkeit der O. C. Denn in keinem Falle gelang es, die Delinquenten zu einem Geständnis zu bringen, die Hintergründe der Verschwörung zu beleuchten. Sekundaner, die im Kreise ihrer Klassenkameraden den Ruf genossen, O. C.-Leute zu sein, ehrwürdige Majore und achtbare patriotische Vereinsvorstände, um die es gefährlich munkelte, beteuerten lebhaft, nichts mit der O. C. zu tun zu haben. Männer, die der Brigade Ehrhardt angehört hatten, mit ihren Kameraden in München und im Reiche noch mancherlei Verbindung pflogen, die offen von ihrem «Chef» sprachen, sagten vor der Polizei mit kalter Stirn aus, daß sie nicht einmal wüßten, was das sei: O.C. In den Polizeipräsidien, auf den Redaktionsschreibtischen sammelte sich das Material zu Bergen, immer wieder wurde die
Öffentlichkeit beunruhigt durch neue, aufregende Nachrichten, Tatbestände, Spuren, Verdächtigungen. In den Zeitungen las man, daß bald hier, bald dort unter geheimnisvollen Umständen eine Leiche aufgefunden sei, ein Mord geschah; und da nähere Anhaltspunkte über die Person des Mörders fehlten, mußte das Verbrechen mit der O. C. in Zusammenhang gebracht werden. Man las, daß in verschiedenen Orten des Reiches es gelungen sei, verdächtige Mitglieder verdächtiger Organisationen zu verhaften und die Organisationen aufzulösen; wahrscheinlich handele es sich hier um die O. C. Aber man gelangte zu keinem positiven Resultat. Was war das für eine gefährliche Macht, die, bei allem Lärm um sie, so sich in Schweigen zu hüllen verstand? Was war das für eine Macht, die in einzelnen, ganz wenigen und unergiebigen Fällen, in denen der eine oder der andere der Sistierten in der Bedrängnis zugegeben hatte, Mitglied der O. C. zu sein, so wirkte, daß der Betreffende nicht imstande war, anzugeben, wer seine Mitverschwörer seien, wer der Vorgesetzte, was die Ziele der Organisation? Das Gespenst der O. C. rasselte vernehmlich mit seinen unsichtbaren Knochen. Die Pest griff um sich. Die Republik stand unmittelbar in Gefahr. Überall tauchten Pläne auf, die Umsturz und Bürgerkrieg bezweckten, überall wurde geheimnisvoll gerüstet. Das Land geriet in Gärung; es gerieten die Vereine und Verbände in Fieber, die Behörden in Bestürzung. Von London, von Paris kam erst vertraulich, dann mit verhaltener Drohung die Frage, was ist es mit dieser O.C.? Die Beschwörungen in der Presse, die Anfragen
in den Parlamenten häuften sich. Aber die unterirdische Macht der O. C. wuchs und wuchs. Die schärfste Waffe in der Hand der O. C. aber und die ungeheuerlichste Gefahr, die aus ihr erwuchs, war die Tatsache, daß sie niemals bestand. «Primitive Naturen», sagte Kern, der es manchmal liebte, mit erhobenem Zeigefinger zu dozieren, «haben das Bedürfnis, den unbekannten Mächten, denen sie sich unterworfen fühlen, einen Teil ihres Schreckens zu nehmen, indem sie ihnen einen Namen geben. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Verwandlung der Religiosität in Religion auf dieses menschliche Bedürfnis zurückzuführen ist. Das Wort bannt. Der Gott, den ich mit Namen anrufe, dem ich Altäre baue, dessen Bild ich mir schnitzen kann, um es anzubeten, verliert den besten Teil seiner Dämonie, wird aus einem Gott der Rache ein Gott des Gesetzes. Der Teufel, in sein Reich, die Hölle, verwiesen, ausgestattet mit Pferdefuß, Schwefelgestank und Großmutter, wird ein Dämon zum Hausgebrauch. Der Blitz ist lange nicht mehr so entsetzlich, seitdem man weiß, er ist nichts weiter als ein elektrischer Funke, den in verkleinertem Maßstabe jedermann erzeugen kann. Seitdem man schlicht und tapfer sagen kann: Wilhelm von Hohenzollern, statt Seine Majestät, hat der Kaiser den erhebenden Nimbus des Gottesgnadentumes, das zu begreifen freilich nicht jedermanns Sache war und das darum bis zuletzt seine gewaltige Kraft erhielt, gar sichtbarlich verloren. Das Unbegreifliche, das jetzt und heute geschieht, wird bekömmlich und wohlanständig, wenn man es nur richtig einzuordnen weiß. Da sind die Weisen von Zion zum Beispiel, die Weltverschwörung
des Judentumes, der Freimaurerei, der Jesuiten, kurz, die überstaatlichen Mächte — wie einfach ist die Welt, die man begreift! Und so scheint mir auch, wenn der Begriff der O. C. nicht schon da wäre, müßte er erfunden werden. Man bedenke: Ein Geheimbund von Männern, die bereit sind, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen, unverbrüchlich untereinander und nach oben verbunden durch Schweigepflicht und unbedingten Gehorsam, mit Todesandrohung für die Verräter, ein Bund mit solch rätselhaften Statuten, eine Verschwörung mit Ortsgruppen, Vorsitzendem und Kassenwart — und immerzu geheim: vorzüglich! Ist nicht die Gefahr, da man sie kennt, schon halb gewendet?» Kern sagte: «Es ist wohl so, daß das Leben selbst sich zum Durchbruch anschickt, eindringt in den legitimen Raum. Die braven Leute, die das Walten urgezeugter Energien spüren, glauben ihnen zu dienen, wenn sie diese zu materialisieren gedenken. Sie stehen im Banne neuer Bilder, die sie erschreckt als ewig erkennen müssen. Das Anonyme spüren sie und wollen es berechnen, wollen drum herum. Aber man muß eben hindurch. Im Grunde verteidigen die braven Leute nur die Ordnung, keine sittlichen Prinzipien. Wie denn auch, wo sind die absoluten Werte, die verteidigt werden müßten? Das schlechte Gewissen sucht die Kraft zu bannen, die es bedroht. Es schafft sich einen Popanz, den es anstinken kann, und glaubt, so sei die Sicherheit gewahrt. Und die auf der andern Seite, die für die O. C. optieren, was tun sie anders, als eine Rückversicherung suchen? Wenn ich einem begegne, der sagt, er sei O. C, dann weiß ich, er ist entweder
Nair oder Hochstapler oder Kriminalbeamter. Es ist nützlich, dies zu wissen. Es ist nützlich, wenn der Gegner dem Schein der Dinge verfällt und so deren Wesen verkennt. Es ist nützlich, durch kühle Skepsis zu verhüten, daß man selber das Leben mit einer seiner Formen verwechselt. Die Suggestion ist groß. Sie schafft den Schleier, hinter dem gut arbeiten ist für unsereins. Wir müssen jenes Dokument begrüßen, jenes barbarische Dokument, das nun durch die gütige Mitwirkung unserer tüchtigen, aber in bezug auf ihre intellektuellen Fähigkeiten leider etwas vernachlässigten Polizei der Anlaß wurde, die Verschwörungspsychose ins Un-gemessene zu steigern. Der Mann übrigens, der dies interessante Schriftstück entwarf und der Polizei in die Hände spielte, ist sehr nah verwandt und verschwägert mit mir. Böse Zungen behaupten, er habe eine Schwäche für praktische Philosophie.» Dies sagte Kern behaglich, auf einem kleinen Geldschrank in meiner Wechselstube sitzend, mehr zu Heinz, der an die niedere Tür gelehnt stand, als zu mir, der ich am Schalter einen Pack schmutziger Geldscheine zählte. Denn seit ich aus Oberschlesien zurückgekehrt war, saß ich in einem kleinen hölzernen Kiosk mitten in der Bahnhofshalle und schlug für eine Berliner Bankfirma Vorteil aus der beginnenden Inflation. Außer einem schmalen Tisch, einem Stuhl, dem Telephon, der Devisenmappe und dem Geldschrank war nichts in dem Räume, und es hätte auch nichts mehr in ihn hineingepaßt. Als Kern seine dunkle Rede beendet hatte, bat ich ihn, er möchte doch, wenn ich wegen eines Kunden telephonieren müßte, unauffällig
mit einem Finger die Taste des Apparates niederdrücken. Und schon kam ein Kunde und wollte Dollars gewechselt haben. Eilfertig versprach ich ihm, den neuesten Kurs einzuholen, und hob den Hörer ab. In den tauben Apparat hinein verlangte ich die Devisenabteilung und bat um den letzten Kurs. Geld oder Brief? fragte ich, zwoundachtzig, danke, sagte ich, hängte ein und zahlte dem Beglückten weit unter Kurs. «Aber das ist ja Betrug!» staunte Kern fassungslos und Heinz grinste. In der Tat, das sei Betrug, versicherte ich ihm, alles, was ich in diesem famosen Kiosk triebe, sei Betrug, ein Betrug nach Anweisung, ein right honourable Betrug, ein Betrug, der die Seele dieses Geschäftes ist. Und ich erzählte ihm von den erbaulichen kleinen Kniffen, von dem System kleiner Schweinereien, als da sind, größere Geschäfte in die Bücher als eine Anzahl kleinere einzutragen, weil ein Umsatz über dreitausend Mark versteuert werden muß, nichtsdestotrotz aber den Kunden die Steuer zahlen zu lassen und sie dann für die Firma einzusäckeln; ein Ring der Wechselstuben zur offiziellen Niederhaltung der Kurse bei Käufen und zu intensivem Hochschrauben bei Verkäufen; und was dergleichen Dinge mehr sind. «Man muß», sagte ich zu Kern, «auch das können. Wir haben noch viel zu lernen, bevor wir reif sind, den Kampf mit den verheerenden Gewalten der Zivilisation aufzunehmen. Du hast», sagte ich unvermittelt, «mir vorhin erzählt, die Mainzer klagten, sie seien in ihrer Aktionsfreiheit behindert durch den Mangel an Geld», und schob ihm ein Bündel Scheine zu. Er fuhr zurück
und sagte scharf: «Wenn andere Leute Lumpen sind, dünkt mich, sollte dies für dich keine Veranlassung sein, auch einer zu werden.» «Es steht zu vermuten», sagte ich und zahlte einem Polen mit schwarzen Fingernägeln die Summe aus, «daß du von bürgerlichen Sentiments noch immer angekränkelt bist. Es steht zu vermuten», und kassierte von einem vornehm schweigenden Engländer die weiße, wie Puderpapier anzufühlende 10 Pfundnote, «daß selbst, wenn hier alles sauber wäre, die Tatsache der Aktionsunfähigkeit der Mainzer wegen Geldmangels Veranlassung genug für mich ist» — und prallte etwas zurück vor der Parfümwolke einer nicht mehr jungen Französin, die gierig die Scheine zählte, «sowohl auf den Profit meiner hochangesehenen Bankfirma», und beschummelte einen mißtrauischen Dänen doch um mindestens 10 Prozent, «als auch auf die Reinheit der sittlichen Prinzipien meiner unbehüteten neunzehn Jahre keine Rücksicht zu nehmen», und zahlte einer kleinen Dame von der nächtlichen Kaiserstraße für ihren holländischen Gulden den einzigen anständigen Kurs des Tages aus. «Es steht zu vermuten», sagte Heinz, «daß man bestimmte Dinge nur in geschraubtem Deutsch sagen kann.» «Ich kann das Geld nicht nehmen», blieb Kern störrisch. «Wenn ich dies Geld nicht durch Spekulation, sondern durch Betrug gewonnen hätte», sagte ich beleidigt, «dann sei versichert, hätte ich keinerlei Andeutungen gemacht, die dich zu beängstigenden Schlüssen zu veranlassen geeignet wären.»
«Die Verwirrung der Gefühle», sagte Heinz, «scheint mir das erfolgreichste Kampfmittel der O. C. zu sein.» Mein Kiosk wurde bald das Finanzierungsinstitut für die Rheinlandaktionen. Selbst Heinz mußte sich entschließen, zu arbeiten, um sein Teil für die Sicherstellung der für unsere Tätigkeit im besetzten Gebiet unabänderlich notwendigen Summen beizutragen. Es gelang uns, in gewagten Spekulationen einen zwar nicht unerschöpflichen, doch für unseren bescheidenen Bedarf ersprießlichen Fonds zu schaffen. Denn seit Oberschlesien gab es viel zu tun. In Oberschlesien, dem Orte der Generalversammlung der Aktivisten Deutschlands, ergab es sich von selbst, daß die Männer, die in allen Landesteilen wie Sprengpulver wirkten, nunmehr voneinander erfuhren und so in der Lage waren, den einzelnen Aktionen durch Zusammenspielen stärkere Wucht und größere Bedeutung zu verleihen. In den folgenden Monaten entstand ein zähes, unsichtbares, federndes Netz, dessen einzelne Maschen sofort reagierten, wenn an irgendeiner Stelle das Signal gegeben wurde. Das geschah ohne jede nur denkbare Bindung durch eine Organisation, ohne Plan und Auftrag, einzig durch das Wirken einer spontanen und selbstverständlichen Solidarität. In allen Bünden hockten die Männer, in allen Lagern, allen Berufen. Sie warfen sich die Bälle zu, informierten sich, warnten einander, gaben brauchbare Tips und handelten in der rauschhaften Erfahrung, daß bald an hundert verschiedenen Orten gleichzeitig und unabhängig voneinander dieselben
Gedanken und Ideen aufsprangen, dieselben Berufungen, dieselben Zielsetzungen, daß dieselbe Situation überall gegeben war und dieselben Handlungen zeugte. So erwuchs für sie eine große und einheitliche Willensrichtung. Um sie schlang sich ein Band, das fester war, als es Treueschwüre und Organisationsstatuten sein könnten, sie fesselte der gleiche Rhythmus, der in ihren Adern schlug. Es erwies sich, daß eine Reihe von neuen Geboten, von ihnen allen mit der gleichen elementaren Sicherheit anerkannt, sie in die gleiche Linie zwang. Sie hielten sich wie Menschen von einer Rasse, sie spürten die gleichen Wehen in sich und die gleichen Ströme. In ihnen sprangen die gleichen Zweifel auf. Sie waren Apodiktiker des Zweifels, bereit, jeden Ballast auf ihren suchenden Wegen von sich zu werfen, beglückt, da sie erkannten, daß der gleiche Drang in allen ihrer Art sie in die gleichen Konflikte warf und ihre gleiche Lösung finden ließ. Die Männer, immer noch in ihren Bereichen Vereinzelte, tauchten unter in die Masse der Namenlosen und stießen wieder empor, getrieben von unfaßbaren Kräften, sie zogen einen bebenden Kreis der Unruhe um sich herum, immer bereit, zögernde Gewalten durch tollen Ansprang zum Ausbruch zu treiben, immer tätig, aufsteigende Forderungen zu überhitzen und zu durchglühen, immer gewillt, bis zur letzten Schärfe der Fragestellung vorzudringen. Es gab kein Feld, das sie nicht zu durchschreiten wagten, kein Bündnis, dem sie auswichen. Es erstarkte in ihnen die Gewißheit, daß die Gesetze eines Staates anerkennen den Staat selber anerkennen hieß. Es blitzte ihnen die Erkenntnis auf,
daß ein neues Wollen neue Gesetze verlangte, Gesetze, die sich in den rastlos arbeitenden Hirnen der einsamen Kämpfer formulierten und ihnen eine ungeheuerliche Verantwortung aufbürdeten, die nur der zu tragen vermochte, der gerüstet war, sich ohne Vorbehalt hinzugeben. Sie zwangen sich zu der unerbittlichen Folgerung, daß es nicht genügen konnte, wenn schon von Opfern die Rede sein sollte, das Leben zu opfern, sondern das, was ihnen höher stand als das Leben: Ehre und Gewissen. So entfremdeten sie sich der Welt, die sie als verrottet, als breiig verschwommen, als unsagbar unwahrscheinlich empfanden, trotzdem diese Welt ihnen täglich von der zerrenden Gewalt ihres Daseins Beweis erbrachte. So handelten sie, dynamische Menschen in dynamischer Zeit, die nur mit dynamischen Maßen gemessen werden konnten, auf einer Ebene, die der Umwelt gespenstisch und bedrohlich erscheinen mußte. So wurden sie aus Fremden Geächtete, aus Begehrten Gemiedene, aus Handelnden Verbrecher. Und sie wußten das, und sie waren nicht geneigt, es zu betrauern. Eine Aktion zog die andere nach sich. Mit unheimlicher Folgerichtigkeit sprudelte der Strom den Fällen zu, uns mit sich reißend. Wir lebten doppelt. Was wir tagsüber in gehaßter Fron an materiellen Ergebnissen erlangten, ermöglichte uns die Tätigkeit der Nächte und der freien Stunden. Wir schnellten im hitzigen Atem der Tat von einer Spannung zur anderen. Voneinander erfuhren wir in hastigen Begegnungen, die alle einem ständig wechselnden Zwecke dienten. Gabriel erstickte mit den geduckten Gruppen seiner
Gesammelten mühsam die ersten Zuckungen der Separatistenbewegung in der Pfalz durch nackten, blutigen Terror, ohne freilich den von Paris wohlgespeisten Apparat zerstören zu können. Die Elberfelder, bespitzelt von den mißtrauischen Kommunisten, von Separatisten und Franzosen gleichermaßen wie von den deutschen Behörden, wachsam unter der steten, unmittelbaren, seit Jahren wie eine Wolke hängenden Drohung einer französischen Besetzung des Ruhrgebietes, arbeiteten an den Fundamenten eines unerbittlichen Widerstandes, unterstützt von Schlageter und seinen Aktivisten, die ihre Basis von Oberschlesien nach den verrußten Städten des Industriebezirkes an der Ruhr verlegt hatten. In der Grenzmark, in den östlichen Provinzen, in Brandenburg baute Schulz die getarnte Landesverteidigung, die schwarze Reichswehr auf. In München die Männer, in zermürbendem Kampf mit den Unzulänglichkeiten sentimentsberauschter Patrioten, fühlten mit spitzen Fingern vor in die Bezirke der niederen, der hohen, der ganz hohen Politik, ohne einen anderen Eindruck zu gewinnen als den des unaussprechlichsten Ekels, fanden noch Zeit, den französisch inspirierten Machenschaften der bayrischen Separatisten ein zielgenaues Ende zu bereiten, tasteten nach Österreich hinüber, bohrten in Ungarn und der Türkei, speisten die Quellen des südtirolischen Widerstandes. Von Kern erfuhren wir, war er, wie so oft, im Reiche unterwegs, die Etappen seiner Straße durch die Berichte, die uns von allen Seiten zugingen, Berichte über eine Waffenschiebung in Ostpreußen, über eine Irreführung der Polizei, die nach den Erzberger-Mördern fahndete, über die Indienstnahme
von sechstausend Dithmarscher Bauern, über den wilden Fang eines Separatistenführers in der Nähe von Köln, über die Organisierung sudetendeutscher Aktivisten, über etwas gewaltsame Gespräche mit Reichswehrgruppenkommandeuren, über Gefangenenbefreiungen im besetzten Gebiet. Kern wurde so in kurzer Zeit einer der führenden Aktivisten. Sollte in Danzig eine Waffenschiebung steigen oder in Hamburg ein Sprengstoff-Attentat, dann rief man ihn als Leiter. Bald wob sich um ihn ein Legendenkranz. Er, immer mindestens drei neue Pläne im Kopf und einen zur Ausführung fertig in der Tasche, beständig unterwegs, überall frischen Wind mit sich reißend, glühte von einem inneren Brand, dessen Flammen in seiner Nähe keine Lauheit duldeten. Rücksichtslos in seinen Forderungen gegen andere, weil ebenso rücksichtslos gegen sich selbst, übte dieser mittelgroße, breite Mann mit den offenen Zügen und dunklen Augen, dem man Willens- und Körperkraft sofort ansah, einen zwingenden, suggestiven Einfluß aus, den er nur in solchen Fällen mißbrauchte, in denen der Preis des Einsatzes höher stand als dessen Wert oder in denen die Akteure sich als minderrangig erwiesen. Die Unbedingtheit seines Wesens zwang sein Denken zu überraschenden Resultaten. So war er, begabt mit einem ausgesprochenen Sinn für Rang und Wesen, immer bereit, jeden Gefühlswert leiden.schaftlich zu verteidigen, so lange, bis er dessen innere Unwahrhaftigkeit erkannte, um ihn dann kurzentschlossen über Bord zu werfen. Nichts gab ihm mehr Elan als die Ahnung seines frühen Todes.
In der Stadt aber erhielt unterdes die Gruppe Glanz und Ansehen. Jedes Wochenende sah uns in Mainz oder im Taunusgebiet oder in den Brückenköpfen. Die Zahl der in den Listen der Besatzungsarmee im Rheinland als Deserteure Gemeldeten wuchs in einem Maß, welches die Nachrichtenstelle in Mainz veranlaßte, noch mehr als bisher ihr Augenmerk auf uns zu richten. Bald tauchten die Spitzel selbst in unseren geheimsten Schlupfwinkeln auf und gaben sich als treudeutsche Männer, was sie von vornherein verdächtig machte. Bald wandte sich an uns, wer immer eine Blutrache zu erfüllen hatte drüben, wer Hilfe brauchte zu geheimem Tun, wer Dinge wußte, die von den deutschen Behörden achselzuckend nicht verfolgt werden konnten. Bald wandten sich an uns Behörden selbst. Wir trieben manchen vorbedachten Keil zwischen Dienststelle und Dienststelle, zwischen Ressort und Ressort, zwischen Amt und Amt. Bald waren wir Fangball und bald dirigierten wir selber das Spiel. In München aber saß zu dieser Zeit ein stattlicher Herr mittleren Alters als Prokurist einer optischen Firma und bastelte an der Erfindung eines Kinderspielzeuges. Polizeilich gemeldet war der Herr als Konsul Eichwald. Die O. schien ihren C. zu haben. Und sie war genau so echt wie dieser Name und dieser Titel. Längst schon kümmerte uns nicht, was offiziell geschah, gingen uns nichts die Sorgen der Gewählten und der Wähler an. Die Beratungen der Parlamente, die Verordnungen der Minister, die Konferenzen der Mächte konnten trotz des lautesten Geplätschers ihre
Kreise nicht bis zu uns gelangen lassen. Denn wir standen unter der Oberfläche, und nichts vermochte, was von oben kam, die Gewässer bis zum Grunde aufzuwühlen. Was wir als Politik erkannten, das war schicksalsmäßig bedingt. Jenseits unserer Welt aber war Politik interessenmäßig bedingt. Und wenn wir auch kühn in jene geheimnisvollen Bereiche griffen, in denen das Leben seinen Durchbruch am schärfsten akzentuiert, weil wir entschlossen waren, keiner Belastung auszuweichen, uns um keine Notwendigkeit herumzudrücken, weil wir die Erscheinungen angingen, wie sie sich uns boten auf dem Wege zu uns selbst, so erkannten wir doch, daß keinerlei Verständigung möglich war auf irgendeinem Gebiete zwischen jener Welt und unserer. Und wir suchten darum eine Verständigung nicht. So konnten wir auch nicht antworten auf die Frage, die so oft vom jenseitigen Rande der Schlucht zu uns herüberschallte, auf die Frage: Was wollt ihr eigentlich? Wir konnten nicht antworten, denn wir verstanden die Frage nicht, und jene hätten die Antwort nicht verstanden. Die Kontrahenten rangen nicht um denselben Preis. Denn drüben ging es um Besitz und Bestand, uns aber ging es um Läuterung. Uns ging es ja nicht um System und Ordnungen, um Parolen und Programme. Wir wirkten ja nicht nach Plan und festumrissenem Ziel. Wir wirkten nicht, es wirkte in uns. Und so schien uns die Frage dumm und platt. Die Frage schien uns nicht tiefer ritzend als gerade die Oberfläche unseres Seins. Unsere Verheißung sprach
stumm zu uns. Und iast fürchteten wir, sie könne zu tönen beginnen, bevor unsere Sendung erfüllet war. Denn das Reich lag offen wie ein umgebrochener Acker; jedweden Samen aufzunehmen war es bereit. Der Samen aber, der allein aufgehen durfte, dies war unser fester Wille, durfte einzig die Frucht unserer Träume sein. Noch war keinerlei Gestaltung da und jede möglich. Wie eine stagnierende, überkältete Flüssigkeit war das Reich, in die nur ein einziges Tröpfchen zu fallen braucht, damit sie gefriert mit einem knisternden Schlage. Dies Tröpfchen mußte unsere Essenz enthalten, oder unser Schicksal war ohne Sinn. Und wir blickten uns um, wer der Mann sein könnte, der vor uns das Wort zu sprechen imstande war. Längst wußten wir, daß Männer entscheiden, nicht Maßnahmen. Aber wo wir uns auch unter den Männern der neuen deutschen Oberschicht umschauten nach dem einen Mann, konnten wir nur spöttisch mustern und weiterblicken. Wo war da ein Mann von geschichtlicher Substanz, einer, der mehr war als eine Tagesgröße, außer dem einen schweigenden Seeckt? Der besonnene Ebert etwa, oder der pausbäckige Scheidemann? Der bescheidene Hermann Müller, der ehrwürdige Fehrenbach, der kreuzbrave Wirth? Oder Rathenau — Rathenau? Rathenau sprach im Volksbildungsheim. Es gelang Kern und mir nicht, im überfüllten Saale einen anderen Platz zu erhalten als einen Stehplatz an einer Säule, drei Meter vom Rednerpult entfernt. Aus der Menge der schwarzberockten Herren, die den Vorstandstisch
umlagerten, sonderte sich der Minister durch die Noblesse seiner Erscheinung sofort heraus. Als er ans Pult trat, als über dem blanken Holz der schmale, edle Schädel mit der zwingend aufgebauten Stirn erschien, erstarb das geschäftige Gemurmel der Versammlung, und er stand sekundenlang im Schweigen, unendlich gepflegt, mit dunklen, klugen Augen und einer leichten Lässigkeit der Haltung. Dann begann er zu sprechen. Was mich überraschte, war nicht der Ton der Stimme, er war ebenso, wie ich ihn mir beim Lesen der Schriften Rathenaus vorgestellt, kühl und warm zugleich. Was mich überraschte, war das Pathos, mit dem die ersten Sätze der Rede erfüllt waren, und war die Unmöglichkeit, zu zweifeln, daß dies Pathos echt war. «Schmerzgebannt», sagte der Minister, «stehen wir vor der Entwirrung des oberschlesischen Dramas...» Und er sprach diese ersten Worte leise aus, sehr eindringlich, und ließ die tiefe Trauer spüren, die ihn bannte. Das Objekt dieser Trauer aber war die Verletzung des Prinzipes der Gerechtigkeit. Der erste volle Akkord beherrschte das ganze Thema der Rede. Und dies Thema war die Rechtfertigung der Erfüllungspolitik. Der Minister machte es sich nicht leicht, er sprach wie einer, der aus dem Verantwortungsgefühl seines Dienstwillens heraus um Bewußtheit rang und nun die Ergebnisse der gewissenhaften Untersuchung, die unter dem Leitstern eines als absolut erkannten Ideales stand, zögernd fast vor die profanen Augen breitete. Und doch mußte ihm die Schlüssigkeit seiner Beweisführung Sicherheit verleihn. Eine Sicherheit, die ihn nicht scheuen ließ, zur Stützung seiner These jene historische Proklamation als
Vergleich heranzuziehen, die im Jahre 1871 vor der französischen Nationalversammlung in Bordeaux gesprochen wurde, mit der sich die elsaß-lothringischen Abgeordneten von Frankreich verabschiedeten und die mit den gegen das siegreiche Deutschland gerichteten Worten begann: «Aller Gerechtigkeit zum Hohn ...» Unter diesem Aspekt aber, nämlich der Voraussetzung, daß es eine Gerechtigkeit gäbe, daß dieser Begriff keine Fiktion wäre, oder als Forderung nicht unsittlich, unter diesem Aspekt freilich war alles, was der Minister sagte, folgerichtig und geschlossen. Dieser Mann schien erfüllt von einem Ethos, das nicht neu war, neu nur als beherrschendes Motiv im Herzen eines Staatsmannes, und es gab sicherlich, auf die deutsche Politik angewandt, dieser auf einmal, was sie so lange entbehrte: Fülle und Richtung und Sinn. Denn die Gerechtigkeit, als absoluter Wert betrachtet, verlangt die absolute Gleichheit aller Ordnungen. Damit wir, besiegt, beschuldigt und verdächtigt, zu dieser Gleichheit zugelassen werden, bedürfen wir des Vertrauens. Dies Vertrauen zu erlangen, müssen wir erfüllen. Durch die Erfüllung offenbart sich unser guter Wille und das Maß seiner Kraft. Nach dem Maße dieser Kraft gewährt uns dann Gerechtigkeit die Freiheit. Hier fehlt kein Strich. Hier ragt der Zipfel einer deutschen Sendung wieder über die Erde. Hier knüpft sich die zerrissene Bindung wieder, fügt sich die Deutschheit in das System der geheiligten Grundsätze der zivilisierten Welt, in die Demokratie, ihr durch Opfer, Sühne und Glauben erneut die Würde gebend. Der Minister trug seine Rede wie eine Botschaft zu den Bürgern, die aufmerksam und angenehm gefesselt
lauschten. Er war hingegeben seinen eigenen Worten, er sprach geschliffen, mit einer kleinen Freude an den eigenen Gedanken. Er redete, sich seines Wertes wohl bewußt und angeregt von der Welle warmen Verständnisses, die ihm aus dem Saale entgegenschlug. Nirgends freilich konnte auch der Zauber dieses Mannes so wirken wie in dieser Stadt. Denn die Bürger dieser Stadt waren stolz auf den Geist, der in ihren Mauern waltete, der verkörpert war in den beiden großen Namen, die ewig mit dem Namen der Stadt verbunden sind. Rathenau aber trug um sich einen Hauch von dem, was diese beiden Namen großgemacht. Er selber hatte einmal angedeutet, was in ihm Wirklichkeit zu werden schien, als er sagte, zum Staatsmanne gehöre die Mischung zweier Polaritäten: er muß wie Napoleon und Bismarck halb Römer, halb Levantiner, halb Baidur, halb Loki sein. Die Mischung zweier Polaritäten war auch das Geheimnis seines Wesens; in ihm verschmolz, was den Bürgern dieser Stadt — manchmal zweifelnd, wem der Vorrang denn gebühre — als charakteristisch schien an den beiden Großen ihrer Heimat: Goethe und Rothschild. Und indes ich so, zwar streng der Rede lauschend, den Arabesken meiner Gedanken folgte, die sich um den Mann dort oben auf dem Rednerpult verschlungen zogen, ward mir plötzlich klar, nach welcher Seite seine Objektivität sich rang, und auch, von welcher Seite sie ihren Ausgang nahm. Daß unser Denken polar sei, hatte dieser Mann gesagt, und hatte Mut und Furcht als die gegensätzlichen Urelemente aufzuzeigen sich bemüht. Aber was er in seiner Verkündung scheu zu verschleiern suchte, das trat ans Licht im Tone seiner
Stimme, in der Gebärde seiner Hand, im Suchen seiner Augen; das nämlich, wem seine Liebe gehörte. Sie gehörte dem Furchtmenschen. Und dies begreifend, zog ich unwillkürlich den Blick von diesem Manne und wandte mich zu Kern. Der stand, die Arme vor der Brust verschlungen, fast unbeweglich, an der Säule neben mir. Und da geschah das Unbegreifliche. Es geschah, während der Minister sprach von Führertum und Vertrauen, während seine Stimme sich bohrte in den totenstillen Raum, in den Dunst welterfahrener Behäbigkeit, der über der Versammlung lag. Sicherlich, es kann nicht anders sein, schlug jene eine tödliche Sekunde in jedes Herz. Es muß wie ein Pochen gewesen sein, zwei Pulsschläge lang, ein Pochen in jeder Brust, beklemmend, jäh, aufreißend ein Tor zum Tode, von einem Blitzschlag erhellt, und schon vorbei. Vorbei, wie weggewischt, unwirklich nun und doch geschehen. Ich sah, wie Kern, halb vorgebeugt, nicht ganz drei Schritt von Rathenau entfernt, ihn in den Bannkreis seiner Augen zwang. Ich sah in seinen dunklen Augen metallisch grünen Schein, ich sah die Bleiche seiner Stirn, die Starre seiner Kraft, ich sah den Raum sich schnell verflüchtigen, daß nichts mehr blieb von ihm als dieser eine arme Kreis und in dem Kreis zwei Menschen nur. Der Minister aber wandte sich zögernd, sah flüchtig erst, verwirrt sodann nach jener Säule, stockte, suchte mühsam, fand sich dann und wischte fahrig mit der Hand sich von der Stirn, was ihm angeflogen war. Doch sprach er nun fortan zu Kern allein. Beschwörend fast, so richtete er seine Worte zu dem Mann an jener Säule und wurde langsam müde, als der die Haltung
nicht veränderte. Das Ende seiner Rede hörte ich nur unverstehend. Als wir uns durch den Ausgang drängten, gelangte Kern bis dicht vor den Minister. Rathenau, von geschwätzigen Herren umringt, sah ihn fragend an. Doch Kern schob sich zögernd an ihm vorbei, und sein Gesicht schien augenlos.
Aktion Im Oktober des Jahres 1917 sichtete U 27, Kommandant Kapitänleutnant Patzig, im Ärmelkanal den englischen Dampfer «Landowry Castle». Das Schiff war als Lazarettschiff kenntlich gemacht. Doch Kapitänleutnant Patzig glaubte Geschützaufbauten zu erkennen und, denkend an den Fall Baralong, befahl er, den Dampfer zu versenken. Dies geschah. Von einer späteren Ausfahrt kehrte Kapitänleutnant Patzig nicht zurück. Gegen keine ihm in den Waffenstillstands- und Friedensverträgen aufgebürdeten Bedingungen hatte das deutsche Volk so eindringlich protestiert wie gegen die Auslieferung der sogenannten Kriegsverbrecher. Jedermann wird sich noch entsinnen jenes Sturmes der Entrüstung, des einzigen der vielen Stürme, der keinen inferioren Charakter trug, welcher damals Deutschland sozusagen durchbrauste. Es schien der Entente
gefährlich, den Bogen zu überspannen, und, da der Bogen ja in der Tat schon genügend straff gespannt war, und die Gefahr, einen Präzedenzfall zu liefern, bei der bekannten deutschen Mentalität nicht gefürchtet zu werden brauchte, so war sie geneigt, in diesem Punkte nachzugeben. Niemand hatte allerdings erwartet, daß das deutsche Volk einmütig und entschlossen aufstand gerade gegen diese Bestimmung des Vertrages, den die Deutschen einen Schandvertrag nannten, nicht bedenkend, daß den die Schande trifft, der sie durch Unterschrift und Siegel anerkennt. Doch, nichtswürdig, glaubten in Deutschland die Leute damals, sei die Nation, die nicht ihr Alles freudig setze an ihre Ehre. Die deutsche Regierung aber, erwägend, daß man Ehre nicht essen kann, ließ sich zu Verhandlungen herbei und feierte es als einen Erfolg, als die Alliierten sich dazu herbeiließen, die Bestrafung der deutschen Kriegsverbrecher dem deutschen Reichsgericht zu überlassen. Auf der englischen Liste der Kriegsverbrecher aber stand auch der Name des Kapitänleutnants Patzig. Da Patzig gefallen war, glaubte die deutsche Reichsregierung ein übriges tun zu müssen und forderte die beiden Wachoffiziere des U-Bootes vor Gericht, die Oberleutnants z. S. Boldt und Dittmar, deren Namen nicht auf der Liste standen. Der Oberreichsanwalt Ebermayer glaubte es der Würde des Reichsgerichts, des höchsten deutschen Gerichts, über den ganzen Erdball hin bekannt als die unerschütterliche Wahrerin der heiligsten Rechtsgüter, schuldig zu sein, durch eine besondere Demonstration auch nach außen hin zu zeigen, als was er die beiden Offiziere im Auftrage der
Entente und der Reichsregierung anzusehen geneigt war, und ordnete ihre Fesselung an. Die englischen Offiziere, die zur Beobachtung des Verfahrens nach Leipzig gesandt wurden, quittierten diese weltmännische Courtoisie mit unbewegten Mienen. Das Reichsgericht aber verurteilte die beiden Seeoffiziere, die vor dem Feinde dem Befehl ihres Vorgesetzten bedingungslos gehorcht hatten, wegen dieser verdammenswürdigen Handlung zu vier Jahren Gefängnis. Denn das Reichsgericht ist ein objektives Gericht. Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Dem älteren Herrn, der auf einem vaterländischen Abend flammend ein Gedicht vortrug, welches sich mit diesem Urteil befaßte und in dem viel von einem Schmutzflecken auf dem blanken deutschen Ehrenschild die Rede war, hörten auch Kern, Heinz und ich zu. In die sekundenlange Pause zwischen dem Ende der Deklamation und dem Einsetzen des brausenden Beifallssturmes konnte sich Heinz nicht enthalten hineinzurufen: «Ober, ein Bier!» Da somit die Festlichkeit einigermaßen gestört war, verfügten wir uns in die Bahnhofshalle zu meinem Kiosk und berieten, wie Boldt und Dittmar aus dem Gefängnis herauszuholen wären. Da anzunehmen war, daß in diesem Augenblick im ganzen Reiche die Putschisten aller Städte über den gleichen Plänen brüteten, schien Eile geboten. Ich verfocht mit Eifer den Standpunkt, daß sofort gehandelt werden müsse, da noch die beiden im Reichsgerichtsgefängnis saßen, noch nicht in verschiedene Strafgefängnisse abtransportiert und somit noch beisammen
und mit einem einzigen Schlage herauszuholen wären. Meinem Vorschlage folgte ein vieldeutiges Schweigen. Erstaunt vernahm ich dann, daß einige Seeoffiziere, darunter auch Kern und Fischer aus Freiberg in Sachsen, in Schupouniformen gehüllt, unlängst in einem Auto zu abendlicher Stunde vor das Reichsgerichtsgefängnis in der Beethovenstraße in Leipzig vorgefahren waren, ein gut gefälschtes Papier als Transportanweisung vorgezeigt und gefordert hatten, die beiden Gefangenen eiligst ihnen auszuliefern, da sie noch zum Nachtzuge zurechtkommen müßten und die Überführung der Gefangenen tunlichst in aller Heimlichkeit zu geschehen habe, weil leider zu befürchten stand, daß die beiden Seeoffiziere von der O. C. befreit würden. Die sächsischen Gefängnisbeamten aber krochen ihnen nicht auf diesen Leim, rasselten vielmehr vernehmlich mit den Schlüsseln, täuschten dienstbereite Eilfertigkeit vor und alarmierten heimlich die Schupowache. Diese, pflichtbewußt und nicht geneigt, dunklen Gewalten anders als offen zu begegnen, drehten erst einmal sämtliche Lichtschalter an, so daß der ganze Platz taghell erleuchtet war. So rochen Kern und Fischer Lunte, stiegen schleunigst in ihr Vehikel und brausten davon. Später erfuhren sie, daß der Plan verraten war, und Kern verkündete nachdenklich die Prophezeiung, daß nach der Welle des Antisemitismus, die unser geliebtes Vaterland bis zum Grunde aufwühlte, mit Sicherheit eine andere Welle folgen werde, die des Antisachsismus. Da auf diese betrübliche Weise die erste Aktion gescheitert war, mußte in der Tat das Unternehmen geteilt werden. Es galt abzuwarten, in welche
Gefängnisse Boldt und Dittmar abtransportiert wurden. Doch konnte immerhin der Plan der Aktion schon in großen Zügen besprochen werden. Kern aber war der Ansicht, daß die Befreiung der «Kriegsverbrecher» eine Ehrensache der Marine sei, und forderte von Heinz und mir den Verzicht auf die direkte Teilnahme an der geplanten Aktion. Nachdem wir zuerst die Absicht hatten, ihn für dies Ansinnen auf Pistolen zu fordern, gaben wir nach unter der Bedingung, daß wiederum eine andere Aktion unserer beider Geschicklichkeit völlig allein überlassen werde, und wurden daraufhin als Kompromißlernaturen wüst beschimpft. Die Affäre Boldt funktionierte glatt. Hilfsbeamte des Hamburger Gefängnisses waren Angehörige der Marine und später der Brigade Ehrhardt gewesen. Dittmar war ins Gefängnis nach Naumburg an der Saale gekommen. Nach langwierigen Vorbereitungen gelang es, ihm einen Schweißapparat in die Zelle zu schmuggeln. Einige Seeoffiziere forderten, daß die Befreiung zum Geburtstage des Obersten Kriegsherren der Kaiserlichen Marine erfolgen müsse, am 27. Januar 1922. Doch im letzten Augenblick fiel der Seeoffizier, der das Fluchtauto zu lenken übernommen hatte, aus, und Kern, in Verlegenheit, so schnell Ersatz zu schaffen, wählte als Chauffeur einen gewissen Weigelt, der bei der Orgesch in Thüringen angestellt gewesen war und angab, Fliegeroffizier zu sein. Das Unternehmen geschah einen Tag später als vorgesehen, am 28. Januar 1922. Nach den Berichten aber hatte sich die Befreiung des Oberleutnants Dittmar so zugetragen:
An die Gefängnismauer in Naumburg grenzt eine Gärtnerei. Das Zellenfenster Dittmars war von der Gärtnerei aus einzusehen. Des Abends drangen die Befreier in den Garten ein und erstiegen die Mauer; sie ließen eine Strickleiter in den Gefängnishof hinab und hielten die Pistolen schußbereit. Rund um das Gefängnis stellten sie Posten aus; das Auto hielt in einer Nebenstraße. Schon zu dieser Zeit war der Chauffeur Weigelt betrunken. Dittmar schweißte die Gitterstäbe durch und befestigte an die Stümpfe das lange Seil, welches er sich mühsam aus seinem blaukarierten und in lange Streifen gerissenen Bettuch gedreht hatte. Der Gang der Ronde war genau ausgekundschaftet. Als die Wache im Gebäude verschwunden war, schob sich Dittmar, atemlos beobachtet von seinen Kameraden und von seiner jungen Frau, durch das Fenster und ließ sich vom dritten Stockwerk herab. Doch unter seinen Bewegungen begann das Seil zu pendeln. Mehrfach schlug Dittmar mit dem Körper gegen das Mauerwerk. Er versuchte, sich mit den Beinen vom Gemäuer abzustemmen — und trat klirrend in das Glas des unter ihm liegenden Zellenfensters. Das ganze Gefängnis geriet in Aufruhr. Dittmar, eilig weiterrutschend, trat noch einmal in Glas. Die Gefangenen, voller Neid, daß einer der Ihren die Freiheit suchen konnte, schrien, der Kriegsverbrecher rückt aus. Das Glas schepperte, die Gefangenen tobten, im Bau knallten Türen, die Lichter flammten auf. Da begann Dieter, Kapitänleutnant a. D., an einer entfernten Ecke der Mauer fürchterlich zu randalieren.
Die Wache, aus dem Gebäude stürzend, horchte unschlüssig auf den Lärm und rannte schließlich an die Stelle, an der Dieter Skandal machte. Dittmar war bis zur Höhe des ersten Stockwerkes heruntergerutscht, als das Seil riß. Er stürzte und schlug dumpf unten auf. Im gleichen Augenblick war Kern von der Mauer herunter, im Hof. Fischer und die tapfere junge Frau hockten auf der Mauer, die Pistole entsichert. Die Gefängniswachtmeister forschten zu ihrem eigenen Glück immer noch erregt nach der Ursache des Dieterschen Lärms. Kern und ein Kamerad aber hoben Dittmar, der am Rückgrat schwer verletzt war, auf und schleppten ihn zur Strickleiter, ihn dann mühsam emporwuchtend. In derselben Sekunde, da die Beamten das Seil an Dittmars Zelle erblickten und, die Karabiner schwingend, herbeieilten, verschwand der Spuk über die Mauer. Als die Befreier und der Befreite keuchend die Straße erreichten, war das ganze Stadtviertel alarmiert. Aber sofort kamen die Posten, die Schmiere gestanden hatten, und sicherten die Straße. Das Auto wurde in tollem Lauf erreicht, als die Verfolger schon aus einer Seitenstraße brachen. Dittmar war schon verfrachtet und Kern zu ihm in den Wagen gestiegen, als der Chauffeur Weigelt, nervös und bleich, erklärte, er könne nicht fahren, der Motor sei eingefroren. Da sprang Fischer an den Führersitz, hielt Weigelt die Pistole an die Schläfe und kommandierte: «Eins — zwei —.» Bei «drei» fuhr der Wagen an. Die Verfolger knallten wütend hinterher. Bei keiner Nation der Welt ist das Pflichtgefühl so ausgeprägt wie bei der deutschen. Die Polizei war
ungemein tätig. Sofort wurden sämtliche Landstraßen, Bahnhöfe und Grenzen gesperrt. Der Telegraph spielte, wie in solchen Fällen üblich, alle Landjägerposten, Polizeiwachen und Schupostreifen fieberten, den Verbrecher Dittmar einzufangen und der Gerechtigkeit wieder zu überliefern. Ein Steckbrief wurde erlassen, der bald an vielen Mauern klebte. Während aber die Grenzen des Reiches bewacht wurden, saß Dittmar keine zwei Kilometer vom Gefängnis entfernt im Turme der Burg Saaleck, gegenüber der Rudelsburg, und wartete seine Genesung und das Ende des Eisenbahnerstreiks ab. Nichtsahnend saß ich in meinem Kiosk und wechselte Geld. Die Reisenden strömten durch die Bahnhofshalle, Gepäckträger eilten vorbei, es war ein Kommen und Gehen. Nur die beiden Herren, die am Haupteingang zu den Bahnsteigen standen, kamen zwar, aber sie gingen nicht. Der eine trug einen steifen, schwarzen Hut und der andere eine legere Reisemütze. Beide waren in subalterne Mäntel gehüllt und hatten völlig ausdruckslose Gesichter. Diese beiden Herren, sagte ich mir, kennst du. Eilig malte ich ein Schild: «Geschlossen aus familiären Rücksichten» und hing es vor den Schalter; dann riegelte ich den Kiosk zu und rief Heinz an. «Jawohl», sagte ich, «Kripo. Und zwar Popo! Die Herren sind nicht geneigt, bei ihrem kärglichen Gehalt etwas umsonst zu tun. Dicke Luft, wie man zu sagen pflegt. Ich erwarte alles, was Beine hat, to do his duty. Schluß.» Zehn Minuten später trafen die ersten ein. Heinz sagte sofort, daß Kern unterwegs sei. Wahrscheinlich
käme er heute an, und wahrscheinlich sei Dittmar bei ihm. Wir stellten fest, daß sämtliche Ausgänge von der Kriminalpolizei besetzt waren. Und zwar standen an den Toren zu den Bahnsteigen je zwei, an den Toren zum Bahnhofsplatz aber nur je einer von den Beamten. Heinz sah nach, welche Züge aus Thüringen kamen. In wenigen Minuten wurde der D-Zug erwartet. Bald waren etwa zwanzig Mann von uns im Bahnhof, die sich unauffällig postierten. Ich nahm eine Bahnsteigkarte und ging durch die Sperre. Der Zug lief ein. Als ich Kern sah, schoß ich auf ihn zu. Mit drei Worten war er informiert. Dicht hinter ihm ging Dittmar. Wir drängten uns durch die Sperre. Hier stand sonderbarerweise kein Kripo. Dicht neben dem Haupteingang hing die Tafel mit den amtlichen Verlautbarungen. Ein roter Zettel prangte dort, der Steckbrief Dittmars. Vor ihm staute sich ein Grüppchen Neugieriger. Kern steuerte sofort auf den Steckbrief los. «Unerhörte Schweinerei!» schrie er. «Dieser Mann», brüllte er, «wird wie ein Verbrecher verfolgt und hat nichts getan als seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Runter mit dem Fetzen!» Und riß den Steckbrief ab. Im Augenblick sammelte sich das reisende Publikum. Die beiden Kripos schnellten erst mit den Augen, dann mit den Köpfen, dann mit den Schultern, dann mit den Beinen auf Kern los. Der eine blieb jedoch sogleich wieder stehen, sah aber angestrengt seinem Kollegen zu, der sich durch die Menge drängte. Kern fluchte fürchterlich. Der Kripo wand sich immer
näher an ihn heran. Da schoß eine grüne Uniform wie ein Keil durch den Haufen, blanke Knöpfe glitzerten, und ein Schupo legte die schwere Hand auf Kerns Schulter. «Folgen Sie mir auf die Wache", sagte der Schupo ernst. Und der Schupo war Jörg. Der Kripo drehte sich beruhigt um. Und Kern, mit schnellem Blick erfassend, daß gerade Dittmar flüchtig vorbeiwitschte, mitten durch die beiden pflichtschwitzenden Beamten, wurde plötzlich friedlich und ging mit Armesündermiene neben dem gewichtigen Jörg einher. Als Dittmar aus dem Bahnhof trat, löste sich langsam der Ring, der sich unvermittelt um den Kripo am Haupttor gebildet hatte. Jörg sagte bekümmert zu Kern: «Hoffentlich forschen die Kripos nicht nach meiner Meldung.» Doch die Kripos forschten, und Jörg flog aus der Schupo. Daß die Mengen Stoffes, die Heinz in jener Februarnacht des Jahres 1922 bereitgestellt hatte, ausreichen würden, erschien uns zweifelhaft. Dem Dämon, den wir zu Gast geladen hatten, mußten wir gewaltig opfern, sonst fuhr er uns mit Zangenfingern an das Herz und preßte es zum Spaße ein wenig zusammen. Denn Dittmar und Kern und die junge Frau saßen im D-Zug nach Basel. Sie wollten uns sogleich Nachricht geben, sobald die Grenze überschritten war. Auf den einzelnen Stationen aber standen beim Einlaufen des Zuges die ortsansässigen Putschisten und überwachten den reibungslosen Ablauf der Reise, bereit, sofort einzuspringen, sollte die tüchtige deutsche Kriminalpolizei Gelegenheit gehabt haben, das zu tun, was sie
mit knödeligem Tone als ihre Pflicht zu bezeichnen oft und gern Veranlassung nahm. In unserer Kumpanei befand sich ein Schweinehund. Wir hatten das aus mancherlei Anzeichen entnehmen können. So hatte Jörg auf dem Polizeipräsidium erfahren, daß der Aufenthalt Ditrmars in der Stadt bekannt war. Dittmars Abreise mußte beschleunigt werden. Einer erzählte, daß Weigelt, als er sich Kern gegenüber bereit erklärte, an der Befreiung teilzunehmen, als besonderes Zeugnis seiner Vertrauenswürdigkeit zu verstehen gab, er habe von der mißglückten Aktion in Leipzig genaue Kunde. Eine Waffenschiebung von Sachsen nach der Tschechoslowakei für die Sudetendeutschen mußte im letzten Augenblick abgestoppt werden, da verschiedentlich würdige Herren mit niedrigen Gummikragen und abgeschabten dunklen Mänteln, die vorgaben, vom Wohnungsamt zu kommen, sich nach der Tätigkeit und dem ständig wechselnden Aufenthaltsort Fischers, des Leiters der sächsischen Aktionen, erkundigt hatten. Zweimal schon war Heinz in kurzer Untersuchungshaft gewesen. Verschiedene Aktenbände, die auf den Polizeiämtern vieler Städte des Reiches lagerten, trugen Namen auf dem Deckel, die zwar alle nicht Kern lauteten, aber doch mit dem Buchstaben K begannen. Wenn es schon schwer war, in einer Halbmillionenstadt fünfzig zuverlässige Männer zusammenzusuchen, war es schwerer noch, unter diesen fünf zu finden, die nicht schwatzten. Noch hatte unsere Gemeinschaft keine saubere Begrenzung erfahren, keinen Kodex, der uns in jedem Punkte gültiger war als die nützliche Moral der Welt. Doch wuchs uns bald die strikte
Isolierung zu als ein Gebot des Kampfes, der ein Kampf war um uns selbst. Je aufgelockerter die Bindung wurde, die uns einstmals in Stand und Tradition und Form erhielt, desto fester fügte sich die neue Oberschicht. Bei jedem Schritt verstrickten wir uns in Konflikte, und was bei uns Impuls war und Trotz und starke Regung, das war bei jenen, die sich nun fundierten, kalte Sicherheit und Rechnung. Die Menschen des Nutzens hatten uns umzingelt. Das Spiel wurde ungleich, wenn es nicht gelang, durch straffe Zucht der Inbrunst ihre Härte zu verleihen. Verräter konnten nicht geduldet werden. Von Heidelberg kam der erste telephonische Anruf in Stichworten, daß der Zug mit Dittmar sicher passiert sei. Gabriel erzählte von den Kampfmethoden der Faschisten, die in Italien gerade gewaltig von sich hören machten, Verräter wurden bei den Faschisten bestraft, indem man sie auf einem öffentlichen Platz der Ortschaft, in welcher die Verräter beheimatet waren, an einen Pfahl fesselte, ihnen die Hosenbeine zuband und dann ein angemessenes Quantum Rizinus einfiltrierte. Wir fanden diese Methode zwar ansprechend, weil sie auch den leisesten Hauch eines heroischen Märtyrertumes bei den Betroffenen völlig zu beseitigen durchaus geeignet war, doch schien sie uns zu human und in ihrer weiteren praktischen Folge für deutsche Verhältnisse insofern nicht zweckentsprechend, als bei der bekannten deutschen Nationaleigenrümlichkeit zu erwarten war, daß dem Delinquenten das embryonal entwickelte persönliche Schamgefühl nicht gebieten würde, über den Grund des Verfahrens zu schweigen
und daß somit weiterer Verrat nicht ausgeschlossen sein konnte. Als der telephonische Anruf aus Karlsruhe einlief, mußte der Vorrat an scharfen Flüssigkeiten ergänzt werden, und das Gespräch wandte sich mit beispielloser Roheit den verschiedenen Todesarten zu, die den einzelnen Abarten des Verrates zu folgen hatten. Heinz belegte seine blutdürstigen Äußerungen mit dies-bezüglichen Stellen aus den Werken einer ganzen Reihe von modernen deutschen Dichtern, ein Verfahren, welches wir jedoch ablehnten, da die angeführten Herren sich der Protektion höchster Kreise und Behörden erfreuten und sohin mit Bestimmtheit weder ihre sachverständige Kenntnis aus dem Leben gezogen, noch sie anders als zu Nutz und Frommen menschlicher Gesittung angewandt haben konnten. Immerhin erfuhren wir aus Heinzens Zitaten doch einige Anregung und hatten bald nur noch nötig, den ver-schiedenen Methoden die entsprechenden Namen zu geben, was mit «Killen», «Knacken» und «Prosten» endlich getan war. Freiburg meldete sich. Der Zug mußte sich nun der Grenze nähern. In die summende Unterhaltung der Zechenden fiel erneut der Name Weigelt. Plötzlich war alles still. Einer hatte einen Brief Fischers bei sich, den er nun verlas. Danach hatte die Ablieferung des Fluchtautos nicht geklappt. Das Auto gehörte einem vermögenden und merkwürdigerweise trotzdem brauchbaren und uneigennützigen Hallenser Fabrikanten. Fischer kam zu Weigelt, der ihm gegenüber vorgab, er müsse flüchten. Denn in den kleinen Städten Thüringens begann ein Gemunkel, die Dittmarbef
reiung betreffend, das bald zu Nachforschungen der Polizei führte. Weigelt gab Fischer zu, daß er, Stammgast kleinstädtischer Vergnügungsetablissements, den Bardamen gegenüber kein Hehl aus seiner Heldenhaftigkeit gemacht habe. Fischer zwang Weigelt, das Auto zurückzugeben, gab ihm jedoch eine größere Summe, damit er auf der Flucht nicht mittellos sei. Doch das Geld steckten sich die Mädchen in den Strumpf, und Weigelt verschwand zwar, aber mehrere Gutsbesitzer Thüringens erzählten wenige Tage später, ein junger Herr, gewesener Fliegeroberleutnant, habe bei ihnen vorgesprodien, sich als den Befreier Dittmars ausgegeben und um Geld und Unterstützung gebeten. Auch ein Brief Dieters wurde verlesen. Dieter habe sich für Weigelts Vergangenheit interessiert und nachgeforscht. Weigelt sei zwar kein Flieger gewesen, dafür aber beim Train. Die Reichswehr fahnde nach ihm, denn ein ihm anvertrauter Wagenpark sei verschoben worden. Die nun aufgelöste Orgesch habe ihn wegen Unregelmäßigkeiten entlassen müssen. Wahrscheinlich habe sich Weigelt nach dem Rheinland gewandt. Hier griff Gabriel ein. Weigelt sei bei Kern und ihm erschienen, geschmückt mit Pelzmantel und Monokel, und habe ihnen seine ernstliche Befürchtung entwickelt, er könne, falls er nicht dauernd reichlich mit Geldmitteln versehen, doch leicht in die Hände der Polizei fallen und dann natürlich nicht garantieren, daß nicht die Dirtmarsache und noch weitere interessante Dinge aufgedeckt und verschiedene Namen in die zu erwartende Untersuchung einbezogen würden. Kern habe ihm mehrfach kleinere Beträge ausgehändigt,
dann auf sein stetes Drängen hin auch größere, Weigelt habe aber angekündigt, er würde in Bälde mehr benötigen. Wir waren auf einmal sehr nüchtern und schwiegen. Fahrplanmäßig mußte der Zug nun in Basel eingetroffen sein. Die Kannen leerten sich. Wir spülten unablässig die schwärzesten Gedanken in den Abgrund und schielten scheu nach dem Telephon. Die Uhr tickte quälend. Mitten in die nervenzermahlende Stille rasselte schrill das Läutewerk. Heinz sprang über zwei Sessel zum Apparat und hob den Hörer. «Ferngespräch aus Basel... —» Wir stiegen auf die Tische und schmissen die Gläser an die Wand. Einige Tage später kam Gabriel, düster wie immer, mager und fanatisch, in meine Wohnung, in der Kern und ich saßen. Er legte schweigend eine Liste der Spitzelabwehr, die in Kassel ergänzt und an die Gruppen verteilt worden war, auf den Tisch und deutete mit gleichgültiger Miene auf einen Namen. Kern las, fuhr hoch und ging dann lange stumm und mit verkniffenem Gesicht im Zimmer hin und her. Ich sah in die Liste ein und sagte: «Es gibt da natürlich verschiedene Möglichkeiten. Man könnte Weigelt auf Pistolen fordern. Doch ist anzunehmen, daß er kneift. Man könnte ihn auch wegen Erpressung und Landesverrat anzeigen. Aber man soll die bürgerlichen Gerichte nicht beschäftigen, wenn man sie bekämpft. Man könnte ihn auch durch die Spitzelabwehr auf geschickte Weise den Franzosen, bei denen er in Dienst zu stehen scheint, verdächtig
machen, und sie würden die Angelegenheit von sich aus regeln. Doch ist das für unsereins wohl kaum diskutabel. Dann gibt es natürlich noch eine vierte Möglichkeit ...»
Feme Es war nicht schwer, den Weigelt zu einem Ausflug ins Gebirge zu bereden. Schwerer war es schon, ihn aus den Nachtlokalen des Weltbades herauszulocken, zu denen er zielsicher strebte, sobald sie in Sicht waren. Spät abends machten wir uns auf den Heimweg. Wir gingen durch den Kurpark. Es widerstrebte mir, irgendeine Art von düsterer Vorbereitung zu treffen; denn ich konnte mich zu diesem Mann nicht anders einstellen wie etwa zu einer Wanze, die im geeigneten Augenblick zertreten werden mußte. Darum schritten wir auch, Kern und ich, ohne Plan und Ziel den Weg, der sich gerade bot, Weigelt in die Mitte nehmend und auf die entscheidende Sekunde wartend, ohne sie vorher bestimmt zu haben. Der Nebel stand milchig in der Nacht. Einzelne Laternen spendeten mit grünlichem Lichthof ihren matten Schein. Von den Bäumen tropfte es kühl. Weigelt schob fröstelnd seinen Arm unter den meinen und strebte ununterbrochen schwatzend vorwärts.
Der dunkle Weg im Park schien ins Nichts zu führen. Die zerfledderten Äste des Gebüsches stachen ruppig um die drohenden Schatten dicker Bäume. Weigelt preßte seinen Arm an meine Hüfte und bemerkte, der sei es unheimlich. Mir stieg plötzlich eine geheime Angst wie ein Pfropfen in die Kehle. Der Gedanke sprang mich an, daß nach den Satzungen der Menschen verwerflich war, was schon im Schatten dieser Stunde unabwendbar uns entgegenwuchs. Abwehrend formulierte ich mir, daß wir Richter seien; doch spürte ich sogleich die Schwäche dieses Argumentes. Denn wir, bewußt verhaftet nur der engsten Gemeinschaft, durften nicht Entschuldigung suchen für unser Tun der Gesamtheit gegenüber, wenn wir den Willen der Gesamtheit nicht anerkennen wollten. Der Teufel hole das Grübeln. Was ging die anderen an, was hier geschehen sollte? Wir schritten hier entgegen dem Schlußakt einer Auseinandersetzung, die für uns allein gültig sich vollzog. Dei Verräter verfiel der Feme. Was hieß ihn auch im Würfelspiel verlieren? Was hieß ihn, sich in unseren verpflichtenden Bereich zu drängen? Da schritt er schnatternd neben mir, unwürdig, seicht, wie Ungeziefer lästig. Er stolperte und hing schwer in meinem Arm. Ich riß mich rüde los. Schluß mit der Komödie! Was galt sein Leben uns, da er es selber nur, pendelnd zwischen Rausch und Schwäche, zu verludern wußte? An einer Stelle, da der Weg durch Busch und Park sich dicht an einen See heranschob, blieb Weigelt stehn und horchte auf das Klickern, mit dem das Wasser an das Ufer schlug. Er brachte plötzlich seine Augen nah an Kerns Gesicht und fragte zögernd, kläglich fast, ob wir ihn
wohl in diesen See zu werfen Absicht hätten? Dann fing er an zu lachen. Kern fuhr zurück, dann murrte er, dies sei in der Tat ein Gedanke, der Erwägung wert. Weigelt aber schritt eilig weiter, mich am Arme zerrend. Bald sang und johlte er wieder, freute sich am Schall, den das Gebüsch zurückwarf, hüpfte munter, nach Schnaps und Mädchen gierend. Er schien von der Warnung selber fasziniert. Wissend um die Gefahr, betrog er sich um ihre Nähe. Ich verspürte einen Augenblick Mitleid mit ihm. Es wollten sich geheime Fragen an mich herandrängen. Aber ich sagte mir, daß, nachdem der Entschluß, diesen Menschen auszulöschen, gefaßt war, jede moralische Problematik absurd sei. Ein scharfer Wind zerfetzte rund um uns den Nebel, trieb ihn in faserigen Schleiern über den See, ließ Wolken an der schmalen Sichel des Mondes dieser Märznacht wie an Schnüren gezogen vorüberstreichen. Die Schatten der Bäume streckten sich und verblichen wieder. In der Ferne schimmerten Lichter über den See. Schwer krachte ein Ast in der Nähe und ließ Weigelt zusammenfahren. Er sang laut, mit krächzender Stimme, indes wir ihn unerbittlich flankierten. Wir schritten immer schneller aus, wir wußten nicht, wohin der Weg führte. Endlich liefen wir fast. Ein Auto stieß uns den grellen Arm des Scheinwerfers ins Gesicht, raste dann knatternd hinter einem Streifen von Bäumen vorbei. Dort mußte also eine Straße sein. Fensterscheiben blinkten im magnesiumbleichen Licht, dunkle kompakte Massen ließen Häuser vermuten. Weigelt sang sich die kalte Angst vom Leibe.
Der See streckte eine Zunge bis an den schlüpfrigen Weg. Die Bäume traten zurück, das Gebüsch schmiegte sich tiefer an das Ufer heran. Am Wasser zeichnete sich das verschlungene Gebälk eines Geländers ab. Fern blinkte ein einsames Licht. Weigelt begann laut zu deklamieren. Er blieb plötzlich stehen und sprach mit erhobenem Finger akzentuiert: «Ach, wenn das Mädchen mit dem roten Hute...» Aber er konnte den widerlichen Schüttelreim nicht zu Ende führen. Denn Kern schnellte die Faust an den Himmel und ließ sie mit der Wucht eines Hammers auf Weigelts Schädel niedersausen. Weigelt knickte zusammen und schlug blitzschnell, mit dröhnendem Hall, langhin zu Boden und rührte sich nicht. Der Hut rollte den Abhang hinunter, und die Brille klirrte zersplitternd gegen einen Stein. Kern sah mich mit wilden Augen an. Sein Mantel stand im Winde gebläht. Scharf war die Silhouette seiner Gestalt gegen das sacht bewegte Wasser abgezeichnet. Ich beugte mich über Weigelt. Der hob den Kopf, gurgelte dumpf, versuchte, sich aufzurichten. Ich kniete bei ihm nieder. In seinen weitaufgerissenen Augen stand das Unbegreifen. Er erkannte mich, bäumte sich plötzlich hoch und stand taumelnd, ehe Kern sich wenden konnte. Weigelt riß den Arm hoch, drohend hing seine Faust über Kerns Kopf. Und in der Faust stak der Totschläger. Ich schrie auf, sprang Weigelt an und packte das Handgelenk. Kern fuhr herum. Doch die Lederschlaufe hielt das Instrument an der Faust. Weigelt befreite sich mit einem Ruck von meinem klammernden Griff, sein Arm, wegschnellend, pfiff hoch; dann traf mit voller Wucht der federnde
Knüppel mein Gesicht. Ich fühlte, wie der Nasenknorpel knirschend brach. Heiß und rot strömte der Saft in Augen und Mund. Blind tastete ich vor, griff einen Körper, verbiß mich in harte Knochen, durch den dicken Stoff des Mantels den Ellenbogen spürend. Den zappelnden Arm klemmte ich, instinktiv mich wendend, unter die Achsel, faßte die kalte Hand, spürte die Waffe und brach fast bedächtig einen krallenden Finger los. Der Finger knickte nach hinten, die Hand wurde locker. «Du Aas», keuchte ich, «du Aas ...» Weigelt schrie gellend um Hilfe. Nun schoß mir das Blut in breitem Strome aus der Nase. Ich ließ Weigelt los und rieb mir das fühllose Gesicht. Neben mir dröhnte der Kampf. Alles vergebens, dachte ich, er wehrt sich, der Schweinehund; Gott sei Dank, dachte ich, er wehrt sich; nun drauf. Ich raffte mich mühsam, sah hoch, sah Kern stolpern und Weigelt über ihm. Nun trat ich ihm den Stiefel in den Bauch. Er brüllte: «Hilfe, Mörder!» Er stieß schrill das i-i-i-i in die Nacht, daß es sich reißend seine Bahn durch die Bäume suchte, über den See hinfuhr wie ein Pfeil. Dann war ich an ihm, schlug ihm die Finger um den Hals, griff ihm in die Augen, krachte die Faust ihm in die Zähne, erstickte den Schrei. Die Zähne wollte ich ihm in den Rachen schlagen; er spie mir röchelnd eine breite Suppe Blutes ins Gesicht. Das fuhr mir in den offnen Mund; ich quetschte die Zunge an den Gaumen und schmeckte, indes der Ekel mich jach überfiel, den rinnenden Schleim, dick, süßlich, unerträglich warm. Dann sackte
Weigelt zusammen. Erschöpft, geschüttelt taumelte ich zurück. Die Nacht wurde lebendig. Der Hilfeschrei hatte alle Gespenster geweckt. Schritte glaubte ich zu hören. Doch was kümmerten mich Schritte! Nun mochte geschehen, was da wollte. Schon war Weigelt wieder hoch! Kern hieb ihn augenblicks wieder zu Boden. Ich glaubte, daß ich etwas sagen müsse, und keuchte: «Verdammt zäh!» Kern stieß Weigelt mit dem Fuße an. Der war plötzlich auf den Knien und hob bettelnd die Arme. «Kämpf!» schrie Kern, und das Wort prallte hallend an die Bäume. «Ich will», brabbelte Weigelt klagend, «ich will auch nichts mehr verraten ...» — «Kämpf!» schrie ich. Weigelt rannte plötzlich dahin, wo Licht war, an das Geländer des Sees. Kern war an ihm, bevor ich begriff, daß Weigelt die Pistole gezogen hatte. Ich sah auf einmal den Lauf in seiner Hand. Den Arm konnte ich ihm hochschlagen, doch ging der Schuß nicht los. Weigelt hielt sich mit der Linken ans Geländer geklammert und stieß mit den Füßen wild nach uns hin. Ich warf mich an ihn, umpreßte ihn mit beiden Armen; er sprudelte mir wieder Blut an meinen Mund. Dann traf mich ein Fußtritt; ich ließ ihn locker, doch hatte Kern nun die Pistole. Weigelt schrie. Und jeder seiner Schreie stachelte erneut die rote Wut. Wir stürzten vor; er zappelte, er schlug, er traf. Kern packte sein zum Stoß erhobenes Bein und riß es hoch, und zerrte, und plötzlich glitt der ganze Körper Weigelts über das Geländer, stürzte — rauschend fuhr der Schatten in das Wasser, die Spritzer sprangen netzend uns in die Gesichter.
Ich hing über das Geländer gebeugt. Das Wasser warf Blasen. Doch etwas uferab tauchte das Gesicht Weigelts auf. Der Mund hob sich entsetzlich verzerrt aus dem Wasser, die Arme schlugen durch die Luft, Tropfenregen schleudernd. Und dann brach aus dem Wasser das Gekreisch der letzten Angst, Gott beschwörend, Panik in die Herzen jagend, Flut, Himmel, Erde, Wald und Menschen anrufend zu Zeugen unsagbarer Qual. Und Kern zerschoß den Schrei; er knallte übers Wasser, einmal, zweimal, hielt die Pistole mit erhobenem Lauf, schoß und ließ sich von der Stille langsam an das Geländer pressen. Weigelt ruderte mit langem Arm seitlich dem Ufer zu. Ich wand Kern die Pistole aus der Hand und rannte auf der steilen Böschung, stieß mit dem Kopf an Bäume, riß mich aus dem zerrenden Geranke des Gebüschs, hieb mir die Zehen und die Knie wund an Wurzeln, Steinen, Ästen, lief ächzend, fiebernd unterm Zwang des Tötens an jene seichte Stelle, an die sich Weigelt retten wollte. Dann stand ich vor ihm. Er ragte halben Leibes aus dem Wasser. Bei meinem Kommen hob er beide Arme. Ich packte seinen Rock, weit vorgebeugt, und setzte ihm langsam die Pistole an die Schläfe. Er stöhnte schwer. Er hob mir sein blutendes Gesicht entgegen, gleichsam ergeben sich an die kalte Mündung der Pistole schmiegend. Er murmelte leise; schwer formten sich die Worte in seinem zerschlagenen Mund. Er hob mühsam die Augen, blickte völlig leer mir ins Gesicht und hielt die Hände zitternd hoch. Er wimmerte; ich hatte Mühe, ihn zu verstehn. Er sagte: «Bitte, bitte, bitte, bitte...» Er
holte gequält Atem und sagte: «Gnade, Erbarmen ...» Er murmelte: «Leben, leben!» — Ich spuckte ihm die Worte gleichsam ins Gesicht. «Du Hund, du Schwein, du Verräter... !» — Er klagte leise, mit pfeifendem Ton: «Ich will nichts verraten. Ich will nie mehr verraten. Ich will alles tun, was ihr wollt. Laßt mich leben, leben...» Ich nahm langsam Druckpunkt. «Du Erbärmlicher», sagte ich. «Du hast verraten! Du sollst...» Aber dann wurde ich unendlich müde. Ich sah ihm stumpf in das verzerrte Gesicht und sagte: «Lauf!» Er stammelte leise etwas, das ich nicht verstand. Ich drehte mich um und ging langsam zurück. Kern stand noch in derselben Lage am Geländer, wie an einen Pfosten geworfen. Als ich vor ihm lehnte, mit hängenden Armen, die Pistole schwer in der matten Hand, richtete er sich auf. Wir schwiegen beide lange. Hinten hörte ich Plätschern und Stöhnen. Kern sagte bitter: «Pfui Deibel, das war keine Heldentat.» Erleichtert flüsterte ich: «Weigelt lebt.» Kern sagte: «Ich weiß.» Er stemmte sich von dem Geländer ab, machte zögernd einige Schritte, dann wandte er sich zum Wege, der Stadt zu. Wir gingen zurück. Wir gingen Stunde um Stunde. Wir mußten, um nach Hause zu gelangen, quer durch den ganzen Taunus. Der Ruch des Blutes stieg uns widerlich in die Nase. Wir schlugen fröstelnd die Mantelkragen hoch. Das schmerzende Hirn ließ uns fast blind die dunklen Straßen entlangtappen. Wir schwiegen beide auf dem ganzen langen Wege. Die Wellen des üblen Gestankes betäubten uns fast. Das Blut war durch Mantel, Rock und Wäsche bis auf die Haut gedrungen. In einem
Bergbach wuschen wir uns mühsam. Doch löste unser Schweiß erneut das Blut, es bildete eine ekelhafte Krust auf der Haut, schleimig und bis zur Übelkeit vergiftend. Wir erreichten am frühen Morgen die erste Straßenbahn, schmiegten uns eng in die dunkelste Ecke der Plattform. Als wir, erschöpft und doch immer noch von der entsetzlichen Spannung des Geschehenen krampfig zusammengehalten, in der Stadt ankamen, schob sich aus einem eleganten Vergnügungspalais die Menge der heimkehrenden Ballgäste. Die Herren standen mit zerknitterten weißen Hemdbrüsten und schief aufgesetzten Zylindern und pfiffen nach den Wagen. Drei junge Mädchen in kostbaren Abendmänteln, begleitet von fetten Kavalieren, strichen an uns vorbei. Sie waren kostümiert, trugen seidene Höschen und ließen die nackten Schultern unter den zerzausten flaumigen Pelzen leuchten. Sie sangen ausgelassen, mit spitzen Stimmen: «Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen — mitsamt der ersten und der zweiten Hypothek...»
Gespräch Zu jener Zeit, da die Kämpfe, die sich auf allen Ebenen abspielten, auch von uns und in unseren Herzen mit all ihrer blinden Schärfe und ausweglosen Unbedingtheit ausgetragen werden mußten, konnte unser unbekümmertes Tun nur wachsen aus den wenigen klaren und einfachen Gewißheiten, die uns das Leben
selber zutrug. Nicht geübt in jener zweifellos angenehmsten Kampfesart, die in den Spalten aller Zeitungen als ein Kampf mit geistigen Waffen schmatzend angepriesen wurde, mühten wir uns doch in den wenigen besinnlichen Stunden zwischen Tat und Tat, aus dem Wortchaos nach brauchbaren Ausdruckstrümmern für unser Wollen zu fischen, so die kommende Handlung vorbereitend, indem wir sie mit dem Sinn unseres Wesens in Einklang brachten. Spürten wir doch sehr bestimmt, daß jene Gewalt, die uns trieb, nicht eigentlich unser eigen Wesen war, sondern Ausfluß mystischer Mächte, die zu erkennen der reine Intellekt mit allen seinen Methoden nicht ausreichen konnte. Jede einzelne unserer Taten, mochte sie noch so unbedenklich aus dem Augenblick geboren sein, mochte sie für das Auge scharfblickender Realpolitiker noch so geringen praktischen Erfolg haben, peitschte zumindest die Entwicklung weiter, warf zumindest höhere Wellen als die wichtigen Beratungen und Verordnungen jeweiliger Minister, als die eifervollen Reden und Beschlüsse der Parlamente, als die aufwandreichen Bemühungen und Versprechen der Parteien und Verbände. Jede Tat erschütterte weithin das Gefüge der Systeme, griff die mühsam genug konstruierten Gegebenheiten an, forderte von der bedrohten Ordnung Gegenschläge heraus, die unausweichlich zu erneuter Handlung zwangen. Wir unterwarfen uns bewußt dem Zwang, wir sprangen hemmungslos in jede Steigerung, wir" erfuhren an uns selbst das Wort vom Fluch der bösen Tat, die fortzeugend Böses muß gebären, ohne freilich weder den Fluch noch das Böse im Range niedrig anzusetzen. Im
Banne der beglückenden Erfahrung dieser Gesetzmäßigkeit aber erwuchs uns verpflichtend die Gewißheit, Vollstrecker eines geschichtlichen Willens zu sein. Daß diese Gewißheit uns nichts vom vollen Gehalte des Wagnisses nahm, daß sie uns von keiner Verantwortung entband, das gab unserem Tun erst die rechte Würze. Der Wille zur Gestaltung, der uns nicht hinderte zu vernichten, der, in diese Zeit hineingetrieben, die Vernichtung erst möglich und notwendig machte, ließ uns in nächtlichen und übersteigerten Gesprächen, in denen sich der Gleichklang unsres Denkens, unsrer Sprache rauschhaft offenbarte, in entfernte Räume tasten, nach dem Sinn unsrer Sendung suchen, nach der Richtung forschen, welche die sich schon auf allen Wegen meldenden Kräfte nahmen; nicht nach Rechtfertigung zielte der Wunsch, das ungefüge Bild unserer Träume zu umreißen, sondern nach der Sicherheit, im Schatten nahender Entscheidungen nicht durch leichte Lösung zu gewinnen. Je näher uns der Wirbel vom Rande an das Zentrum riß, desto härter wurden die Wege zum Entschluß. Was erst fast Spiel war, schlichteste Reflexbewegung wacher Witterung, Draufgehen und Zupacken, weil nichts sonst selbstverständlich war, das heischte mit der schärferen Ahnung des Gesetzes, dem wir hingegeben waren, die volle Haftung, das stellte uns den Zweck verpflichtend vor die Leidenschaft. Nicht alle zügelte die unsichtbare Forderung; so wurde es für Kern nicht leicht, jene Gesellen wieder in die Zucht der kleinen Gemeinschaft einzufügen, die den Plan hegten, den Zug, der den Sowjetminister Tschitscherin zur Konferenz nach Genua bringen sollte,
durch Sprengen einer Eisenbahnunterführung entgleisen zu lassen. Ich hatte Kern Bericht erstattet, als er wiederum für kurze Tage in die Stadt kam. Er verhinderte sofort das verwegene Unterfangen, er zwang grob die Männer zum Verzicht, die, den Blutdunst erster Baltikumgefechte w der in der Nase, jeden andern als Kern feiger Schwächlichkeit geziehen hätten. Kern gab keine Gründe für sein Verhalten an. Am Abend dieses Tages kam er zu mir. Wir saßen und sprachen in das Dunkel hinein, das uns strenge umgab. Ich sagte zögernd und fühlte, wie meine Worte unsicher in die Stille tropften: «Niemals habe ich so stark das Gefühl gehabt wie gerade in diesen Tagen, daß alle Ereignisse und alle Bewegung sich zu einem einzigen Punkte drängen. Vielleicht unterliege ich der allgemeinen Stimmung, die, aus tausend Hoffnungen und Wünschen geboren, sich dem qualvollen Warten auf die große Wendung ergibt. Wenn aber wirklich nun die Entscheidung fällt — wo stehen dann wir?» Kern sagte: «Es gibt keine wirkliche Entscheidung, die nicht im Banne derselben Kräfte steht, denen wir, gerade wir, verhaftet sind. Es gibt keine wirkliche Entscheidung, deren Exponenten Männer sind, die in Haltung, Herkunft und Wollen einer Zeit angehören, die ihre einzige harte Probe, den großen Krieg, nicht bestand, die in diesem Kriege verbrannte. Wenn die Weltgeschichte ihren Sinn verloren hätte», sagte Kern und lachte, «an dem Tage, da der Kaiser auf weißem Rosse durch das Brandenburger Tor einziehen würde, dann wäre sie niemals auch einem Sinne unterworfen gewesen, wenn sie sich zu Trägern ihrer großen
Augenblicke jene Gestalten auserwählte, die schon vor den Maßstäben, die sie selber schaffen halfen, nicht genügten. Sie mögen noch so geschäftig tun, sie füllten nicht eine schweigende Minute mit vollem und reinem Klang. Sie mögen reden und streiten und Verträge schließen, sie treten nicht mit einem Schritt aus ihrer ausgetretenen Bahn. Sie mögen handeln und befehlen, sie mögen schreiben und verkünden, nicht einmal reißt ihr Ruf die Herzen über den Tag hinaus. Die Räume, die sie mit ihrem wirren Gelärm erfüllen, sind nicht die Felder der Entscheidung. Die liegen noch, von keinem Fuß betreten, hinter dem breiten Gürtel des Dickichts, durch das wir uns mit harten Schlägen hauen. Da werden wir dann stehen.» «Was gibt uns das Anrecht zu unserem vermessenen Glauben? Wir, ohne Macht als die, in deren Banne wir zu stehn vermeinen, ohne Können als Schießen und Sprengen, ohne Wissen als das der Verschwörung, ohne Erfahrung als die unsrer Fehlschläge, wir, verfolgt und selber verfolgend, geächtet und selber ächtend, von niemand anerkannt, uns ekelnd vor unserm eignen Tun, wir sind berufen?» «Nicht berufen, die letzten Träume zu verwirklichen, nicht berufen, die Ernte einzubringen; aber, geht es uns um den Erfolg? Es geht uns um die Erfüllung. Nein, wir haben keinen Erfolg gehabt. Wir werden nie Erfolg haben. Wir sind marschiert und haben eine Ordnung geschaffen, in deren stickigem Dunst wir jetzt nach freien Winden lechzen. Wir haben den Vormarsch nach dem Osten angetreten und sind nicht nach Warschau gestoßen, haben vor Riga nicht gesiegt. Wir trugen unsere Flagge nach Berlin und trugen sie wieder
zurück. Wir fegten Oberschlesien sauberer, als es jemals gewesen, und mußten es zerstückelt hegen lassen. Wir übten uns in nackter Anarchie und sind keinen Schritt weiter als zuvor. Wir hörten uns an, daß wir auf verlorenem Posten stünden, und konnten nichts erwidern, als daß dies kein Grund für uns sei, den Posten zu verlassen. Was uns den Glauben dennoch gibt, fragst du? Nichts anderes als unser Tun, nichts anderes als die Möglichkeit unseres Tuns, nichts anderes als die Fähigkeit zu unserem Tun. Wir gestatten uns, uns symptomatisch zu werten. Gesellen wie wir, Siege erfechtend, die keinen Ruhm brachten, geprügelt in Niederlagen, die uns nichts anhaben konnten, stiegen immer aus dem Schatten des Kommenden. Hatten wir uns nicht einst das Wikingerschiff auf den Ärmel geheftet? Rufen uns die erschreckten Bürger nicht «Landsknechte» zu? Wann hätte man je gehört, daß ohne Männer unseres Schlages eine Wandlung sich vollziehen konnte, die der folgenden Epoche das Gesicht gab? Wann aber wurde jemals eine Jugend in eine solche Zeit gestellt, wie wir sie zu erleben begnadet sind? Ich kann nicht glauben, daß ein Geschlecht wie unseres, hineingeschleudert in den Kampf, durch ihn erzogen und gehärtet, nun bestimmt sein soll, auf seinen Kampf gehorsam zu verzichten auf den seichten Anruf derer hin, die vor den Konsequenzen ihres eignen Wollens nun erschrecken. Ich kann nicht glauben, daß eine Kraft erstirbt, bevor sie sich verbraucht.» Wir schwiegen. Ich konnte Kern nur an dem dunklen Umriß erkennen, der sich von der gekalkten Wand
abzeichnete. Ich stand auf und warf mich auf das Bett. Ich sagte: «Ich will mehr. Ich will nicht bloßes Opfer sein. Ich will das Reich liegen sehn, für das ich streite. Ich will Macht. Ich will ein Ziel, das meinen Tag erfüllt. Ich will das Leben ganz, mit aller Süße dieser Welt. Ich will wissen, daß der Einsatz lohnt.» Kern lehnte sich zurück und schmiegte sich in seine Ecke. «Was soll das große Wort Opfer! Wir opfern nicht und werden nicht geopfert. Ich vermag mich anders nicht als durch die Umwelt zu begreifen. Ich fürchte, du begreifst die Umwelt nur durch dich.» «Nein, denn ich will nicht ausgeschlossen sein von dieser Umwelt. Was in unsere Hand gegeben, das genügt mir nicht. Ich will beteiligt sein an einer Leistung, die nicht mir, die dem Lande weiterhilft. Das willst du auch. Da draußen wird um die Macht gerungen. Mag sein, daß keiner, der sie ergreift, ihrer wert ist, ihrer wert sein kann. Aber sie beherrschen den Apparat. Die wir bekämpfen und verachten, die halten in unwürdigen Händen das Instrument, das unserer Zeit nur dienen kann, wenn es in Ehrfurcht angepackt, zu einem höhern Ziel verwandt wird. In jedem kleinen Tag wird draußen um die Macht gerungen. Und was rätst du uns?» «Auf den kleinen Tag zu verzichten, um für den großen reif zu werden.» «Das heißt nichts anderes, als weiter unsrem wilden Zwang zu leben und...?» «Warten.» «Ich kann nicht warten, ich will nicht warten.»
«Beschäftigungsneurose?» «Das nicht; sage das nicht. Wir können nicht genug tun, niemals können wir genug tun. Das ist mir nicht genug, was wir jetzt tun. Ich sehe die Sonne nicht, die über unserer letzten Steigerung stehen muß.» «Freilich, Napoleon war mit sechsundzwanzig Jahren Brigadegeneral.» «Verdammt, hör mit dem Spotten auf. Sage mir, wenn du es weißt, an welchem Zipfel wir denn Gottes Mantel fassen sollen, wenn er vorüberweht.» «Verdammt, hör mit dem Fragen auf. Sage mir, wenn du es weißt, ein größeres Glück, wenn du schon nach dem Glück gierst, als jenes, in uns, in uns allein und gerade nur in uns und gerade nur durch die Gewalt, in der wir dienend vor die Hunde gehn, zu erfahren, was unser Leben glühend macht. Wie anders denn, als daß wir uns ans nackte, unverfälschte Leben zu werfen den Mut haben, als daß wir sind, was wir nicht anders sein können, ohne vor uns selber zu erröten, wie anders denn kann uns Erfüllung werden und durch uns Erfüllung unsres deutschen Schicksals?» «Was unser Leben glühend macht, das ist die Forderung der Nation. Sie trifft die anderen gleich uns. Gibst du dich schon so schnell zufrieden? Du sagst Schicksal, wo die andern Hunger sagen, wenn sie deuten wollen.» «Ich sage Schicksal, weil ich die Nation als Kraft begreifen muß und nicht als Stoff.» «Dann ist dir die Nation doch nicht das letzte Ziel?» «Du bist nicht aus sengenden Träumen aufgeschreckt, die du in Wachheit dann in ihrem tiefsten Sinn erkanntest? Wenn wir berufen sind, dann
sind wir es, in unseren Herzen zu bewahren, was durch Jahrhunderte hindurch zu uns gelangte, durch jegliche Verschüttung sich erhielt, was uns erst wert macht, Volk zu sein. Kein Volk, das sich in seiner Kraft vollenden will, verzichtet auf den Anspruch, zu beherrschen, soweit die Fülle seines urtümlichen Gehaltes reicht. Ich erkenne keine Haftung an, denn eine, gegenüber dieser Kraft.» «Nun denn, in welchem Traume zeigt sich die Erfüllung dieser Kraft?» «Im Sieg der Deutschheit über die Erde.» Da waren viele Dinge, um die wir in jener Nacht stritten. Und es war so, daß wir immer erst zu den Begriffen finden mußten, ehbevor wir uns verständigen konnten. Denn das eine erfuhren wir stark: es konnte uns nicht mehr genügen, einander an der Haltung zu erkennen. Nicht genügen konnte es uns, zu sehen, daß wir uns durch sie von den anderen unterschieden. Wir fragten nach dem Warum. Und da wir wußten, daß diese Frage nun in allen Lagern der Jugend aus der Wirre aufsprang, glaubten wir, sie schärfer stellen zu müssen, da wir dieser Haltung auch schärfer gelebt. Das konnte aber nichts anderes bedeuten, als auch in der Frage radikal zu sein, das heißt, bis zur radix, bis zur Wurzel vorzudringen. Damit unterwarfen wir uns der Tyrannei des Wortes, wie wir ja bereit waren, uns jeder Tyrannei zu unterwerfen, in der wir stark werden konnten. Und Kern sagte: «Einer Tyrannei können wir uns niemals unterwerfen: der wirtschaftlichen; denn da sie unserem Wesen völlig fremd, können wir unter ihr nicht erstarken. Sie wird unerträglich, da sie im Rang
zu niedrig steht. Hier ist der Punkt, an dem sich das Kriterium bildet, um den man wissen muß, auch ohne nach Beweis zu fragen. Man fühlt den Rang, man kann sich nicht mit denen, die ihn leugnen, über ihn verständigen.» Ich sagte zögernd: «Die von Verständigung reden, setzen den Rang der Tyrannei des Wirtschaftlichen hoch.» «Die von Verständigung reden, reden auch von Versöhnung. Aber eine Versöhnung kann, wenn die breite Bahn vergossenen Blutes zwischen den Parteien steht, nur da sich vollziehen, wo die Kämpfer im Augenblick der höchsten Tapferkeit einander erkennen. Wie können Gegner anders voreinander Achtung haben, als wenn sie sich bewußt sind ihres Wertes und der Gegensätzlichkeit ihres Wertes?» «Die von Versöhnung reden, glauben an einen absoluten Wert.» «Das scheidet uns von ihnen. Was haben die Männer, die jetzt so ernst und betriebsam nach Genua reisen, einzusetzen an Substanz, die ihr eigen ist? Sie sprechen die Sprache des Gegners, sie denken in seinen Begriffen. Ihr gewichtigstes Argument ist immer wieder, daß die Schädigung der deutschen Wirtschaft die Wirtschaft der Welt schädigt. Ihr großer Ehrgeiz ist immer wieder, gleichberechtigt in das System der Großmächte Europas, des Westens, eingefügt zu sein. Und wenn ich «der Westen» sage, dann meine ich die Mächte, die sich der Tyrannei des Wirtschaftlichen unterworfen haben, weil sie unter ihr stark werden konnten.»
«Wenn ich recht berichtet bin, fährt auch Tschitscherin nach Genua.» «Wenn ich recht berichtet bin, fährt Tschitscherin nach Genua, um zum ersten Male seit Bestehen der Sowjetunion für Rußland mit dem Anspruch der Nation auf des Westens eignem Felde anzutreten.» «Der Bolschewismus als ein Anspruch der Nation? Ich werde morgen Bolschewik.» «Tu das, und ich betrachte dich als Russen. Das ist es ja, was mir die Gewißheit gibt vom Aufstieg der Nation als richtungweisendem Begriff. Kämpf gegen eine neue Idee, und du triffst ein Land. Wie wir, ringt auch das Rußland Tschitscherins um seine Freiheit, die sich erfüllt im Finden einer eigenen Haltung. In ihrer ganzen Geschichte haben das Russentum wie das Deutschtum sich immer gegen Überfremdungen zu wehren gehabt. Nur hat, scheint mir, die deutsche Willensbegabung stets das deutsche Weltbild in die Mitte des Kampfes gestellt, indes innerhalb des Russentums eine Überfremdung gegen die andere stritt. Wie, wenn der Russe, sich gegen den Westen zu wehren, die Hilfe einer Komponente nahm, die sich innerhalb des Westens gegen diesen selber gebildet hat? Das hieße doch den Teufel Kapitalismus mit dem Beelzebub Marxismus austreiben! Nun gut, und das ist wichtig, daß dieser Beelzebub die Schaffellmütze auf den Schädel setzte und unter seiner Tyrannei der Russe stärker wurde, als er je gewesen. Und das ist wichtig, daß nun ein Angriff auf den Bolschewismus ist ein Angriff auf die russischnationale Freiheit. Weil dort die Gegensätze schärfer herausgestellt waren, wurden sie auch schärfer ausge-
fochten. So also fand die Sowjet-Union — eine Union nationaler Republiken mit streng hierarchischem Aufbau übrigens — im Bolschewismus die ihm gemäße staatliche Ausdrucksform, wie sie die Deutsche Republik in Weimar nicht fand.» «Diese sonderbaren Nationalisten sagen: Weltrevolution.» «Sie sagen Weltrevolution und glauben Rußland. Ein Volk reicht, soweit seine Kraft reicht, und so weit reicht auch seine Idee. Die russische Idee der Weltrevolution reichte immerhin so weit, das Land von fremden Armeen reinzufegen, einen Einfall in Polen zu wagen, den Westen mit Angstträumen zu quälen und in allen Staaten der Welt eine kostenlose, bereitwillige und gutgläubige Armee der Irredenta marschieren zu lassen.» «Schlagen wir uns zu dieser Armee der Irredenta!» «Darum können wir uns nicht zu den deutschen Kommunisten schlagen, weil sie nach russischem Willen nicht siegen dürfen. Sie dürfen nicht siegen, weil sie nach ihrem Siege als russische Irredenta ausfielen, weil sich dann bei ihnen derselbe Prozeß vollziehen muß, der Prozeß des Einwachsens elementarer Kräfte, der Rußland im Bolschewismus erst zur Nation machte. Darum dürfen sie nach unserem Willen nicht siegen, weil sie sich der Nation versagen.» Ich sagte erregt: «Aber es geht doch um den Kampf gegen den Westen, gegen den Kapitalismus! Werden wir Kommunisten! Ich bin bereit, mit jedem zu paktieren, der meinen Kampf kämpft. Ich habe kein Interesse, einen Besitzstand zu schützen, zu dem ich in keinerlei Beziehungen stehe.»
«Es handelt sich nicht um Interessen. Bei den Kommunisten handelt es sich darum. Wenn wir ihnen das Interesse streitig machen, dann tun wir es nicht, weil es das ihre ist, sondern weil wir überhaupt kein Interesse als das der Nation anerkennen können. Setzen wir statt Gesellschaft oder «Klasse» die Nation, und du wirst begreifen, was ich meine.» «Das bedeutet aber doch Sozialismus in seiner reinsten Form!» «In der Tat, das bedeutet Sozialismus. Und nur in seiner reinsten Form, in der preußischen nämlich. Ein Sozialismus auf allen Gebieten, einer, mit dem wir nicht nur die Tyrannei des Wirtschaftlichen brechen durch die innigste Bindung, durch den letztmöglichen Einsatz für die deutsche Gesamtheit, einer, durch den wir auch die innere Haltung, die geistige Geschlossenheit wiederfinden, um die uns das neunzehnte Jahrhundert betrog. Um diesen Sozialismus kämpfen wir, und wer sich diesem Kampf versagt, der ist der Gegner. Ja, sie sind so gute Deutsche alle, so warme Patrioten. Wenn sie mit aller ihrer Inbrunst «deutsch» sagen, dann meinen sie genau ebendas, was dem verflossenen Jahrhundert das Gepräge gab. Dann meinen sie ebendas, an was der große Krieg den Hebel setzte. Sie meinen keinesfalls das, was uns den Inhalt gibt. Wie könnten sie auch! Es gibt keine Versöhnung zwischen ihnen und uns; denn ihnen ist die letzte Tapferkeit nicht mehr möglich. Wenn es eine Macht gibt, die wir vernichten, mit allen Mitteln zu vernichten die Aufgabe haben, dann ist es der Westen und die deutsche Schicht, die sich von ihm überfremden ließ. Sie sagen «deutsch» und drängen in ihr Mutterland
Europa. Sie jammern vor der Unterwerfung und sehnen sich nach ihr. Sie wollen, daß wir leben, und sind bereit, den letzten Rest der deutschen Substanz preiszugeben um der einzigen Tyrannei willen, die sie begreifen können. Und sie wundern sich, daß die Deutschen immer noch gefürchtet werden. Aber nicht werden diese Männer der Unterwerfung gefürchtet, etwa weil ihre Beweise und Forderungen, ihr Wollen und ihre Haltung gefährlich sind, sondern die Deutschen werden gefürchtet, weil wir da sind. Weil in uns und hunderttausend anderen durch Krieg und Nachkrieg wieder aufgebrochen ist, was uns dem Westen erst gefährlich macht. Und das ist gut so, daß ist dreimal gut so. Denn so wirkt unsere Zeit für uns und wir wirken für unsere Zeit. So können wir vielleicht noch gutmachen, was wir verschuldet, da wir den ungeheuerlichsten Solidaritätsbruch der Weltgeschichte gegenüber den vom Westen unterdrückten und nun erwachenden Völkern begangen, als wir, als vom Westen unterdrücktes Volk, nicht unsern eignen Freiheitskampf begannen. Als wir passiv waren, wo wir unter allen Umständen aktiv sein mußten!» «Rathenau begann aktive Politik. Um seiner aktiven Politik willen geht er nach Genua.» «Rathenau? Ja, Rathenau. —» Kern stand auf und lehnte sich ans Fenster. «Dieser Mann ist Hoffnung. Denn er ist gefährlich.» Kern ging auf und ab. Er stieß im Dunkeln an. Er stieß an die Handgranatenkisten, an die Gewehre, die in der Ecke gestapelt lagen. Er sprach leise und eindringlich. «In seine Hand ist mehr gelegt, als je in eine Hand seit dem November 18. Wenn zu einem Manne das Schicksal mit seiner Forderung kam,
mit seiner leidenschaftlichsten Forderung, dann ist es dieser Mann. Er hat die bitterste Kritik der Menschen und der Mächte seiner Zeit geschrieben. Und doch ist er ein Mensch dieser Zeit und hingegeben diesen Mächten. Er ist ihre reifste, letzte Frucht, in sich vereinigend, was seine Zeit an Wert und an Gedanken, an Ethos und an Pathos, an Würde und an Glaube in sich barg. Er sah, was keiner sah, und forderte, was keiner forderte.» Kern ging zum Fenster und riß es auf. Er beugte sich hinaus. Er wandte sich. «Er hat nie den letzten Schritt getan, den Schritt, der ihn frei machen muß. Ich glaube, ich spüre es bei jedem Satze seiner Reden, seiner Schriften, er sparte sich den letzten Schritt für eine Zeit, da er entscheidend werden muß. Ich glaube, diese Zeit ist da. Ich glaube, er will ihn gehen. Für uns kann nur bestimmend sein, wohin er führt.» Ich stand auf und begegnete Kern in der Mitte des Raumes. Kern sagte: «Ich könnte es nicht ertragen, wenn aus dem zerbröckelnden, aus dem verruchten Bestände dieser Zeit noch einmal Größe wüchse. Möge er das treiben, was die Schwätzer Erfüllungspolitik nennen. Was geht das uns an, die wir um höhere Dinge fechten. Wir fechten nicht, damit das Volk glücklich werde. Wir fechten, um es in seine Schicksalslinie zu zwingen. Aber wenn dieser Mann dem Volke noch einmal einen Glauben schenkte, wenn er es noch einmal emporrisse zu einem Willen, zu einer Form, die Willen und Form sind einer Zeit, die im Kriege starb, die tot ist, dreimal tot, das ertrüge ich nicht.» «Dann ist der Gegner erkannt», sagte ich, «die Frage ist, wie greift man ihn in seinem innersten Bestände an?»
Ich fragte Kern: «Wie hast du als kaiserlicher Offizier den neunten November 1918 überstehen können?» Kern sagte: «Ich überstand ihn nicht. Ich habe mir, wie es die Ehre befahl, am neunten November 1918 eine Kugel in den Kopf gejagt. Ich bin tot; was an mir lebt, bin nicht ich. Ich kenne kein Ich mehr seit jenem Tage. Ich will nicht schlechter sein als jene zwei Millionen Tote. Ich starb für die Nation, so lebt in mir alles nun einzig für die Nation. Wie könnte ich es ertragen, wäre es anders! Ich tue, was ich muß. Weil ich sterben konnte, sterbe ich jeden Tag. Weil, was ich tue, der einzigen Kraft gegeben ist, ist alles, was ich tue, Ausfluß dieser Kraft. Diese Kraft will Vernichtung, und ich vernichte. Bisher hat sie nur Vernichtung gewollt. Wer mit dem Tod paktiert, muß zu dem Teufel Oheim sagen können. Ich weiß, daß ich zerrieben werde, fallen werde, wenn mich die Kraft aus ihrem Dienst entläßt. Nichts bleibt mir, als zu tun, was mir mit meinem vollen Willen ist diktiert. Nichts bleibt mir, als mich zur schönen Härte meines Schicksals zu bekennen.»
Plan Ein Telegramm Kerns ließ mich nach Berlin reisen. Dort traf ich ihn und Fischer in einer obskuren, aber billigen Pension. Kern war von jener freien und leichten Heiterkeit, die in den Schwingungen ihrer Kraft tausend Pläne reifen läßt und tausend
Möglichkeiten birgt. Der Mißerfolg des Attentates auf Scheidemann befriedigte ihn fast. Er war, wie er erzählte, von Anfang an dafür eingetreten, das Blausäuregemisch in dem zur Tat benutzten Gummibällchen in einem verschlossenen Raum auszuprobieren. Die unerschütterliche Betriebsamkeit des bejahrten Volkstribunen, die ihn eine halbe Stunde nach dem Attentat bereits vor versammeltem Volke seine Rettung mit beschwingten Worten in einer langen Rede preisen ließ, erfüllte Kern mit einer durch vergnügtes Kopfschütteln unterstrichenen Sympathie, wie man sie etwa dem Gebaren seltsamer und exotischer Tiere zuwendet, die man zu beobachten Gelegenheit hat. Fischer, ein ruhiger und nachdenklicher junger Mensch, Ingenieur aus Sachsen, der Typus des Frontoffiziers, für den es keine andere Anerkennung gab als das Vertrauen der Mannschaft zum jungen Führer, bat mich, von den vielen geplanten Aktionen eine zu übernehmen, um Kern und ihn zu entlasten. Die Affäre Weigelt war ruchbar geworden; ich hoffte, in Berlin weiter wirken zu können. Meinen Wunsch, mich an dem Einbruch in die Räume der Interalliierten Militär-Kontroll-Kommission in Berlin zu beteiligen, lehnte Kern ab, ebenso wie Fischer glaubte, für die Wiederholung der seinerzeit verratenen Waffenschiebung von Freiberg zu den Sudetendeutschen der Tschechoslowakei genügend Kräfte zur Verfügung zu haben. So wählte ich eine andere Waffenschiebung, die in Pommern ihren Abschluß finden sollte. Doch bat mich Kern, ihn vorläufig bei den Vorbereitungen zur Befreiung deutscher Aktivisten
aus dem französischen Militärgewahrsam in Düsseldorf zu unterstützen. Die Arbeit in Berlin erwies sich als schwerer, als wir vermutet hatten. Wir waren gezwungen, mit einer unwahrscheinlich geringen Geldsumme hauszuhalten. Wir hatten die Termine der einzelnen Aktionen zu kurz gefaßt. Immer mehr häuften sich im Lande die Fälle von Verrat. Aktionen, die der Führung Kerns ermangelten, gerieten schon in den Vorbereitungen fehl. Wir standen plötzlich vor einer Fülle von Aufgaben, die wir einfach nicht bewältigen konnten. Aus allen Teilen des Reiches kamen die Nachrichten und die Anforderungen. Täglich erschienen geheimnisvolle Unbekannte bei Kern. Es war nicht leicht, sie immer umzudirigieren, da wir alle drei Tage die Wohnung wechselten. Jeder Blick in die Zeitungen bewies uns, daß wir uns in dem Wellenköpfeschauer befanden, der einem schweren Sturme voranzugehen pflegt. Nicht nur hatten fast alle Gruppen im ganzen Lande unabhängig voneinander fast auf einen Schlag ihre höchste Aktivität entwickelt, auch in allen anderen Bereichen, in Betrieben, in Behörden, in den Parlamenten, in den Beziehungen der Großstaaten und der deutschen Länder untereinander hatten sich die Verhältnisse mit kalter Schärfe zugespitzt. In der Mitte des Monats Juni 1922 schien Kern in seinem Eifer zu zögern. Er wurde zurückhaltender, als wir es gewohnt waren. Manche Aktionen sagte er ohne Grund ab, andere verschob er. Er suchte viel mit Fischer allein zu sein. Auch Fischer fing an zu grübeln. Manchmal redete er tagelang nur das Allernotwendigste. Des öfteren ließen beide mich zurück, um
den Beratungen im Reichstag beizuwohnen. Gern wandten sie sich mit biederem Auftreten an demokratische Abgeordnete, um einen Einlaßschein zu erlangen. Doch kehrten sie immer mißmutig und enttäuscht zurück. Die Folge von Sprengstoffattentaten in Hamburg schien Kern einigermaßen direktionslos zu sein. Er bat mich, nach Hamburg zu fahren und die Aktion zu unterbinden. Gleichzeitig möchte ich mich nach einem Chauffeur umsehen, der das noch nicht zur Verfügung stehende Automobil für die Düsseldorfer Gefangenenbefreiung steuern solle. Als ich zurückkehrte, war Kern ärgerlicher über mich, als ich ihn je gesehn hatte. Der Chauffeur schien ihm durchaus unzulänglich. Er sandte ihn zurück. Er sprach davon, daß er schon einen Kameraden aus der Sturmkompanie der Brigade Ehrhardt, Ernst Werner Techow, nach Sachsen gesandt habe, um ein Auto zu holen. Jetzt revoltierte ich. Ich verlangte Aufklärung von Kern über die Dinge, die er vorhabe. Er behauptete, sie gingen mich nichts an. Ich drang in ihn, ich fürchtete eine Vertrauensminderung. Kern sagte endlich, er habe mich nicht in eine Sache hineinreißen wollen, die ich in ihren Auswirkungen nicht zu übersehen vermöchte. Den Einwand, ich sei zu jung, ließ ich keinesfalls gelten. Am Abend eines der nächsten Tage saßen wir, Kern, Fischer, ich, auf einer Bank am Großen Stern im Tiergarten und warteten auf den Wagen, der von Sachsen eintreffen sollte. Kern sagte, er habe alle Aktionen zurückgestellt, um zu einem Schlage auszuholen, der in mehr als einer Hinsicht entscheidend werden müsse.
Er saß vorgebeugt, die Arme auf die Knie stützend, und sah den in der sanften Dämmerung flanierenden Menschen nach. Fischer lehnte sich still zurück und blickte durch die Kronen der hohen Bäume in den fahlen Abendhimmel. Die verworrenen Geräusche ferner Musik hallten zu uns herüber. Reichswehrsoldaten gingen vorbei. Kern folgte ihnen mit den Blicken. Er sagte, durch diese Straße seien sie im März 1920 in Berlin eingerückt. Es sei der schönste Tag seines Lebens gewesen. Er sagte, er wüßte, daß er bei dem, was er jetzt vorhabe, einem Manne untreu würde. Aber nicht untreu würde er der Idee, die ihn weiterstoßen hieße, als jeder Plan und jede Rechnung es erlaube. Pflicht sei nicht mehr Pflicht und Treue nicht mehr Treue und Ehre nicht mehr Ehre. Was bleibe, sei die Tat und mit ihr die letzte Haftung. Kern sagte: «Wenn jetzt das Letzte nicht gewagt wird, kann es für Jahrzehnte zu spät sein. Was in uns brodelt, gärt in allen Hirnen, auf die es ankommt. Was werden will, soll nicht in dumpfen Räumen reifen. Es kann sich nicht anders formen als unter dem steten Zwang zu steter Tat. Es muß den härtesten Widerstand fordern und selber zum härtesten Widerstand fuhren. Die Entwicklung soll sich selber weiterpeitschen, bis zu ihrem höchsten Grade, mit einer Überstürzung, die kein Überlegen zuläßt, die aus der Not des Augenblickes zu den Mitteln greifen läßt, die das ursprünglichste Leben selbst diktiert. Nicht anders vollzieht sich eine Revolution. Wir wollen die Revolution. Wir sind frei von der Belastung von Plan, Methode und System. Darum ist es an uns, den ersten Schritt zu tun, die
Bresche zu schlagen. Wir müssen abtreten in dem Augenblick, da unsere Aufgabe erfüllt ist. Unsere Aufgabe ist der Anstoß, nicht die Herrschaft.» Fischer saß unbeweglich. Ein Schutzpolizist ging langsam vorbei und musterte uns. Es wurde dunkel. Kern sagte: «Der Wille zur Verwandlung ist da, überall. Er hat ganze Völker ergriffen, er steht als Furcht vor dem Leben, die immer eine Furcht vor dem Tode ist, in den Herzen der Kleinmütigen. Er steht als Bejahung des Lebens in den Herzen derer, die aufbauen, und derer, die einreißen wollen. In keines Menschen Hand ist die Gestaltung gelegt. Aber jeder einzelne kann durch sein Tun die Richtung bestimmen. Ich bin gewohnt, von allen Möglichkeiten die entschiedenste zu ergreifen. Was wir bis jetzt getan, steigerte, aber genügte nicht. Schlag auf Schlag fielen die Exponenten der Haltung, die es um jeden Preis zu vernichten gilt. Wir greifen das Sichtbare an; es ist immer noch durch Menschen verkörpert. Wir trafen Glieder, nicht das Haupt und nicht das Herz. Ich habe die Absicht, den Mann zu erschießen, der größer ist als alle, die um ihn stehen.» Mir wurde die Kehle trocken. Ich fragte: «Rathenau?» «Rathenau», sagte Kern. Er stand auf und sagte: «Das Blut dieses Mannes soll unversöhnlich trennen, was auf ewig getrennt werden muß.» — Der Wagen kam erst, als wir in unserer Wohnung am Schiffbauerdamm zu Bett lagen. Ernst Werner Techow berichtete, er habe unterwegs eine Panne gehabt. Er wußte noch nichts von Kerns Vorhaben. Kern wollte allein durch die Autorität, die ihm von selber bei allen,
die ihn kannten, zuwuchs, sich Handlanger schaffen für die Tat, ohne sie verantwortlich zu machen. In den nächsten Tagen beutete er rücksichtslos aus, was sich ihm als Hilfe anbot. Nur, wenn es nicht zu vermeiden war, nannte er den Namen Rathenau. Er bereitete in fieberhaftem Tempo alles vor, was auf die Tat hinzielte. Aber er besorgte sich weder Pässe noch Geld. Als ich ihn endlich fragte, was er nach dei Tat zu tun gedenke, sagte er: «Nicht, was du denkst. Wir wollen versuchen, nach Schweden zu entkommen. Sollte die Tat zu keiner Entscheidung führen, kommen wir sofort zurück und gehen den Nächsten an. Ich kann nicht glauben, daß die Tat nicht zumindest ein Fanal sein wird, das weitere Taten weckt. Ich komme auf jeden Fall zurück, um das zu tun, was kein anderer zu tun vermag. Wann das Ende kommt, steht nicht in meiner Hand.» Fast keine der Vorbereitungen glückte auf den ersten Anhieb. Dei Wagen war nicht in Ordnung. Die erwartete Maschinenpistole traf nicht ein, es mußte eine andere besorgt werden, die beim Probeschie-ßen mehrfach versagte. Tagelang war Fischer auf der Suche nach einer passenden Garage, endlich fand er eine durch Vermittlung eines Mannes, dem das Zeichen des Verrates an der Stirne stand. Als es hieß, Rathenau würde verreisen, sagte Kern zu mir mit dunklen Augen: «Es ist, als wollte es das Schicksal nicht.» Kern mußte die Attentatspläne eines siebzehnjährigen Gymnasiasten, von denen er erfuhr, unterbinden. Er verbat sich grob jede Einmischung, die ich versuchte. Er wünschte, Fischer solle sich von Techow im Steuern eines Kraftwagens unterweisen lassen, um
auch Techow ausschalten zu können. Die Dienste eines schwadronierenden und psychopathischen Studenten dagegen nahm er in verächtlichem Tone reichlich in Anspruch. Fischer blieb gleichmäßig ruhig. Er war der Pol, zu dem Kern sich immer wieder fand. Wenn er bemerkte, daß Kern sich am Kleinkram zerrieb, nahm er ihn zu langen Spaziergängen mit. Einmal führte er uns mit raschem Entschluß in ein Lichtspieltheater, das am Wege lag. Es wurde «Dr. Mabuse, der Spieler» gegeben. Wir fanden nur in getrennten Reihen Platz. Als auf der Leinwand das Innere eines Gefängnisses erschien, rief Kern über drei Reihen hinweg: «Pecheur, das ist die Zelle, aus der wir den Dittmar rausgeholt haben.» Die Leute riefen «Pst». Kern und Fischer besuchten den Reichstag. Rathenau sprach. Auf dem Heimweg blieb Kern Unter den Linden vor einem Photographenaushang lange stehen, in dem Rathenaus Bildnis hing. Die dunklen, merkwürdig warmen und gesammelten Augen blickten aus dem schmalen und gepflegten Gesicht uns beinahe forschend an. Fischer sagte nach langem Zögern: «Er sieht sehr anständig aus.» Am Sonnabend, dem 24. Juni 1922, des Morgens gegen halb elf Uhr, stand der Wagen in einer Seitenstraße der Königsallee im Villenvorort Grunewald, in der Nähe der Wohnung Rathenaus. An der Stelle, wo die Straße in die Königsallee einmündete, stand wartend Fischer. Kern holte aus dem Wagen seinen alten Gummimantel. Techow bastelte an der Haube des Wagens. Er berichtete Kern, der Ölzuführer
sei kaputt. Für eine kurze und schnelle Fahrt würde der Wagen noch genügen. Kern blieb bei seiner freien Gelassenheit. Ich stand vor ihm und sah ihn an. Ich zitterte so stark, daß ich zeitweilig dachte, der Motor des Wagens, an dem ich gelehnt stand, sei bereits angelassen. Kern schlüpfte in den Mantel. Ich wollte irgend etwas sagen, irgend etwas Warmes, Sicheres. Schließlich fragte ich: «Was sollen wir für Motive angeben, wenn wir gegriffen werden?» «Wenn ihr gegriffen werdet», sagte Kern fröhlich, «dann schiebt wacker alle Schuld auf mich. Das ist selbstverständlich. Sagt um keinen Preis die Wahrheit, sagt irgend etwas, Gott, es ist so gleichgültig, was. Sagt irgend etwas, daß die Leute verstehen, die gewohnt sind, ihren Morgenblättern zu glauben. Sagt meinetwegen, er sei einer von den Weisen von Zion, oder er habe seine Schwester an Radek verheiratet, oder sonst was Blödes. Oder sagt, was euch die Zeitungen vorkauen werden, was ihnen eingeht wie braune Butter, wenn sie es in eurer Aussage wiederfinden werden. Vielleicht schämen sie sich dann ein bißchen. Sagt es so platt wie möglich, wenn ihr überhaupt etwas sagen müßt, nur so seid ihr verständlich. Was uns bewegte, werden sie nie verstehen, und verstünden sie es, so müßte es euch erniedrigen. Seht zu, daß ihr euch nicht kriegen laßt. Bald wird jeder Mann gebraucht.» Er zog sich die Lederkappe über den Kopf. Sein Gesicht sah kühn und offen aus der braunen, strengen Umrahmung. Er sagte: «Die Düsseldorfer Sache darf nicht aufgegeben werden. Gestern bekam ich die Nachricht, daß auch diesmal die Freiberger Waffenschiebung ver-
pfiffen worden sei. Die Männer müssen gewarnt werden, denke dran. Du mußt sofort abreisen aus Berlin. Die Elberfelder sollen auf Matthes, Köln, aufpassen, er plant für seine Separatisten einen großen Schlag. Gabriel darf die Pfalz nicht verlassen, wenn es oben losgeht. Wenn Hitler seine Stunde begreift, ist er der Mann, für den ich ihn halte. Ein Jahr später ist ein Jahrzehnt zu früh. Grüß alle Kameraden.» Er hob die Maschinenpistole aus dem Sitz und legte sie griffbereit unter die Vordersitze. Er wandte sich mir zu und sah mir voll ins Gesicht. «Mach's gut, Kerl, du bist eine breite Axt, sieh zu, daß du nicht schartig wirst. Eine Bitte habe ich, laßt den Wirth leben; er ist ein braver Mann, und ganz ungefährlich.» Er beugte sich vor, er faßte mich am Rock. Er sagte leise: «Du kannst nicht ahnen, wie froh ich bin, daß ich alles hinter mir habe.» In diesem Augenblick fuhr ein kleines, dunkelrotes Auto in gemächlicher Fahrt die Königsallee herauf. Fischer strich vorbei und stieg schweigend in den Wagen. Techow saß am Steuer; sein Gesicht war plötzlich grau und wie aus Holz geschnitten. Kern gab mir kurz die Hand und stand dann, groß, mit wehendem Mantel, im Wagen. Der Wagen begann zu zittern. Ich stürzte an den Schlag und streckte die Hand hinein. Niemand ergriff sie. Kern setzte sich. Der Wagen fuhr an. Der Wagen fuhr an; ich wollte ihn halten, er glitt mit surrendem Ton. Ich wollte schreien, ich wollte laufen, ich blieb gelähmt, leer, erstarrt, völlig verlassen auf grauer Straße. Noch einmal blickte Kern sich um. Noch einmal sah ich sein Gesicht. Dann rauschte der Wagen um die Ecke.
Mord Walther Rathenau ermordet Berlin, 24. Juni Nach einer amtlichen Mitteilung wurde heute vormittag Minister Rathenau, kurz nachdem er seine Villa im Grunewald verlassen hatte, um sich in das Auswärtige Amt zu begeben, erschossen und war sofort tot. Der Täter fuhr im Auto nebenher und sauste nach vollbrachter Tat weiter. Meldung des «Berliner Tageblattes». Der Bauarbeiter Krischbin schilderte als Tatzeuge in der «Vossischen Zeitung» den Vorgang: «Gegen dreiviertel elf Uhr kamen aus der Richtung Hundekehle die Königsallee hinunter zwei Autos. In dem vorderen, langsamer fahrenden Wagen, der etwa die Mitte der Straße hielt, saß auf dem Rücksitz ein Herr; man konnte ihn genau erkennen, da der Wagen ganz offen, auch ohne Sommerverdeck war. In dem hinteren, ebenfalls ganz offenen Wagen, einem sechssitzigen, dunkelfeldgrau gestrichenen, starkmotorigen Tourenwagen, saßen zwei Herren in langen, nagelneuen Ledermänteln mit ebensolchen Lederkappen, die eben noch das Gesichtsoval frei ließen. Man sah, daß sie beide völlig bartlos waren.
Autobrillen trugen sie nicht. Die Königsallee im Grunewald ist eine stark befahrene Autostraße, so daß man nicht auf jedes Auto achtet, das vorbeikommt. Dieses große Auto haben wir aber doch alle gesehen, weil uns die feinen Ledersachen der Insassen ins Auge stachen. Das große Auto überholte den kleineren Wagen, der langsamer, fast auf den Schienen der Straßenbahn, fuhr, wohl weil er zu der großen S-Kurve ausholen wollte, auf der rechten Straßenseite und drängte ihn stark nach links, fast an unsere Straßenseite hin. Als der große Wagen etwa um eine halbe Wagenlänge vorüber war und der einzelne Insasse des anderen Wagens nach rechts herübersah, ob es wohl einen Zusammenstoß geben würde, bückte sich der eine Herr in dem feinen Ledermantel nach vorn, ergriff eine lange Pistole, deren Kolben er in die Achselhöhle einzog, und legte auf den Herrn in dem anderen Wagen an. Er brauchte gar nicht zu zielen, so nah war es; ich sah ihm sozusagen direkt ins Auge. Es war ein gesundes offenes Gesicht, wie man so bei uns sagt: so'n Offiziersgesicht. Ich nahm Deckung, weil die Schüsse auch uns hätten treffen können. Da krachten auch schon die Schüsse ganz schnell, so schnell wie bei einem Maschinengewehr. — Als der eine Mann mit dem Schießen fertig war, stand der andere auf, zog ab, — es war eine Eierhandgranate — und warf sie in den anderen Wagen, neben dem er dicht herfuhr. Vorher war der Herr schon auf seinem Sitz zusammengesunken und lag auf der Seite. Jetzt hielt der Chauffeur an, ganz nahe an der Erdener Straße, wo ein Schutthaufen war, und schrie: «Hilfe, Hilfe!», der fremde große Wagen sprang plötzlich mit Vollgas an und brauste durch die
Wallot-Straße ab. Das Auto mit dem Erschossenen stand inzwischen an der Bordschwelle. In dem gleichen Augenblick gab's einen Krach, und die Eierhandgranate explodierte. Der Herr im Fond wurde von dem Druck ordentlich hochgehoben, sogar das Auto machte einen kleinen Sprung. Wir liefen gleich alle hin und fanden auf dem Damm dabei neun Patronenhülsen und den Abzug der Eierhandgranate. Von dem Auto waren Teile des Fournierholzes abgesprungen. Der Chauffeur warf seinen Wagen wieder an, ein junges Mädchen stieg in den Wagen und stützte den bewußtlosen, wohl schon toten Herrn, und in großer Fahrt fuhr der Wagen den Weg, den er gekommen war, auf der Königsallee zurück zur Polizeiwache, die etwa dreißig Meter weiter am Ende der Königsallee nach Hundekehle zu liegt.» «Was habt ihr getan? Den Edelsten habt ihr aus feigem Hinterhalt gemordet. Die ungeheuerlichste Blutschuld habt ihr auf das Volk geladen, dem dieser Mann mit allen Fasern seines Herzens stets gedient. Ihr habt das Volk, das Volk in seiner gläubigen Masse selber in das Herz getroffen. Die verruchte Tat traf nicht den Menschen Rathenau allein, sie traf Deutschland in seiner Gesamtheit. Verblendete Buben, die ihr zur Mordwaffe griffet, eure Schüsse haben einen Mann getötet und sechzig Millionen verwundet. Ein Volk schreit Wehe über euren Wahnwitz, über das Verbrechen, dem sein Retter selbst zum Opfer fiel. Nicht genug damit, es wendet sich die Welt voll Abscheu und Entsetzen von einem Lande, in welchem euer Geist in seiner Blindheit wachsen und zu solchen Früchten reifen konnte. Was dieser Mann in
mühevollem Aufbau, in harter, steter Pflicht geformt, das habt ihr durch eure unheilvolle Schreckenstat mit einem Schlag zerstört. Ihr habt das Schicksal unseres Volkes um diesen Mann betrogen. Die Stimme der Vernunft habt ihr gemeuchelt, den Weg verschüttet, den sie wies. Ihr habt die Basis allen Völkerlebens: das Vertrauen, unheil bar erschüttert. Das Werk Bismarcks traft ihr und die deutsche Zukunft in ihrem ersten, gnadenvollen Keim. Im Schatten dieses Mannes wart ihr nicht wert zu leben. So schändlich wie die Tat sei euer Ende, das Sterben soll euch keinen Ruhm bedeuten, und keine Strafe, die euch trifft, sei schwer genug.» Rathenau schrieb in der «Mechanik des Geistes»: «Der Tod erscheint uns nur dann, wenn wir das Auge irrtümlich auf das Glied, nicht auf das Geschöpf richten. Die Alten haben das Absinken des Menschenlebens mit dem Fall des Laubes verglichen; das Blatt stirbt, aber der Baum lebt. Fällt der Baum, so lebt der Wald, und stirbt der Wald, so grünt das Erdenkleid, das alle seine Schützlinge nährt, wärmt und verzehrt. Erstarrt der Planet, so blühen tausend Braderzweige unter dem Strahl neuer Sonnen. Nichts Organisches stirbt, alles erneut sich, und der Gott, der aus der Ferne betrachtet, findet in Jahrtausenden das gleiche Bild und das gleiche Leben. — In der gesamten sichtbaren Welt kennen wir nichts Sterbliches. Etwas, das sterblich ist, könnte nicht geboren werden. Freilich, alles, was einem Ziel zustrebt, was sich reibt und kämpft, das nutzt sich ab, und somit ist eine materiellorganische Welt nur auf der Grundlage ewigen Substanzwechsels denkbar, vom Mechanismus des
Leibes bis zum Mechanismus des Atoms. Aber dieser Wechsel sieht dem Sterben nichi ähnlicher als das Wachstum der Einzelpflanze, das ohne Substanzwechsel unmöglich wäre. Der Begriff des Sterbens entsteht durch falsche Betrachtung, indem das Auge am Teil statt am Ganzen haftet. — Nichts Wesenhaftes in der Welt ist sterblich. Wollen wir dennoch die Macht, die in der Erscheinungsform des Daseins die Welten abgrenzt, auch fernerhin mit dem Bild des Todes bezeichnen, so erscheint der herrliche Genius als Wächter des Lebens, als Herr der Verklärung und Zeuge der Wahrheit.» Tod Der eisige Anhauch, der aus den Wirbeln des Entsetzlichen über die Länder und Städte fährt, die Sonne verdunkelt und fahle Schatten ir die Straßenschluchten wirft, riß mit seinem Schauer zu jener Stundt alle Herzen aus dem glatten Tag. Als die Zeitungshändler mit heiseren Stimmen die Nachricht über die Plätze schrien, als sekundenlang der Straßenlärm erstarb, um sogleich wieder in gestörten Rhythmer anzuschwellen, schien es, als ob der Hall der fernen Schüsse drohend über allen Köpfen hing. Die Menschen standen fassungslos in wirrer Haufen, die sich dann schnell zerteilten, sie gingen eilig wieder weiter, gleich als ob sie flüchten müßten, finden müßten zu sich selbst und wüßten doch, daß hinter ihnen der Schrecken jagte und vor ihnen das Unbegreif en alle Tore verschlossen hielt. Da aber alle Menschen, die den Tag bevölkerten, plötzlich derselben heimlichen Gewalt verfallen waren,
dasselbe dachten und dasselbe fürchteten und in derselben flatternden Hast den Weg suchten aus der Wirrnis, brütete, Vorbote der Panik, der flirrende Dunst über den Massen, der das Blut zum Aufschrei zwingt, zerreißt ein Wort nur, eine Steigerung den Bann. Wie auf einen Schlag schoben die Massen ihre Leibermauern unter schwankenden Fahnen vor, füllten die Städte mit dem Hämmern ihrer Schritte und peitschten die Luft mit dem Gemurre ihres dumpfen Zorns. Hunderttausende drängten zusammen, die nach Befreiung gierten, dem ungeheuerlichen Druck entrinnen wollten, unter den die Tat sie zwang. Wenn sie sich angegriffen fühlten, gut, dann war der Ansprung ihre Waffe. Nicht aber durften sie gebändigt werden von den Emsigen, die schon an allen Straßenecken standen, den besonnenen Schwätzern, die sich entrüsteten, weil sie die Stunde nicht gerüstet fand. Als ich die Massen auf den Plätzen durcheinanderquirlen sah, marschieren sah, getrieben sah von plötzlichem Einsturz ihrer geordneten Welt, brannte in mir die Glut der äußersten Qual, der rasende Wunsch, dazwischenzuschießen, damit es geschehe, mich hineinzuwerfen als lodernden Keil, den Spalt zu treiben bis zum gefesselten Kern der Dämonie. Ich fingerte zitternd nach der Waffe, aber kein lohnendes Ziel wollte sich bieten unter der Masse der sturen Gesichter; ich telephonierte mit schnatternden Kiefern bei den Aktivisten herum, aber die heimliche Gewalt hatte auch sie verschlungen; ich rannte mit kochendem Haß durch die Straßen, bereit, zu morden, den Nächsten, mich und die Welt, aber die zerflatternden Sekunden betrogen mich um den letzten Zwang. Mein Opfer wollte ich mir
herausknallen aus der Zone über der Masse der Namenlosen, Ebert oder Wirth, aber da sengte mir ein einziger Gedanke das Blut, und ich stand in kaltem Schweiß an eine Mauer gedrängt, und ich dachte «Kern», nichts anderes konnte ich denken als «Kern». Kern aber war verschollen. Kern und Fischer gingen ihren dunklen Weg. Sie zogen durch die ihnen nun entgöttliche Welt, sie trugen das Kainszeichen bewußt, mit tödlichem Ernst, sie wurden verschluckt von den Schatten, die ihre Tat selber beschwor. Karge Botschaft kam lange Zeit später zu ihren Freunden, wenige gelle Worte, von Mund zu Mund weitergetragen und umgeformt. Nur spärliche Berichte kündeten von jenen schmalen, ausweglosen Graten, die sie wanderten, warfen schwache Lichter auf den einsamen Pfad. Dies aber vernahmen wir: Kaum einige hundert Meter weiter von dem Orte der Tat hielt der Wagen an. Kern warf die Maschinenpistole über eine Mauer in einen blühenden Garten. Techow riß die Haube des «kranken» Wagens hoch. Sie streiften ihre Lederkappen ab, sie zogen die Mäntel aus. Schon bogen die Verfolger in die Straße ein. Die Polizisten, geduckt auf ihren knatternden Rädern, sahen das friedlich wartende Auto, und sie fuhren alle vorbei. Bei den Demonstrationen am Alexanderplatz standen sie eingekeilt in der Menge, die den Mördern fluchte, und sahen die schweren Wagen mit bewaffneter Mannschaft zur Verfolgung aus den Toren des roten Hauses rollen. Sie horchten den drohenden, hallenden
Reden der Exaltierten, die der Augenblick für Sekunden über den Tag hob, um sie gleich wieder zurückfallen zu lassen ins kleine Gesorg. Sie drangen bis an die Zimmer der Kommissare vor und verschwanden wieder in den menschengefüllten langen Gängen. Sie trafen sich noch einmal mit Techow am Wannsee. Sie segelten weit hinaus und lagen einsam und schweigend lange Stunden auf dem sonnenbeglänzten Wasser. Dann verschwanden sie aus Berlin. An einem Walde dicht bei Warnemünde sollte in einer Bucht das Motorboot warten, das die Geächteten bis zu einem Segler zu bringen bestimmt war, der auf hoher See kreuzte, um sie dort an Bord zu nehmen und nach Schweden zu tragen. In der verabredeten Nacht lag das Boot an der bezeichneten Stelle. Aber Kern und Fischer, gepackt vom Unbegreifen ihrer Flucht, irrten sich um vierundzwanzig Stunden. Sie kamen eine Nacht zu früh und fanden niemand vor. Sie glaubten, daß sie im Stich gelassen wären, und kehrten um. Und da sie nun wußten, daß sie verloren waren, faßten sie den tödlichen Entschluß. Sie wollten noch einmal zurück. Sie wollten noch einmal wagen. Sie wollten sich heranwerfen an die letzte Bitterkeit, noch einmal einen Gegner fallen sehn, bevor sie selber fielen. Sie wollten zu Freunden, sich erneut zu rüsten. Aber das Schicksal versagte ihnen alles; nichts war ihnen mehr gegönnt als die Kraft zum letzten Auftrieb. Sie besorgten sich Fahrräder. Sie nächtigten in einsamen Gehöften Förstereien, bei verschollenen
Kameraden aus fröhlicher Marinezeit. Aber die Zeit kam bald, da die Menschen vor ihnen erschraken, wenr sie an die Türen pochten. Blasse Gesichter riefen ihnen aus verschlossenen Fenstern zu, sie möchten weiterfahren, sicherten ihnen zu, daß niemand sie verraten würde, aber niemand ihnen auch helfen könne Es geschah, daß sie in der Nähe eines Dorfes zu kurzer Ruhe Gast waren bei einem früheren Kameraden. Und ein Mann ging durch die Ortschaft, der ein Plakat trug mit der Aufschrift, die Rathenaumörder seien im Dorf. Und die Bewohner schlichen in ihre Häuser und ver riegelten sich. Sie fuhren durch die weiten Wälder Mecklenburgs und der Mark Niemand weiß, woher sie ihre verbrauchte Kraft erneuerten. Niemand weiß von den geflüsterten Gesprächen, von den heimlichen Lagern in Dickicht. Niemand weiß von dem Geheimnis jener langen Nächte unter kühlem Sternenhimmel, von dem zarten Weben verlorener Träume, von der stillen Weichheit des nahenden Lichts. Als der Fährmann sie über die Elbe setzte, erschienen die Verfolger am soeben verlassenen Ufer, indes sie bereits in der Mitte des Stromes dahintrieben. Der drohende Haufe schrie sein «Halt!» dem Fährmann zu, und Kern und Fischer saßen müde und still auf den Bänken und sahen ins kreisende Wasser. Der Fährmann aber fuhr murmelnd seinen Weg zum anderen Ufer und setzte die Flüchtenden ab und ruderte träge zurück. So verloren die Verfolger die verheißungsvolle Spur. Sie bettelten um Brot. Sie schlichen an die Bauernhöfe und sahen starr durch die Fenster in die niederen Stuben, in denen sich die Menschen um runde
Lampen sammelten. Sie suchten sich Beeren und Früchte, sie gruben aus den Äckern die Wurzeln und streiften das reife Korn durch die Finger. Ein Landjäger schoß ihnen eine Ladung Schrot in das Kreuz. Sie verloren sich in den riesigen Wäldern Osthannovers. Und es wurde bekannt, daß sie in den Wäldern hausten, und es erfolgte das größte Polizeiaufgebot, das die Geschichte kennt. Rund um den Forst zog sich die Postenkette. Alle Hundertschaften der Landschaft, der benachbarten Provinzen sammelten sich. Der Wald war umstellt, Mann ging neben Mann, Busch für Busch erlitt die Streife, Gehölz für Gehölz sah die schreitenden Bewaffneten. Immer enger wurde der gewaltige Ring, dem Zentrum zu. Aber Kern und Fischer waren dem Netz entronnen, und niemand weiß, wie das geschehen konnte. Sie lebten wie das Wild in den Wäldern und sie wurden auch so gejagt. Sie fanden sich bei überraschten Freunden ein, die ihnen weiterhalfen und die sich späterhin darüber aussprachen, daß Kern von einer unbegreiflichen freien Heiterkeit gewesen sei, ohne Scheu und ohne die Last einer bedrückenden Furcht vor der Schuld. Sie mußten ürhet-zender Fahrt von der Elbe nach Thüringen geflohen sein, denn sie warfen, zwei Tage nachdem sie bei Gardelegen gesehen worden, ihre Räder in die Saale. Sie kamen zur Burg. Die Regierung setzte auf Kern und Fischer einen Kopfpreis aus von einer Million Mark. Viele Zeitungen, die es sich zur heiligen Aufgabe gemacht, die Gebote der Humanität, der Menschenliebe und -würde in ihren Spalten unter allen Umständen zu verteidigen, zu
wahren und zu pflegen, versagten sich nicht der Forderung der Stunde und waren bereit, ihren hehren Idealen für diesen besonderen Fall zu entsagen. Sie riefen zur Sammlung auf und richteten Annahmestellen ein für die reichlich einfließenden Gelder, die als Belohnung ausgesetzt wurden für diejenigen, welche die Geächteten der irdischen Gerechtigkeit überlieferten. Im umgekehrten Verhältnis zu dem Grade der Silichkeit des Prinzipes jener getreu zu erfüllenden Staatsbürgerpflicht erreichte der Kopfpreis so die Höhe von viereinhalb Millionen Mark. Der Reichstag beschloß sofort, ein Gesetz zu schaffen zum Schütze der Republik, und setzte einen besonderen Staatsgerichtshof ein. Ein Heer von Beamten beschäftigte sich mit der Ermittlung der Täter. Die Polizei setzte alle bekannten und unbekannten Aktivisten im Reiche fest, deren sie habhaft werden konnte, und richtete ihr Bestreben dahin, sämtliche erreichbaren Schriftstücke zu beschlagnahmen, in der durch nichts gerechtfertigten Erwartung, daß sich der Aktivismus vornehmlich in Papier austoben müsse. Während der erschossene Walther Rathenau noch im offenen Sarge lag, das wunde Gesicht mit dem zerschmetterten Kinn halb von einem Taschentuch verborgen, trat der Reichstag zusammen. Die Würde des Todes blieb im stillen Hause am Grunewald zurück. Helfferich mußte vor der Wut der tobenden Volksvertreter aus dem Sitzungssaale des Parlamentes flüchten, ein Vorgang, der sich grundsätzlich auf einer anderen Ebene und mit anderen Exponenten vollzog, als sie für die Tat gültig waren. Der Rang des Menschen Rathenau vermochte nicht dem Haß und
nicht der Trauer seiner Freunde das Gesicht zu geben. Er blieb auch im Tode einsam. In der wahnwitzigen Hoffnung, die beiden Freunde zu finden, irrte ich planlos durch die Stadt. Ich beging jede Straße, die ich mit ihnen begangen, ich besuchte alle Stätten, die ich mit ihnen besucht. Ich stieß am Trauerzuge, der dem Sarge Rathenaus folgte, blind vorbei, ich sah die Menschen wie Schemen, wie verhüllt von bläulichen Schleiern. Die Zeitungen blätterte ich hastig durch nach den Nachrichten über die Tater, und als zum ersten Male die Namen mir aus dem Wust der kleinen Schrift entgegenprallten, stand ich mit flirrenden Augen und erschöpft inmitten des Getümmels der Straße und lehnte mich zitternd an einen Baum und tastete nach der Pistole und stürzte dann fort, irgendwohin, und wanderte rastlos durch die Stadt, bis ich es nicht mehr ertrug und zum Bahnhof lief. Ich erbettelte mir Geld, ich besorgte Pässe für Kern und Fischer, die gefälscht und doch echt waren. Ich durchforschte die Meldungen, die von der Berliner Polizei im Stile der Tagesberichte des Großen Krieges herausgegeben wurden. Als es hieß, die beiden seien in Mecklenburg, reiste ich nach Mecklenburg. Ich fuhr nach Holstein, nach Thüringen, nach Westfalen; ich peitschte die verstörten Gruppen auf, ich sandte die Aktivisten auf die Suche. Meist, wenn ich in eine Stadt kam, in deren Nähe die Freunde gesehen worden sein sollten, stand schon im Polizeibericht der Name einer anderen, weitentlegenen Stadt; eine Landkarte war dort gefunden worden, die den Tätern gehören mußte, oder
ein Kragenknopf, oder irgendeiner wollte sie erkannt haben. Ich blieb an keinem Ort länger als einige Stunden, ich sprang bei den Kamerade ein, die überall verstreut wohnten, und forschte, ich verzweifelte voi der Sturheit plötzlich vorsichtig gewordener Freunde. An einem Tage riß ich sieben Steckbriefplakate ab. Ich stand über den Atlas gebeugt und zeichnete alle Spuren ein, die bis dahin einwandfrei gefunden waren. An die Etappen ihrer mutmaßlichen Straße sandte ich Nachricht. Aber kein Weg führte zu ihnen. Kein Gerücht traf die Wahrheit. Keine Hilfe erreichte sie. Manchmal wechselte ich während der Fahrt die Route, saß dann auf irgendeiner kleinen und obskuren Station an den von Bier und Tabal gebeizten Tischen des Wartesaals die Nacht hindurch und war trostlos und verbittert. Ich war besessen von dem Gedanken, sie zu finden. Ich murmelte den Namen Kern vor mich hin und glaubte, aus ihm mir neue Kraft zu holen. Ich wollte durch das intensivste Denken an den Freunc mich auch räumlich an ihn heranzwingen. Ich wußte, daß ich unzerreißbar mit ihm verbunden war. Ich dachte verzweifelt, daß es doch nicht möglich sein könne, nicht zu ihm zu gelangen. Ich fürchtete mich, zu schlafen; vielleicht konnte er gerade in diesem unersetzlichen Augenblick in nächster Nähe hilfesuchend vorbeistreifen. Ich rief mir jedes Wort, das ich von ihm gehört, ins Gedächtnis zurück. Ich erinnerte mich an jede Tat, die mich mit ihm verband. Ich malte mir die unwahrscheinlichsten Situationen aus; ich sah ihn ins Zimmer treten, in dasl Zugabteil, ich dachte, daß der Mann in blauem Jackett, der gerade vor mir ging und dessen Gesicht ich nur undeutlich erkennen konnte,
sichj umwenden und Kern sein müsse. Lange Zeit stand ich vor einem Steckbrief, der sein Bild zeigte, ihn als jungen Marineoffizier mit der weißen, kecken Sommermütze, seine Schrift zeigte, die steile, klare, schlichte Schrift. Ich riß den Steckbrief vorsichtig herunter und barg die schlechte Wiedergabe seiner Züge in der Brusttasche. Ich fuhr nach Erfurt. Ich wollte Dieter aufsuchen, denn es hieß, die beiden seien in Thüringen gesehen worden. Ich ging in Dieters Wohnung, aber die Wirtin sagte brummig und mißtrauisch, er sei am Tage vorher ausgezogen, die neue Adresse wisse sie nicht. Ich irrte durch die Stadt und spähte auf allen Straßen. Ich wagte mich in das Polizeipräsidium, jede Sekunde erwartend, verhaftet zu werden, aber Dieter war noch nicht umgemeldet. Ich kaufte mir eine Zeitung und las, daß die Polizeiaktion um Gardelegen erfolglos beendet sei, aber Kern und Fischer hätten sich anscheinend nach Hannover gewandt. Ich stieg in den Zug nach Hannover. Ich stieg in den Zug nach Hannover und hatte das Geld und die Pässe in der Tasche und im Koffer die Anzüge und die Wäsche und die Stiefel, die ich nun über drei Wochen für die beiden durch die Lande geschleppt. Ich fuhr durch die Berge Thüringens und sah blicklos durchs Fenster. Vor Bad Kösen und Naumburg wurde ich unruhig. Ich stand auf und ließ das Fenster herunter und beugte mich hinaus. Ich sah ie Saale fließen und spähte nach dem Bergkegel, der beinahe senkrecht neben dem Bahndamm hochstieg, und sah die beiden grauen, massigen, verwitterten Türme der Burg Saaleck, die den Kegel krönen. Und
ich grüßte zur Burg hinüber, im heimlichen Gedenken an die Tage, da Dittmar dort oben saß, von Kern aus dem Gefängnis befreit, und verspürte den brennenden Wunsch, in Bad Kösen auszusteigen und Burg zu besuchen, die Wege zu gehen, die Kern gegangen, die einen Hauch seines Wesens tragen mußten in ihrer trotzigen Steilheit. Aber ich dachte, daß ich das nicht dürfe, daß ich weiter müsse, nach Hannover müsse; ich dachte, daß Kern vielleicht jetzt, gerade jetzt, in er letzten Not sei und jede Verzögerung unwiederbringlich sein müsse. Noch einmal, als der Zug in Bad Kösen hielt, überkam mich der tolle Wunsch, aber ich blickte unendlich traurig zurück zur Burg und sandte brennende Grüße zu und fuhr weiter. Zu dieser Stunde aber waren Kern und Fischer in der Burg und waren auf Hilfe. Zu dieser Stunde hielt Dieter in Erfurt das Schreiben Kerns in den Händen und hatte weder das Geld noch die Pässe, noch die Dinge, die ich nun mit bebender Angst im Herzen nach Hannover trug. Es sollte nicht sein. Noch einmal durften sie, einsam zwischen Wind und Himmel, zu sich selber finden. Sie hausten versprengt, verlassen und verloren im oberen Gemach der Burg. Sie blickten frei über die schwirrenden Bäume, über die bewegte Landschaft hin, deren liebliche Linien nur die Härte des trotzigen Gemäuers unterbricht, in dem sie ihre letzte Zuflucht fanden. Sie sahen die Rudelsburg sich aus den steilen Felsen des Tales emporbauen, sie sahen die Saale in ihrem geschmeidigen Fluß zwischen schimmernden Büschen, sie sahen das Dorf, das sich
behutsam den Fuß des Berges schmiegt. Sie hörten das Rauschen und Schütteln der Bäume, die voll Leidenschaft sind, wenn der breite Abendwind zur Burg hinstreicht. Und wie die Landschaft nichts Träges kennt und keine Hast, sondern nur volle Erwartung und Nachklang einer großen Bewegung und tiefste Tätigkeit, so konnte in ihnen nichts anderes wachsen als die gnadenvolle Stille, in der jedes eine, arme Wort Mensch sein muß. Sicherlich war die letzte Ruhe bereits über sie hingebreitet, und alle Dinge flossen ihnen beglückend zu. Aus Sternen, Pflanzen und Steinen, aus den leisen Worten der Sammlung, der wissenden Hingabe an die große Einheit, der sie gedient, mußte ihnen die Kraft werden, der Auftrieb, die Lust zur bekennenden Stunde. Ganz nahe waren sie der Reife, der Vereinigung mit den wehenden Schauern aus fernen Räumen, ganz nahe waren sie dem gläubigen Einklang mit der Welt, um die sie gerungen. Sie hatten gelebt; und weil sie durch die Schuld geschritten sind und durch die Not, durch die Qual und durch die Verlassenheit, darum wußten sie die leichten Auflösungen und die billigen Auswege zu verachten, darum grüßten sie die Flamme, die einmal Tat war und ein andermal Läuterung und zum letztenmal Sterben. Und ihr Sterben war schön. So aber starben sie: Zwei Unwürdige, die das Leben aus lauem Munde an den Tag gespien, sahen, daß die Burg trotz der Abreise des Besitzers bewohnt war; sie schlichen um die Türme, sie erkannten Kern und Fischer und verrieten sie. Ihre Namen seien nicht genannt, sie seien nicht verflucht undl nicht gehaßt, sie sind nicht eines rächenden Gedankens wert. Die Polizei, die wußte, daß die Spur
verloren war, glaubte nicht ihren Angaben. Aber sie beriefen sich auf ihren rechtlichen Anspruch auf die Belohnung. Und zwei Kriminalisten aus Halle wurden nach der Burg gesandt. Und Kern und Fischer wurden entdeckt. Die Beamten drangen in den bewohnten Turm. Als sie die Stiege betraten, öffnete sich oben die Tür und Kern kam, mit der Pistole in der Hand, auf sie zu. Er trieb die Beamten vor sich her, die ins Freie flüchteten, und einer von ihnen beschwor Kern, nicht zu schießen, und rief ihm zu, daß er Familie habe. Und Kern murmelte etwas, irgend etwas von «Feiges Pack», der Weichheit den Mantel des Stolzes gebend, und verschwand wiederum im Turm. Die Beamten aber riefen Hilfe herbei. In wenigen Stunden hatte eine ganze Hundertschaft Schutzpolizei die Burg umzingelt. Es war dies am 17. Juli 1922. ZweiTage vorher hatte sich ein Sturm erhoben, der nun seinen Höhepunkt mit kreischender Wut feierte. Die Wolkenfetzen jagten niedrig über den Berg, über die Türme, die grau und massig umhüllt waren von heulenden, klatschenden Schauern. Ganze Äste knackte der Sturm von den Bäumen und zerzauste das gekämmte Gebüsch des Berges und fegte Blätter und Buschfetzen in tollem Wirbel die Abhänge hinunter. Drüben die Rudelsburg lag hinter fliegenden Schatten. Die Landschaft war verhangen und verlor sich im Grau. Aber viele Ausflügler, die Bewohner des Dorfes sammelten sich um die Burg. Die Menschen umstanden den Berg, füllten die niedrig bewaldeten Abhänge, strichen um die ragenden Türme, in deren einem Kern und Fischer
um das Ende wußten. Noch einmal traten sie heraus; sie erschienen auf der Zinne des Ostturmes. Sie beugten sich zu den Neugierigen, die in der kleinen Sattheit ihres Unverdienstes wie gebannt nach oben starrten. Und im Angesicht der unverstehenden Menge drängten die gellen Worte des gleich dem Sturme entfesselten Trotzes zum letzten Ausbruch. «Wir leben und sterben für unsere Ideale!» riefen sie zu den Harrenden hinunter. Sie riefen: «Andere werden uns folgen!» Sie brachten ein Hoch aus auf den Mann, den sie als ihren Führer geliebt und der ein Geächteter war, gleich ihnen. Sie beschwerten Papierfetzen, auf denen ihre letzte Botschaft verzeichnet gewesen sein mußte, mit Steinen und warfen sie vom Turm. So heftig aber war der Sturm, daß nicht eines gefunden werden konnte. Sie sahen den davonfliegenden Steinen nach. Sie verschwanden vom Altan ins Turminnere, und niemand mehr hat sie noch einmal lebend gesehn. Die Kriminalbeamten aber, «um ihren Mut und ihre Entschlossenheit zu beweisen», wie sie zu den Akten gaben, eröffneten nun, ohne angegriffen zu sein, in der sicheren Deckung des unbewohnten Westturmes das Feuer auf das oberste Fenster. Ein Schuß traf das Fenster. Ihn gab jener Beamte ab, der von Kern sein Leben erfleht. Es mußte aber Kern am Fenster gebeugt gestanden haben, denn der Schuß, der dicht oberhalb des Simses das Glas durchschlug, traf ihn am Kopf, zwischen der rechten Schläfe und dem Ohr. Er war sofort tot. Fischer versuchte, seinen gefallenen Kameraden zu verbinden; er hatte Leinewand in Stücke gerissen und das Blut aus der tropfenden Wunde gestillt. Als er sah, daß es
vergeblich war, hob er den Toten hoch und bettete ihn auf das Lager. Da die Stiefel des Toten das Bettzeug beschmutzten, legte er sorglich einen Bogen Packpapier unter die Füße Kerns. Er faltete ihm die Hände und strich ihm die Augen zu. Fischer setzte sich auf das andere Bett. Er hob die Pistole und setzte sie an ebendieselbe Stelle, an der Kern getroffen war, und drückte ab. Flucht Niemals hatte ich so stark gespürt, daß die beiden Freunde mir ganz nahe waren, wie zu jenen Stunden in der klaren und ein wenig langweilig sauberen Stadt. Daß ich keinen einzigen der hannoverschen Kameraden antraf, erschien mir fast wie ein gutes Zeichen. Sicherlich waren Kern und Fischer nun geborgen. Ich ging gelöst und mit heiterer Leichtigkeit durch die Straßen, wissend, daß ich sie finden werde, und selbst das Gefängnis, an dem ich vorüberkam, konnte mir mit seiner düsteren Front und den eintönigen Reihen niedriger und dunkler Fenster keine andere Empfindung vermitteln als die einer überlegenen Schadenfreude. Es war gar keine Unruhe mehr in mir, und zum ersten Male seit dem Tage des Mordes ging ich schlafen ohne die betäubende Angst, die mir mit der Gewißheit, daß draußen das Leben mit vollen Pulsen weiterging, die krausen Träume an die Grenze des Wachens bannte. Aber dann überfiel mich der Traum doch. Ich mußte plötzlich aus einem engen Räume fliehen vor einem vielarmigen, in unbestimmten Formen zerfließenden Geschöpf, das drohend aus der
kahlen Ecke mich ansprang. Kein anderer Ausweg blieb als der Schlund einer steilen, winkeligen Treppe, die ins Bodenlose führte. Das Geschöpf aber war schneller als ich, immer sah ich die Arme nach mir greifen; ich stieß mit versagenden Beinen ins Dunkel, fühlte, wie sich der Grund unter meinen Füßen stufig senkte, und glaubte schreien zu müssen, ohne es zu können. Im Augenblick der höchsten Gefahr aber erinnerte ich mich in beglückender Erregung, daß ich ja fliegen konnte, daß ich nur die Arme zu erheben brauchte, nur mit ihnen zu schlagen brauchte, auf und nieder, um mich über den Boden zu erheben und mit flatternden Schwingen zu fliegen. Freilich besaß mein schwerer Körper keinen Überschuß mehr; ich mußte die Kraft aus dem Innersten holen, mit der letzten jagenden Wucht meines Willens mich erheben und den Lüften anvertrauen. Ich machte einige stolpernde, schwankende Schritte, wie es wohl die Störche tun, bevor sie sich zum Fluge schwingen, aber schon hob ich mich und schwebte mit rasender Geschwindigkeit immer einige Fuß über der Treppe durch die dämmerige Luft des Hauses. Plötzlich befand ich mich im Freien und strich über eine zerrissene Landschaft hoch über den Köpfen der Feinde, in die sich die Gestalt des Dämonen gewandelt hatte. Immer wieder senkte sich mein schräger Körper und drohte zu Boden zu fahren, aber mit verzweifelter Strenge zwang ich die Arme, sich erneut zu regen, und merkte sofort, wie sich die Last meines Leibes willig, aber dem Irdischen verhaftet, in neuen Stößen vorwärts schob. Die Luft ballte sich unter mir und trug mich höher und höher. Als ich über dem dunklen Meere war, sah ich den
Dämon in der Gestalt eines entsetzlichen Polypen auf dem Grunde der Wasser sich regen und mich aus rundem, in der Mitte des schwammigen Bauches glotzendem Auge höhnisch beobachten. Trotzdem ich in großer Höhe war, netzte mein rudernder Fuß doch das aufgewühlte Wasser, und ich spürte, wie sich das Fleisch meiner Glieder vollsog mit der niederziehenden Flüssigkeit. Ich versuchte einen letzten Stoß, um in die Luft zu fahren, trieb auch wieder mächtig auf, als mein Körper in der Mitte knickte und ich in rasendem Wirbel senkrecht zu Boden schoß. Dabei hörte ich wilde Schreie, die aber sofort verblaßten und nun durch das geschlossene Fenster drangen, als ich mühsam die Augen öffnete. Zeitungshändler schrien unten eine Nachricht aus. Ich erhob mich schnell mit schmerzendem Schädel, zog mich geschwinde und von sonderbarer Furcht erfüllt an und ging eilig durch die kleine Halle des Hotels auf die Straße. An der Ecke standen viele Menschen am Schaufenster eines Zeitungsbüros. Ich drängte mich durch und las die blauen Schriftzeichen eines Telegramms, das den Tod Kerns und Fischers meldete. Obgleich ich keinen Augenblick an der ganzen Wahrheit der nüchternen Nachricht zweifelte, glaubte ich doch nicht aus meinem würgenden Traume gerissen zu sein. Noch immer stürzte ich, kreiselte blitzschnell um eine schief gelagerte Achse, und die Wucht des Absturzes riß mir die Kleider in Fetzen vom Leibe. Gleichzeitig aber hitzte die Reibung mit der aufgewühlten Luft sengend die Glieder, hüllte mich in einen Rausch toller Glut, die mich langsam verbrannte. Ich fühlte mit prickelndem Schauder, wie die Glieder
kohlten, wie der Kopf sich löste und nun abgetrennt seine eigene Bahn trudelte. Der Kopf war es auch, der sich zuerst fand. Er lag an kühles Eisen gebettet auf einer Bank, und ein Schutzmann beugte sich über ihn. Ich wehrte ab und ging taumelig und mit zusammengezogenen Schultern durch die Anlagen. An einem Teiche blieb ich stehn und warf ohne Gedanken einige Steinchen ins Wasser. Sie plumpsten matt auf den Grund, verschwanden im bewegten Wasser, im Schlamm staubige Wölkchen auftreibend. Kleine Fische stießen hinzu und schossen dann plötzlich wieder davon. Als der Schutzmann nahte, ging ich weiter. lch fühlte, wie der Schmerz an einer ganz unbestimmbaren Stelle nagte, sich eingrub in die Haut, die erstarrt und betäubt war wie von einer örtlichen Anästhesie, so daß nur das Hirn litt in dem Gedanken des unersetzlichen Verlustes. Das trieb mich auch, mich zu vergewissern, noch einmal die Nachricht zu lesen und in ihr die lebendige Qual zu finden, nach der ich mich sehnte. In der Vorhalle des Bahnhofes standen die Menschen wieder vor einem Anschlag, und ich bohrte mich in den Haufen ein. Aber was da hing, war nicht das Telegramm, sondern ein Steckbrief, mein Steckbrief. Ich hatte Mühe, das zu erkennen. Nicht mein Name stand da oben sondern der, unter dem ich in Berlin gelebt. Aber Anzug und Mantel die ich zur Stunde trug, waren beschrieben und sachdienliche Mitteilungen erbeten. Ich drehte mich langsam heraus aus der Menge und saß eine halbe Stunde später in der Bahn. Aus jedem der schmutzigen, halberblindeten Fenster des Bahnhofes grinste mich eine teuflische Fratze an.
Die gellen Geräusche in der Halle vibrierten in mir nach und ließen den Wunsch, eine große Flasche hochprozentigen Weinbrands auf einmal zu leeren, fast zur rasenden Gier anschwellen. Ich stolperte zum Ausschank und ließ mir eine Flasche geben und kümmerte mich nicht um die Zeitungsboten, die ihre Blätter ausriefen und den Tod der Freunde in das brausende, gleichgültig Getümmel schrien. Als ich aber die Flasche im halbdunklen Abteil entkorkt hatte, stieg mir der Dunst des Alkohols widerlich in den Kopf und ich lehnte mich erschöpft zurück, und ich glaubte, mich nicht betäuben zu dürfen, glaubte, daß es unwürdig sei, so mir hinwegzuhelfen über das, was nun auf mich eindringen mußte. Ich warf die Flasche in das Gepäcknetz und hockte stumpf in der Ecke, bis sich der Zug in Bewegung setzte. Ein feister Herr entfaltete die Zeitung. Ich las die Namen, las sie immer wieder, sie standen fettgedruckt über den Spalten. Ich las sie ganz kalt, als ob sie mich nichts angingen, und lauerte doch darauf, daß der fette Herr mit dem goldenen Kettchen über dem schwer hangenden Bauche auch nur eine einzige abfällige Bemerkung über die Freunde machen würde. Fast tat es mir leid, als er schmatzend die Seiten blätterte und sich in den Handelsteil vertiefte. So wurde ich um die Entspannung betrogen, die darin liegen mußte, ihm in das wabbelnde Gesicht zu schlagen. Die drei Herren, Geschäftsreisende, wie es schien, die am Fenster eifrig Skat spielten, erzählten sich während des Mischens und Austeilens der Karten Witze. «Als Rathenau in den Himmel kam», sagte der Herr mit dem schwarzen Bärtchen und dem sächsischen Tonfall, «traf er dort
den Erzberger. «Das müssen wir aber bei einer Flasche Wein feiern», rief Erzberger und rief den Petrus, aber Petrus sagte, er dürfe keinen Wein ausschenken, denn der Wirth sei noch nicht da...» «Was erdreisten Sie sich...?» schrie ich und sprang hoch und fühlte es in mir aufspritzen. Also deswegen fiel Kern, damit diese schleimigen Lumpenkerle ihre Witzchen reißen durften, dachte ich, und ich schrie: «Du Schweinehund, ich schlag dir das Wort in deinen dreckigen Schlund zurück!» und sprang ihn an, indes mir die rote Welt im Hirne kreiste. Sie kreiste und riß mich herum, und ich war plötzlich hochgeschleudert und fiel dann, fiel im sausenden Schwung und hörte nur noch: «Der ist ja besoffen», und wollte lallen, daß ich nicht besoffen sei, aber ich taumelte und sank. «Bleiben Sie ruhig liegen, ich bin Arzt», sagte der Herr, der mich wieder auf die Bank drückte, die das Pochen des ratternden Zuges in meinen dröhnenden Kopf übertrug. Er sagte: «Mann, Sie haben ja hohes Fieber, Sie dürfen nicht weiterfahren, Sie müssen auf der nächsten Station aussteigen und in ein Krankenhaus.» Ich wälzte mich beiseite; das Abteil war leer, die Fenstervorhänge zum Gange zugezogen. Ich wehrte dem Arzt, entzog ihm den Puls, raffte mich mühsam hoch. Er redete besänftigend auf mich ein. Aber ich schüttelte den Kopf und stand auf. Der Mantel, unter dem ich bedeckt gelegen hatte, fiel zu Boden, und aus seiner Tasche rutschte die Pistole. Hastig griff ich danach, fiel beim Bücken wieder auf die Bank und steckte die Pistole ein. Der Arzt sah die Waffe, blickte mich prüfend an und ließ mich dann gehen. Ich schob mich an den Wänden des Ganges entlang, stolperte in
den Abtritt, sah im Spiegel mein kalkweißes Gesicht mit den roten Flecken und gab inbrünstig von mir. Die ganze Fahrt über hatte ich mit dem Fieber zu kämpfen. Ich stierte so lange auf einen Fleck, bis die tanzenden Gesichte wieder erstarrten. In den Augenblicken des völligen Zusammensinkens strichen alle Bilder vorbei, die meinem Leben den Inhalt gaben. Nun hatte alles keinen Sinn mehr. Rathenau war tot, und damit lohnte es sich nicht mehr, zu kämpfen. Kern war tot, und damit lohnte es sich nicht mehr, zu leben. Jetzt konnte ich nichts mehr tun, als auf eine anständige Art aus dem Leben gehen. Es war alles wertlos geworden... Das Fieber, das mir nie Knochen dörrte, schien mir ein Sinnbild der Wirklichkeit, der ich mich nicht zu entziehen wagen durfte, ohne die Aufgabe zu verfälschen, noch nie war ich krank gewesen, nun, im Augenblick des Todes meines Freundes, packte es mich. Ich selbst verbrannte, weil alles brennen mußte, was brennbar war. Diese satte, widerliche Welt mußte ausgerottet werden. «Ausrotten, ausrotten», knallte der Zug über die Schienen. Es gab ja keine Menschen mehr. Es gab ja nur noch Fratzen. Sie ist ja schon da, die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt! Dazwischenknallen. Vernichten, kalt und systematisch. Die Erde verträgt ja keine Teufel mehr. Sie müßte dem Satan zufallen wie eine faule Frucht, wenn er wiederum sein Reich aufrichtet. Warum den höllischen Kontrakt nicht unterschreiben? Ich würde mir wünschen, unsichtbar zu werden. Wenn es doch ein Mittel gäbe, eine Zaubersalbe, oder feinen Ring, den man einmal am Finger drehen muß, eine Tarnkappe, die nicht Siegfried, die Hagen geweiht, — vielleicht den Stein
der Weisen, den man in den Mund steckt, um unsichtbar zu sein! Und Kern sollte eine Fackel angezündet werden, ein Fanal, das über die Trümmerfelder leuchtet — Feuerbrände in die Städte, straßauf, straßab, und Pestbazillen in die Brunnen. Der Gott der Rache hatte seine Würgeengel. Ich melde mich zu dieser Formation. Da soll kein Blutkreuz an den Pfosten helfen. Sprengstoff unter diesen verrotteten, stinkenden Brei, daß der Dreck bis an den Mond spritzt. Wie sich die Welt wohl ohne Menschen schickt? Ich würde durch die qualmenden Räume streifen, durch die fahlen, entvölkerten Städte, in denen der Leichenduft das letzte Leben erstickte, der ganze Plunder hinge dann in traurigen Fetzen von den gespaltenen Wänden und zeigte die hohlen Wünsche nackt. Ich würde die Maschinen in den toten Fabriken anstellen, daß sie sich selber zerschmettern im rasselnden Leerlauf, zwei Züge würde ich heizen und aufeinanderprallen lassen, daß sie sich bäumen und krümmen und türmen und zerspellt die Böschung herunterrollen; die Ozeandampfer, die Riesenschiffe, die Wunder der modernen Welt würde ich unter Volldampf gegen die Steine der Hafenmauern jagen, bis sie ihre gleißenden Bäuche aufreißen und zischend in der aufgewühlten Flut verkochen. Glattrasiert müßte die Erde werden, bis nichts mehr stand, was Menschenhand gebaut. Vielleicht kommt vom Monde oder vom Mars eine neue Rasse, ein edleres Geschöpf, das die Erde bewohnt; Her damit, die Welt soll wieder einen Sinn bekommen. — Im Münchner Hauptbahnhof stand Treskow, Fähnrich der Infanterieschule und früherer Kadettenkamerad. Er sah meinen Zustand und führte mich durch
die Stadt in die Kaserne und bettete mich auf ein leichtes Lager in seiner Stube. Kameraden kamen herzu. Ich sah die Uniformen und wollte hoch, wollte zur Pistole greifen, mich wehren. Sie drückten mich nieder. Ich schrie, glühend und zuckend, den Namen Kern. Sie stellten Wachen aus auf die Gänge, damit kein Offizier in die Stube kam. Treskow braute eine Mischung aus Pfeffer und Spiritus, die gossen sie mir in den brennenden Schlund. — Ich erwachte sehr matt, aber ganz klar. In der Infanterieschule konnte ich nicht bleiben. Die Kameraden riskierten Stellung und Beruf. Treskow brachte mich bei einer befreundeten Familie unter. Ich schlief nun jede Nacht woanders. Ich konnte nun wieder schlafen, das höllische Gebräu Treskows hatte mir das Fieber radikal aus den Adern gejagt. Was blieb, das war die jagende Unruhe der Flucht. Daß über kurz oder lang doch einmal das Ende kam, wußte ich; aber gerade darum haschte ich nach der vollen Gnade jeder einzelnen Sekunde, glaubte die ganze farbenreiche Skala der Empfindungen in die gedrängte Zeit pferchen zu müssen, und betrog mich so um den eigentümlichen Gehalt, den ich ersehnte. Ich strich mager und mit offenen Nerven die Wege, gleichsam jedes Wunder erwartend, aber wenn ich seine nahenden Schatten schon spürte, im unvergleichlichen Blau der Luft, in der sich glänzend und schneeig die zackigen Linien der fernen Berge malten, im Klimmen über die Felsen zu immer höheren Graten, in den rieselnden Stunden zwischen nachtrauschenden Bäumen und Büschen, drängte ich gierig nach fernerem Glanz, in dem reiner der Klang und tiefer der Ton um
glühendere Bilder schwingen mußte. So stürzte ich gleichsam wie die Wasser der Isar über die schimmernden Steine und fand mich dort, wo der Strudel dem Strudel begegnet und die Flut kristallen über schweigenden Löchern steht, in tiefen Räuschen, zu denen der peitschende Hieb des Bewußtseins nicht mehr dringen konnte. Nicht weil ich die Einsamkeit des Flüchtlings als feindlich empfand, sondern weil ich mir das Glück des Versinkens nicht gönnen zu dürfen glaubte, suchte ich wieder Verbindung zu den Kameraden. Aber wenige nur traf ich, und diese waren flüchtig gleich mir. Die Mannschaft, die Kern durch seine Tat zur Einheit zwingen wollte, zerplatzte durch sie. Nur langsam fanden sich die einzelnen wieder. Aber das Gerüst, das sich in den Monaten des Kampfes fast selber gebaut, war zerstört. Die Bayrische Holzverwertungsgesellschaft bestand nicht mehr. Wenn sie auch niemals Holz zu verwerten hatte, so hatte sie nun auch die Belegschaft verloren, vom Chef bis zum letzten Handlanger. Die Deckfirmen hatten ihren Kredit verloren, seit die Polizei in die nicht geführten Bücher Einblick zu gewinnen versuchte. So war das gefährdete Grüppchen, das in Hinterhäusern, in Bauernhöfen und Sennhütten hauste, völlig auf sich allein angewiesen und suchte nach Möglichkeiten, dem Mahlstrom der Flucht zu entgleiten, und fand sie im Entschluß zu neuer Handlung. Da Bayern sich dem Verlangen des Reiches widersetzte, den Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik anzuerkennen, entsandte der preußische Staatssekretär für öffentliche Ordnung seine Spitzel
nach Bayern, die, als Weismannspitzel bekannt, selbst in den Tälern des Gebirges nach den Aktivisten spürten. Die Hatz galt es durch Widerhatz zu stören, und ich fuhr in die Berge und strolchte um die Bauernhöfe und nächtigte in den Jagdhütten, und mit mir die andern, ein jeder fand seinen Bezirk. Bald war es so, daß sich immer mehr der Geächteten zum verlorenen Haufen fanden und nun in ganzen Kolonnen hausten, das Geld teilten, die Vorräte und Kleidungsstücke, nur nicht die Mädchen, und das Land unsicher machten vom Bodensee bis Reichenhall. Viele zweigten sich ab, verschwanden nach Ungarn und der Türkei, um wiederzukehren, wenn es Zeit wäre. Viele auch schlichen sich wieder ins Reich zurück, und viele blieben verschollen. Einer kam und erzählte vom Grabe Kerns im Schatten der Burg. Er berichtete, daß Dieter getreulich zwei Anzüge zusammengepackt habe, um sie den beiden Freunden zu bringen, daß er aber, an der Burg angelangt, vergeblich nach ihnen suchte. Der Turm war verschlossen; auf sein Rufen zeigte sich niemand. So legte er den Packen in den Westturm, in dem er später gefunden wurde. Und Dieter wurde verhaftet. Es wurden viele verhaftet, fast alle, die im Dunstkreis der Tat gestanden, und darüber hinaus, wer immer sich einen Ruf als Aktivist verschafft. Nur den geheimnisvollen Unbekannten suchten sie noch, der mit Kern und Fischer bis zum Augenblick der Tat zusammen gewesen war. Und wie der Name Kern fiel, wußte ich, der ich immer an ihn dachte, ihn aber in seltsamer Scheu nie auszusprechen wagte, daß meine Flucht eine
Fahnenflucht war, daß ich mich nicht verkriechen durfte, daß ich tun mußte, was er getan härte. Und ich kratzte bei den Kameraden in den Bergen alles Geld zusammen, was auf mein Drängen hin abgegeben werden konnte, und fuhr nach München zurück. Und ich riß Autotüren auf vor den Reisenden, die zu den Oberammergauer Festspielen wollten, und trug den bebrillten Vogelscheuchen die Koffer, und wies die behäbigen Holländer zu nahrhaften Lokalen und die quäkenden Amerikaner zum Hofbräuhaus. Und ich spekulierte an den Wechselstuben und sammelte auch die geringsten Summen, denn der gefälschte Paß war nicht billig, und die Fahrkarte nach Berlin zumindest mußte zusammenkommen, eingerechnet die Kosten des Aufenthaltes in Bad Kösen. In den flatternden Tagen der Vorbereitung, die keinen Wunsch und keinen Gedanken ausklingen ließen, war ich mir vollkommen klar, daß das, was mir zu tun verblieb, völlig unsinnig war. Ich mußte mir wohl das Recht erst holen, zu tun, was Fischer tat. Und es schien mir zu snobistisch, durch die Länder zu irren wie die beiden, deren Schüsse am Kniebis ihr Opfer suchten. Dazu hatte ich eine zu kleine Rolle agiert auf der Bühne der Zeit, als daß es mir vergönnt sein dürfte, die volle Würde der Flucht zu tragen. Der Herr am Nebentisch des Kaffeehauses redete schon die ganze Zeit von Bilanzen. Es war in der Ordnung, daß nun der Strich gezogen würde unter die Rechnung. Mir schien die Spanne zu groß zwischen Aufwand und Ergebnis. Der Sumpf hatte Blasen getrieben unter der Detonation, aber nun sickerten alle Wässerlein weiter. Ich hatte alle Zeitungsberichte über den Mord gesammelt. Ich hätte
es ertragen können, wenn uns der Haß entgegenspritzte, der ganze, verwundete, über den Tag hinaus siegreiche Stolz der Angegriffenen, aber was da stand, das traf den Kern der Dinge nicht, das war klein, das war nackt und häßlich in all seinem routinierten Pathos, das war reine Polemik gegen alte Feinde, die Feinde waren, weil sie allzu ähnlich der Art. Rathenau starb, und diese Achtbaren lebten weiter, bespritzten sich weiter, und keine Lücke blieb. Rathenau war tot, und die anderen putzten zum hundertsten Male ihre abgenützten Attrappen auf und stellten sie in die Schaufenster. Rathenau fiel, und die sich seine Freunde nannten, machten wiederum die Bestandsaufnahme, aber keine Neuheiten waren unter dem Gerumpel. Lohnte es sich noch, diese Bezirke anzugreifen? Es lohnte sich nicht. Also waren wir überflüssig geworden. Also mußten wir verschwinden. Wir mußten verschwinden, und ohne Pose mußte es geschehen. Aus. Schluß. Abtreten. Die Welt will Ruhe haben zum Verfaulen. Die Kellnerin kam und flüsterte mir zu, Herr Treskow ließe mir bestellen, an der Tür ständen zwei Weismannspitzel und beobachteten mich. Ich sah auf und erblickte Treskow an einem entfernten Tische. Ich beredete die Kellnerin, mir zu helfen. Sie war sogleich bereit, mich in ihrer Kammer unterzubringen. Ich stand auf und folgte ihr unauffällig. Dann saß ich mit würgendem Ekel im Halse hoch oben in ihrer Kammer, allein, verkrochen, gedemütigt. Ich hatte Furcht, daß die Furcht mich am Kragen packen könne. Schon in den letzten Tagen war es mir verwunderlich vorgekommen, daß es so viele Schutzleute gab. Nein, so schlichen wir uns nicht davon. Sollte ich ewig vor
diesen subalternen Gestalten flüchten, mich bebend umsehn nach den Verfolgern, ausgeliefert sein ihrem spähenden Jagdtrieb? Hoppla, Vetter, es wird weiter geputscht. War ich toll, zu resignieren? War ich krank, den anderen recht zu geben? Wozu hatten wir die tüchtige Polizei? Ich war auch Steuerzahler. Sie mußte etwas zu tun bekommen. Ich zählte die Barschaft nach, es mußte gehen. Den Auftrieb mußte ich gefangenhalten, keine Zeit war mehr zu vergrübeln. Es war soweit. Ich saß im Zuge. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß ich unvernünftig war. Zum Teufel mit der Vernunft! Ich saß im vollgestopften Abteil und fraß mich dick mit Haß und Ekel an den Gerüchen der anderen. Sie sprachen von ihren Geschäften, vom Geldverdienen. Hier war eine glatte Million zu ergattern. Wenn diese traurigen Gesellen nur darum wüßten. Der Kriminalbeamte der Strecke kam zur Paßkontrolle, Pech für ihn, daß mein Paß in Ordnung war. Ich stand auf und ging auf den Gang hinaus und öffnete das Fenster und stand die ganze Fahrt hindurch und starrte in die Nacht. Ich wollte noch einmal nach Hause. Denn das Hemd mußte gewechselt werden, ich hatte es schon drei Wochen auf dem Leibe, es war schon gelb und brüchig. Ich lächelte schwach über meine Sorgen, stieg aber doch aus, als der Zug in den vertrauten Bahnhof einlief. Im Kiosk saß ein anderer junger Mann und wechselte Geld. Ich dachte an Kern, der so oft mit mir in dem engen hölzernen Kasten gesessen. Ich ging in meine Wohnung und riß die Kleider vom Leibe und verstreute sie in der Stube, nur den Rock, in dessen Tasche die Pistole steckte, hängte ich sorglich über einen Kasten.
Während ich Fluten Wassers über mich spülte, hörte ich ein Geräusch an der Tür. Ich blinzelte unter dem Arm durch und sah auf der Schwelle die Beamten stehen. Und zugleich stieg eine wilde Freude in mir auf. Da war es soweit. Da kam das Ende. Ich rief fast jubelnd: «Einen Augenblick, bitte!» und rannte zum Rock und griff in die Tasche. Da schob sich ein Arm über meine Schulter und drehte mir die Waffe aus der Hand.
DIE VERBRECHER Für das Herz dagegen gilt der alte Spruch, daß den Unerschrockenen die Ruinen nicht verschütten können. ERNST JÜNGER
Verurteilt «... zu fünf Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.» Wir hörten in erniedrigendem Stehen den Urteilsspruch, der jeden von uns für lange Jahre in Dumpfheit und enge Starre stieß und uns die bürgerliche Ehre absprach. Wir hörten, ohne es recht zu fassen, das Gemurmel aus dem Zuhörerraum aufsteigen, als der Vorsitzende des Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik die Strafen ablas von dem knisternden weißen Bogen; wir sahen ihn mit der milden Strenge, die ihm so wohl anstand, mißbilligend in den Raum blicken und dann beruhigt fortfahren im monotonen Vortrag, bei jedem Namen sacht die Stimme etwas erhebend, und die Zahlen, von denen jede eine einen uns mit einer Qual belud, die noch nicht meßbar war, an die Stille gebend, wie man einen Ball weitergibt, mit der leise triumphierenden Forderung: «Fang!» Wir waren verurteilt. Und wir begriffen es nicht, denn in uns war kein Raum für das Begreifen, in uns war nicht einmal Spannung, sondern nur der grüne Ekel und die Sucht nach frischer Luft. In tagelanger,
grotesker Gerichtsverhandlung sahen wir in feierlichem, mit den Bildern der deutschen Kaiser geschmücktem Saale in verschabtes, altmodisches Schwarz gekleidete Männer auf mit goldenen Kronen gezierten Eichterstühlen sitzen, Männer, die ein scharfer Duft Kleinbürgerlichkeit isthüllte und in deren ausdruckslosen, muffigen Gesichtern, in deren geröteten, wässerigen Augen nur die Funken eines kalten, höhnischen Hasses blitzten, sonst nichts. Wir hörten den Vertreter des Staates, den Oberreichsanwalt, der in vergangenen Kaiserzeiten zu Macht, Ehre und Ansehen gelangte, nun in eine pompöse Robe gehüllt, mit messerscharfer Stimme Sätze in den Saal schleudern, die sich in einem Hirne verdichtet, in dem kein Platz für anderes als eisige und geglättete Paragraphenlogik. Wir sahen sich im Zuhörerraum drängen eine Schar mit schieberischer Eleganz gekleideter, brillantengeschmückter Frauen, die nur in erregenden Momenten aufhörten, ihre Pralinen zu lutschen, die ihre seidenbestrumpften Beine auffordernd übereinanderlegten und durch Lorgnons und Operngläser die Angeklagten, über deren Schicksal gewürfelt wurde, beobachteten, wie man wilde, schöne und interessante Tiere beobachtet, die hinter sicheren Käfigstangen hocken. Wir sahen am Pressetische schmale, knochenlose Jünglinge und würdige, bebrillte Spießer, deren mummelnden Gesichtern man beim Schreiben ansah, welchen Seim und Schleim sie über die Dinge, die sie nicht verstanden, einer gläubigen und von ihnen selbst verachteten Leserschüft mitzuteilen hatten. Wir sahen Zeugen auftreten in Bratenrock und sorgsam gezupfter Krawatte, die mit vor Erregung zitternder Stimme die
Eidesformel nachstotterten, mit oder ohne den lieben Gott, und mit scheuen Seitenblicken auf die Anklagebank Aussagen formulierten, die sich in einem Atemzuge dreimal widersprachen. Wir sahen selbstbewußte Gestalten vorstampfen, die verständnisvolle Blicke mit den Beisitzern wechselten und durch Lautheit und Bestimmtheit ihren Anschuldigungen vergeblich einen Schein von Wahrheit zu verleihen suchten. Und wir saßen in unseren Bänken, blickten auf die bunten, mit den Wappen der deutschen Städte geschmückten Fensterscheiben, durch die ab und zu ein gleißender Sonnenstrahl freundlich in den dumpfen Saal griff. Wir saßen und hörten Rede und Gegenrede, antworteten nur widerwillig und mit würgendem Ekel im Halse auf Fragen, die uns so gleichgültig, so am Wesen der Sache, am Eigentlichen, an aller seltsamen Tragik völlig vorbeisehend schienen, antworteten mit dumpfem, schmerzendem Schädel, ermüdet, gepeinigt, nur zuweilen in aufzuckender Lust auf unsäglich alberne Fragen einen Trumpf setzend, der uns die moralische Entrüstung aller treuherzigen Biedermänner eintrug. Wir kamen aus monatelanger Untersuchungshaft. Wir kamen aus der Stille, die fast schmerzhaft war, als wir ihr ausgeliefert wurden. Als wir hineingestoßen wurden in die Ausschließlichkeit der nackten vier Wände, stürzten wir, jeder einzelne von uns, sobald die Tür sich rasselnd schloß, mit dem ersten Instinkt des Gefangenen zum Fenster, um an den Gitterstäben zu rütteln. Aber dann überfiel uns der graue Schatten, vor dem die bunten Bilder der Welt aus dem Räume flüchte
ten, um in uns sich wiederzufinden und in glühenderen Farben und in hitzigerer Bewegtheit sich auf die innere Fläche des verschlossenen Blickes zu projizieren. Und was im Gestern noch wahr gewesen und lebendig und voll heischender Ansprüche, das versank und kam nur zu uns wie die verworrenen Geräusche, die über Mauern und Höfe hinweg zu uns drangen, wenn die Lichter erloschen und nur noch die rastlosen Schritte über uns, neben uns, in zermarternder Eintönigkeit von Menschen und Leben zeugten. Langsam sänftigte sich der Wirbel, in dem wir kreisten, und wie wir uns ins Grübeln verloren, so fanden wir uns an den neuen Maßstäben, die uns der drängende Tag versagt und die Stille nun bot. In uns verdichtete sich, was draußen durch das laute Getriebe, dem wir dienten, verdeckt und auseinandergerissen, in uns bohrte sich Gewißheit und Trotz. Wir suchten nicht nach Rechtfertigung und waren entschlossen, uns zu wehren mit allen Mitteln, die auf der verlagerten Ebene den Kampf bestimmen mußten. Es kamen die fuchsgesichtigen Herren, Kommissare, Richter, Staatsanwälte. Und die gleißende Freundlichkeit, mit der sie sich gaben, so human und so rührend sprechend von unserer Jugend, von unserem heißen Wollen, das uns ja auszeichnet, gewiß, aber das in dieser Welt voll harter Realitäten doch gefährlich wäre, die besorgten Fragen nach unserem Wohlergehen, die treue Mahnung, doch vertrauensvoll uns ihnen aufzuschließen, riß alle mißtrauische Wachheit empor, wappnete uns mit federnder Gespanntheit, in der alle Nerven nach den feindseligen Untergründen tasteten, ließ uns genau erkennen, was echt, was falsch, und
erkennen im Echten die Lauheit und im Falschen die feige Flucht vor der Gesinnung, die Furcht vor dem Kampfe mit dem offenen Visier. Es kam der Herr Untersuchungsrichter, ein alter Freund meines Vaters, der einst im Hause meiner Eltern verkehrte und nun warmherzige Worte dem Verstorbenen widmete und mich beschwor, doch ihm, dem väterlichen Freunde, die Wahrheit zu sagen, die volle Wahrheit, auf daß ich milde Richter fände, Und der Herr mit dem Gesicht der herrschenden Klasse kam, unendlich ehrbar, mit feierlichem Gehrock angetan, zu meiner Mutter und murmelte tiefempfundene Worte des Beileides und empfahl seine treusorgende Hilfe. Und sagte kein Wort davon, daß er mein Untersuchungsrichter sei. Aber daß er die volle Wahrheit wissen müsse, um helfen zu können, das sagte er, und hörte sich ergriffen an, was ihm die alte Dame, tränenüberströmt und seine Freundeshände dankbar drückend, erzählte, und hielt es mir bei der Vernehmung Wort für Wort höhnisch vor und verwertete es ausgiebig im Protokoll. Wir lernten viel in jenen Tagen. Wir lernten, das Gefängnis als einen der möglichen Räume zu betrachten, in denen man sich der Niederträchtigkeit entziehen konnte durch die latente Sicherheit der Kraft, die aus jeder schweigenden Stunde entgegenwuchs. Wir lernten, jeden Wert auf die Waagschale zu legen und zum billigen Gerümpel zu tun, was vor der nackten Forderung der letzten Verlassenheit nicht bestand. Wir lernten, uns selber zu verstehen. Wenn wir in den langen Nächten auf- und abwanderten in der Zelle, sechs Schritt hin und sechs
Schritt zurück, ruhelos, dann wußten wir, daß wir ewig ruhelos sein werden. Dann wußten wir, daß es für uns keine Erlösung gab, daß hinter jeder Schranke, die wir voller Hoffnung durchbrechen, sich eine neue Ebene breitet, mit neuen, reicheren Hoffnungen. Und da wir mit unserem Wege wachsen mußten oder auf ihm untergehen, durfte uns keine Probe kleiner finden als die Schuld, durch die wir schritten. Denn unser war die Schuld, sie war einzige, was unser war. Nicht durften wir uns ihren Besitz schmälern lassen, sie preisgeben in leichtem Geständnis, nicht durften wir die Strafe anerkennen, die uns ihrer einen Teil zu nehmen geeignet war. Ihrem Gesetz mußten wir uns unterwerfen, und nicht den Gesetzen der Menschen, die sie zu tilgen streben. Ewig werden wir ruhelos sein. Denn uns ist ein Entrinnen unmöglich gemacht, und unmöglich ist uns das Finden in eine Welt, der es vor sich selber graut. Und gleichwie innerhalb der alten Ordnung die neue Flutung schon vor allen Dämmen stand und drohte, die versteinerten Formen des Lebens zu zermalmen, so grub sich alles, was unsere Zeit bewegte, in uns unvertilgbar ein, drang in alle Ritzen unserer Haut und durchsetzte das Gewebe der Bindungen mit gefährlichen Rinnsalen. Wir waren krank an Deutschland. Wir empfanden den Prozeß der Wandlung wie einen körperlichen Schmerz, dem die Lust der tiefen Mitternacht nicht mangelte. Wir standen immer im Flackerscheine der Entladung, wir standen immer da, wo der Akt der Verbrennung sich vollzog, wir hatten teil an diesem Akt. Und so, gestellt zwischen zwei Ordnungen, zwischen die alte, die wir vernichten, und
zwischen die neue, die wir schaffen halfen, ohne in einer von ihnen Platz zu finden für unsere Wesenheit, so wurden wir ruhelos, heimatlos, verdammte Träger furchtbarer Kräfte, stark durch den Willen zur Schuld und verfemt durch ihn. Wo sollten wir jemals die letzte Stellung beziehen, wann sollten wir uns jemals begnügen können? Wir waren ein verfluchtes Geschlecht, und wir setzten ein Ja dahinter. Und da wir dies erfuhren, mit der ausweglosen Gewißheit zergrübelter, durchwanderter Nächte, empfanden wir höhnisch das Unvermögen derer, die zu Gericht sitzen wollten über uns. Nicht konnten wir Gerechtigkeit verlangen, da wir Gerechtigkeit als sittliche Forderung niemals anerkannt. Kein Gerichtshof der Welt konnte uns eine Last diktieren, die uns im innersten Kerne treffen konnte. Was konnte uns mehr zugefügt werden, als wir uns selber zugefügt? Am Tage der Verhandlung grüßten wir uns mit fröhlicher Verlegenheit auf den Gängen, nahmen Platz in der umzäunten Anklagebank und musterten neugierig den Apparat, der aufgezogen war, um ein Recht zu sprechen, an dessen Qualitäten wir nicht zu glauben vermochten. Denn es ging nicht um das Recht, es ging um den Bestand, der angegriffen war. Uns schlug eine Welle dumpfen Hasses entgegen, und wir fühlten uns behaglich darin. Denn dieser Haß besaß nicht die Kraft, offen zu sein. Wir sahen die Richter erscheinen, deren Züge so erstarrt waren in Ernst und Würde, daß sie wie Masken erschienen. Und wir spürten, daß dies die Maske des Rechtes war, die sich die brutale Gewalt vorgebunden, jene Gewalt, die wir auch hinter der Verschleierung achten zu können glaubten, ohne diese
Achtung auch auf die Männer, die die Gewalt verfochten, auszudehnen. Denn diese mißbrauchten die Maske des Rechts; weil sie fürchteten, man möchte den Zweck untersuchen, für den die Gewalt geschähe, darum, schien es uns, banden sie sich die Maske vor. Wir waren sicherer als jene, denn wir wußten, daß Recht nur da sein konnte, wo eine Gemeinschaft glaubt. Aber wo war die Gemeinschaft, die glauben konnte, die das Recht begriff in einsatzbereiter Verantwortungsfreudigkeit als tiefe, mystisch bindende, beseelte und beseelende Kraft? Aber dann ließen wir uns gefangennehmen von der gut geölten Maschinerie. Obgleich wir wußten, daß alles, was immer auch wir oder die Anwälte sprachen, am Resultat nicht viel mehr ändern würde, als wenn wir, statt Rede und Antwort zu stehen, Erbsen an die Wand würfen, obgleich wir dies wußten, bewunderten wir. Hier war ein Apparat, der beherrscht wurde und der beherrscht werden mußte. Gleichsam in einem luftdicht abgeschlossenen Raume lief die Maschine, in Kraft und Bewegung als abgeschlossenes Ganzes, als Ding an sich formschön und sicher. Und das Sausen der Schwungräder übertönte jedes Geräusch der anmaßenden Welt, schaltete das Hintergründige wie das Hergekommene aus, ließ menschliche Schwächen wie menschliches Wollen verstummen vor dem atemraubenden Spiel mit der Materie. Die einzige Sekunde, die wir, uneingestandenermaßen vor uns selber, fürchteten, der Augenblick, da der Mensch Rathenau im Gerichtssaale aufstehen würde, ein drohender, Schweigen gebietender Schatten, diese Sekunde kam nicht, Der Minister war die
indeterminierte Person, deren Tod Sühne verlangte, nichts weiter. Einmal schien es, als ob ganz unkorrekt zwischen Frage und Frage ein leiser Ton Achtung heischte, aber beinahe verlegen wischte der Richter den peinlichen Ansatz hinweg, und weiter arbeitete die Maschine. So sehr abseits geschah dies alles, daß es uns nicht zum Bewußtsein kam, an welchen Punkt, an welchen Satz die exakte Geheimwissensehaft die Entscheidung über unser äußeres Schicksal band. Wir saßen und staunten, und leise regte sich der Wunsch, die Spielregeln kennenzulernen, um diese unvergleichlichen Vorgänge in ihrer ganzen, eleganten Energie fassen und formen zu können. Nicht einmal kam mir der Gedanke, daß jedes Wort, das soeben gesprochen wurde, über Jahre meiner Freiheit entschied. Es handelte sich aber darum, ob meine Fahrt nach Hamburg, um den Chauffeur für das Mordauto zu holen, im Sinne des Gesetzes als Beihilfe aufzufassen sei oder nicht. Und der Oberreichsanwalt führte eine Reichsgerichtsentscheidung an, nach der es als Beihilfe zu bestrafen sei, wenn der Verlobte eines Mädchens, das zu einer Abtreibung schreite, diesem ein dazu dienliches Instrument verschaffe, auch wenn das Mädchen dies Instrument nicht benutzt. Und Dr. Luetgebrune, ganz niedersächsischer Bauernstämmling, erhob sich und verwies mit der höflichen Überlegenheit des erfahrenen Juristen auf eine ähnliche Reichsgerichtsentscheidung, Band soundsoviel, Pagina soundsoviel, nach der allerdings zutreffe, was der Herr Oberreichsanwalt soeben vorgetragen habe, in dem Falle aber, da das Mädchen das angebotene Instrument
ausdrücklich zurückweise, die Beihilfehandlung nicht erffüllt sei. Und der Herr Oberreichsanwalt trank ein Glas Wasser und blätterte weiter in den Akten, In den Pausen aber, da das dröhnende Gelächter der politischen Laienrichter aus dem Nebenraume an unser Ohr schlug, in den Nächten zwischen den Verhandlungstagen, da wir aufgewühlt und mit schmerzenden Augen zu dem schmalen, vergitterten Viereck stierten, durch das die blaue Luft der Nacht in die Zelle drang, überfiel uns die würgende Angst vor dem Unbestimmten, das in allen Ecken lauerte. Wenn immer uns das Leben begegnete, warfen wir uns heran an seine zitternden Erscheinungen, und wenn es uns bedrohte, so konnten wir uns wehren und hatten es auch genugsam getan. Aber was nun kam, war das überhaupt noch Leben? War es nicht vielmehr etwas, das ganz außerhalb seiner Formen stand, nicht Tod war und doch Tod, nicht Leben und doch Leben? Wir hatten nichts so sehr ersehnt wie die Freiheit, Und die Freiheit war nun uns genommen, und keiner wußte, auf wie lange Zeit. Auf einmal waren ganz andere Forderungen gültig, und mit ganz anderen Mitteln mußten sie erfüllt werden. Auf einmal war uns die Möglichkeit des Wählens genommen und mit ihr die tausend Möglichkeiten, die uns zu Diensten standen. Auf einmal waren wir ausgeliefert, bar der Würde, nackt als Mensch; Nummer und ohne anderen Willen als den des Wärters, es sei denn, es bräche, die Kraft, die bislang von außen zu uns geströmt, nun mit verdoppelter Gewalt aus unserem Innern. Vielleicht waren wir niemals so sehr Individuum als nun, da wir ohne Individualität sein sollten. Vor der tödlichen Isolierung mußten wir nun
bestehen — um wessentwillen? Um unsertwillen? Wir waren es nicht gewohnt, um unsertwillen zu handeln. Nun war uns auch das Handeln selbst genommen. Nun hatten wir zu dulden. Aber Dulden ist ohne Sinn. Das Erdulden schändet. Wir mußten durch die Schande. Vielleicht machte uns die Schande stark! Sie mußte uns stark machen. Niemals durften wir unterliegen, nicht um unsertwillen durften wir es nicht, sondern um der Erfüllung willen. Aber war nicht vielleicht das Unterliegen der letzte Kelch? So sei es denn; so sei denn auch dies; und verdammt wollen wir sein, wenn wir es uns leicht machen. So hörten wir den Urteilsspruch. Wir wurden abgeführt. Als wir im Gange standen, legten uns die Beamten plötzlich, zum ersten Male, die Handschellen an. Sie rissen uns auseinander. Noch konnte ich Techow zuwinken, der seine fünfzehn Jahre Zuchthaus auf den Nacken nahm, als trüge er stolze Bürde, und noch Zeit fand, zwei sensationshungrigen Photographen die Kamera umzuwerfen. Wir wurden im Gefängniswagen in unsere Zelle abtransportiert. Und der blitzende Schupo-Offizier, der immer verlegen um uns herumgestrichen war, gleich als ob er noch die Kameraden in uns erkenne, ordnete unsere verschärfte Sicherung an. Wir standen stehend eingeklemmt in einem durch Rolläden verschließbaren Schrank, der Ausgeburt raffiniertester Sicherungstechnik, in dem man sich nicht rühren konnte, zu ersticken glaubte und, brennenden Haß im Herzen, bei jedem Holpern des Wagens gegen die Wände geschleudert wurde. Wir wurden in der Zelle sofort jedes Eigentums beraubt, das uns in den langen
Monaten der Untersuchungshaft wert geworden war, dreifach verschlossen und verriegelt, als Parias, als Verruchte, als eine von Hause aus schmutzige und verbrecherische Bande, die nicht wert war, die Sonne zu sehen, und nicht wert der Gesellschaft von Menschen. Wir wurden gefesselt. Eine Kette wurde uns um den Leib geschlungen, die an dem einen Ende die Hand umklammerte und an dem anderen von einem Beamten gehalten wurde, der in Gemeinschaft mit einer Schar seiner Kollegen uns im grünen Wagen durch die Straßen geleitete, zum Bahnhof, zum Zug; Beamte, die uns gutmütig herablassend versicherten, sie stünden mit dem Herzen ganz auf unserer Seite, aber sie müßten ihre Pflicht erfüllen — ihre Pflicht — und uns dann das Rauchen verboten und sich in überpatriotischen Tiraden ergingen, sich und uns auf angenehme Manier die Zeit zu verkürzen. Wir wurden nach endloser Fahrt, nach einem letzten Ausblick auf weite, grüne Felder und dunkelragende Tannen, eingeliefert ins Zuchthaus, in Empfang genommen von gleichgültigen, schlüsselbundrasselnden Beamten, die mit halbem Blick auf uns ihr Frühstück verzehrten, unsere Personalien aufnahmen und höhnisch grinsten, wenn wir sagten: «Beruf: Leutnant a. D.» Und dann schlug die Zellentür hinter uns zu.
Zelle
«Du bist nun ein Gefangener! Die eisernen Stäbe deines Fensters, die geschlossene Tür, die Farbe deiner Kleider sagen dir, daß du deine Freiheit verloren hast, Gott hat es nicht leiden wollen, daß du länger deine Freiheit zur Sünde und zum Unrecht mißbrauchst; darum hat er dir deine Freiheit genommen, darum rief er dir zu: Bis hierher und nicht weiter! Die Strafe, die der menschliche Richter dir zuerkannt, kommt von dem ewigen Richter, dessen Ordnung du gestört und dessen Gebote du übertreten. Du bist hier zur Strafe, und alle Strafe wird als ein Übel empfunden, vergiß es nie, daß niemand daran schuld ist als du allein! Aber aus der Strafe soll für dich ein Gutes hervorgehen. Du sollst lernen, deine Leidenschaften beherrschen, schlechte Gewohnheiten ablegen, pünktlich gehorchen, göttliches und menschliches Gesetz achten, damit du in ernster Reue über dein vergangenes Leben Kraft gewinnst zu einem neuen, Gott und Menschen wohlgefälligen. So beuge dich unter das Gesetz des Staates! Beuge dich auch unter die Ordnung dieses Hauses, was sie gebietet, muß unweigerlich geschehen. Besser also, du tust es gutwillig, als daß dein böser Wille gebrochen wird! Du wirst dich wohl dabei befinden, und die Wahrheit jenes Wortes wird sich an dir bewähren: Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein. Darnach aber wird sie geben eine friedsame Furcht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübet sind. Das walte Gott!» —
Diese Worte standen eingangs des blauen Heftes der Hausordnung, die in ungezählten Paragraphen und nicht immer einwandfrei um Deutsch für so ziemlich alle menschlichen Betätigungen außer dem Atmen und der Arbeit Verbote enthielt, Verbote, die ich zu übertreten oder zu umgehen von vornherein entschlossen war. Das Heft hing neben der Müllschippe, dem Handfeger und dem Wischtuch an einer schmalen Leiste über dem Kübel, einem Gefäß aus braunem Ton in dreieckigem, immer feuchtem, hölzernem Gestell. Der Kübel, auf dessen oberem Rand der Deckel in einer mit Wasser gefüllten Rinne schwamm, war laut Hausordnung täglich von innen und außen mit Sand zu reinigen. Unter dem Kübel stand der Spucknapf und der Putzkasten. Dieser anrüchigen Ecke gegenüber war der Ofen, ein schräg abgedachter Backsteinbau, der vom Gange aus geheizt wurde und der an warmen Tagen unerträglich heiß und an kalten nicht warm zu kriegen war. Neben dem Ofen hing an die Wand gekettet das Bett, ein eisernes Gestell mit braunen, rissigen Brettern, drei Seegrasmatratzen und einem Kopfkeil, mit blaukarierter Wäsche überzogen; ein Woilach diente als Zudecke. Das Bett mußte tagsüber an einem eisernen Haken hochgekettet sein, seine Benutzung außerhalb der Schlafenszeit unterlag disziplinärer Bestrafung». Am Kopfende des Bettes hing in Mannshöhe ein kleiner Schrank, der den Eßkump, den Löffel, das Salzfaß, den Trinkbecher, den Seifennapf und den hölzernen Kamm enthielt. Auf dem Schränkchen stand die schmale Waschschüssel und der Wasserkrug aus gepichtem Holz, unter ihm hing das Handtuch. Gegenüber dem Bett nahm eine Hobelbank
die ganze Länge der Zelle bis zum Kübel ein. Unter dieser stand der Werkzeugkasten, der des Abends beim Einschluß herausgegeben werden mußte, lag das zu bearbeitende Holz in rohen Klötzen gestapelt neben dem Eimer mit dem Scheuerlappen und dem niedrigen vierbeinigen Schemel. Auf der Hobelbank lag die Bibel und das Gesangbuch, über ihr hing die Gaslampe unter einem Schutznetz aus Draht, die abends von dem Kalfakter, dem Gefangenen, der die Gänge reinzuhalten, die Öfen zu heizen und das Essen auszuteilen hatte, angezündet wurde und Punkt sieben Uhr wieder erlosch. Dies war das Inventar der Zelle, die sechs Schritt lang,; nicht ganz drei Schritt breit, etwa drei Meter hoch und mit abgelaufenen Dielenbrettern belegt war. Die Tür, eine von innen völlig glatte, mit einem starken Schutzblech benagelte Fläche, war armdick und hatte außen ein ungefüges Schloß, zu dem ein riesiger Schlüssel paßte, einen breiten stählernen Riegel in der Mitte, oben und unten je einen Verschlußbolzen und ein kleines, mit Glas versehenes Guckloch, durch das man wohl von außen nach innen, nicht aber von innen nach außen sehen konnte. An der anderen Schmalseite des Raumes, der von unten bis oben gekalkt war, befand sich das Fenster. Dies war aber so hoch, daß man gerade mit der ausgestreckten Hand das Sims erreichen konnte, und es war nicht mehr als einen Meter breit und etwa einen halben Meter hoch. Die untere Hälfte des Fensters bestand aus geripptem Glas, die obere war durchsichtig; diese war vermittels eines an ihr befestigten Knüppels halb zu öffnen. Die Gitterstäbe, sechs an der Zahl und zweimal quergeteilt, waren zwei Finger breite, viereckige, stählerne
Stangen; vor ihnen spannte sich ein engmaschiges Geflecht aus rostigem Draht. Vor dem Fenster aber, an der Außenmauer eingelassen, hing eine Blendscheibe aus starkem Mattglas, höher und breiter als das Fenster selbst. So war es unmöglich, mehr als gerade nur ein Stückchen des Himmels zu sehen. Die Zelle war stets von entmutigendem Halbdunkel erfüllt. Sie war so muffig wie die Eingangsworte der Hausordnung, und die friedsame Furcht der Gerechtigkeit schien nicht eben guter Herkunft zu sein; wenn je, dann wurde sie geboren in jenem Zellenmief, in dem sich der Gasgeruch mit dem von Schweiß, Fäkalien, Staub, Wanzen und Speise mischte. Kein Schall der Außenwelt drang durch die dicken Mauern. Das Haus, erbaut im dreizehnten Jahrhundert als von der heiligen Hedwig gegründetes Nonnenkloster, stand mit riesigen Pfeilern grau und hoch inmitten des Städtchens, eine finstere Burg, bewohnt von fünfhundert Ausgestoßenen, bewacht von sechzig subalternen Säbelträgern. Die Stadt, mir nur bekannt als der Ort einer für den Preußenkönig gloriosen Schlacht im Zweiten Schlesisehen Kriege und als der Geburtsund Sterbeort eines Dichters, den ich sehr liebte und dessen Werke ich in der Zuchthausbibliothek vergeblich suchte, war fremd und fern. Und wenn auch bis zu ihr die Wellen schlugen, die der drängende Wind der Verwandlung warf, bis zu meiner Zelle gelangten sie nicht. Nichts gelangte bis zu meiner Zelle als der laue Ruch einer völlig unwirklichen und widersinnigen Ordnung, der ich unterworfen war, ohne mich zu ihr zu bekennen, ohne auch nur den leisesten Hauch eines
Einverständnisses mit ihr erfahren zu können. Zu keinem der Dinge, die mich umgaben, hatte ich die mindeste Beziehung, ich konnte weder sie durch mich, noch mich durch sie begreifen. Ich war einsam bis zu einem Grude, der in der Temperaturskala weit unter Null liegt. Ich ging auf und ab. Ich griff im Vorbeischreiten einen Gegenstand und legte ihn wieder hin. Ich spann mich in kurze, sechs Schritt lange Träume ein, aus denen ich aufschreckte, sobald im Gang ein Schlüssel rasselte, die ich vergessen hatte, sobald ich an der Zellentür mich wandte. Ich wartete und wußte nicht, auf was. Ich hockte am Tisch und döste vor mich hin, ich stand vorm Fenster und starrte auf das Stückchen wolkenbedeckten Himmels. Ich zähle die Dielen und die Schritte, die ich auf ihnen machte. Aus dem Einfallwinkel der Sonnenstrahlen in die Zelle berechnete ich die Tageszeit. Ich freute mich auf das Mittagessen, obgleich ich wußte, daß es nicht schmecken werde. Ich freute mich auf den Spaziergang, obgleich er eine Qual bedeutete unter den mißtrauischen Augen der bewaffneten Aufseher. Ich freute mich auf die Nacht, obgleich ich wußte, daß ich nicht schlafen konnte. Die kleinste Unterbrechung war mir willkommen. Wenn der Barbier kam, meine kurzgeschnittenen Haare noch mehr zu kürzen, übersprang das Vergnügen, ein paar verstohlene Worte wechseln zu können, den Ekel vor den kalten, weichen und feuchten Fingern, die mir im Gesicht und im Nacken herumfuhren. Den Bibliotheks-gefangenen sehnte ich inbrünstig herbei, und wußte doch, daß auch diesmal die Auslese der zerlesenen Schmöker eine
Enttäuschung sein werde. Wenn der Kalfakter im Gange vorbeistrich, hoffte ich, er werde mir den Kassiber zustecken, den ich erwartete, oder den Skrind, ausgekauten Kautabak, den ich in Klosettpapier rollte und über der Lampe anzündete, wenn sie brannte, und, wenn sie nicht brannte, mit Feuerstein, Stahlknopf und Lunte zum Glimmen brachte, ich drückte an die Tür, daß sie oben den schmalen Spalt freigab, durch den man kleine Gegenstände hindurchstecken konnte, als Zeichen für den Kalfakter, dem ich für seine Gefälligkeiten das Stück guter Seife überließ, das ich hineingeschmuggelt hatte, oder dem ich ein Gnadengesuch oder eine Beschwerde aufsetzte, oder dem ich ein Stückchen meines Zimmermannsbleistiftes gab. Jedes Ding, mochte es für die Augen der Menschen da draußen noch so wertlos erscheinen, gewann große Bedeutung für mich, dem es verboten war. Es war für mich alles verboten. Die Arbeit war nicht verboten, sie war befohlen. Und nicht das bewog mich, sie nur selten und ungern anzurühren, daß ich für das Tagespensum fünf Pfennige bekam, eine Summe, die mir nur zur Hälfte für den Einkauf von Briefmarken, Zahnpaste und Kautabak zur Verfügung stand, indes die andere Hälfte zurückbehalten und gutgeschrieben wurde, damit später bei meiner Entlassung die Heimreise davon beglichen werden konnte, nicht das bewog mich, die Arbeit zu meiden wie die Pest, daß sie so ausgeklügelt stumpfsinnig war, als sei sie darauf angelegt, mich langsam vertrotteln zu lassen, sondern daß sie als gottgesandtes Mittel zur bekömmlichen Erziehung und Besserung schmatzend angepriesen und drohend befohlen wurde.
Wenn ich über die Hobelbank gebeugt stand, aus vierkantigen Akazienhölzern Hammerstiele glättete — Pensum: siebzig Stück —, wenn ich Bast flocht, die bunten, vom Färben noch feuchten und übel dunstenden Strähnen durch die Finger zu langen Schnüren zog — Pensum: fünfundsechzig Meter —, wenn ich an der ratternden Nähmaschine saß und die alte, ungewasche-ne Soldatenwäsche des Großen Krieges ausbesserte, den stinkenden Haufen vor mir, die zerschlissenen, schweißdurchtränkten Stücke in der Zelle verstreut - Pensum: zwei Zentner —, wenn ich Bürsten sortierte, mit einer hölzernen Pinzette aus einem Kilogramm weißer Schweineborsten ein halbes Pfund schwarzer auslas, wenn ich Federn schliß, Handtücher säumte, Leder stanzte, immer saß ich rebellisch vor dem, was das Alte Testament als einen Fluch bezeichnet, immer sprang ich nach fünfminütigem Tun wieder auf und raste durch die Zelle von einem unbeschreiblichen Ekel gepackt, nicht von einem Ekel vor der Art der Arbeit, sondern vor der Arbeit überhaupt. Der tägliche Frondienst der Zelle erschien mir wie alles, was nicht aus brennendem Herzen heraus geschah, wie alles, zu dem nicht eine innere Berufung trieb, so unwürdig, wie das lasche Gefühl der Befriedigung nach vollbrachter Arbeit mir verächtlich schien. Keinen Augenblick zweifelte ich an der Heuchelei derer, die da sagten: Arbeit, ein Segen, und dann Arbeit als Strafe diktierten. Die Zelle lehrte mich den Abscheu vor den Dingen, die gemacht wurden, die nicht gewachsen waren, lehrte mich den Haß begreifen, der die Unterdrückten zwang, alles, jeden Wert an die Befreiung von der Fron zu setzen, materiell zu denken,
wo sie metaphysisch denken sollten, Glück zu träumen, wo sie Schicksal träumen müßten. Ich erwachte, jeden Morgen aus wüsten Träumen zu müdem Tag, der mir viel unwirklicher, viel grauer erschien als die Gebilde der Nacht, die zu mir kamen und beglückend waren trotz ihrer Wirrnis und trotz ihrer peinigenden Ängste. Die Träume wenigstens vermittelten mir die erregenden Bilder von großer Fruchtbarkeit, um die mich der Zellentag betrog. Wenn ich des Abends, nach stundenlangem Spazierengehen in der lastenden Dunkelheit, auf dem immer feuchten Laken lag, den Kopf auf dem harten Keil, die Arme alle Augenblicke in ihrer Lage wechselnd, wenn vor der blasenden Nase schroff die Wand aufstieg mit dem sachte blätternden Kalk, meldeten sich die Träume an, die mir die eigentümliche Lust des Schreckens gaben. Denn das Bewußtsein, von der Zelle hart an das Bett genagelt zu sein, nicht entfliehen zu können vor dem Druck der vier Wände, ließ mich in den Schlaf hineingleiten, ohne mich von der Wachheit zu entbinden, und verzerrte so die sanfte Gabe der Nacht zu einer zerflederten Folge von jagenden Traumfetzen. Kein Traum ließ mich frei werden von der Zelle, immer stand sie als unausweichlicher Hintergrund an den langen Straßen, die ich zog, immer trug sie die dampfenden Ängste hinein in das wilde Geschehen, Ängste, die ich begrüßte, weil sie kraftvoll waren, weil sie den Pendelschlag nach der Nachtseite darstellten, den einzigen Pendelschlag, den die Zelle dem Herzen gestattet. Oft, wenn der blecherne Klang der verhaßten Glocke, die den Tag regelte und deren gellenden Ton ich immer im Ohr tragen werde, mich aus den fremden
und doch nahen Bezirken aufschrecken ließ, empfand ich die Wirklichkeit als eine Bestätigung der geheimnisreichen Fluchten, die ich durchwandert. Die Träume stießen nicht als gleißende Strahlen aus dem Raum, sie trugen das Gewicht der Zelle mit sich, sie kreisten irr an den Wänden und suchten den Ausweg und begegneten auf ihrem Wege den Abenteuern, die sie lebendig machten. Ich rannte durch volkreiche Städte, an grünlichen Laternen vorbei und an blühenden Gärten, ich hauste auf tropischen Inseln, ich kletterte in steilen Schluchten, durchstreifte hallende Schlösser, ich sah die Menschen wie Schatten, die Häuser wie Burgen, die Bäume wie Drohungen, und ich vergaß doch keinen Augenblick, daß ich in der Zelle war, daß ich ja Gefangener war, daß ich pünktlich beim Wecken den Kübel herausstellen mußte. Ich befand mich auf der Flucht, kletterte über Zäune und Mauern, stahl mich in Hinterhöfe und auf Dachböden, sah die blitzenden Beamten vorbeieilen, wiederkommen, mir keine volle Minute gönnend, spürte sie hinter mir rasen, — und wenn sie mich griffen, dann stieg wilde Freude in mir auf, denn ich hatte sie betrogen, ich war ja in der Zelle, und ihre Anstrengung war genauso unnütz gewesen wie meine Flucht. Bald sah ich körperlich, was mir die Zelle verwehren wollte, körperlich zu sehen. Alle Lüste retteten sich in den Traum, wie sich alle Schrecken in ihn gerettet hatten. Ich focht die Kämpfe, die mir die Zelle verwehrte zu kämpfen, ich ging die Wege, die sie mir zu gehen verbot. Und das graue Viereck, zerteilt von den Gitterstäben, durch das die Nacht ihre breiten Wellen in den Raum schob und das ich in den Momenten kurzen Erwachens zwischen Bild und Bild
neu erkannte und hinübertrug in den folgenden Traum, verschärfte den Reiz der Gesichte; es gab mir die Gewißheit, in zwei Welten zu wohnen, eine Gewißheit, die mich zu Entscheidungen zwang, wie sie das Leben nur selten bot. Einstmals erwuchs in mir eine Gleichgültigkeit, die der kleinen Dinge nicht achtete, weil der Kampf, dem ich mich verschrieben, auslöschte, was nicht in die heroische Umwelt paßte. In der Zelle aber versank ich in eine Gleichgültigkeit, die trübend war und zersetzend, weil sie aus dem Mangel an großen Dingen entstand, weil sie grau war und schwächlich und diktiert nicht vom Kampf, sondern von der Resignation. Aber ich durfte nicht abgleiten. Wehe, wenn ich mich unterwarf. Wehe, wenn ich mich duckte. Ich hatte kein Ziel mehr, außer dem, mich zu bewahren. Und bewahren konnte ich mich nur durch Trotz, durch Starre, durch einen Kleinkrieg gegen das widerliche, umschlingende Geflecht der Paragraphen und gegen die Menschen, die diesen Paragraphen dienten. Da ich auf dem Spaziergang den vorgeschriebenen Abstand nicht hielt, brüllte der Beamte: «Scheren Sie sich in Ihr Loch! — Hören Sie nicht? — Sie haben wohl Dreck in den Ohren? — Gehorsamsverweigerung! Das gibt eine Meldung. Warte, mein Freundchen! » Ich wurde vorgeführt. Die Beamtenkonferenz war zusammengetreten. Der Hauptwachtmeister hieß mich in das Zimmer eintreten, wies mir den Platz vor dem hufeisenförmigen Tisch, an dem die Oberbeamten saßen. Da saß der Direktor, ein kleiner, korpulenter Herr mit breitem, im Grunde gutmütigem Gesicht und
kleiner Brille, den Aktenband vor sich. Da saß der Pfarrer, der seit siebzehn Jahren Gefängnispfarrer war, der kälteste Pharisäer, bei dem es nur eine bestimmte Kategorie Gefangener wert war, sich mit ihnen abzugeben, die Polen. Da saß der Kasseninspektor, Mitglied des örtlichen Gesangveieins, ewig mürrisch, pedantisch wie seine Beschäfigung, dünkelhaft wie das Kriegsverdienstabzeidien,das er immer trug. Da saß der Arbeitsinspektor, ein trockener Schleicher, lang, zäh und dürr, mit melancholischem Hängebart über faltigem Halse. Da saß der Ökonomieinspektor, plump, gutwillig, von den Gefangenen «Graupenspalter» genannt. Da saß der Obersekretär, brutal, vierkant, heuchlerisch, mit rotem Gesicht und vorquellenden Augen. Da saß diese Ansammlung subalterner Existenzen, die alle ihre Verantwortungskraft nur aus der Gewißheit ihrer sicheren und unantastbaren Stellung uns, den verachteten undverächtlichen Gefangenen, gegenüber sogen. Und der Herr Direktor sagte: «Sie sind wieder gemeldet worden; diesmal wegen Gehorsamsverweigerung. Das ist in den drei Wochen, seit Sie hier im Hause sind, die vierzehnte Meldung über Sie. Stehen Sie gerade und nehmen Sie die Hände vom Rücken. Was denken Sie sich eigentlich? — Glauben Sie, Sie seien zum Spaße hier? — Halten Sie den Mund. Sie haben nur zu reden, wenn Sie gefragt werden. — Ich lasse Sie sofort in Arrest abführen, wenn Sie nicht still sind. Wenn ich Sie bisher noch nicht der härtesten Strafe unterwarf, dann geschah es aus Rücksicht auf Ihre Jugend. Bedenken Sie, daß Sie fünf Jahre in diesem Hause sein werden. -Ruhe! Mir
scheint, Sie wollen nicht. Aber ich werde Ihren Willen brechen, und wenn ich Sie monatelang in Eisen legen muß! Verlassen Sie sich darauf, ich werde Ihren Willen brechen!» Ich sagte: «Bitte, brechen Sie.»
1923 Abend für Abend sang im Zellenhause ein Gefangener die Internationale. Das Lied hallte in den Gängen, scholl über den Hof und stieg wie ein Versprechen über den verfluchten Bau. Immer war es nur eine Stimme, die sang, und oft genug brüllte ein Gefangener dazwischen, er wolle seine Nachtruhe haben. Der da sang, war Edi, Kommunist und nicht anerkannter Überzeugungstäter. Was war das für ein harter, beklemmender Tag, als ich mit ihm zum ersten Male zusammentraf. Ich ging zur Freistunde den schmalen, holprig gepflasterten Weg, in langer Reihe eingegliedert, mit einem Abstand von acht Schritt hinter meinem Vordermann her. Der Wind, der um die Ecke pfiff, aus allen Winkeln kam, vom Kohlenhof den schwarzen Staub mitwirbelte und von der Kalkgrube den weißen Sand, der alle Gerüche der Spülzellen mit sich trug und die der Küche und des Gemüsekellers und der Arbeitsräume, der Wind, der die schwarzen Flocken der Gasanstalt auf unsere bleichen Gesichter wehte, uns durchkältete und gegen die hohe Mauer stieß, der machte es, daß ich, ankämpfend gegen seine Wucht, mich wandte. Da sah ich ihn über den
Anstaltshof schlurfen. Er mühte sich, einen großen, schwarzen Kübel zu schleppen. Der Beamte winkte, ich griff zu, und wir beide trugen die schwankende Last, wir beide trugen, beaufsichtigt von einem uniformierten Mann mit Pistole und Säbel und Schlüsselbund, in gleicher, erniedrigender Fron, keuchend den riesigen Kessel stinkender Fäkalien. In brauner Sträflingskleidung, er und ich, zusammengewürfelt wir beide zwischen Mauer und Gitter nach dem Spruch eines Rechtes, das wir nie anerkannten, nach dem Diktat eines Staates, der nicht der unsere war, unter dem Zwang einer Gewalt, die wir einstmals zu brechen den gleichen Anruf des Blutes hatten. Als wir voneinander erfuhren, da stutzten wir erst, und es wollten sich Schranken aufrichten zwischen uns, weil wir beide noch zu sehr befangen waren von den Vorurteilen einer Welt, der wir nicht mehr angehörten. Aber die Stimme des Beamten, der uns mürrisch zurechtwies und jeden in seine Zelle sandte, wischte befreiend weg, was sich erheben wollte, befreiend und doch unendlich niederdrückend; denn so begegneten wir uns, die wir die Bestimmung hatten, in freiem Kampfe aufeinanderzustoßen, nun als folgsame und gebändigte, in den tiefsten Schmutz gestoßene Menschen, unterworfen und entwürdigt von Mächten, die wir verachteten, die wir haßten, die ein Hemmnis unserem Kampfe waren und ein Hemmnis jeder kämpferischen Entwicklung überhaupt. Wir lebten in einer Welt, in der uns alles feindlich war. Und wir kamen zueinander, um die grenzenlose Verlassenheit zu übertäuben, um einer im anderen den Menschen zu finden inmitten einer Wüste aus Stein und
Eisen. Und es kam eine Zeit, da uns nichts voneinander schied als die Mauer zwischen seiner und meiner Zelle. Des Abends, kaum hatte die Ronde das Zellenhaus verlassen, hörte ich sein Pochen. Ich hörte seinen Sprung auf Schemel und Sims und das Klirren des Fensters. Und ich saß, an die Gitter geklammert, und preßte den Schädel zwischen die Stangen, und Rede und Gegenrede flog flüsternd hin und her. Ich erfuhr von dem Leben eines Bergmannes im Ruhrgebiet, von dem Leben unter Tage in Schwärze, Staub und Schweiß, in steter hämmernder Sorge, von dem zermürbenden Leben mit Brot und Kartoffeln und Schnaps und wenigen, kargen Freudestunden, Und ich lernte verstehen die maßlose Verbitterung, den trotzigen Stolz, die zähe, federnde Kampfbereitschaft gegen alles, was nicht Arbeiter war. Und ich sagte ihm, warum ich, der Soldat, mich ihm verbunden fühlte, warum mein Kampf derselbe war; wie er ein Ja setzte hinter sein Leben in der Gemeinschaft mit jenen, die mit ihm standen vor Ort, die mit ihm rangen gegen den schwarzen Stein und gegen die breiige, unfaßbare, alles abwürgende Schicht, auf deren Befehl er die Sonne nicht sah, so setzte ich ein Ja hinter mein Schicksal und hinter meine Gemeinschaft mit der grauen Masse Namenloser, die einst marschierte auf denselben Befehl jener selben Schicht. Absonderliche Gespräche führten wir. Ich erfuhr von der Kampfesweise seiner Genossen, die mir fremd war und die mir nicht schlagkräftig erschien, da sie mit Massen rechnete, mit und für Massen, und darum in der Wucht des Einsatzes schwankend war. Aber er verwies mich auf die unbedingte Geschlossenheit des
theoretischen Systems,aus dem für die Masse auszubrechen nicht leicht sein konnte, er verwies auf die durchgegliederte Organisation, die selbst eine unzulängliche Führung auf längere Dauer vertrug. Ich aber pries ihm das Gefecht der Einzelnen, die gerade in der Verlassenheit das höhere Glück der Gemeinsamkeit erfahren durften und darum den Keil tiefer treiben konnten, als es alle Anstürme der Entrechteten jemals vermochten. Wir sprachen, als ob wir die Armeen der Revolution zum Kampfe führen müßten, und fanden uns in der unvergleichlichen Lust der Napoleonsträume, der Leningesichte, die heißen Köpfe zwischen die Stäbe gepreßt und vom Schemel polternd, sobald die Kunde nahte. Edi war aber bei den Kämpfen der Roten Armee im Ruhrgebiet beteiligt gewesen, als Anführer eines zusammengetrommelten Haufens. Als die Reichswehr gegen die Stellung seiner Abteilung vorstieß, sollte er Meldung bringen zu seinen Genossen im Hauptquartier, und da die Zeit brannte, zerrte er einen Gaul aus dem Stalle eines Gutsbesitzers und preschte auf ihm davon. Als er sein Schlachtroß nicht mehr brauchte, verrubelte er es und versoff das Geld. Und weil dies Raub war und Plünderung und überhaupt eine schändliche Tat, bekam er sechs Jahre Zuchthaus und bekam Ehrverlust und Polizeiaufsicht und wurde keinesfalls als Überzeugungstäter anerkannt. Man trennte uns erst, als unser erster gemeinsamer Ausbruchsversuch mißlungen war. Nicht so sehr darum wurden wir getrennt, weil man eine weitere Exkursion fürchtete — uns konnte nur die Absicht
unseres Tuns nachgewiesen werden, nicht aber der Verlauf und das niederdrückende Ende des ersten Versuches -, sondern weil jegliche Beziehung zwischen Mensch und Mensch außer jener des gegenseitigen Verrates in diesem Hause nicht geduldet werden konnte. Nur manchmal traf ich noch mit Edi zusammen, beim Duschen im dampfgefüllten, speckwandigen Baderaum, bei der Vorführung in der Kanzlei, im Lazarettzimmer, in der Kirche, in der Kammer des Hausvaters beim Tauschen defekter Kleidungsstücke. Immer nur wenige Worte konnten wir wechseln, scheu und verlegen, denn wir beide spürten, wie sehr wir nun wieder ausgeliefert waren an die kleine Schikane, an die Last der ausweglosen Jahre, die unvorstellbar vor uns lagen. Nur des Abends drangen noch die schwachen Töne der Internationale in meine neue Zelle, die in einem anderen Bau, an einem dunklen Gange, gegenüber den Arrestzellen, lag und mit einem riesigen Vorhängeschloß, dem nur der Hauptwachtmeister einen Schlüssel besaß, besonders gesichert war. Hatte die Bitternis des ersten Jahres der Halt in den wenigen Wochen des beglückenden Einverständnisses mit einem Menschen sich immer wieder unverdrängbar angemeldet, so traf mich nun der Anspruch der Zelle mit seiner ganzen pedantischen und zermalmenden Wucht. Jedweder Herrschaft der Gemütlichkeit durchaus feindlich, besaß die Zelle eine ernüchternde Gewalt, die keinerlei Bestandteile innerhalb der vier beziehungslosen Wänden duldete. Von der ersten Sekunde an setzte der Assimilationsprozeß ein. Keines
der Dinge, die in der Zelle ihren Platz und ihre Bestimmung hatten, zeigte eine Spur eigenen Lebens. Und gleichwie jeder Gegenstand in seiner nackten, einzig für den Zweck hergerichteten Art den Charakter der Zelle als Instrument der Strafe unterstrich, so war der Mensch als Inventarstück, die bloße Nummer uhne Anspruch und ohne Wunsch und ohne Willen, der vom Subjekt zum Objekt gewandelte Mensch zweifellos das erstrebenswerte Produkt der Zelle, auf dessen Herstellung die ganze Ordnung unablässig hinzielte. Dieser berechneten Wirkung konnte ich mich nicht entziehen, soweit sie einen bestimmten Zerstörungsablauf zur Folge hatte. Von jeher hatte ich an der Zerstörung meine besondere Lust. So konnte ich im täglichen Schmerz wohl das beobachtende Vergnügen durchfühlen, wie sich allmählich das Lager schnell gewonnener Vorstellungen und Gefühlswerte verringerte, wie das Arsenal voll Idealismen und Forderungen Stück für Stück zermahlen wurde, wie sich die Wünsche, Träume und Hoffnungen verflüchtigten, bis nichts mehr übrigblieb als ein Bündel Fleisch mit bloßgelegten Nerven, die gleich straffgespannten Saiten nun jeden verlorenen Ton schwirrend wiederzugeben, in der dünnen Luft der Isolierung doppelt stark zu vibrieren vermochten. Ich ertappte mich mehr denn einmal auf dem sonderbaren Gedanken, welcher Gnade ich anheimgegeben war, nun auch dies zu erleben, diesen einzigartigen Vorgang der Zelle, durch den ich in entspannten Stunden wiederum erfuhr, daß ich nicht stürzen konnte, ohne mich schließlich doch wieder bei mir selber zu finden.
Da die besinnungslose Aktivität nun in Grenzen gebannt war, aus denen sie, ohne sich zu verströmen, nur tropfenweise sickern konnte, richtete sie die Elemente des Angriffes gegen denselben Bestand, aus dem sie geboren ward. Was immer vor der nackten Gewalt der Zelle sich nicht bewährte, das war ich anfangs sicherlich nur sehr schwer, dann aber immer leichter geneigt, als Wert anzuzweifeln und als Ballast hinter mich zu werfen. Damit aber vollzog ich bewußt einen Akt, den ich leichten Sinnes in den tollen Jahren oft genug geübt, wie denn auch alles, was damals für mich bewegend war, nun, da es nicht mehr im Augenblick des Geschehens durch die wirbelnde Folge von Spannungen und Entladungen verdeckt und auseinander gerissen war, sich glühend zeigte, logisch im Ablauf und voll bohrender Eindringlichkeit. Ich erlebte doppelt und mit gesteigerter Wucht. Oft stand ich noch an die Türe gelehnt, wenn der erste blaßgraue Streif am Himmel die Zelle mit milchigem Schein erfüllte. Und ich konnte nicht haltmachen vor den düsteren Schatten, die inmitten der farbigen, bewegten Gebilde auftauchten und mir die Kehle plötzlich dünn und trocken machten. Da war noch zu viel dessen, an dem mein Bestreben, jede Erscheinung auf ihren einfachsten Gehalt zurückzuführen, scheiterte, weil ich spürte, daß ich es mir nicht leicht machen durfte, um mich schließlich nicht doch zu verlieren. Da war das Bild des Freundes, das einzige Bild, das mir der Direktor beließ, als er erkannte, daß ich um seinetwillen zu jeder explosiven Maßnahme bereit war. Es gab keine Minute der Wachheit, in der nicht das Bild mit einem Maße der Verpflichtung zu mir sprach,
das jedes arme und billige Gefühl der Trauer ausschaltete. Der Freund war tot und ich hatte ihm nicht folgen können, ich hatte den Nullpunkt durchschritten, in dem er Flamme wurde in der höchsten Haftung seines Willens, der ein Wille zur Vollendung war, gerade da er im Strudel der unbedingtesten Vernichtung nach fernen Zielen tastete, durch die sein Tun für ihn und viele noch sinnvoll wurde. Wie hätte er es ertragen können, im Zuge der Erniedrigten zu schreiten, wie könnte ich es ertragen, dort zu bleiben, wo er ein Ende fand, das ihm kein Ende war als jenes seiner selbst? Und wenn sein Tod Vollendung war, Weiterwirken und Symbol, Mahnung und Notwendigkeit, wenn sein Tod alles war, nur eines nicht: Sühne - was blieb uns denn, uns, denen er nicht zuletzt gestorben, als immer wieder das zu sein, was wir nicht anders sein und wollen können? Es gab nichts, was uns trennen konnte, und so war sein Tod in dieser Zelle das einzige, was immer über meinen Tag hinaus und über meinen Wunsch hinaus in jene Femen griff, aus deren Zone mir die Kraft erwuchs, zu meiner Kraft hinzuzutun und immer da einen Beginn zu finden, wo ich ein Ende grüßte. Und so scheute ich die Gesichte der langen Nachtstunden nicht, in denen neben den unbezwinglichen Augen, die mich täglich anschauten, jene anderen Augen aus dem Dunkel kamen. Ich schnellte aus den Träumen, wenn sie zu mir kamen, ohne Drohung in rätselvollem, schmalem Antlitz vor mir standen. Ich wünschte diese Augen herbei, um der Härte willen, mit der ich sie von mir wies. Ich spürte hier einen Kampf, der ausgetragen werden mußte, mein
Leben lang, und der ohne einen Sieg bleiben mußte, wenn er seine Fruchtbarkeit behalten sollte. Oft hatte ich den Klang der weichen Stimme im Ohr, der Stimme jener Krankenschwester, die zu dem sterbenden Minister in den Wagen sprang, und die in die staubige Luft des peinlichen Verfahrens hinein mit leisen, stockenden Worten berichtete, er habe noch einmal die Augen aufgeschlagen und die Helferin sehr sonderbar angesehen, Ich kannte dies Unbegreifen im Blick — es war mir begegnet auf den Feldern, über die wir zum Angriff liefen, es lag hinter den halbgeschlossenen Lidern der Freunde, die den letzten Abschied nahmen, es muß im Turme der Burg aus Kerns Gesicht den Freund bewegt haben, die Wunde mit Leinwandfetzen abzutupfen. Ich ertrug es kaum. Ich ertrug es kaum, diesen Augen eine Antwort geben zu müssen. Ich konnte die Antwort nehmen aus den wenigen, hervorgekeuchten Sätzen des Freundes, an dem dieser Mann starb und der Freund an ihm. Aber ich hatte nur das Karge, Durchgebrochene, nicht hatte ich das zu sagen, was sich in ihm auf langem, unerbittlichem Wege geformt. Ich war schuldig und lieber noch als Richter oder Henker wollte ich Mörder sein. Nun blieb mir nichts, als dumpf zu sagen, was dumpf mich bewegte, und mir die Sicherheit der armen Stunde zu holen aus dem Willen zu einer Antwort, deren erstes Argument immer lauten mußte: wenn es ein Unrecht war, so war es das unsrige, Zu jenen Stunden aber, da hinter allen Zweifeln die Verzweiflung stand, die jeden Spalt verschütten ließ, meldete sich die Entfremdung an, die zwischen dem Menschen der Zelle und den Menschen des Tages
eintreten muß; eine eigentümliche Art von Stolz ließ mich diese Entfremdung spüren, ein Stolz derStärke, des Preisgegebensems an Mächte, zu denen die anderen nicht gelangen konnten. Der schweißnasse Körper, das von überhitzten Bildern gepeinigte Hirn, das Herz, dem sich Süchte und Forderungen die erbittertsten Gefechte lieferten, alles erlebte konzentriert. Was im Munde des gleichgültigen Richters einfach fünf Jahre hieß, die Spanne zwischen einem Datum und einem anderen Datum, das rollte nun vor und zurück in irrsinnigem Rechnen. Ich erschrak, als ich die Jahre zurücktastete: vor fünf Jahren war ich noch Kadett, Untersekundaner, im Kriege hungernd und in der Würde der königlichen Uniform ein kleiner, blasser, schmächtiger Junge, mittelmäßig begabt und, gleich den Kameraden fürchtend, der Krieg möchte zu Ende gehen, ohne daß ich ihn miterlebt. Unvorstellbar, daß die gleiche Zeit, die von jener unwirklichen Gestalt zu dem Gefangenen führte, über die tollen, drängenden Bilder hinweg, nun vor mir sich breitete. Fünf Jahre gefangen, fünf Jahre ohne ein anderes Tun als das Warten. Und draußen ging mit hastigen Pulsen das Leben weiter, standen die Freunde vor den Aufgaben, die uns dies Leben erst gültig machen. Die drängende Unrast der Furcht, bei einer Entscheidung nicht beteiligt zu sein, ließ den Funken durch die Kruste schlagen, wenn nach halber Andeutung mißgünstiger Beamter, nach Lektüre eines zerschlissenen Zeitungsblattes, das der Wind über den Hof flattern ließ, nach dem Bericht des alle zwei Monate gestatteten Briefes karge Kunde kam von dem,
was draußen bewegend war. Dann kam es zu dem Versprengten in der dunkelsten Verlassenheit wie das Blinken des fernen Lichtes marschierender Kolonnen, kündete ihm, daß noch der Anschluß nicht zerrissen war. Und dies, gerade dies Mitschwingen aller inneren Saiten, das so fern von den Brennpunkten und unabhängig von der Wucht der Tatsachen geschah, vermittelte den hohen Grad der Genugtuung, der mich die Zelle als ein Werkzeug der Erlebnissteigerung empfinden ließ. Immer noch hatte mich die Einheit, zu der ich mich bekannte, nicht aus ihrem Dienst entlassen, und zweifelsohne konnte kein Gedanke, kein Gefühl und keine Erfahrung, konnte nichts, was sich nun abseits und unter solchem Drucke formte, ohne Sinn und ohne spätere Geltung sein. Und weil ich Schritt für Schritt mit den Genossen der nahen Vergangenheit weiterging, weil die gleiche Kraft, die sie zum Ansprung trieb, nun mich auf anderen Ebenen die gleiche Richtung gehen ließ, konnte, was auch immer je geschah, nicht Ausfluß einer Schar Besessener gewesen sein, konnte nichts verlorengehen, was einmal wirkte, nichts geschehen, was nicht nach unbegreiflichen Gesetzen zu geschehen vorgerichtet war. Doch war es bitter, eine Sonderstellung zu erfahren, und den Wunsch, am Einsatz teilzuhaben, konnte nichts, was mir begegnete, ersticken. Ich wollte frei sein, wollte aus den strengen Mauern des verfluchten Hauses, das mich band, das mir befahl, zu warten, da das Warten das einzige Verbrechen war, das die Freunde, und mit ihnen ich, begehen konnten.
Die verwirrten Briefe ließen mir genug zu raten übrig. Die Zeit verrann, sie brannte und verzehrte, was mich noch fähig sein zum Handeln ließ. Das Jahr schritt vor, das Tempo der Ereignisse, die unserem Tun entsprangen, war von unserm Tun bestimmt. Ich wußte, daß sich unaufhaltsam einem Mahlstein zu jegliche Bewegung drängte, und ich saß hier und hoffte, grübelte, versank. Wie lang war der Tag! Er war erfüllt bei aller seiner Monotonie mit einem Strudel schäumender Wirklichkeiten, die sich aus der muffigen Stille in das Herz gerettet. Die Minuten zerrten sich zu langen Bändern, und wenn ich die Spanne maß, in der ich nun schon an die Zelle abgegeben war, und sie verglich mit jener, die noch meiner harrte, dann konnte ich wohl erschrecken, ohne mich des Mangels an Entschiedenheit zu zeihen. Wenn die Briefe kamen, die zwischen den Zeilen berichteten, was des Berichtens wert war, betrachtete ich die Marken, die jedesmal einen anderen Aufdruck hatten. Als der Nennwert der Briefmarken von den Hunderttausenden zu den Millionen, von den Millionen zu den Milliarden stieg, verband ich das Vergnügen, das ich dabei empfand, mit der Genugtuung, die aufgestörten Beamten zu beubachten, die oftmals schlüsselbundrasselnd auf dem Hofe oder auf den Gängen standen und dickgefüllte Brieftaschen voller zerflederter Geldscheine mit einem Ausdruck betrachteten, in dem sich Rausch, Verzweiflung und völliges Unbegreifen seltsam spiegelten. Wenn sie von etwas sprachen, das nicht mit dem Jargon des Dienstes zu erklären war, dann war es von der Inflation, ein Wort
und ein Begriff, der sicherlich ihnen keineswegs ungleich mehr verständlich war als mir. Ich hatte die Inflation nur in ihren ersten, harmlosen und technisch erklärbaren Anfängen erlebt. Nun schien sie eine selbständige, magische Gewalt zu sein. Das Geld hatte keinen Wert mehr? Vortrefflich! Die Herrschaft der Zahl zeigte den Abgrund ihrer völligen Sinnlosigkeit? Ausgezeichnet! Wenn die Mächte dieser Zeit, nachdem sie alles erobert hatten, was immer sie erobern konnten, nun in ihrem wahnsinnigen expansiven Drange in den leeren Raum stießen, in dem ihnen nichts anderes übrigblieb, als sich selber anzugreifen und zu verzehren, wie sollte dies dämonische Gebaren, dies im Letzten hoffnungsvolle Zeichen nicht erfreuen den, der sich diesen Mächten zu unterwerfen stets geweigert? Was Wunder, daß, wie ich erfuhr, die zivilisierte Welt sich auf den verwesenden Kadaver, den sie erst geschaffen, stützte, ein Stück der Beute an sich zu reißen, daß sie dann mit Sorge vor dem Pestgestanke wich, daß sie schließlich drohend Einhalt forderte! Man sollte, grübelte ich, und ärgerte mich sehr ob dieses unbestimmten «man», den Krankheitsherd in alle Winde tragen, die Waffe nicht aus seinen Händen lassen. Wie, war nicht endlich aufgelockert, was immer unter seiner dicken Kruste lag? Und wenn die Angst schon in die kleinen Hirne drang, die nun erstarrt auf das Verdunsten ihres Götzen stierten, wie mußte sie erst in den Tempeln bohren, in denen stolz der Götze thronte? Das Leben duldete noch nie ein Vakuum, es baut sich in die leeren Räume selber ein. Was nun kam, so dachte
ich, das wird unsere Früchte reifen lassen. Die Patrouilleure der Erhebung finden blankes Feld und finden hinter sich die Scharen, die den Sieg sättigten. Und dieser Sieg schien sich anzukündigen an jenem Abend der ersten Novembertage des Jahres 1923, als plötzlich, nachdem die Ronde mit klappernden Absätzen den Gang durchschritten hatte, die Stimme Edis meinen Namen schrie. Ich schnellte an die Tür. Der Ruf kam aus einer Zelle gegenüber und ich antwortete ihm. Und Edi schrie, er hocke im Arrest, sein Ausbruch sei gescheitert. Er schrie, er habe Nachricht, und nun gehe es endlich los. Er schrie, in Bayern braue sich etwas zusammen, und sicher seien auch schon die Genossen mobil. Wir riefen uns durch die geschlossenen Türen, über den hallenden Gang die Worte zu. Wir waren voll einer irrsinnigen Hoffnung beide. Wir stritten uns, Mund und Ohr an die eisernen Türen gepreßt, über Marx und Bismarck, über Masse und Persönlichkeit, über Verteilung und Gestaltung, über Weltrevolution und Aufstand der Nationen. Wir brüllten uns mit heiseren Stimmen, halb lachend, halb zornig, Beleidigungen zu und schließlich schmetterte er die Internationale heraus und ich sang das Ehrhardtlied gegenan — bis die Beamten mit den Kolben an die Türen rammten und etwas von Meldung schrien und von Arrest und von Nucken austreiben. Da sagten wir uns ernüchtert gute Nacht, und ich rannte noch lange auf und ab. Die Beamten meldeten wirklich. Aber als der Direktor milde lächelnd erklärte, er habe doch immer mein Bestes gewollt, da wußte ich, daß der Aufstand
losgebrochen — und als er drei Tage später mit barscher Stimme mich anfuhr, ich sei der renitenteste Gefangene, den er seit fünfundzwanzig Jahren im Hause gehabt, da wußte ich, daß der Aufstand gescheitert war.
Brief Der Werkmeister, den ich eines Tages überraschte, wie er Hemdenstoff aus den Arbeitsräumen stahl, mußte mir dienlich sein, die heimliche Verbindung mit den Kameraden zu schaffen. Denn da es zu den unerläßlichen Grundsätzen jedes geordneten Strafvollzuges gehört, den Gefangenen zum Zwecke seiner sittlichen Läuterung strikte von den verderblichen Einflüssen seiner bisherigen Umwelt fernzuhalten, war es mir nur gestattet, mit meinen nächsten Angehörigen brieflich zu verkehren, und jede Frage in meinen Schreiben und jede Nachricht in den Briefen an mich, welche auf die Dinge einging, die mir in ihrer fernen Wirklichkeit näherlagen als die der kleinen Ordnung, der ich preisgegeben war, wurde wohlmeinend ausgemerzt, mit Tinte überstrichen oder überklebt. So sandte ich, ohne dem Herrn Direktor die Mühe der Zensur zu machen, einen drängenden Ruf nach dem andern hinaus, aber keine Antwort kam, nichts kam außer halben Andeutungen zwischen den Zeilen
offizieller Briefe, die mir eine Hoffnung geben sollten, nach welcher ich gar nicht verlangte. Daß ich sicher bald freikäme, stand in den Briefen, und daß ich Geduld haben solle, und unsere Sache mache gute Fortschritte. Aber ich spürte das Mitleid in diesen Äußerungen und ich hatte für diese abgeschmackte Ware keine Verwendung. Im Februar 1924 kam der Werkmeister mit wichtigtuerischer Heimlichkeit in meine Zelle, sah sich noch einmal vorsichtig im Gange um und stopfte mir dann schnell einen geschlossenen Umschlag unter die Jacke, der einen Packen Papieres enthielt. Das war kurz vor Einschluß, ich rannte, den Brief unter der Weste an mich pressend, hastig in der Zelle auf und ab, und kaum hatte der Beamte vom Dienst sein «Gute Nacht» geknarrt, kaum knallte die Türe, rasselten die Riegel, erlosch das Licht, als ich ans Fenster stürzte, den Spiegel an die Maschen des Gitternetzes band, so daß er den Lichtschein der Hoflaterne fing und in kleinem Quadrat auf den Schemel warf; ich kniete nieder und riß mit flatternden Händen den Umschlag auf und las: «... Als die Franzosen das Ruhrgebiet besetzten, waren die Gruppen bereit. Wir hielten die deutsche Proklamation des passiven.Widerstandes für einen infernalischen Witz, nicht für einen Mangel an Kraft. Aber bald merkten wir, daß alle Anordnungen der Regierung eben jenem Wesensgehalte entsprangen, den wir anzugreifen immerhin diesen einen zwingenden Grund haben, weil ohne seine Vernichtung unser Tun für alle Zeit sinnlos erscheinen muß. So beschlossen wir, den Widerstand so zu führen, wie wir es gewohnt
waren. Es bestand Aussicht, durch unser, einer noch in keinem Herzen ganz erstorbenen Idee gemäßes Handeln alle wachen Kräfte und Menschen mitzureißen und so in immer hitzigerer Steigerung die Verwandlung der deutschen Lage endgültig herbeizuzwingen. Wir waren nur eine Handvoll. Wir kannten uns alle untereinander. Aus dem ganzen Reiche kamen die aktivsten Gesellen, eine unerhörte kämpferische Auslese, wilde Burschen darunter, alte Kämpen der Front und des Nachkrieges, von denen jeder schon seine Probe bestanden hatte. Viel zu organisieren war da nicht. Jeder Tag hatte seine besondere Aufgabe, die sich fast von selber anbot. Schlageter sagte zu seinen Münnern, die aus O. S. auf Anruf kamen: «Oberschlesien war ein Dreck dagegen.» Wir strolchten als arbeitslose oberschlesische Bergleute von Zeche zu Zeche, sprachen um Arbeit vor und klauten Sprengstoff bei dieser Gelegenheit. Wir hausten in Arbeiterquartieren, in Ledigenheimen und Kaschemmen. Wir schoben Waffen und brachten Flüchtlinge über die neue Grenze ins Reich. Wir bespitzelten die Spitzel, wir übten eine harte Gerichtsbarkeit. Wir sprengten bei Hügel und Calcum, bei Überruhr und Königsteele und Duisburg, Wir strichen nächtens sprengstoffbeladen an den Strecken der Regiebahn entlang, wir räumten unangenehme Posten aus dem Wege, wir lagen hinter den Schwellen und die Scheinwerfer tasteten über unsere bewegungslosen Körper hinweg, wir hockten mit halbem Leibe im Wasser, wir tauchten ans den Büschen und schossen uns mit den Patrouillen herum, wir lauerten lange Stunden auf die Gelegenheit und schlugen uns durchh die heranbrausenden Kolonnen,
sobald die Sprengung hochgekracht war. Wir brachten die Kohlen- und Transportzüge zur Entgleisung und versenkten einen Dampfer im Dortmund-Ems-Kanal und im Rhein-Herne-Kanal einen Kohlenkahn. Ich kam mit Gabriel gerade zurück nach Essen — wir hatten dort, wo der Kanal über die Emscher in einem Brückenflußbett geführt wird, den Krempel in die Luft gejagt, die Stromzufuhr zum Schleusentor durchschnitten und so den Wasserspiegel bis zur Unbefahrbarkeit gesenkt — als wir hörten, daß die Sabotagekolonne Schlageter hochgegangen war. Wegen der Brückensprengung bei Calcum hatte die Polizeibehörde — die deutsche Polizeibehörde von Kaiserswerth — Steckbrief hinter Schlageter erlassen. Das kam uns nicht unerwartet. Wenn wir über die Grenzen wechselten, dann waren die deutschen Behörden ebenso eifrig hinter uns her wie die französischen im Kampfgebiet. Es gab Bürgermeister, die Leute von uns, welche von deutscher Polizei angehalten, durchsucht und mit Sprengstoff oder Waffen versehen befunden wurden, verhaften und an die Franzosen ausliefern ließen. Es gab deutsche Gendarmeriekommandos, die mit den französischen Hand in Hand arbeiteten, uns dingfest zu machen. Schlageter wurde von Deutschen verraten an die Franzosen. Er wurde gegriffen und mit ihm Becker und Sadowski und Zimmermann und Werner und noch zwei andere. Hauenstein wurde von der deutschen Polizei verhaftet und festgesetzt. Wir versuchten alles, um die Kameraden rauszuholen. Aber der die ganzen Verbindungen in der Hand hatte, die Gelder, die Pläne, alles, Hauenstein,
wurde nicht freigelassen, erst recht nicht, als er immer wieder verlangte, zur Befreiung Schlageters wenigstens aus der Haft beurlaubt zu werden. Wir waren Tag und Nacht unterwegs. Als wir die Kameraden endlich in Werden ausgemacht hatten und alle Kraft dorthin konzentrierten, waren sie schon nach Düsseldorf abtransportiert. Wir hörten von wüsten Mißhandlungen im Essener Kohlensyndikat, dem französischen Hauptquartier. Wir hörten von Peitschenhieben und Kolbenstößen. Wir waren in Werden schon im Gefängnishofe, an Düsseldorf kamen wir nicht heran, weil wir von der deutschen Polizei schärfer überwacht wurden als von der französischen. Wir wollten einen Massensturm auf das Gefängnis organisieren und Gabriel rief die Kruppschen Arbeiter zur Hilfe auf, denen im März dreizehn der Ihren von den Franzosen niedergeknallt worden waren. Es war alles vergeblich. Wir wandten uns an Bürgermeister, denen die Wänste in der Weste schwabbelten, als wir kamen; Gabriel reiste nach Berlin zur Regierung, die ihn höhnisch abwies und an das Kote Kreuz empfahl. Am 26. Mai 1923 wurde Schlageter auf der Golzheimer Heide bei Düsseldorf von einem französischen Peloton erschossen, drei Stunden, bevor wir zu einem letzten, verzweifelten, wahnsinnigen Sturm auf das Gefängnis ansetzen wollten. Die anderen Kameraden wurden nach der Insel St. Martin de Ré abtransportiert und sollten von dort nach Cayenne geschafft werden ... ... Gabriel übernahm die direkte Führung im ganzen besetzten Gebiet. In Frankfurt hockte Heinz, in Essen Hauenstein, in Köln Treff. Aber ich mußte Treff in
Köln ablösen. Denn er laborierte an einer schweren Handverletzung, die er sich im Februar geholt, als er den Kölner Separatistenführer in seiner Wohnung aufgesucht und niedergeschossen hatte, wobei er sich auf der Flucht durch einen Lichtschacht stürzte. Er ging «zur Erholung» nach Spandau in die Zitadelle, wo ein Bataillon der Schwarzen Reichswehr hauste und alle ausgelaugten Kämpen des Ruhrkampfes zu neuer Arbeit vorbildete. Er blieb nichtlange dort. Er holte im Juni mit den anderen den Kapitän aus dem Leipziger Reichsgerichtsgefängnis heraus. Es war, als wollte uns zu guter Letzt noch einmal alles glücken. Das Reich war völlig aufgewirbelt. Was es zusammenhielt, war nichts als die Furcht vor dem letzten harten und dynamischen Zwang des Chaos, aus dem die deutsche Revolution wachsen mußte. Aber die Inflation, der reißende Sturz der Mark, des Wertes, der den einzelnen der Masse noch an die Dinge band, die ihm sein Dasein garantierten, an das tägliche Brot, im die gesicherte Ordnung, schuf eine Atmosphäre, in der das, was diesem ein Glaube war, zum Fatalismus wurde, und der Fatalismus zur Verzweiflung. Bald stand jeder für sich allein, eine pulverisierte Masse bildete das Reich, Rohstoff für den Aufbruch, auf dessen Parole jedermann zu warten, dessen Signal jedermann folgen zu wollen schien. Wir aber, Gottes Freund und aller Welt Feind, mußten unerbittlich zerschlagen, was sich in den Bestand des Kommenden drängen wollte, Standen wir vorher lange Jahre völlig allein, so kristallisierte sich nun uns allmählich an, was noch Hoffnung hatte. Schon gab es Augenblicke, in denen wir entschlossene
Massen hinter uns sahen, wenn wir vorstießen. In Düsseldorf, in Aachen, in Krefeld, in Bonn sollten das die Separatisten zu spüren bekommen. Ein Schuß, von uns gefeuert, genügte da, die Massen aufzubieten. Mit Wasserschläu-chen und Knüppeln, mit Steinen und Jagdgewehren gingen wir es an und schlugen tot, beschossen von den Franzosen, den Aufruhr beherrschend, bis ausgerottet war, was sich uns entgegenstellte. Das war in der Gegend um Honnef und Ägidienburg, in dem schmalen Streifen zwischen den Brückenköpfen von Koblenz und Köln, der frei ist von französischer Besatzung, wo Gabriel den Hauptschlag geführt. Dorthin hatte er eine Schar von etwa 1500 Separatisten aus dem besetzten Gebiet durch mancherlei Schachzüge hineinzu-manövrieren gewußt, und wir hockten in den Wäldern und beobachteten ihren Anmarsch. Da kamen die Kerle angebummelt, Gewehr mit Mündung im Dreck, zerlumpt, schludrig, Dreckgestalten mit zerlasterten Gesichtern. Und sie drangen in die Dörfer, knallend, johlend, zerrten das Vieh aus den Ställen, schlachteten auf offener Straße, plünderten, soffen und zündeten an. Da boten wir die Bauern auf. Die Glocken heulten zum Sturm, auf den Hügeln loderten die Brände, und wir brachen aus den Wäldern, tolle Haufen mit Sensen, Mistgabeln und Dreschflegeln. Auf einmal war das ganze Tal lebendig, die Bauern, schweißig, blut-bespritzt, rasten in die fechtenden Knäuel, schlugen tot, jagten, tobten — noch lange wird man in den Höfen des Westerwaldes von der Bauernschlacht in den Sieben Bergen reden. Das Signal zur letzten Anstrengung war die Aufgabe des passiven Widerstandes durch die Regierung. Alles
drängte zum Marsch nach Berlin. Das heimliche Heer hatte sich fast von selbst gebildet. Der Druck des Wartens wurde unerträglich. Die Schwarze Reichswehr vegetierte in den Kasematten dürftiger Festungswerke, im Dunkel zermürbender Verschleierung. Und die gestauten Energien ließen die Kräfte sich gegeneinanderkehren zu stiller, bohrender Selbstvernichtung. Was da an Männern sich gesammelt hatte, hatte es gelernt, gegen Verräter erbarmungslos zu sein. Buchrucker in Küstrin prellte vor. Bei Koburg standen schon die schwarzen Formationen, die Brigade als Stamm, zum Einmarsch in Thüringen, Richtung Berlin, bereit. In Bayern marschierten die bewaffneten und uniformierten Trupps ungehindert auf den Straßen. Am 8. November kamen Gabriel und ich nach München. Die Stadt war in unbeschreiblicher Erregung, Hitler rief die nationale Republik aus. Verdammt, es geschah im Bürgerbräukeller. Und an der Feldhernhalle am 9. November schoß Polizei und Reichswehr in den anrückenden Zug, und es fielen dreizehn Mann, Kerle dabei, die eben noch mit uns an der Ruhr gekämpft. Da hatte der Teufel die Hand im Spiel. Es war aus. Es war alles aus. Nationalhymne her und Fahnentuch — aber niemals wird der Dreck verdeckt werden können. Da war eine Stunde, wie sie ein Volk in hundert Jahren seiner Geschichte nur einmal geboten bekommt, — und wir - und wir? Gabriel ließ keine Rohe. Wir wollten sammeln, aber es war alles zerplatzt. Es war auf einmal niemand mehr da. In der Pfalz fanden sich noch ein paar zu einem Grüppchen, das Gabriel führte. Er schien innerlich ausgebrannt. Was er tat, klapperdürr und hohläugig, das
schien eine Maschine zu tun. Seine exakten Methoden, die, ganz ohne Leidenschaft angewandt, die unbedingte Sicherheit des Erfolges fast immer garantierten, hatten nichts mehr gemein mit dem wilden, rachedürstenden Trotz seiner ersten Aktivistenzeit. Er wurde uns beinahe unheimlich. Nur Ideen geben Mut. Aber er lehnte jegliche Idee für sein Handeln ab. Er lachte nur, wenn wir beieinanderhockten und wieder mal, wie er sagte: «Deutschland retteten». Er sagte kalt in die Debatte, in der die wunderlichsten Pläne aus den dampfenden Hirnen stiegen, daß wir notwendig scheitern müßten, und daß er das begrüße. Er grinste hohnvoll, wenn wir « DeutSchland» sagten. Aber er setzte die Gruppe an, den Heinz-Orbis zu erschießen, Separatistenführer und Ministerpräsident der «autonomen Pfalz». Der satt des Abend in Speyer im Wittelsbacher Hof mit seinen Freunden und mit französischen Offizieren und soff. Das Lokal war überfüllt, als wir eindrangen, als wir die Pistolen erhoben und die Herren französischen Offiziere folgsam die Arme in die Höhe streckten. Totenstill war es im Raum und tausend Augen starrten uns an. Dann krachten die Schüsse und Heinz-Orbis und fünf seiner Gesellen sackten zusammen. Die Kronleuchter zerknallten wir und waren draußen, aber Treff hatte einen Schuß im Kreuz, und als er starb, sagte Gabriel: «Ja, ja, wir kommen alle dran.» Was mit uns nach Pirmasens ging, wußte darum. Über uns war sich der Tod noch nicht mit dem Teufel einig geworden. In Pirmasens war der Teufel los. Gott mit uns - aber in des Satans Nähe hatten wir uns immer
am wohlsten befunden. Ironie des Schicksals, daß wir ihn nun austreiben mußten. Wir hatten schon einmal für Ruhe und Ordnung gekämpft. Und wir hatten uns geschworen, es niemals wieder zu tun. Nun taten wir es doch wieder. Das große Kotzen stieg uns hoch. Aber solange noch gekämpft wurde, wollten wir dabeisein, Wir trafen die Pirmasenser Bürger gerade in der rechten Stimmung. Die Separatisten hatten Lebensmittelgeschäfte geplündert, hatten einigen Bürgern das Dach über dem Kopfe abgedeckt, das Rathaus gestürmt und das Bezirksamt besetzt. Im Bezirksamt war ihr Hauptquartier. Von dort aus knallten sie munter in die Gegend. Am 12. Februar 1924 war es so weit. Die Separatisten wurden telephonisch aufgefordert, Jas Gebäude zu verlassen. Sie weigerten sich. Da marschierten wir an, eine Handvoll Burschen, viele Pirmasenser dabei, aber hauptsächlich Gabriels Leute. Die Separatisten schossen, warfen Handgranaten; wir konnten sie auf den ersten Anhieb nicht rausschmeißen. Nun machte Gabriel die Stadt mobil. Es wurde Sturm geläutet, die Feuerwehr rückte an. Wir rasten durch die Straßen und forderten brüllend die Pirmasenser zum Kampfe auf. Wir sammelten uns rund um den Platz vor dem Bezirksamt. Die Feuerwehr schickte Wasserstrahlen gegen die Fenster, konnte sie aber nicht einmal eindrücken. Nun, um sechs Uhr abends, löschten wir die Straßenbeleuchtung aus und nahmen das Gebäude unter Beschüß. Als wir zum Sturm ansetzten, fiel Gabriel. Er fiel mit Kopfschuß und war sofort tot. Ja, ja, wir kommen alle dran. Wir schrien uns die Nachricht von seinem Tode zu, und da war nichts, was uns halten
konnte. Viele sah ich, denen stand der Schaum vor dem Munde, die brüllten aus kalkweißem Gesicht, indes sie vorwärtsrasten. Wir prallten an das Gebäude, schlugen die Fenster ein. Wir warfen Papier, Werg, Holz, Benzin und Handgranaten in die Zimmer des Erdgeschosses. Wir schleuderten Feuerbrände in die Räume, daß ein Munitionslager hochprasselte. Wir krachten gegen die schwer verrammelte Tür, bis sie barst, und jagten die Treppe hinauf und holten sie einzeln heraus, und was uns lebend entkam, das erschlug die Menge vor dem Haus. Wir standen im Qualm, berauscht, keuchend, besessen, tobten durch die Zimmer, fanden den Anführer und legten ihn um. Und draußen standen die Franzosen und wagten sich nicht zu rühren. Und dann erfuhren wir seit dem November 1918 zum ersten Male, daß es für uns nichts mehr zu tun gab. Schon die Frage, «was nun?» verblüffte uns. Wir gingen verlegen auseinander. Wir wollen uns nichts vormachen. Es ist vorbei. Es war schön und es ist vorbei. Niemals wieder werden wir marschieren, wie wir es gewohnt waren. Unsere tolle Schar existiert nicht mehr. Da hockt irgendwo im Lande der eine oder der andere, der dabei war, und bald werden wir nichts mehr voneinander wissen als das, was uns einmal band. Vielleicht, nein gewiß, wird die große Rechnung noch einmal beglichen. Und die paar Männer, die übriggeblieben sind, werden dann wieder dabeisein als einzelne, jeder für sich, oder jeder mit einer neuen Schar. Vielleicht — aber es ist dann ein neuer Kampf, mit neuen Gesetzen.
Ich könnte sie an den Fingern herzählen, die alten Genossen. Wer nicht gefallen ist, wer nicht im Zuchthause sitzt oder über der Grenze ein schweifendes Leben führt, der hat sich nun eingebohrt in den Dreck, der immer noch über allem lagert, was lebendig ist. Viele sind abgelebt, verkommen, viele auch fügen sich in neue Formen und führen an neuem Ort einen verbitterten Kampf. Den Heinz schleppen sie von Gefängnis zu Gefängnis, den Jörg haben sie eingebuchtet, weil er mit zehn Mann die Regierung stürzen wollte und schon daranging, das Innenministerium als seine künftige Domäne zu besetzen. Die beiden, in deren Feuer Erzberger fiel, kreisen auf verzweifelten Fahrten immer noch rund um Deutschland und stieren auf das Land, für das sie die Verbannung auf sich nahmen. Von Kerns Genossen ist noch keiner den grauen Mauern entronnen. Und Techow schrieb aus dem Zuchthaus Sonnenburg in Euer aller Namen, Ihr verzichtet darauf, rausgeholt zu werden, solange noch Dringenderes zu tun ist. Es ist nichts Dringenderes zu tun, aber es ist keiner mehr da, der Euch helfen könnte. Hilf Dir allein. Vielleicht wird gerade das Zuchthaus Dir am besten weghelfen über den großen Schleim. Leg Deine Leidenschaft auf Eis. Konservier Deinen nützlichen Haß. Es werden nur wenige sein, die noch einmal spüren dürfen, daß nichts vergeblich ist auf dieser Welt. Und ich lasse mich vorläufig jeden Tag auf dem Rhön-Fliegerlager Wasserkuppe mit ein paar Quadratmetern Tuch und Holz durch ein Gummiseil in die Luft torpedieren. Eine Woche nach Pirmasens zum ersten Male. Und späterhin? In Marokko sitzt ein
Niggerscheich mit Namen Abd-el-Krim, der soll einen Aufstand gegen Frankreich planen — und Flieger sind überall nützlich...»
1924 Es kam die Zeit, da mich das jagende Entsetzen überfiel, die wütende Angst vor dem Sinnlosen, da die grauen Mauern des verfluchten Hauses ihre Gespenster gegen mich hetzten und ich auf den Wind horchte, der um die Gebäude fuhr. Hatte ich mich im ersten Jahre meiner Haft noch im Gleichklang mit den Dingen gefühlt, die sich draußen vollzogen und an deren Abläufen ich immer noch einen geheimen Anteil hatte, spürte ich mich noch dem Geschehen verhaftet, dem Bewegenden, dem Eigentlichen, der Einheit, all dem, was einer höheren Würde voll, so war ich nun allein. Nie war ich so allein, wie in jenen Tagen; ich war so allein, daß ich es nicht ertrug, wenn mir der Direktor mit menschlichem Bemühen zu nahen versuchte, daß ich nicht ertrug die mahnende Teilnahme des Hauptwachtmeisters, nicht den besänftigenden Tonfall seltener Briefe, die heimlichen Fragen der Mitgefangenen nicht und nicht die ausgleichende Wärme erster Vorfrühlingstage. Ich verkroch mich in die Zelle, die mir feindlich war, die ich nach
stumpfsinnigem Spaziergang nicht betreten konnte, ohne namenlosen Ekel zu verspüren; ich baute mich in die vier Wände ein und haßte den Beamten, der die Türe öffnete, und den Kalfakter, der die Suppe brachte, und die Hunde, die vor dem Fenster sich balgten. Ich erschrak vor der Freude. Der Mandelbaum am Hofeingang, der zu blühen begann, der mit rosa Blüten bedeckt war und den Hof mit unbeschreiblichem Glanze erfüllte, war mir ein Ärgernis wie die große Kastanie in der Mitte des Spazierweges mit ihren aufspringenden Knospen und die Reihe kümmerlicher Linden, in deren Geäst nun Stare und Finken hockten. Denn jede Freude erschien mir wie eine Verfälschung, wie Hohn auf das, mit dem ich fertig zu werden hatte, und von allen Lüsten ließ ich die eine nur gelten, die zu mir kam, wenn hinter den Dingen voll Langeweile der lebendige Hintergrund auftauchte, wenn durch den kleinen Tag und durch die kleine Ordnung und durch den kleinen Kampf plötzlich das Gesetz durchbrach und die Ahnung von seinem tieferen Sinn. Das kam zu mir, wenn ich des Nachts die Schritte der Ronde in lähmendem Takte durch die Gänge hallen hörte, wenn im fahlen Lichte des Mondes das Holz des Tisches drohend zu knacken begann, mich mit peitschendem Knall aus wirrem Schlafe jagte, wenn Schreie aus den Zellen brachen und die bebende Luft bis zum Platzen mit ihren Schauern füllte; das fuhr mir schneidend in die Därme, wenn im grauen Dunst des Morgens die gellende Glocke die Nacht zerspellte, wenn die Kalfakter an den Zeilentüren entlang jagten und die Riegel zurückhämmerten, mit donnerndem Getöse auf einen Schlag das Haus zu seinem schemenhaften Leben
weckend, wenn das Leben dieses Hauses selbst über die Ordnung obsiegte, in die man es zu zwingen unternahm, wenn der Tumult in den Arbeitsräumen hochbrodelte, Schemel gegen die Türen krachten und schreiende Beamte mit Karabinern und Wasserschläuchen rannten. Dann stand ich an der Tür oder am Fenster, hingeschleudert von einer äußersten Anspannung aller Muskeln, mit bloßgelegten Nerven, lauschend, keuchend, in klebrigem Schweiß, und schmeckte den vollen Gehalt der Augenblicke, die von einer tieferen und bewegteren Schicht Kunde gaben, wie das Klopfzeichen des Gefangenen vom verborgenen Leben im Stein. Nicht fürchtete ich das röchelnde Grauen, das aus den Mauern kältete, nicht den rasenden Schrei der Nacht und die Gesichte, die aus der brütenden Verlassenheit mit fahlem Schimmer stiegen, nicht das namenlose Entsetzen, das aus dem Gerassel der Schlüssel sprang, und den Schrecken nicht, der das unbewehrte Herz anfiel zu lauernder Stunde, — was ich fürchtete, das war der große Betrug, das war die schmachvolle Verfälschung, in die des Hauses Satzung meine wachen Instinkte zwang. Ich wollte keinen Schutz vor mir selber und keinen vor den Dingen, die wirklich sind. Nie hatte ich den Rausch gescheut, denn er zerfetzte den Schirm, den Sitte und Gesetz um mich gegen die Dämonen gespannt, er zerspliß die Bastionen, die Schanzen, in die ich mich wie die anderen verkroch; nun aber, eingekerkert und bewacht, nicht eine Minute ohne den Blick mißgünstig forschender Augen, umspannt von Verboten und mit bleichem Zittern wie ein Schulbube, wenn ertappt, nun aber suchte ich immittelbar, was mir die rasenden
Spannungen meiner Freiheit geboten hatte, nun suchte ich mich, mich ganz, allein und wußte doch, daß ich mich finden würde im Einklang mit einer Welt, von der ich nur die blassen Schatten sah, und die doch sein mußte von einer betörenden Wirklichkeit, reifer als die Welt, dir mir zerbrochen war nach immerwährendem Gefecht. Es kam die Zeit, da ich glaubte, nicht länger zögern zu dürfen, da ich suchte, den tieferen Sinn des Zufalles meiner Haft an den Erscheinungen abzulesen, die sich mir täglich boten. Mit der Zeit hatte ich mancherlei Gelegenheit, auch im Zuchthause mit jenen Geschöpfen dieser Erde, die immer noch die besten Medien für die Offenbarung der wirklich bestimmenden Kräfte darstellen, mit den Menschen, in eine innigere Beziehung zu treten. Der Herr Direktor kam oft in meine Zelle; aber es dauerte niemals lange und die gedrängte Unterhaltung war bis zu einem Punkte gediehen, der mir wesentlich und dem Herrn Direktor gefährlich erschien. Dann hatte er eine ernüchternde Art, mit kurzem Ruck seinen steifen Hut auf den Kopf zu kippen und mit würdevollem Gruß mein Gehäuse freundlich zu verlassen. Viele Beamte gab es, die beim Aufschluß einige Minuten stehenblieben, um ein paar Worte mit mir zu wechseln. Aber was sie sagten, kam aus einem so kleinen Umkreis des Denkens und Erlebens, daß ich viel eher ihre Reden als die der Gefangenen der Atmosphäre des Hauses angemessen erachtete und im Grunde froh war, wenn mir die erniedrigende Herablassung ihrer Teilnahme erspart blieb, erspart blieb die
wohlwollende Ermahnung, mich mit den Verbrechern nicht einzulassen; und ich spürte doch, daß auch ich ihnen galt als ein Verbrecher, ihnen unverständlicher vielleicht, aber nicht minder verächtlich. Nicht minder verächtlich und sicherlich gefährlicher. Denn ich unterlag einer doppelten Kontrolle, und was auch immer ich tat, war Gegenstand langer Besprechungen. Ja, ich war ein Verbrecher in ihren Augen, nichts anderes, und wenn ich mich anfangs wehrte, wenn ich glaubte, gleich ihnen mich in den Schutzwall des Pharisäertumes flüchten zu müssen, in gleicher Verachtung der Gefangenen, deren einer auch ich sein sollte, so war ich duch immer ihnen, den Pensionsberechtigten, den Ehrbaren, ein Fremdling, wie ich im Grunde den Gefangenen ein Fremdling war. Ich wehrte mich so lange gegen den Gedanken, ein Verbrecher zu sein, bis ich den Ausspruch Goethes las: «Es gibt kein Verbrechen, als dessen Urheber ich mich nicht denken könnte.» Ich erschrak über diesen Satz, ich las ihn zweimal, dreimal, ich prägte ihn mir ein, und ich unterwarf mich einer Selbstkontrolle, die schmerzhaft war, weil ich mich nicht belügen wollte, weil ich bei diesem Willen zur inneren Wahrhaftigkeit so erschreckend leicht bei mir die mögliche Bereitschaft zu jedem Verbrechen bejahen mußte. Nein, es gab kein Verbrechen, als dessen Urheber ich mich nicht denken könnte, und ich ertrug diesen Gedanken einzig in der Überzeugung, daß er nicht etwa wachsen konnte aus einer humanitären Grundstimmung, deren Pathos in der unerträglichen Feststellung gipfeln müßte, daß alles verstehen auch alles verzeihen heißt, sondern aus einem
starken Erspüren der Totalität aller wirkenden Elemente. Mir wurde mehr erzählt, als je ein Untersuchungsrichter zu hören bekam. Aber das Wort «Verbrecher» galt als äußerstes Schimpfwort, und wo es unter den Gefangenen einmal fiel, auf dem Hofe beim Spaziergang oder in den Arbeitsräumen, in den Schlafsälen der Gemeinschaftshaft oder in den Dreimannszellen für die Psychopathen, immer sprang der Beschimpfte dem Beleidiger an den Hals und wirre Knäuel bildeten sich um die Kämpfenden, und erst in den Arrestzellen endete das Getobe, nachdem der Direktor die gleiche Strafe für jeden Beteiligten verhängt. Ein Verbrecher wollte niemand sein, der nicht, der blind und dumpf über die Fallstricke des Gesetzes gestolpert, der nicht, der mit kaltem Zynismus von seiner Straftat sprach, und der nicht, der einen nicht immer einträglichen und jedenfalls gefährlichen Beruf verteidigte. Da hatte der eine aus Not gehandelt und der andere aus Leidenschaft und der dritte, weil er es nicht anders gewohnt war. Aber keiner fühlte sein Tun eingeordnet in den Zwang eines höheren Willens, spürte sich verpflichtet zur Erfüllung eines stärkeren Gesetzes als jenes, das ihm seine Tat verbot und Strafe setzte. Keiner von ihnen spürte eine Schuld! Ja, sie behaupteten alle, unschuldig zu sein, sie behaupteten es, selbst wenn sie gestanden. Keiner war da, der nicht ein schlechtes Gewissen hatte, wenn er mannigfaltigem Drängen gegenüber bekannte, schuldig zu sein; denn keiner war da, der da wußte um die Schuld. Darum trugen sie alle mit Ingrimm das Joch der Strafe, sie trugen mit Haß den Hochmut der Richter, der Beamten, sie maßen die Säbelträger mit
verächtlichen Blicken, und es war ihnen eine bittere Freude, zu wissen, daß jene, wenn man sie in die gleiche braune Kluft steckte, Menschen sein würden des gleichen Typs wie sie selber. Unterworfen fühlten sie sich und getreten, von Menschen, nicht von Gott, von einem verruchten System, nicht von einem lebendigen Gesetz. Ich aber war und blieb ihnen fremd. Es kam die Zeit, da ich mich aus den Wirren täglicher Zweifel in einen sonderbaren Hochmut rettete. Denn da alles, was mir auf meinen wunderlichen Wegen begegnete, nur dazu dienen konnte, den Gehalt an Ideen und Zielsetzungen zu läutern und immer wieder aufs neue umzuordnen, glaubte ich in der steigenden Sicherheit meiner Kraft die Bestätigung zu finden für die Richtigkeit meines Tuns. Da war kein Schmerz, der sich nicht in Wachheit wandelte, keine Furcht, die nicht den Ansatz zu neuem Mute gab. Und nicht die Besonderheit meiner Stellung als Überzeugungstäter war es, die mich von vornherein erhob über meine Mitgefangenen, es war auch nicht die größere Härte, der ich unterworfen war, da mir die kleine Ordnung mehr beschnitt als den anderen, es war etwas anderes, etwas, das ich im Grunde jeden Augenblick meines Lebens gespürt. Sie alle, mit denen mich das Schicksal zusammengewürfelt, erlebten das gleiche wie ich. Aber das war es eben: Niemals ist das Erlebnis entscheidend! Es kann zu jedem kommen, es trifft blind die Menschen, ob sie gerüstet sind oder nicht. Entscheidend ist immer, wie sich im einzelnen das Erlebnis sublimiert. Und das erhob mich über die
anderen, daß ich nicht erschrak, meine Konsequenz zu ziehen, daß ich den Mut hatte, ein Verbrecher sein zu wollen. Da war kein Gedanke, den ich dachte, der nicht ein Angriff war auf den Bestand an Sitte und Moral, der dieses Haus und seine Satzung erst rechtfertigte. Und kein Entschluß war da, der nicht bereits in seinem Kern den Keim zum Umsturz barg. Die Masse der Eingekerkerten aber hatte sich unterworfen. Sie lebte in dumpfer, tierischer Lethargie; einzelne, die in wütendem Haß aufsprangen, die auf ein demütigendes Wort mit Zerschmetterung aller erreichbaren Gegenstände antworteten, waren dennoch der Masse verbunden, wurden von ihr in kurzem Aufbrüllen unterstützt oder aber mit hündischer Unterwürfigkeit verraten und ausgeliefert um kleiner, schändlicher Vorteile willen. Was um mich herum in den Zellen und Arbeitsräumen vegetierte, war nicht durchaus der Abschaum einer geordneten bürgerlichen Welt, war viel eher selber bürgerlich bis zur leiten Konsequenz, war bequem, der Ordnung verhaftet, in quengelnder Furcht vor jeder Entscheidung und zu ähnlich der Gesellschaft, die diese Art von Verbrechertum erst gezüchtet hatte, um es dann zwischen Stein und Eisen zu zerdrücken, als daß es den grandiosen Schlag in ihr Gesicht wagen konnte. In diesen Menschen lebte kein Funken aufrührerischer Kraft, keine Idee erfüllte sie, kein Trotz, kein Stolz der Ausgestoßenen gab ihnen den Impuls. Das aber schien mir doch das Merkmal des Verbrechens, daß es auf die Zerstörung der beherrschenden Ordnung gerichtet war, nicht darauf, sich in ihr mit unerlaubten Mitteln einzurichten.
Es kam die Zeit, da Gerüchte durch die Anstalt schwirrten, sich von Mund zu Mund geflüstert schwangen, von Zelle zu Zelle getragen wurden. Hoffnungsfreudiges Geraune, wohlgespeist von halben Andeutungen sich maßgeblich und gnädig fühlender Beamter, erhob sich in den Schlafsälen und Arbeitsräumen. Es begann mit dem Tage, an dem auf der Spitze des Turmes die Flagge halbmast wehte. Der Reichspräsident war gestorben, verkündete der Pfarrer von der Kanzel, und kaum hatte er dies gesagt, erhob sich Unruhe im Raum. Da war keiner unter den Gefangenen, der nicht dasselbe dachte, der sich nicht halben Blickes blitzschnell verständigen konnte mit den anderen. Wenn der Reichspräsident gestorben war, wurde der neue gewählt — und dann gab es sicherlich eine Amnestie. Und bald hieß es, im Reichstag würde schon darüber verhandelt. Der Hofkalfakter zischelte es mir zu: Ein Drittel der Strafe sollte erlassen werden, für jedermann, gleichgültig, für welche Straftat er büße. Der Lazarettwärter hatte es aus sicherster Quelle: Mit dem Tage des Dienstantrittes des neuen Präsidenten sollte auf einen Schlag entlassen werden, wer schon zwei Drittel seiner Strafe abgesessen. Der Kanzleigefangene teilte jedem mit, der es hören wollte: Schon seien die Beamten mit der Zusammenstellung der Listen beschäftigt, doch handle es sich nicht um ein Drittel, sondern um ein Viertel der Haftzeit, die erlassen werden solle. Edi aber steckte mir einen Zeitungsausschnitt zu, da stand es schwarz auf weiß: Zur bevorstehenden Reichspräsidentenwahl erwäge der
Reichstagsausschuß eine Amnestievorlage, nach der in weitherzigster Weise von der nunmehr gefestigten Republik ein Strich unter die Geschehnisse gezogen werden solle. Edi war voller Hoffnung. Wir trafen uns, er und ich, beim Tauschen der Arbeitshosen in der Kammer des Hausvaters; diese aber war vollgestopft mit Gefangenen, die sich durcheinanderdrängten, und die dumpfe Luft des engen Raumes, die gemischt war aus den Gerüchen der Wäschekammer, der Stiefelregale und der Kleiderstapel, aus den Ausdünstungen sich entkleidender Männer, ein muffiges Gas aus Schweiß, Staub und Mottenpulver, lastete schwer. Wir stahlen uns die knarrende Treppe hinauf, bis wir an ein Fenster gelangten, das den Blick freigab über die Landschaft, die sich draußen vor den Mauern breitete. Wir standen und sahen stumm hinaus. Edi hatte die Fäuste um die Tralljen geklammert und preßte den Kopf an das Gitter. Sein Gesicht war erschreckend abgemagert vom dauernden Arrest, und die geröteten, fiebrigen Augen lagen tief in den Höhlen der graugelben Haut. Wir begannen leise zu sprechen. Von der Amnestie sprach Edi, und ich lachte. Ich wollte an diese Amnestie nicht glauben; und wenn sie kam, dann mußte sie bitter schmecken. Uns Gnade, hingeworfen, wie nun einem Hunde ein Stück Brot hinwirft! «Ja, wenn ich sie achten könnte», sagte ich zu Edi und packte ihn am Arm. «Und ich könnte sie achten, wenn sie uns allesamt, wie wir da standen vor ihrem eigens dazu bestellten Gericht, wenn sie uns da zum Tode verurteilt hätten, so, wie wir sie verurteilt hätten, wären wir die Richter gewesen! Dann könnte
ich sie achten», sagte ich, und ich sagte: «Und jetzt noch Gnade annehmen von ihnen?» — Edi wandte den Kopf mir zu, er sagte leise: «Ich bin jetzt vier Jahre hier.» Wir schwiegen. Das Städtchen mit dem Gewirr niedriger roter Dächer, eingesprenkelt in das Grün dichter Bäume und zerzauster Büsche, lag unwahrscheinlich friedlich im sanften Tal. Kaum ein Laut war zu hören, nur von fern, verweht, tönte im Takt ein dumpfer Laut, als würden irgendwo Trommeln geschlagen. Es kam näher und näher, wir horchten, dazwischen verhallten die Fetzen schriller Melodie. Die Häuser fingen den Schall, kam es von rechts, von links? Plötzlich dröhnte es laut, wir hielten den Atem an, und dann brach es um die Ecke. Die Reichswehr marschierte vorbei. Knapp konnte ich die runden Helme sehen und die Gewehre, die über den unsichtbaren Reihen ragten. Dann aber krachte dumpf der Paukenschlag und die Musik rauschte hoch. Wie ein Schrei fuhr der Hall an den Himmel, das Schmettern gleißender Trompeten hieb die Luft geballt an Wand und Mauer, der Hohenfriedberger, der Marsch des Preußenkönigs gellte, der Marsch, dem aller zäher Dreck des Schlachtfelds an den Stiefeln klebte und über ihm die Beutefahnen und Standarten des Regiments Bayreuth. Das war der Jubel einer kriegerischen Tat, das Jauchzen letzten Opfermuts, das war der Sieg, der Aufbruch war zugleich. Und immer wieder hämmerte der Paukenschlug, gebändigt letzte Energie durch ihn, nietallen die Fanfaren überm Klingelspiel des Schellenbaums ...
Ich aber, ich, von jedem Ton durchstoßen, wankte, kippte an das Gitter, aufgewühlt, zerrissen — dabei sein, dachte ich, dabeisein, frei sein — jählings stürzte mir zusammen, was ich mir so mühsam hingebaut. Da draußen, da marschierten sie, und ich, und ich? — Fluchend zeterte unten der Hausvater und rief. Wir stolperten die Treppe hinunter. Nun gierte ich wie die anderen auf jede Nachricht von der Amnestie. Bald hieß es, an Stelle eines Amnestiegesetzes solle durch Gnadenakte auf freien Fuß gelassen werden, wer immer würdig sich erwies. Und es kam die erste, ergebnislose Wahl. Dann wurde erzählt, nur bestimmte Straftaten sollten in die Amnestie einbegriffen sein. Und es kam der Tag, an dem der Feldmarschall die höchste Würde des neuen Reiches übernahm. Wir lauerten in heißer Spannung. Es hieß, zumindest die Politischen sollen begnadigt werden. Es hieß, vielleicht würden auch die Kriminellen bis zu einem bestimmten Grade bedacht. Es hieß, ins Ermessen der Anstaltsdirektion würde die Entscheidung gelegt. Jedermann, der sich gut geführt, könne damit rechnen... Es hieß, der greise Herr wünsche... Es hieß, im weitesten Umfange... Viele richteten schon ihre Sachen. Die Beamtenkonferenz wurde überschüttet mit Gesuchen. Der Direktor wurde bedrängt. Die Beamten lächelten verheißungsvoll. Und als, lange Wochen nach der Reichspräsidentenwahl, die fiebernde Erregung, das zitternde Erwarten zur letzten glutgefüllten Höhe gestiegen war, da kam endlich, endlich die Verordnung.
Und nicht einer, nicht ein einziger im ganzen verfluchten Hause fiel unter jene lächerliche, unter jene groteske Amnesie. Wir saßen, Edi und ich, in blasser Herbstsonne hinter dem Holzschuppen und sprachen von der Freiheit. Über die Mauer lugte ein Ast. Über die Mauer kam das versprengte Geräusch ferner Musik. Vom Hofe schallte das Schimpfen des Hauptwachtmeisters und Getrappel vieler schwerer Schritte. Edi sagte: «Vier Jahre bin ich nun hier.» Er sagte: «Meine Frau wartet auf mich; sie geht in die Fabrik.» Er sagte: «Wenn ich jetzt frei wäre ...» Und ich lauschte, wie er mir von dem bescheidenen Glück erzählte, von einer dumpfen Wohnung, dort, fern, inmitten knalliger, hoch gekanteter Häuserblocks, inmitten eines Gewirres ragender Schlote, unter Qualm, Lärm und Enge. Und plötzlich sprang er auf, rannte gegen die Mauer, hob beide Fäuste und hämmerte mit rasender Gewalt gegen den starren Stein und schrie: Frei will ich sein, frei will ich sein! Und ich, hochgepeitscht, überstürzt von zischender Qual, schnellte zu ihm hin, stemmte mich gegen die Mauer, sinnlos, auseinandergerissen, keuchend, trat gegen die Wand, daß sie bröckelte, hieb mit blutenden Knöcheln in wahnwitziger Verzweiflung «Wie die Tiere», sagte der Hauptwachmeister, als er uns in die Absonderungszellen brachte, und schüttelte den Kopf, «wie die Tiere!»
Schrei Es war niemand zugegen, als das geschah, was der Obersekretär «tätlichen Angriff auf einen Beamten» nannte, ich hätte lügen können. Gewißlich wog meine Aussage nichts im Vergleich zu der des Beamten. Aber es war niemand zugegen außer meinem Gegner und mir, und ich hätte verlangen können, daß mir bewiesen werde. Ich log nicht. Ich gab sofort und unbedenklich zu. Ich lüge prinzipiell nicht, solange ich in der Anstalt bin. Ich lüge nicht, um mich einer Verantwortung zu entziehen. Ja, wenn es sich um einen Kampf gehandelt halte zwischen einem ebenbürtigen Gegner und mir, einen Kampf mit allen geistigen Waffen, mit Finessen und festen juristischen Regeln! Ein Beschleichen des Gegners, ein Ausweichen und Betasten, ein Messen von Kräften, kurzum einen Kampf: warum soll ich da nicht lügen? Aber hier und so? Es ist Gefangenenmanier, niemals und unter keinen Umständen die Wahrheit zu sagen, oder sie anders als brutal gezwungen zuzugeben. Ich hüte mich, auf das Gefangenenniveau herabzusteigen. Ich hüte mich, den Beamten als gleichwertigen Gegner anzuerkennen. Ich sage die Wahrheit, und die erstaunten Gesichter der Konferenz beweisen mir, daß man vor einem Novum steht, und daß dies Novum Achtung hervorruft. Ich will das verantworten, was ich getan habe. Trotz, das ist meine Haltung. Leugnen wäre zu billig, wäre Flucht gewesen «Ich bestrafe Sie mit sieben Tagen Arrest mit allen Verschärfungen!» sagt der Direktor, und ich werde abgeführt.
Wir gehen durch lange, dunkle, hallende Gänge. Meine Nagelschuhe klappern auf den Steinfliesen, und ich schlenkere möglichst unbekümmert mit den Armen. Der Beamte geht mit hochmütig dienstlichem Gesicht und betont gemessenem Abstand. Ich hoffe leise, ich komme in eine der vorderen Arrestzellen, sie sind wärmer und liegen höher und an dem Gang, wo auch die Zellen dei anderen Gefangenen sind, so daß man wenigstens Geräusche hört und Leben und aus mannigfachen Tönen auf die Zeit schließen kann. Die anderen Arresträume liegen im Keller, tief unten und ganz hinten. Sie sind nur von außen heizbar und jetzt ist Dezember. Der Beamte geht vorbei an den Zellen, an denen meine leisen Wünsche hangen, und ich schäme mich ungleich meiner differenzierenden Regung. Wir steigen Treppen hinunter, der Beamte schließt Türen, entfernt Sicherheitsschlösser. Er geht wägend zwischen den einzelnen Arrestzellen und öffnet schließlich die hinterste, die dunkelste, die kälteste. Der Raum ist klein und weiß, die Kalkwände und die grauen Eisenstangen machen frösteln. Das Fenster ist bedeckt mit einer dicken, weißlichen, gerippten, mit Drähten durchzogenen Scheibe, durch welche man die Gitterstangen nur schattenhaft schimmern sieht. Im Halbdunkel stehen gerade und drohend die Gestänge, die den Käfig umschließen. Den Käfig, denn mitten im Raum ist abgeteilt, an der dunkelsten Wand — beileibe nicht an der, die von außen, vom Gang her, geheizt wird — und möglichst weit von Fenster und Tür, ein zweiter Raum, umgeben von Gitter, so lang wie die Pritsche, die, eingelassen in den Fußboden, einziges Möbel ist, und so breit wie lang. Die Tür des Käfigs
fliegt prasselnd auf. Ich trete hinein. Der Beamte nimmt mir den Hosenträger und das Halstuch ab und haut das Gitter zu. Er schließt mit rasselnden Schlüsseln oben einmal, unten einmal. Er schiebt einen eisernen Riegel vor und befestigt noch ein Sicherheitsschloß. Er geht rund um den Käfig und beklopft mit einem Schlüssel jede einzelne. Stange, sie auf Haltbarkeit erprobend. Er geht zur Zellentür und zurück, betastet die Fensterscheibe und prüft das Thermometer an der mir erreichbaren Wand. Er geht hinaus und schließt die Zellentür, einmal, zweimal, oben, unten, schiebt den Riegel vor und knackt mit dem Sicherheitsschloß. Ich höre seine Schritte auf dem Gange trapsen. Dumpf schlägt die Gangtür zu. Noch einmal rasseln die Schlüssel. Dann ist Stille. Ich sitze auf der niedrigen Pritsche, lange, lange, ohne mich zu rühren. Ich kann nicht denken, es ist zu kalt zum Denken, es ist zu still zum Denken. Es ist nichts Lebendiges im Raum. Und ich, hin ich lebendig? Ich sehe auf meine Hand, die weiß und knöchern auf den Knien liegt. Es ist eine Totenhand. Die schwarzen Streifen auf den bläulichen Nägeln! Ich glaube, ich rieche Verwesung. Ich bin der Mittelpunkt des Raumes. Vermag ich nicht, mein Wesen bis in die fernsten Ecken des ach so kleinen Raumes auszustrahlen, so werde ich erdrückt. Ich soll sieben Tage hier leben. Sieben Tage und sieben Nächte. Solange fährt ein Ozeandampfer von Deutschland nach Amerika. Ich sitze auf der Pritsche und versuche, mir eine Dampferreise vorzustellen. Ich verbinde damit eine Welt von Wohlleben, Tempo, weitem Blick und Freiheit. Freiheitl Ich stehe auf und
lehne mich an die Gitterstangen. Sie sind eisigkalt, und ich mache einen Schritt vorwärts. Ich muß die Hosen festhalten, sonst rutschen sie. Ich gehe im Kreise. Ich träume mich auf das Promenadendeck. Ich bin köstlich angezogen, ich höre Musik und das Plätschern beweglicher Wellen und spreche mit eleganten Frauen und klugen Männern. Ich träume. Aber jeder Traum ist nur zwei Schritte lang. Jeder Gedanke ist nur zwei Schritte lang. Dann wird er unterbrochen, und ein neuer, ganz verschiedenartiger, taucht auf. Ich lebe in einem irrsinnigen Tempo. Ich steigere mich über mich hinaus. Dabei vergesse ich keinen Augenblick, daß ich Gefangener bin, daß ich im verschärftem Arrest sitze, daß ich im Kreise zwischen Käfigstangen gehe und mir die Hosen festhalte, Wenn es nur etwas wärmer wäre! Ich stecke den Arm durch das Gitter und versuche, die geheizte Wand zu erreichen. Es ist vergeblich, und ich verspüre auch an den Fingerspitzen keinen wärmenden Hauch. Ich setze mich wieder auf die Pritsche. Wie lange rang ich nun schon im Arrest sein? Es ist wohl bald Mittagszeit? Ich verspüre Hunger. Um neun Uhr wurde ich abgeführt. Ich bohre die Fäuste in die Augen und halte den Atem an. Ich will wissen, wie lang eine Minute ist. Ich zähle den Puls. Lang, unendlich lang ist eine Minute. Wann war es doch, daß ich auch einstmals saß und den Atem einer Minute maß? Ich saß doch einmal schon in engem, dumpfem Raum und hatte Furcht vor der Zeit? Ich saß im Bunker, und draußen hagelte Feuer. Eine Granate hieb in den Boden — zu weit. Eine zweite kam und barst drohend. Zu kurz. Die dritte, die dritte mußte Treffer sein. Ich saß und lauschte auf meinen Puls. Die dritte kam nichtl
Unendlich lang ist eine Minute. Ich schaue hoch und zähle die Gitterstangen. Es sind achtundfünfzig. Ich erhebe mich und taste mit den Füßen die Bohlen ab, Es sind sechzehn. Ich setze Fuß vor Fuß, siebenmal, und dann kommt das Gitter. Ich freue mich über die Sieben. Ich zähle zusammen 58 + 16 + 7 = 81. Quersumme 9. Glück oder Unglück? Gibt es keine Beziehung zwischen der Zahl und mir? Ich bin im neunten Monat des Jahres geboren, und die Quersumme meines Entlassungsdatums ist auch neun. Ich lächle und schäme mich, Das ist albern. Ich bin albern. Ich tröste mich, daß die meisten Menschen albern sind, wenn sie allein, wirklich allein sind. Ich möchte den Obersekretär sehen, denselben, dessentwegen ich hier sitze, wenn er in meiner Lage wäre. Ach, was hat er für ein stures, rotes, vierkantes Gesicht. Der Kopf sitzt direkt auf den Schultern. Der Schnurrbart, ewig gesträubt, auf der wulstigen Oberlippe, sprüht subalternen Unwillen. Wie ich diese Fratze hasse! Nun, «tätlicher Angriff»! Ich freue mich. Ich bereue keinen Augenblick. Wie sah er mich fassungslos an! Er schnappte nach Luft und kreischte los: «Ich lasse Sie abführen!» Er ließ mich abführen. Mit peinlichen Quengeleien, mit ewig falscher Freundlichkeit umkroch er mich, hier einen Stich versetzend, dort Herablassung betonend. Verhüllt brutal und unverhüllt feige. Nun triumphiert er, denke ich, nun flickt er sein lädiertes Selbstbewußtsein mit dem Gefühl der Macht. Nein, ich hasse ihn nicht, denke ich. Haßte ich ihn, würde ich anerkennen. Ich lache. Ich lache wirklich — und der Ton hallt in der Zelle wider. Er bricht sich an den Ecken, und es kichert zwischen
den Gitterstäben. Erstaunt horche ich hin. Ich lache wieder, unecht und gekrampft. Die Zelle antwortet. Das ist Hohn. Ich schweige, und es fröstelt mich. Ist noch nicht Mittagszeit? Kein Laut zu hören außer meinen Atemzügen. Der Hauch steht dampfend in der Luft. Ich pumpe die Lungen voll und blase eine matte Wolke in die Luft. Ich hauche in die Hände. Ich knöpfe die Hosen, so gut es geht, fest, und mache Kniebeugen. Eins — zwei — drei — vier. Ganz vorschriftsmäßig. Ich mache fünfzig Kniebeugen. Dann zittern mir die Beine. Wie hoch ist die Zelle, denke ich, und versuche sie mit meiner Körperlänge zu messen. Ich klettere an einem der Gittereisen hinauf, Ich springe schnell wieder herunter; denn, wie war es plötzlich - ich kam mir vor wie ein Affe im Zoo. Breitbeinig mit greifenden Armen an den Stäben hängend, Das ist entwürdigend. Der Mensch, der den Affen sieht, verspürt brennende Scham. Ist es richtig, daß wir vom Affen kommen? Ich glaube, der Mensch, der einsame Mensch, verlassen und verloren in engem Raum, wird wieder Affe. Ich las doch neulich ein Buch in der Zelle. «Tarzan, der Affe», hieß es, glaube ich. Es ekelte mich. Es war unsagbar läppisch. Ein Mensch, ein blonder Mensch, vom Menschen kommend, gerät unter die Affen und wird selber einer. Wird es mit Bewußtsein und rühmt sich dessen. Kann man von Menschen unter Affen flüchten? Wehe uns, wenn man es kann. Je nun, ich lebe unter Verbrechern. Ich lebe mit ihnen, spreche mit ihnen, spreche ihre Sprache, habe ihre Sorgen. Ich gehorche dem Wärter, obgleich ich ihn verachte. Ich komme ins Grübeln. Ist noch nicht Mittagszeit?
Auf und ab — auf und ab — rundherum im Kreise. Ich muß mich müde machen. Ich kann seit drei Jahren nicht schlafen. Wie wird es heute nacht? Ah, wieder einmal ein seliges Nichts spüren, wieder einmal gan?, versinken, untertauchen — schlafen können! Mich kann der müde Tag nicht müde machen. Das Hirn ist dumpf und matt. Aber der Körper ist wach. Die Beine zucken im Takte des Pulsschlages. Ich kann die Arme nicht legen. Ich muß sie bewegen, es ist unerträglich, sie nicht zu bewegen. Wie wird es heute nacht? Ich werde nicht schlafen können. Ich wollte, die lange Nacht wäre vorbei. Ich wollte, sieben Nächte wären vorbei! Immer noch nicht Mittagszeit? Wie langsam geht der Tag! Was kann man an einem Tage alles beginnen? Wie habe ich meine Tage genützt! Sie hatten mir nicht Stunden genug. Damals lebte ich Sturm. Damals diente ich einer Idee. Wie denn? Gab es nicht Zeiten, da es mir schlimmer erging als nun? Nie, sage ich, ich sage mit Bewußtsein: Nie! Mochte es sein, wie es wollte, mochte ich in brüllendem Feuer liegen, mochte ich in unerträglicher Spannung, die Pistole in der Hand, bereit sein zu vernichten, den Gegner, die Welt und mich, mochte ich vor dem Tribunal stehen, vorm Staatsgericht umd um mein Schicksal würfeln lassen: es war da immer etwas, das stärker war als ich, das mich hinaushob über den qualvollen Augenblick, das meinem Tun und Lassen Zweck und Ziel gab, einen Sinn, vielleicht einen schrecklichen, aber einen Sinn — dies hier, das hat keinen Sinn. Ich sitze und dulde. Dulden, das hat keinen Sinn. Büßen hat Sinn. Dulden nicht. Ich dulde.
War es nicht doch falsch, daß ich die Wahrheit sagte? Nein, es war nicht falsch. Weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, in dieses Menschen Augen als Lügner und Feigling dazustehen, darum dulde ich. Es ist doch süß, zu dulden. Der Teufel hol's, wie ist doch alles so erbärmlich. Ich bin erbärmlich; dies Grübeln macht mich kaputt. Ich liebe ungebrochene Menschen, Männer. Solche, die keine Probleme kennen. Solche, die in sich geschlossen, kraftvoll, ruhig stehen. Was ist mir mir? Ich rufe mir zu: Schlappschwanz! Jawohl, ich bin sensibel! Ich lache, um das Gekicher zwischen den Gitterstäben zu hören. Nun muß aber bald Mittagszeit sein! Warum warte ich auf die Mittagszeit? Sehne ich mich nach dem Stück trockenen Brotes? Freue ich mich, einen Menschen zu sehen? Ich freue mich auf die Zäsur des Tages. An der äußeren Gangtür wird geschlossen. Schritte kommen näher. Es klappert an der Zellentür. Der Beamte öffnet, und der Kalfakter schlüpft hinein. Ich stehe starr und ruhig und sehe nicht hin. Er schiebt ein Stück Brot zwischen die Gitterstäbe. Er reicht einen Krug Wasser durch den Spalt, Der Beamte bequemt sich nun doch, aufzuschließen. Der Kalfakter stellt einen schmutzigen Kübel mit schlechtschließendem Deckel hin und legt einige Blatt Papier hinzu. Ich sehe mit halben Augen, es ist bedruckt, es ist aus einer Zeitung für den Bedarf zurechtgeschnitten. Ich muß an mich halten, um nicht hinzustürzen und die Fetzen zu ergreifen. Die Schlüssel klappern energisch. Ich bin wieder allein. Ich blättere die Stücke Papier durch.
Annoncen, Annoncen, Zeitungskopf. Halt, die Rückseite. Ich stehe und lese. Die Sätze sind nur halb. Mitten hindurch geht der Riß. Ich breite die Blätter auf den Fußboden und suche, was zusammengehört. Enttäuschung: viele Blätter sind doppelt. Ich kriege aber doch eine halbe Zeitung zusammen. Und lese. Es ist ein Lokalblatt. Es bringt nichts Welterschütterndes. Es ist stets derselbe Quark, Tag für Tag durch die Zeitungen gezerrt. Aber wie lange habe ich keine Zeitung mehr gehabt? Diese ist vom vorigen Jahr. Ich lese. Ich lese von der ersten Zeile bis zur letzten, und ich fange wieder von vorn an. Ich lese die Annoncen. Ein Zuchtbulle steht zum Verkauf. Im Gasthof zum Deutschen Kaiser ist Tanz. Es ladet ergebenst ein: der Wirt. Rosenblum empfiehlt sein Lager hochmoderner Frühjahrskostüme. Im Kino zum letzten Male Pola Negri. Mem Auge bleibt auf einer Zeile hängen. «Schreibste mir, schreibste ihr, schreibste auf MKPapier.» Ich lese den Reim einmal, zweimal und freue mich seiner gefälligen und rhythmischen Naivität. «Schreibste mir, schreibste ihr...», das Ding hat von selber Melodie. Ich singe, wie ich es mir gesungen denke. Ich werde den Reim nicht mehr los. Er hat Schwung; die Melodie, die ich gefunden, ist voll anfeuernder Gewalt wie ein preußischer Militärmarsch. «Schreibste mir, schreibste ihr...» Ich gehe in der Zelle wiederum im Kreise. Ich pfeife die Melodie vor mich hin. Das Brot nehme ich in die Hand und suche, dem dreieckigen, unhandlichen Kanten beizukommen. Ich kaue im Rhythmus. Das ist ja läppisch, denke ich. Aber der Mann versteht was von Reklame. Ich glaube, ich werde den Vers niemals vergessen. Nun hat die
Mittagszeit doch etwas Angenehmes gebracht. So bescheiden sind meine Freuden. Die eine Unterbrechung gab doch Kraft. Ich muß an den Brief Techows denken, den er mir aus dem Sonnenburger Zuchthaus schrieb. Er schrieb von dem Besuch, den er erhalten, und meinte: «das gab mir Kraft, wieder einen Stoß ins Finstere zu machen!» Der gute Kerl. Ich werde auch bald Besuch erhalten. Bald, direkt nach meiner Entlassung aus der Arrestzelle. In acht Tagen ist Weihnachten. Weihnachten, Weihnachten! Es ist das dritte Weihnachten, das ich in der Anstalt feiere. Ich mag nicht daran denken. Gewiß, der Direktor gab sich Mühe. Er wollte den Gefangenen an diesem einen Tage helfen zu vergessen. Ich aber, ich will nicht vergessen. Ich will verdammt sein, wenn ich vergesse. Ich will mir stets und immer jeden Tag und jede Stunde vor Augen halten. Das gibt einen kräftigen Haß. Ich will keine Kränkung vergessen, keinen schiefen Blick, keine hochmütige Gebärde. Ich will denken an jede Gemeinheit, die mir widerfuhr, an jedes Wort, das peinigte und peinigen sollte. Ich will mir jedes Gesicht im Gedächtnis halten und jedes Erlebnis und jeden Namen. Ich will mich mein Leben lang belasten mit dem ganzen, widerwärtigen Schmutz, mit dieser auf-.getürmten Masse ekelhafter Erfahrung. Ich will nicht vergessen; doch, das geringe Gute, das mir geschah, das will ich vergessen. Es ist dunkel geworden in der Zelle. Dezembertag endet früh. Die lange Nacht beginnt. Ich schreite im Kreise. Mir ist wirbelig im Kopf. Ich setze mich wieder auf die Pritsche und stoße schmerzhaft gegen den Ring,
der in die Wand geschmiedet ist. An ihm werden die Ketten befestigt, in die widerspenstige Gefangene gelegt werden. Ich spüre eine kalte Wut. So springt man mit Menschen um. So in einem Zeitalter, das von Humanitäts- und Menschenliebephrasen trieft. Ich kann es verstehen, wenn in harten Zeiten dem Auflehnenden, dem Verbrecher mit eisiger Gewalt entgegengetreten wird. Aber heute tut man Gewalt und spricht von Liebe. Heute ist man brutal und behauptet, psychologisch zu verstehen. Heute legt man in Ketten und verficht pädagogische Grundsätze. Nie ist Gewalt so gemein, als wenn sie mit Heuchelei verbrämt ist. Mich hat man nicht in Ketten gelegt. Es genügt, wenn man mich fünffach verriegelt. Die letzte Strafverschärfung ist mir erspart geblieben. Ich bin überzeugt, weil ich unumwunden eingestand. Aber der Gefangene, in dieser Zelle eingesperrt und dann noch in Ketten gelegt, der soll wohl mürbe werden. Hat das noch etwas mit Sicherheit zu tun? Dieser eiserne Ring in der Wand, er ist letzte, ausgeklügelte Schikane. Er ist das letzte Mittel, den Rest von Würde zu vernichten. Ich glaube, der Gefangene, der an ihn gekettet lag, wird ewig ein kalter Hasser sein. Das ist gereifte Pädagogik! «Der Gefangene ist ernst, gerecht und menschlich zu behandeln», das ist einer der ersten Sätze der Strafvollzugsordnung, Ich liege ausgestreckt auf der Pritsche und warte auf das Stück Brot, das man mir abends reichen wird. Der Kopf liegt hart auf dem hölzernen Keil. Ich kann ihn nicht wenden, ohne daß der ganze Körper schmerzt. Die Zelle ist ganz dunkel. Ein schwacher Lichtschein dringt durch das Fenster. Er rührt wohl von der Laterne
draußen im Hofe her. Ich liege und sinne. Immer kommt mir der alberne Vers in den Kopf, der mir erst so gut gefallen. «Schreibste mir, schreibste ihr...», das ist zum Irrsinnigwerden. Ich las einmal von der japanischen Methode. Der Sträfling wird unter einen Hahn gespannt, aus dem dann in regelmäßigem Abstand ein Tropfen kalten Wassers auf den rasierten Kopf fällt. Wer soll das aushalten? Nun, es ist kein Vergleich. Dieser harmlose Reim und der stetig wiederkehrende Tropfen! Trotzdem, eine Ahnung dämmert mir auf. So blöde diese Gedankenverbindung ist — ja, vermag ich überhaupt noch, Gedanken zu verbinden? Ist nicht alles eine wirre Fülle von zusammenhanglosen Einfällen, die mich durchzucken? Ich bin zwei Jahre in Haft, zwei Jahre! Welches Chaos wird allmählich in mir wach? Der Beamte kommt. Wie ich diesen eisigen Ton hasse, mit dem der Schlüssel herrisch ins Schlüsselloch fährt. Ich höre ihn Tag für Tag. Ich werde mich nie an ihn gewöhnen. Der Kalfakter schlurft herein und wirft mir einen Kanten Brot in den Käfig, wie man es wilden Tieren zuwirft. Was fällt dem Burschen ein? Das ist ein Landstreicher, ein Pennbruder, siebzehnmal vorbestraft. Seine widerliche Visage taucht ewig in den Gängen des Zuchthauses auf. Er hat die abgeschliffene Physiognomie des alten, abgebrühten Sträflings. Er tyrannisiert die Gefangenen, die es sich gefallen lassen. Er schmeichelt sich in das Vertrauen der Zugänge und trägt Wort für Wort, verdreht und entstellt, nach vom. Dieses Subjekt: er fühlt sich Herr. Er steht in hohem Schutz. Er kann schikanieren, er weiß, daß er es kann, Ich liege auf der Pritsche und sehe ihn mir an. Er geht
auf den Gang und sucht unter einem Haufen alter, feuchter, muffiger Decken. Mir steht für die kalte Nacht eine Decke zu. Die schlechteste, die erbärmlichste, die am meisten zerfetzte sucht er aus. Ich sehe es genau in dem Licht, das vom Gange her leuchtet. Er greift die Decke und stopft sie durch das Gitter. Ich stehe auf und sage: «Du Lump, gib mir eine andere Decke!» — «Was wollen Sie denn?» fahrt der Beamte dazwischen, «wir haben keine anderen Decken.» Der Kalfakter grinst höhnisch. Ich koche vor Wut. Der Kalfakter sagt: «Was, im Arrest hocken und noch eine große Fresse haben?» Ich springe auf das Gitter zu und hebe die Faust: «Gnade dir Gott, Kerl!» Der springt zurück und feixt, Der Beamte zieht ihn hinaus. Die Tür kracht zu, und ich höre den Kalfakter draußen unflätig über mich herziehen. Ich fasse die Gitterstäbe und rüttele in ohnmächtiger Wut an ihnen. Diese Schweine, diese Schweine, diese Schweine! Morgen wird er die Zelle so wenig heizen wie nur irgend möglich. Morgen wird er das schlechteste Brot aussuchen. Morgen wird er das Wasser brackig werden lassen, bevor er es mir reicht. Und ich kann mich nicht wehren. Er ist gedeckt, er ist nicht zu überfuhren, er erhält recht. Was nützt es, wenn ich ihm begegne, Er ist nie allein. Der Beamte ist stets bei ihm, und der Beamte wird sofort und augenblicklich eingreifen, und ich... Arrest. Beschwerden? Zum Lachen, Habe ich Greifbares an Hand? Ich habe «Lump» zu ihm gesagt. Er ist im Recht, in jenem lächerlichen Recht, das mich an der Kehle würgt und verlangt, ich solle es dulden. Bitterkeit überfällt mich. Ich bin allem Gemeinen ausgeliefert. Das mir — das mir! Dieser Auswurf der
Menschheit, er triumphiert über mich. Er höhnt mich in jenem widerlichen Pöbeltum, das stets Niedrigeres sucht, als es selber ist, um tyrannisieren zu können. Weg mit den Gedanken. Ich nehme die Decke und hülle mich in sie ein. Es ist bitterkalt. Ich liege auf der Pritsche. In acht Tagen ist Weihnachten. In acht Tagen bekomme ich Besuch. Jedes Jahr einmal bekomme ich Besuch. Die Decke, die ich bis an den Hüls gezogen habe, stinkt erbärmlich. Ich denke an den zarten Duft, den ich noch tagelang nach dem letzten Besuch gespürt. Das Buch, das sie mir mitgebracht, es bewahrte in seinen Seiten einen Hauch gepflegten Seins, einen Hauch aus einer anderen Welt. Ich höre ihre Stimme, sehe ihre Augen. Vor einem Jahr ... o Gott, wenn du wüßtest! O Gott, wenn du ahntest! Ich hatte gelogen. Ich hatte mit forscher Stimme bramarbasierend erklärt, es ginge mir ausgezeichnet. Sie solle sich keine Sorgen machen. Es würde schon alles gut werden. Ich hatte gelacht und gealbert. Ich hatte mit irren Fingern ihre Hand gestreichelt, und gelogen, gelogen. Sie sah mich zweifelnd an. In minutenlange Stille fiel das leise Wort: «Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?» Ich sah verzweifelt aui den Beamten, der breit und anscheinend unbeteiligt dasaß. «Ich sage die Wahrheit», log ich und versuchte unter einem Schwall unwahrer Worte zu beruhigen. Wenn sie wüßte! So bin ich erniedrigt! So bin ich gedemütigt! Sie soll es nicht wissen! In acht Tagen... ich werde lügen, ich werde lügen!... Es ist stockdunkel. Die lichten Bilder wollen sich nicht halten lassen. Ich siehe auf und überlege. Jetzt schon sind mir die Knochen lahm und wie zerschlagen. Vielleicht, wenn ich die Decke wie eine Hängematte
zwischen den Stäben aufspanne? Wir haben unsere Zeltbahn oft als Hängematte benutzt, draußen im Felde. Ich versuche, die Deckenenden fest um den Stab zu schlingen. Wenn ich ganz gekrümmt liege, wird es vielleicht gehen. Ich lege mich hinein, mit zischendem Tone reißt die mürbe Decke, und ich falle hart zu Boden. So geht das nicht. Ich schlage die Decke wütend gegen die Stäbe. Und schäme mich, daß ich das tote Objekt entgelten lasse. Es ist zum Verzweifeln. Die lange Nacht, die lange Nacht! Wenn ich zurückdenke, wie lang war der Tag. Und es war ein Siebentel, nein, ein Vierzehntel der Zeit, die ich noch in diesem Raume zubringen muß. Wie kommt es, daß es so dunkel ist! Vorhin fiel doch noch ein Lichtschein durch das Fenster? Oh, ich sehe schon, der Kalfakter hat die hölzernen Fensterflügel vorgelegt. Sie klappern im Winde, der draußen im engen Hof um die Ecken heult. Sie klappern unerträglich. An Schlaf wird nicht zu denken sein. Früher gab es auch Dunkelarrest. Daher stammen noch die Fensterflügel. – Dunkelarrest! Tagelang, wochenlang im Dunkeln! Ich las von einem Manne, der zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten sechzig Jahre lang eingekerkert im Dunkeln lag. Er hatte sich zwölf Stecknadeln verschafft. Er streute alle Nadeln durch die Zelle und suchte sie wieder, indem er auf den Knien kroch und mit den Fingerspitzen jede Stelle, jede Ecke, jede Ritze abtastete. Er suchte Tag und Nacht, solange er wachte. — Er brauchte Monate, bis er alle zwölf Nadeln wieder vereinigt hatte. Dann warf er sie wieder durch die Zelle und begann das Suchen von vorn. — Es ist ein alter Bericht, und er sagt weiter, nur so habe der Mann sich vor dem Irrewerden bewahrt.
Welche Gedanken schießen mir durch den Kopf? Wie lange werde ich es noch aushalten? Ich bin feige. Techow wird noch länger im Zuchthause sitzen als ich. Dreimal so lang. Alles, was ich erlebte, hat auch er erlebt. Und er wird es noch erleben, wenn ich schon längst frei sein werde. Ich bin feige und kleinmütig. Ich rufe mir meine Erbärmlichkeit zu. Ich schäme mich. Und trotzdem, trotzdem — nein, ich ertrage es nicht. Ich ertrage es nicht, Dies ist entsetzlich. Wie dumpf ist mein Kopf, Wie dumpf ist mein Schicksal. Wenn ich Schluß machen könnte? Den Hosenträger haben sie mir genommen. Bleibt noch die Unterhose. Aus ihr ließe sich ein Strick drehen. Er ließe sich oben am Gitter befestigen. Wenn ich mich an die Stäbe klammerte, wenn ich mir die Schlinge um den Hals legte und mich dann plötzlich herabfallen ließe? Ich liege auf der Pritsche und überdenke es. Ich erwäge es ganz ernsthaft. Und ich weiß doch, daß ich es nicht tun werde. Ich bin zu feige. Ich habe ja gar nicht die Kraft dazu. Doch, ich habe die Kraft dazu — aber den Auftrieb dazu habe ich nicht. Wie ich rabulistisch mit den Worten jongliere! Und doch, und doch, soll ich es tun? Dann werde ich morgen gefunden, mit rutschender Hose, oder im Hemd, den Kopf in diese plumpe, schmutzige Schlinge gesteckt... nein, nein, nein! Nicht sol So nicht! Das ist nicht ehrlich! Nicht in der Verzweiflung! Ich werde diese Nacht durchhalten. Ich werde die kommenden Tage und Nächte durchhalten. Ich werde die ganzen langen Jahre durchhalten. Pfui Teufel, daß mir dieser Gedanke kommen konnte. Niemals!
Ich werde ruhiger. Was ist auch weiter? Morgen wird der Tag vergehen wie der heutige vergangen, wie so viele schon vergingen. Ich werde morgen eine Viertelstunde auf dem engen Hof Spazierengehen. Ich werde übermorgen — nein, in drei Tagen, eine warme Mahlzeit erhalten. Und abends ein Bett. Ich werde in drei Tagen abends ein Bett in diese Zelle bekommen! Das ist ja lächerlich, daß ich mich auf die warme Mahlzeit und das Bett freue. Wie oft habe ich als Soldat entbehrt und gern entbehrt! Als Soldat, ja! Aber dies heute ist Strafe! Woher haben sie ihren Anspruch, über mich so zu verfügen? Wer gab ihnen ein Recht? Holten sie es sich vom Himmel? Erwarben sie es durch persönlichen Einsatz, durch Opfer, durch unerhörte, menschliche Satzung sprengende Tat? Es ist ihr Beruf, ihre kleinliche bürgerliche Beschäftigung. Sie werden dafür bezahlt. Sie erhalten dafür Titel und Rang. Sie dulden keine Gefahr. Sie tragen keine Verantwortung. Der Ekel steht mir bis zum Halse. Die bürgerliche Ordnung! Ich habe mich gegen sie vergangen. So sagen sie. Sie sind im Recht. Ich spucke auf das Recht. Ich wälze mich hin und her. Die Nacht ist lang. Es ist totenstill. Nur ab und zu knallt ein Fensterflügel. Wie spät mag es sein? Da höre ich einen Schrei. Er ist in diesem Gang. Der Schrei hallt durch den Bau. Er dringt durch alle Spalten zu mir. Kommt er nicht aus der Höchsten Arrestzelle? Da wieder! Lang, schrill. Das geht zersägend durch alle Nerven. Ich springe auf und hämmere wie rasend gegen die Wand. Es hämmert wieder. Es schreit. Es hallt. Ich
hole alle Luft in meine Brust und brülle heraus. Ich schreie, hämmere, tobe. Eg muß heraus. Ich schreie und es geht mir erlösend aus dem angespannten Körper. Ich schreie wild, orgemd, über alle Maßen, ein Brunstschrei, ein Wollustschrei, er bricht sich an den Wänden, er stemmt sich gegen sie. Ah, wie wohl das tut! Ah, wie das erlöst! Ich jage die Nacht, die Qual, den Ekel in seine dumpfen Winkel zurück. Ich schreie, und ich werde stark.
1925 Am Morgen des Neujahrstages 1925 erwachte ich in einem Zustande, der mir so verzweifelt erschien, daß ich mir nicht erst die Mühe machte, über ihn nachzudenken. Das Gefühl, ein ausgeblasenes Hirn zu besitzen, hohle Knochen und ein taubes Geschlecht, die plötzliche Unfähigkeit zu irgendeiner Art von Hoffnung, die drückende Ahnung meiner verlorenen Position vermittelte mir die Gewißheit, daß es mir von Stund an unmöglich sei, den bleischweren Rhythmus der Strafanstalt weiter zu ertragen, ich verspürte einen unausprechlichen Ekel bei dem Gedanken, mich jetzt erheben zu müsaen, ohne zu wissen wozu, mich jetzt ankleiden zu müssen, hin- und herzugehen, zu warten, am Tische zu sitzen, am Fenster zu stehen, an der Türe
zu lauschen, all das zu tun, was ich nun schon seit über zwei Jahren tagaus, tagein mit gleicher Regelmäßigkeit betrieb, ohne zu wissen wozu. Ich machte gar keine Anstrengung, mich vom Bette zu erheben, weil ich überzeugt war, daß jeder Versuch dazu zwecklos sei. Ich blieb stumpf und ohne Willen in den schweißnassen Laken und starrte auf die grünen und violetten Kreise, die sich verwirrend vor meinen Augen bildeten. Der Kalfakter kam in die Zelle gerannt, um das Licht anzustecken, stupste mich an, brüllte «Aufstehen» und klapperte mit seinem rußenden Laternenanstecker wieder hinaus, die Zelle im stechend bleichen Licht der Lampe lassend. Der Beamte kam und schrie etwas durch die offene Tür. Er kam in die Zelle und packte meinen Arm. Er knarrte: «Spielen Sie man keen Theater!» und rüttelte mich. Er verließ knurrend den Raum. Dann kam der Hauptwachtmeister vom Dienst. Er faßte behutsam nach meiner Stirn, bevor er mich anredete, er hielt einen längeren Vortrag, von dem ich nur Brocken verstand, Brocken von «Keine Faxen machen» und «kurzen Prozeß» und «Arrestzelle». Er ging zögernd hinaus und kam mit dem Direktor wieder. Der stand kopfschüttelnd meinem Bett, und seine Worte gingen gleichsam auf Zehenspitzen. «Sie müssen sich zusammennehmen», sagte er, er sagte: «Ein junger Mensch wie Sie darf sich nicht so gehenlassen», er fragte mißtrauisch: «Sie treiben doch wohl keine Obstruktion?» Der Direktor verschwand, und der Lazaretthauptwachtmeister knallte die Tür auf, blieb an der Schwelle stehen und brüllte: «Der Herr Medizinalrat!» Dei Herr Medizinalrat betrachtete mich
minutenlang unbewegt, dann sagte er: «Haftpsychose.» Machte kehrt und entfernte sich. Es kamen die beiden Lazarettkalfakter, luden midi mit heimlichem Kichern auf eine Bahre und transportierten mich ins Lazarett. «Mensch, du kannst vielleicht Phiole schieben!» sagte der eine, und der andere sagte: «Man muß dem Ball eben die richtigen Züge geben!» Ich blieb acht Monate lang im Lazarett. Drei Wochen lang lag ich völlig teilnahmslos im Bett, ohne Fieber, aber auch ohne Lust zum Rauchen, trotzdem im Lazarett die Skrinde reichlicher und in bedeutend besserer Qualität aufzutreiben waren als in der Zelle. Als ich endlich den Entschluß faßte, aufzustehen, war ich erstaunt über die wunderbare Leichtigkeit, mit der sich auf einmal das Leben für mich ordnete. Alle Grübelei war von mir abgefallen, und ich gewann allmählich Teilnahme für den geschäftigen kleinen Bereich des Lazaretts, Der Medizinalrat wollte mich als dritten Krankenwärter behalten. Ich kam in die Kalfakterzelle, die tagsüber geöffnet war. Ich konnte mich innerhalb des Lazaretts frei bewegen. Ich half das Essen auszuteilen, die Fäkalienkübel zu reinigen, die Kranken zu verbinden und umzubetten; ich half die Krankenkost zu kochen und die Bäder zu bereiten, die Böden zu bohnern und die Gänge zu spülen; ich rannte von Krankenstube zu Krankenstube, von dem Raume für die Lungenkranken zu dem für die Invaliden, von der Abteilung für die zur Beobachtung auf ihren Geisteszustand Abgesonderten zum Saal für die Epileptiker. Zum ersten Male in der
Haft konnte ich ungehindert und unbeobachtet sprechen, mich bewegen, ohne an die sechs Schritte der Zelle gebunden zu sein. Und wenn ich vorher den Sinn meiner Tage in quälender Selbstbespiegelung suchte, so fand ich ihn nun in der Möglichkeit, dem eigentümlichen Spannungsgehalte nachzuspüren, der überall dort, wo eine Anzahl Menschen auf engem Raume unter gleichem Drucke handelt, den kleinsten Regungen des Lebens glasklare Schärfe gibt. Ich wurde mit der Pflege der Gefangenen beauftragt, die zur Beobachtung im Lazarett abgesondert wurden. Sie hausten, etwa zwölf an der Zahl, in einem nicht allzu geräumigen Saal, dessen Tür mit einer durch ein starkes Gitternetz gesicherten Fensterscheibe versehen war, und lagen, solange sie sich unbeobachtet glaubten, rauchend und mit selbstverfertigten oder eingeschmuggelten Karten skatspielend auf den Betten herum, immer bereit, zu gegebener Stunde die Unbezweifelbarkeit ihres geisteskranken Zustandes durch tolle und zumeist sehr witzige Bekundung und Tätigkeit zu beweisen, Mich überraschte die selbstverständliche Gelassenheit, mit der sie mich sofort in ihr Komplott einbezogen. Sie berieten mit viel Geschrei untereinander, welche «Phiole» sie schieben wollten, aber dann, bemüht, ihre Rolle trefflich zu spielen, steigerten sie sich mit einer unbegreiflichen Inbrunst so in sie hinein, daß sie bald sich völlig in ihrem selbs gewählten Scheinleben verloren und die Grenze zwischen der Bewußtheit ihres Tuns und ihrem Wollen aufgehoben wurde. So verschieden auch die Maske war, fast immer ähnelte sich der Prozeß. Diese Simulanten waren wirklich krank: Der mit wachen
Sinnen gefaßte Entschluß, sich aus dem luftleeren Raum der Isolierung zu retten in einen grotesken Traum, bedeutete das Lösen einer letzten Sicherung, und die Elemente mußten sich gegeneinander kehren. Ich erschrak vor der Konsequenz dieses Vorganges, in dem sich jede zweckhafte Erwägung wieder aufhob; sich vom Irrsinn der Zelle zu befreien, sollte das verzweifelte Spiel dienen, und es führte in den Irrsinn, den die Zelle bahnte, erst hinein. Ich erschrak, als ich eines Tages bei Betreten der Krankeinstube Edi sah. Er trat mir lachend entgegen, reckte sich dann hoheitsvoll und sagte unter dem Beifallsgejohle der Kranken: «Ich bin der Sultan von Marokko!» und fuhr plötzlich mit zornigem Eifer fort: «Ich pumpe keinem Menschen Geld!» Ich sprang auf ihn zu und rüttelte ihn am Arm. «Du bist verrückt!» schrie ich ihm zu, und die anderen lachten und knallten sich auf die Schenkel. Edi sah mich erstaunt an. Der Hauptwachtmeister kam, um die Stube wieder abzuschließen. Jede freie Minute des Tages aber stand ich am Fenster der Türe, das zur Hälfte geöffnet werden konnte, und unterhielt mich flüsternd mit Edi. «Mensch, wenn man den ganzen Krempel zusammenschlagen könnte!» sagte Edi. «Aber was nützt das? Das ist ja nicht zu fassen, das, was uns kaputt macht. Ich will wieder wissen, wo ich dran bin. Ich will ein Leben führen, das ich selbst bestimme, auch wenn es dabei vor die Hunde geht» Ich konnte aber das nicht in Worte kleiden, was ich Edi zu sagen hatte. Mir selber waren die inneren Vorgänge noch zu nahe, als daß ich hätte über sie
aussagen können. So nahe waren sie mir, und so stark der Zwang der verrückten Gemeinschaft, daß ich oft genug mitgerissen wurde in den tollen Tanz, daß ich mitschrie, mitjohlte und mich mit einem gravitätischen Ernst, dessen ich mich immer erst zu spät beschuldigte, der mir zugeteilten und anerkannten Rolle eines Araberscheiches einfügte. Eines Nachts aber wurde ich vom Lazarettkalfakter geweckt, im «Dollbrägensaals» wäre einer schwer erkrankt. Edi lag in hohem Fieber, schnellte von Zeit zu Zeit brüllend in die Höhe und japste mit heiserer Kehle Fetzen revolutionärer Lieder. Die anderen sprangen um sein Bett herum, hielten ihn fest, wenn er vom Lager jagen wollte, und stachelten ihn wiederum zu neuem Singen an, wenn er erschöpft und mit glühendem Gesicht den Kopf über die Bettkante pendeln ließ. Der Nachtbeamte schloß mir auf, und ich schleppte Edi in den Kaum für Schwerkranke. Ich schaffte mein Bett in denselben Raum und lag diese Nacht und die folgenden Nächte im Halbschlaf und lauschte auf die knarrenden Schritte der Ronde, auf das Stöhnen aus den Krankenstuben, das Rumoren aus dem Verrücktensaal, auf das einsame Klickern des Wasserhahns in der Spülzelle, auf das unregelmäßige Atmen Edis. Als es mit Edi besser war, löste mich der erste Lazarettkalfakter ab. Aber mitten in dieser Nacht kam er an mein Bett, rüttelte midi und sagte: «Auf! Morgen gibt's Kognak.» Ich fuhr erschrocken hoch. Denn Kognak gab es für die Krankenwärter, wenn ein Gefangener gestorben war und die Leiche gewaschen werden mußte, «Edi?»
fragte ich und krallte die Finger in den Ärmel seines Leinenkittels. «Nein», der Kalfakter schüttelte mich ab. «Morgen gibt's zweimal Kognak. Der alte Fritz ist gestorben und der alte May.» Am Tage, du ich ins Zuchthaus eingeliefert wurde, mußte ich zum Baden ins Lazarett. Im Baderaum stand ein alter, gebücktet Gefangener, der das Wasser in die Wanne lieg. Es war der alte May. Er sah mich aus wässerigen Augen von unten herauf an. «Wie lange haste 'n?» fragte er. Ich sagte gedrückt: «Fünf Jahre.» Da begann er emsig an seinen gekrümmten, gichtigen Fingern zu zählen, hub die Hände hoch und sagte: «Nu siehste, da bin ich schon sechsmal so lange hier.» Es war aber der alte May im Jahre 1875 zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er einen Nebenbuhler mit einer Bierflasche erschlagen hatte. Als er im Jahre 1890 aus der Haft entlassen war, ging er zu dem Weibe zurück, das ihn schon einmal betrogen hatte. Sie lebten wieder zusammen, bis der alte May entdeckte, daß sie ihn abermals betrog. Da machte er, der sich als Kutscher verdingt hatte, den Mann, der ihm im Wege stand, in einer Kneipe betrunken, band den sinnlos Berauschten hinten bei den Beinen an seinen Wagen und schleifte ihn in wahnsinnigem Galopp zu Tode. Er wurde zum Tode verurteilt und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Als er abermals zwanzig Jahre im Zuchthaus gesessen hatte, sollte er freigelassen werden. Aber niemand wollte ihn aufnehmen, so blieb er denn in der Anstalt, die ihn bequemer dünkte als ein Altersheim, und als es mit ihm
zum Sterben kam, hatte er im ganzen 49 Jahre in Zuchthäusern verbracht und war 74 Jahre alt geworden. Er war nicht beliebt bei den Gefangenen, er hinterbrachte, um seine Stellung zu verbessern, alles, was er horte und sah, den Beamten. Er soll früher, auf Grund seiner außergewöhnlichen Körperkräfte, mit Roheit tyrannisiert haben, wer mit ihm zusammenzuleben gezwungen war. Besonders war da ein Gefangener, der nach Ablauf seiner Strafen immer wieder kam, den der alte May maltraitierte, wo er konnte, der alte Fritz, ein oberschlesischer Bergmann mit siebenundzwanzig Vorstrafen wegen Diebstahls. Die beiden haßten sich üher alle Maßen, sie prügelten sich, wo sie konnten. Es war unmöglich, sie auseinanderzuhalten, zumal beide immer Mittel und Wege wußten, wieder zusammenzukommen. Als der alte May einen Schlaganfall erlitt, wurde auch der alte Fritz krank. Nun lagen sie nebeneinander allein in einem Raum. Der alte Fritz hatte es mit groben Worten abgelehnt, ein Gnadengesuch einzureichen. Er litt, 72 Jahre alt, an der Wassersucht. Als ich einmal an der Tür der Krankenstube vorüberging, röchelte mir der alte May etwas zu. Der Kaum wai nicht verschlossen, ich trat ein und sah, daß der alte Fritz steif im Bette lag und die Augen gebrochen an die Decke starrten, ich rief unter dem höhnischen Kichern des alten May nach dem Lazaretthauptwachtmeister. Der kam, warf einen Blick auf den alten Fritz und befahl, ihm das Hemd abzuziehen: eine Sparsamkeitsmaßnahme, verstorbene Gefangene wurden ohne Hemd in die Kiste für die Anatomie gepackt. Als aber der erste Krankenwärter
der Leiche das Hemd über denKopf streifte, richtete sich der Tote wiede rauf und murmelte wütend zum alten May hinüber: « Nu, nu, soweit ist es noch lange nicht.» Der Direktor kam auf die Nachricht hin, daß es mit den beiden zu Ende gehe. Er sprach aufmunternde Worte zu den Alten und fragte dann, ob sie noch Wünsche hätten, die er erfüllen könne. Der alte Fritz, wollte ein bißchen Heu für seine Kuh und zeigte auf. eine zerkaute Tabakspfeife, die er verschmitzt unter der Bettdecke vorholte. Der alte May dagegen wünschte sich ein ordentliches Stück Leberwurst. Den Herrn Pfarrer zur letzten Ölung kommen zu lassen, lehnten beide ab. In der Nacht hörte der erste Lazarettkalfakter, der im Raume nebenan bei Edi wachte, aus dem Zimmer der beiden Alten ein ständiges Geraune; er erhob sich und schlich hinüber und lauschte an der offenen Tür. Der alte Fritz aber brabbelte ächzend zum alten May hinüber: «Du Lumpenhund, als so ein schlechter Kerl, als du gelebt hast, wirst du auch sterben!« Und der alte May sagte: «Du Spitzbube, verdammter, dein ganzes Leben lang hast gestohlen, und jetzt stiehlst dich um deine eigene Seligkeit.» Dann tönte noch eine Weile Geröchel aus dem halbdunklen Raum, und dann war Stille. Als wir kamen, lagen die beiden tot, die Gesichter einander zugekehrt, und der alte May hatte noch einen Bissen halbzerkauter Leberwurst im zahnlosen Mund, und dem alten Fritz war die Pfeife aus dem Mund gefallen und einzelne glühende Tabakbrösel
lagen zerstreut auf dem Woilach und schwelten sachte weiter. Wir wuschen die Leichen und bahrten sie dann nebeneinander in der Spülzelle auf, mitten zwischen den Fäkalienkübeln. Als Edi genesen war, kam er mit keinem Worte mehr auf den Sultan von Marokko zurück. Er blieb noch einige Wochen im Einzelraum, und als er aus dem Lazarett entlassen werden sollte, sagte er mir, er freue sich darauf, wieder grobe Arbeit in die Hände zu bekommen. Ich bat den Medizinalrat, mir die Pflege der Geisteskranken abzunehmen, und ich bekam nun den Saal für die Epileptiker zugeteilt. Unter den Epileptikern war einer mit Namen Biedermann, verurteilt zu vierzehn Jahren Zuchthaus wegen schweren Raubes, Sohn eines angesehenen Beamten. «Mich haben die kleinen Dämonen zerstört», sagte er mir. Er litt unter seinen Anfällen mehr als die anderen, die sie hinnahmen, als müsse es so sein. Er sprach oft von den kleinen Dämonen, die in ihn gefahren wären und ihr Unwesen trieben: sie hätten ihn nichts Großes im Leben erreichen lassen. In der Tat fiel seine erste Straftat zeitlich mit seinem ersten Anfall zusammen, den er beim Baden in der Oder bekam. Er kontrollierte sich selber sehr genau, führte Buch über seine Anfälle und versuchte, die inneren Vorgänge während des Anfalles aufzuzeichnen. Er konnte nachweisen, daß er vor seiner Verhaftung durchschnittlich im Jahre etwa acht Anfälle gehabt habe, im ersten Jahre seiner Verhaftung aber hundertundsiebzig.
In der Ecke des Saales stand eine Krampfkiste, eine große Koje aus starken Brettern, innen dick ausgepolstert. Erlitt einer der Kranken einen Anfall, dann wurde er gepackt und einfach in die Kiste geworfen, in der er sich dann austoben konnte, ohne sich zu verletzen. Biedermann bat mich, ihn nicht in die Kiste zu werfen, sondern auf eine schnell hingebreitete Matratze und ihm dann Arme und Beine festzuhalten; ihn erschöpfte das ungehemmte Spinnen in der Kiste zu sehr. Er kam, wenn es irgend anging, zu mir in die Kalfakterzelle – der Epileptikersaal war stets bei Tage geöffnet – hockte sich auf ein Bett und begann zu erzählen. Je näher der Anfall rückte, desto eifriger wurde seine Rede, sie gewann von Minute zu Minute an Lebendigkeit und einer seltsam visionären Ausdrucksweise, deren Klarheit erstaunlich war, er sprach schnell und ganz ungehemmt, er warf sich mit besinnungslosem Eifer in seine Rede, stand langsam auf dabei und ging sparsam gestikulierend hin und her. Einzelne Sätze malte er eindringlich mit dem Finger in die Luft, vergaß dann aber, auf Antwort oder Bestätigung zu kuschen, griff im Vorbeigehen Gegenstände, die in der Nähe lagen, legte sie nach kurzen Augenblicken wieder hin, begann leise mit dem Kopf zu schütteln, mit den Fingern zu zucken, sein Gesicht rötete sich, plötzlich brach er seine Rede ab, ging immer schneller hin und her, still vor sich hin blickend, horchte auf keinen Anruf mehr und begann, heftig und mit einem ausgesprochen wollüstigen Ausdruck im Gesicht zu zittern. Dann holte ich die Matratzen von einem Bett und legte sie auf den Fußboden. Biedermann achtete auf nichts mehr, fing an zu
taumeln, schwankte, hob die Arme und stürzte vornüber. Ich fing ihn auf und warf ihn auf das Lager und klammerte mich an seine Glieder, sie fest auf den Boden zu pressen. Plötzlich schnellte er hoch, sein verzerrter Mund öffnete sich zu einem wahnwitzigen gellen Geschrei, Schaumfetzen flogen ihm ans den blauen Lippen, seine Glieder arbeiteten mit aller Wucht gegen meinen Griff, in Körper zuckte wie ein Fisch, sein Kopf schlug im Takt der Schreie auf und nieder, er biß nach mir und schleuderte den Schaum mir ins Gesicht. Ich mußte alle Kraft zusammennehmen, um ihn halten zu können; die Anfälle dauerten manchmal bis zu einer Viertelstunde lang. Endlich lag er erschöpft und ruhig, ich ließ ihn los und gab ihm Wasser zu trinken. Er lag dann noch lange, halb ohne Besinnung; ich eilte sofort in den Epileptikersaal, denn wenn dort das Schreien gehört worden war, fielen regelmäßig drei oder vier von den anderen Kranken ebenfalls in Krämpfe, so daß die Krampfkiste nicht genügen konnte. Mich versetzte jeder dieser Anfälle in einen Zustand äußerster Erregung. Noch lange später, wenn Biedermann längst wieder beschäftigt war, sich einen Skrind zu drehen, rannte ich aut dem langen, mit Kokosmatten belegten Gang des Lazarettes auf und ab. Ich spürte, wie sehr ich bei diesen Anfällen beteiligt war; fast überraschte mich nicht, was Biedermann mir einmal kurz vor einem seiner Anfälle erzählte: warum er mich gebeten hatte, ihn nicht in die Kiste zu werfen, sondern festzuhalten. Er selber steigerte sich durch sein Sprechen, an dem er mit allen seinen Sinnen beteiligt war, in einen Zustand bis ins Mark gehender Lustempfindung. Dann
aber hatte er das Gefühl, als platzten ihm die Adern, und die Dämonen, die in ihnen schon lange vorher tobend gewühlt, wurden frei und stürzten sich, aus jedem Blutstropfen schnellend, ihn zu vergewaltigen. Er spürte den höchsten Schmerz der Schwäche und verlor in ihm die Besinnung. Wenn er nun vorher wüßte, daß ich mich auf ihn werfen und ihn festhalten würde, dann glaube er, daß die Dämonen, von denen er besessen sei, während des Aktes der Vergewaltigung durch mich gebannt oder aber von mir durch einen geheimnisvollen Prozeß aufgeschluckt werden könnten. Der Medizinalrat riet mir, Biedermann auch weiterhin festzuhalten, die Krampfkiste sei ein beinahe mittelalterliches Instrument. Aber die Anfälle Biedermanns wurden immer schlimmer. Oft hatte er zwei Anfälle an einem Tage. Er schloß sich mir immer enger an. Als er mir zum ersten Male sagte, er wolle Selbstmord verüben, fand ich viele sachliche Gegenargumente gegen ein solches Beginnen. Biedermann führte einen zähen Kampf um seine Freilassung oder wenigstens um eine Überführung in ein Krankenheim. Er hatte aber von seinen vierzehn Haftjahren erst zwei verbüßt und wußte, daß er, wenn er gezwungen sei, auch nur noch einen Bruchteil der Strafe im Zuchthaus abzubüßen, jedenfalls für jedes Leben gebrochen sei. Der Direktor, der Medizinalrat konnten ihm nicht helfen, Epilepsie war kein Entlassungsgrund. Als Biedermann mich nach halbjährigem Kampf darum bat, ihm Gift aus der Apotheke in der Revierstube zu besorgen, wußte ich längst
vorher schon, daß diese Bitte einmal kommen würde; und war mit mir schon einig geworden. Es war nicht schwer, das Fläschchen aus dem Schrank zu stehlen. Ich gab ihm das Gift. In der Nacht darauf mußte der Medizinalrat geholt werden. Biedermann hatte einen schweren Anfall mit ganz neuen Symptomen. Der Anfall dauerte mehrere Stunden, war von Erbrechen begleitet und von einer unerklärlich starken Schaumabsonderung. Biedermann schrie gellend und krümmte sich bei wachem Bewußtsein, bevor er in Krämpfe verfiel. Alles brenne in ihm, brüllte er. Der Arzt konnte nichts tun, er war augenscheinlich sehr erleichtert, als der Anfall schließlich seinen normalen Verlauf nahm. Am nächsten Morgen ließ mich der Medizinalrat in die Revierstube rufen. Ich sah, daß das Schränkchen der Apotheke offen war. Der Medizinalrat sagte, es sei wohl besser, wenn ich wieder ins Zellenhaus zurückkäme. Biedermann wurde einige Zeit später in eine Krankenanstalt für Gefangene abtransportiert. Ich saß gegen Ende des Jahres wieder in meiner alten Zelle. Jeden Morgen verspürte ich einen unaussprechlichen Ekel bei dem Gedanken, mich jetzt erheben zu müssen, ohne zu wissen, wozu, mich jetzt ankleiden zu müssen, hin und her zu gehen, zu warten, am Tische zu sitzen, am Fenster zu stehen, an der Türe zu lauschen, all das zu tun, was ich nun seit fast drei Jahren mit Ausnahme der Lazarettzeit tagaus, tagein mit gleicher Regelmäßigkeit betrieb, ohne zu wissen wozu.
Kleinkampf Die Bücher der Gefängnisbibliothek habe ich fast sämtlich durchgelesen. Nun will ich die starre Ordnung durchbrechen und ein Buch in der Zelle haben, das in seinen Seiten und zwischen seinen Blättern den Hauch einer anderen Welt trägt, ein Buch, das nicht gleichgültig und abgestempelt mit subalterner Erlaubnis in meine Zelle gelegt wird wie ein toter Gegenstand, sondern das zu mir flattert wie ein Geschenk, ein Gruß, das persönlich ist und nicht beladen mit dem muffigen Nachtgeist aller Dinge, die jahrzehntelang schon innerhalb dieser Mauern lagern. Der Hauptwachtmeister ist mein besonderer Freund. Ich erkenne seinen Schritt auf dem Gange und die Art, wie er seinen Schlüssel in das Zellenschloß führt. Er bringt mir die Briefe, die in langen Zeitabschnitten für mich eingehen, und ich weiß, daß er einer der wenigen ist, mit denen ich reden kann, ohne befürchten zu müssen, meine Worte würden auf die Waage strenger Dienstausübung gelegt. Er kommt herein und grüßt mich kurz. Er geht durch die Zelle und prüft. Er greift nach dem Wasserglas und wischt mit dem Finger über den Tisch, wie es die Ordnung befiehlt. In seiner Hand hat er einen Stoß Briefe und ein Buch. Und ein Buch! Es hat einen roten Ledereinband und goldene Lettern auf dem Rücken. Meine Blicke hängen an dem Buch. Ich weiß, es ist für mich bestimmt. Ich bebe vor Freude
und Verlangen. Ich möchte es in die Hand nehmen und einmal mit den hörnernen Fingerspitzen über das rote Leder streichen. Plump liegt die Hand des Hauptwachtmeisters um das Buch gespannt. Er sagt: Post habe ich keine. Er sagt: Da ist ein Buch gekommen für Sie. Er sagt: Ich weiß nicht, ob Sie es ausgehändigt kriegen. Er sagt, tröstend fast, als er meine erschreckten Augen sieht: Der Herr Direktor wird darüber befinden. Er geht und ich halte ihn, indem ich vor ihn trete, vor Aufregung mich fast veschluckend: «Herr Hauptwachtmeister, das Buch... wann wird der Herr Direktor... kann die Entscheidung nicht beschleunigt werden?» Der Hauptwachtmeister hat noch viel zu tun heute, er ist ein wenig unwillig, er versteht nicht, was mir an diesem Buch liegen könne, er sieht mit tadelndem Blick auf die Bücherreihe, die ich in der Zelle stehen habe; ein Buch, dies Buch, ich müsse mich doch gedulden können: Er hat kein Interesse für Bücher. Du lieber Gott, was steht schon drin: Nun, er würde dem Herrn Direktor meinen Wunsch vortragen, heute sei Freitag, ich solle mich Dienstag einschreiben lassen, dann käme der Herr Direktor am Donnerstag zur Audienz, ich könne dann ja selber darum bitten. Er geht, langsam und würdevoll, ein wenig mißbilligend, und ein wenig ungeduldig, aber mit bestem Herzen. Die Tür geht langsam zu, ich sehe noch die Hand, den Ballen, der an meines Buches roter Lederdecke gepreßt liegt. Ich bin allein. Ich habe vergessen zu fragen, von wem dies Buch kam, ich weiß den Titel nicht, nicht den Verfasser, nicht den Inhalt. Ich habe keinen Blick für die kurze Reihe grauer, abgegriffener Bibliotheksbände
auf dem Tisch. Ich gehe auf und ah, fiebernd fast und durchwogt von bebender Freude und durchzittert von brennender Ungeduld. Ich muß das Buch haben, jetzt, gleich, spätestens morgen. Heute ist Freitag, und die nächste Audienz ist am Donnerstag, aber das ist ja unmöglich, das ist eine Woche, und dann fällt erst die Entscheidung, und dann muß ich noch tagelang warten, bis ich es in den Händen habe. Ich muß sehen, daß ich den Hauptwachtmeister noch einmal sprechen kann. Ich muß wissen, von wem das Buch geschickt wurde. Ich muß jetzt schon diesen Gruß auffangen und ihn bergen, in mich verschließen, ganz auskosten als ein Zeichen dafür, daß ich nicht verlassen bin. Das Buch in den Händen des Beamten ist einziger brennender Mittelpunkt. Hier ist etwas in meinen Tag getreten, das ihm Sinn verleiht. Hier ist eine Zäsur, die meine öde Zeit durchbricht, die ein Ansatz ist, ein leuchtendes Mal. Ich stehe an der Zellentür und lausche, ob der Tritt des Beamten sich nicht hören läßt, ich springe an das hohe, enge Fenster und luge durch die Gitterstangen auf den Hof und sehe ihn, ihn in seiner ganzen Würde, eben durch die Tür des Lazaretts verschwinden, einen roten, leuchtenden Fleck in der Hand. Ich poche an die Tür. Totenstille. Ich klopfe stark mit den Knöcheln. Auf dem Gange rasseln Schlüssel, der Beamte schließt mürrisch. Ich frage, wann der Hauptwachtmeister zurückkommt. Heute nicht mehr. Also, heute nicht mehr! Der Tag vergeht, ich warte, ich weiß, daß es sinnlos ist. Aber wann ließe sich das würgende Gefühl des Wartens durch dies Wissen eindämmen? Immer wieder
höre ich Schritte, immer wieder peitscht mich die Hoffnung hoch. Ich lege mich nach Einschluß auf das Bett und suche in der Erinnerung, wie oft es in den langen Jahren wohl geschehen sei, daß nach dem Schlafengehen noch einmal die Tür aufrasselte und ein Beamter zu guter Letzt doch noch brachte, worauf ich den ganzen lähmenden Tag gewartet. Niemand kommt. Ich bin müde. Ich habe eine irrsinnige Wut. Diese Mauern, diese eiserne Tür! Sie hindern mich an der einfachsten Handlung der Welt. Warum kann ich nichtgetrost zum Direktor gehen, mit ein paar Worten, in zwei Minuten wäre alles geregelt. Es ist dunkel, ich liege lange wach und grüble über das Buch. Ja, wenn ich es jetzt hätte! Wie oft hatte ich den Spiegel am Oberfenster befestigt, daß er das Licht der Laterne draußen aufsauge und auf den Tisch reflektiere. In diesem kargen Scheine habe ich lange schlaflose Nächte hindurch gelesen, Bücher, die ich fast auswendig Ich würde heute das Buch in rotem Leder nahe, ganz nahe an den Spiegel bringen und blättern und mich hineinwerfen in eine Welt, die unsagbar fern ist — und doch schon jenseits der Mauern beginnt Ich schlafe ein und mein letzter Gedanke ist das Buch. Ich wache auf und mein erster Gedanke ist das Buch. Ich habe bis vor wenigen Stunden noch nichts von dessen Existenz gewußt. Aber jetzt ist es in meinen Umkreis hineingeschleudert, und fesselt mit magischer Gewalt. Der Tag geht träge. Ich habe mich zur Vorführung gemeldet, gleich morgens beim ersten Aufschluß. Aber ich kann am Montag so gut vorgeführt werden wie heute. Ich luge beim Spaziergang auf dem engen staubigen Hofe um jede Ecke, ob der
Hauptwachtmeister nicht kommt, und falle dem aufsichtführenden Beamten auf, der mich besonders beobachtet, bereit, sofort einzuschreiten, sollte ich mit dem Hintermann ein Gespräch versuchen. Ich hocke in der Zelle auf dem Schemel und arbeite nervös und aufgebracht über jedes fasernde Ende Bast, das mir in die zerfahrenen Finger gerät. Die Mittagszeit vergeht. Der Nachmittag vergeht. Unzählige Male stehe ich am Fenster. Unzählige Male lausche ich an der Tür. Ich frage die Beamten, die auf den muffigen Gängen Wache halten; nein, der Haupt Wachtmeister ist noch nicht bei seinem täglichen Rundgang vorbeigekommen. Es wird Abend. Morgen ist Sonntag, da ist keiner der Oberbeamten da. Ich werde den Sonntag über von der gleichen, jagenden Unruhe umhergetrieben werden. Nein, ich kann mich nicht in das Unabänderliche fügen. Das Buch ist mir viel, ist mir in diesem Augenblick alles. Ich rufe mir selber zu, Vernunft anzunehmen. Was liegt schon an dem Buch? Ich müßte verzichten können. Ich habe auf vieles verzichten müssen. Ich werde heute das Buch nicht haben können und morgen nicht, vielleicht in acht Tagen, was weiter? Nein, es liegt gar nichts an dem Buch. Aber die Widersinnigkeit dieses Systems ist es, die mich erregt. Warum soll ich warten, da dies Warten keinen, aber auch nicht den geringstenSinn hat. Warum wird zwischen mir und dem kleinen Wunsche eine Mauer errichtet, die überflüssig ist und quälend? Der ganze Tag ist mir zerstört, ich rede mich in eine unsinnige Erbitterung hinein. Ich sehe einen einfachen Vorgang — diese Menschen machen eine komplizierte Angelegenheit daraus. Ich bin hilflos, ja, das ist es, ich bin hilflos allem gegenüber, was mit
mir getan wird. Ich bin ausgeliefert, willenlos gemacht, entmannt, ich bin kein Mensch, ein Ding bin ich, eine Nummer, die keinen Willen haben darf und keine Würde. Ich, der ich in der Zelle als einzig Lebendiges eine Welt bin, außerhalb ihrer bin ich nichts. Nummer 149 will ein Buch haben? Warum? Nummer 149 sitzt in der Zelle. Nummer 149 kann der Welt gleichgültig sein. Sonntag. Oben in der Kirche singen sie das Tedeum. Die Orgel dröhnt, und ihre Töne zittern durch alle Mauern. Ich gehe nicht in die Kirche. Ich sitze an meinem Tisch und blättere fröstelnd und mißmutig in den alten Bänden der Gartenlaube vom Jahre 1886. Ein Moder und ein Staub steigt aus den Blättern auf. Die Seiten sind gelb und abgegriffen. Ich habe den Band schon unzählige Male in der Hand gehabt. Verschollene Bilder, kindlich naiv, sentimental zum Erbrechen. Ein Roman von erschütternder Belanglosigkeit, einige Neuigkeiten aus aller Welt, die so trostlos gleichgültig sind, wie dem Gefangenen von die Welt von 1886 gleichgültig sein kann, wenn sie sich in einer Garten-laube spiegelt. Ich klappe angeekelt das Buch zu und wandere und ab. Morgen ist Montag, morgen kann ich, vielleicht, vorgeführt werden. Wenn ich jetzt mein Buch hätte, das sonntägliche Buch im Luxuseinband, wenn ich mich jetzt einschachteln könnte in ein Schicksal, das nicht das meine ist, wenn ich jetzt eine Hand spürte, die die meine schiebt und mich hinwegführt aus der Zelle, aus dem geschichteten Wust von Erbitterung und Hoffnungslosigkeit - mein Sonntag wäre es, es ist der Sonntag in der Strafanstalt. Und dieser Tag ist müder noch als alle müden Tage.
Wie langsam schleichen die Stunden! Montag. Der Beamte kommt, ich werde vorgeführt. Ich stehe auf dem langen Gang in einer Reihe von Mitgefangenen. Mit drei Schritt Abstand stehen wir, und der Beamte achtet auf jeden Blick, den wir uns zuwerfen. Wir stehen fröstelnd und warten, ein jeder hat sich seinen Wunsch zurechtgelegt und feilt still an den Worten, mit denen er ihn vorbringen will. Einige sind da, die zur Bestrafung gemeldet wurden; sie stehen mit ängstlichen oder trotzigen Mienen und drehen nervös die Mütze. Der Hauptwachtmeister kommt mit einem Stoß Akten. Er sieht prüfend die Reihe durch. Er fragt mich, was ich wünsche. Ich wolle den Herrn Direktor sprechen wegen des Buches. Er sagt, das sei doch Unsinn. Er sagt, es müsse mir doch bekannt sein, daß zur Extra-Audienz mir wichtige und unaufschiebbare Wünsche vorgetragen werden dürften. Er sagt, am Donnerstag werde es geregelt werden. Er meint, ich solle mich doch nicht so haben. Wenn nun jeder käme wegen so einer Lappalie, am Donnerstag also, nicht wahr,... «Wachtmeister, der Mann kann in seine Zelle zurückgeführt werden.» Was es denn für ein Buch sei, frage ich schnell, und von wem es geschickt worden wäre? Das wisse er nicht, er habe andere Dinge im Kopf, ich solle mich endlich zufrieden geben, er werde dem Herrn Direktor schon Vortrag halten. Er geht. Der Beamte führt mich zurück. Die Gefangenen sehen neugierig hinter mir her. Die Zelle nimmt mich auf, die Tür knallt zu, und ich verspüre den rasenden Wunsch, alles kurz und klein zu schlagen. Dienstag. Grau, grau der Tag. Ich warte. Ich lasse mich zur Audienz eintragen.
Mittwoch. Morgen fällt die Entscheidung. Wenn alles gut geht, kann ich Sonnabend mein Buch haben. Donnerstag, Ich räume die Zelle gut auf, ich ziehe die schweren Schuhe an, ich knüpfe mir das Halstuch immer wieder von neuem, ich wasche mir zwei-, dreimal die Hände. Ich horche an der Tür, ich stehe am Fenster. Stunde um Stunde verrinnt. Ich greife zur Arbeit und werfe sie wieder hin. Meine Nagelschuhe trappen auf und ab. Der Barbier kommt, mich zu rasieren. Ich muß wieder Rock und Halstuch ablegen und setze mich geduldig auf den Schemel. Der Beamte an der Tür geht für Sekunden abseits. Schnell frage ich den Barbier, wo der Direktor sei. Auf Abteilung 1, sagt der Barbier, der im ganzen Bau herumkommt. Er flüstert mir zu, der «Alte» scheine schlechter Uune zu sein Die beiden Schreiner von Abteilung IV, die sich neulich geschlagen hatten, seien in Arrest gebracht und abgelöst worden. Der Beamte kommt, der Barbier ist fertig. Ich bin wieder allein. Bald muß der Direktor kommen. Er kommt. ET ist nicht schlechter Laune, er grüßt jovial; «Wie geht's! Nun, was wünschen Sie?» Der Hauptwachtmeister öffnet das Buch und setzt den Bleistift an. Ich bäte um das Buch, sage ich, und ob es mir nicht beschleunigt ausgehändigt werden könne. «Jaso, das Buch, ja, ich werde es dem Herrn Pfarrer zur Begutachtung vorlegen. Guten Tag» — Tage vergehen. Drei Tage vergehen. Dreimal frage ich den Hauptwachtmeister. Der Herr Pfarrer hat das Buch. Der Herr Pfarrer hat das Buch mit nach Hause genommen und ist momentan nicht erreichbar. Der Herr Pfarrer fährt nach dem Sonntagsgottesdienst für einige Tage auf Urlaub. Der Hauptwachtmeister winkt
ärgerlich ab, wenn ich mich ihm nahe. Wenn ich an die Zellentür klopfe, geht er draußen auf dem Gange eilig weiter. Am Dienstag melde ich mich zur Audienz. Am Donnerstag kommt der Direktor. Der Herr Pfarrer hat das Buch immer noch. Ich würde Bescheid erhalten. Ich erhalte keinen Bescheid. Ich lebe stumpf und freudlos. Ich warte Stunde um Stunde auf eine Mitteilung. Ich bin bei der Arbeit träge und mißmutig. Jede freie Stunde ist mir Anlaß, von neuem aufzubegehren. Ich höre durch den Kalfakter, daß der Pfarrer vom Urlaub zurückgekehrt sei. Ich lasse mich zur Vorführung beim Pfarrer eintragen. Tage vergehen, ich warte. Ich werde vorgeführt. Der Pfarrer steht in seiner Stube, einigermaßen erstaunt, daß ich, in die Bücher eingetragen als Dissident, ihn zu sprechen wünsche. Er sieht über die Brillengläser an. Ach so, das Buch, ja, er habe es noch nicht gelesen. Er werde dem Herrn Direktor Bericht erstatten. Er wickelt, am Schreibtisch, abgewandt, sein Frühstücksbrot aus; ich bin entlassen. Ich warte. Ich bin geladen, vollgestopft mit Erbitterung. Abends ich an die Wand zum Zellennachbar. Der klettert auf den Tisch kommt ans Fenster, Ich klage ihm flüsternd. Ja, das sei so, meint er. Er meint, ich könne mich doch nicht wundem darüber, ich sei doch lange genug im Bau. Ich solle eben jede Woche zur Audienz gehen und immer wieder daran erinnern. Der Alte sei kein schlechter Ker1, der könne auch nicht so, wie er wolle. Das System sei es eben, System. Ob ich denn kein Buch mehr in der Zelle hätte? Morgen beim Wasserkrugrausstellen, wolle er mir ein Buch hinlegen, unter meine Kehrichtschaufel.
Es sei ein feiner Roman, «Die Tochter des Kunstreiters». Nein, sage ich, danke, sage ich, ich hätte dies Buch schon gelesen, es sei mir auch nicht um das Lesen zu tun, aber mein Buch wolle ich haben, das mit dem roten Ledereinhand, das sei ein Gruß von zu Hause. Ja, ja, sagt der, das könne er verstehen und — «Achtung fuffzehn» sagt er. Der Beamte kommt mit dem Hunde und ruft: «Ruhe da oben.» Es ist wieder Donnerstag. Der Direktor kommt zur Audienz. Ja, das Buch, also, er müsse mir die Mitteilung machen, daß ich es nicht ausgehändigt erhalte. Der Herr Pfarrer halte es für Gefangene nicht für geeignet. Es sei unsittlich. Ich werde ganz wach. Ich lausche gespannt. Ich frage mit betonter Höflichkeit, ob der Herr Direktor mir nicht vielleicht mitteilen könne, wer mir das Buch geschickt habe. Der Direktor blickt fragend zum Hauptwachtmeister. Der räuspert sich und sagt, ja, es sei von einer mir sehr nahestehenden Dame. Ich lasse mir von dem Herrn Direktor vorsichern, daß die mir sehr nahestehende Dame nach der Strafvoll zu gsordnung als eine «Angehörige» zu betrachten sei. Ich sage und überlege mir mit kalter Ruhe jedes Wort; ich müsse es als eine ungerechtfertigte Beleidigung des Herrn Pfarrers meinen Angehörigen gegenüber ansehen, wenn der Herr Pfarrer ein Buch, welches diese mir senden, als unsittlich bezeichne. Meine Angehörigen senden mir keine unsittlichen Bücher. Meine Angehörigen stünden moralisch mindestens auf der gleichen Stufe wie der Herr Pfar Außerdem möchte ich mir die Frage erlauben, wieso der Herr Pfarrer über mich, den Dissidenten, Befehlsgewalt besitze. Ja, sagt der Direktor, so sei das ja nicht gemeint. Gott,
unsittlich! Das Buch sei eben nach des Herrn Pfarrers Meinung für Gefangene nicht geeignet. Er müsse sich dieser Meinung anschließen. Er kenne das Buch, es enthalte Stellen, die mich, den Gefangenen, unnötig in Erregung zu versetzen geeignet wären. Im Sinne der Hausordnung müsse das vermieden werden. Der Herr Pfarrer habe in seiner Eigenschaft als Beamter gehandelt, nicht als Seelsorger. Ja, sagt der Direktor, Sie müssen vernünftig sein. Sehen Sie mal — und er ist ein wenig verlegen dabei —, sehen Sie, wir wollen doch nur Ihr Bestes! Sie sind ein junger Mensch, nicht wahr, und solche Bücher ... Ich sage, ich sähe das ein und ich bäte um meine Versetzung in ein Jugendfürsorgeheim. Ich, als junger Mensch, müsse alles, was die Strafe betreffe, voll und ganz erdulden, sei ich zu jung, um solche Bücher ohne Schaden lesen zu können, dann sei ich zu jung, die ganze Schwere der Strafe zu ertragen. Der Direktor ist verletzt. Er wendet sich kurz. Also, ich kann Ihnen das Buch nicht geben, sagt er, und der Hauptwachtmeister notiert es. Ich raffe mich auf. Ich bitte um einen Beschwerdewegen. Gut, sagt der Direktor zum Hauptwachtmeister, gut, der Mann kriegt seinen Beschwerdebogen; und geht. Und mit ihm geht der Hauptwachtmeister und hat ein strenges, dienstliches Gesicht. Die Tür schlägt schärfer zu, als ich es bisher gewohnt war. Ich bin allein. Auf der Schiefertafel setze ich meine Beschwerde auf. Kurz muß sie sein. Sie darf in keiner Weise beleidigend ausfallen. Sie muß in der Form einer Bitte gehalten sein. Der Herr Strafvollzugspräsident ist sehr genau. In der Vorschrift steht: «Ungerechtfertigte Beschwerden unterliegen disziplinärer Bestrafung.» Ist
meine Beschwerde unberechtigt? Zweifellos darf der Direktor mir eine Vergünstigung abschlagen. Er darf es sogar ohne Angabe von Gründen. Es bleibt die Beleidigung des Pfarrers gegen meine Angehörigen. Aber der Direktor hat ja gesagt, das sei nicht so gemeint. Die Beschwerde ist ungerechtfertigt Kann ich zurück? Ich schreibe sie doch. Der Hauptwachtmeister kommt nach zwei Tagen und bringt mir einen Bogen. Feder und Tinte bringt er nicht. Der Hauptwachtmeister hat kein dienstliches Gesicht mehr. Der Hauptwachtmeister setzt sich auf den Tisch, lächelt und baumelt mit den Beinen. Er sagt, ich sei ein Hitzkopf, er sagt, ich solle es mir doch noch mal überlegen. Er sagt, er spräche zu mir mal außerdienstlich. Was hätte denn das Ganze für einen Zweck? Du lieber Gott, ich solle mir das dämliche Buch aus dem Kopfe schlagen. Ich müsse doch noch jahrelang in der Anstalt bleiben, ich könnte mir alle Sympathien verscherzen; ich möchte doch auch mal begnadigt werden. Er sagt, meine Beschwerde sei ja ein Unsinn, denn der Herr Strafvollzugspräsident könne doch nicht durch eine Gegenentscheidung die Autorität des Direktors untergraben. Hier sei ein Bogen, aber ich solle es mir doch noch sehr überlegen. Wegen so eines Buches! Er halte mich doch für einen leidlich vernünftigen Menschen, ich mache doch auf eine gewisse Bildung Anspruch. Na also, er ließe mir Zeit, er meine es gut mit mir. Er geht, ohne einen Blick der Prüfung durch die Zelle geworfen zu haben. Ich sitze lange unentschlossen. Ja, die Beschwerde ist Unsinn. Aber will mein Buch haben. Dies Buch war wochenlang der Punkt, um den sich alle Gedanken
drehten. Ich giere nach dem Buche. Was mag es für eines sein? Unsittlich? Was nennt der Pfarrer unsittlich? Was nennt der Strafvollzugspräsident unsittlich? Ich muß, ich muß das Buch haben. Soll dieser ganze Kampf vergeblich gewesen sein? Ich weiß, ich werde keine Ruhe haben, ehe ich nicht das rote Leder in den Händen fühle, ehe ich nicht in den Seiten geblättert habe. Ich schreibe die Beschwerde doch. Ich lasse mir Tinte und Feder bringen und schreibe uns überlege bei jedem Wort und setze Buchstabe hinter Buchstabe und vergesse den vorschriftsmäßigen Rand nicht und nicht das «ganz ergebenst» und nicht das höhnische Grinsen bei diesem «ganz ergebenst». Und ich warte auf den Hauptwachtmeister, der den Bogen holen soll. Tage vergehen. Ich werde dem Hauptwachtmeister vorgeführt. Ich stehe in langer Reihe mit anderen Gefangenen auf dem Gang. Ich bin an der Reihe und trete in die Stube. Der Hauptwachtmeister sitzt am Tische und schreibt. Zu seinen Fußen liegt der scharfe Wachhund. Der Hauptwachtmeister läßt mich warten. Ich lasse den Blick durch das Zimmer schweifen und sehe - mein Buch. Im Regal für erledigte Sachen. Ohne Zweifel, es ist mein Buch. Das Rot leuchtet lockend. Ich sehe hin wie gebannt. Ich bin unbeschreiblich aufgeregt. Ich versuche den Titel zu entziffern. Der Hauptwachtmeister macht eine Bewegung und ich fühle mich wie ertappt. Er fragt nach meinem Kassenbestande. Er fragt nach diesem und jenem. Er fragt mit keinem Worte nach meiner Beschwerde. Er notiert sich verschiedenes. Da bricht ihm die Bleistiftspitze ab. Er erhebt sich, tritt ans Fenster,
wendet mir den Rücken, eifrig bemüht, den Bleistift zu spitzen. Ich hole tief Atem, ich mache einen Schritt seitwärts. In meiner Brust hämmert es rasend. Ich greife das Buch, das rote Buch, und stopfe es unter die Jacke. Und drehe mit der linken Hand hinten die Jackenzipfel zusammen und pumpe die Brust voll Luft, das Buch zu halten. Der Wachhund sieht mich mit aufmerksamen Menschenaugen an. Ich habe mein Buch gestohlen. Ich trete zurück, bleich, fröstelnd, erschreckt. Der Hauptwachtmeister wendet sich. Ich blicke in die Ecke, er sagt; «Es ist gut, Sie können gehen. Der Nächste.» Ich taumele zur Tür und presse das Buch unter der braunen Jacke an mich und stehe in der Reihe und verspüre ungeheure, erlösende Freude. Der Beamte geht mit mir zurück in die Zelle, er schließt auf, er schließt zu. Ich stürze zum Tisch, türme die Bibliotheksbände aufeinander und hole mit klammen Fingern das Buch hervor und lege es hinter den Stapel, bereit, es jeden Augenblick zu verdecken. Ich streiche scheu mit dem Handrücken über den Einband. Ich schlage das Titelblatt auf und lese: «Stendhal, Rot und Schwarz».
1926 Aus den Mosaiksteinchen täglicher kleiner Abweichungen bildete sich das Gesicht der Zeit gleich einem Gemälde, auf dessen staubgrauen Hintergrunde
starre Linien und blasse Farben keine Tiefendimensionen erstehen ließen. So unwirklich war der zähe Fluß der Tage, daß er keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Oftmals kamen Augenblicke, da ich mich gegen den Gedanken nicht wehren zu können vermeinte, daß dies immer so weitergehen müsse, daß ich niemals frei sein werde. Freilich gab es da einen durch das Urteil des Gerichtes genau festgelegten Tag, an dem ich des Nachmittags um drei Uhr zehn entlassen werden mußte. Aber dieses Datum, gegeben als der Endpunkt einer bestimmten Zeit, war mir unfaßbar geworden, weil mir die Vorstellung unfaßbar geworden war, daß außerhalb meiner steinernen Begrenzung der Raum voll Weite und die Zeit voll Bewegung sei. Ich empfand mein Dasein in der Zelle als schattenhaft, weil alles, was sich in ihr ereignete, an eine mittlere Linie gebunden war. Die Zelle duldete keine Abweichungen von dieser Linie, keine Spannungen, keine Exaltationen, keine Inbrunst, nichts von dem, was das Leben erst fruchtbar macht. Ihr Druck erstickte in ewig brandendem Angriff durch stete zerstörende Verächtlichmachung, durch das brutale Niederschlagen jeder eigenen Regung den Willen, hemmte den Impuls, untergrub die Leidenschaft und ließ als einzigen Richtpunkt die vage, die verräterische Hoffnung auf eine Freiheit, die allmählich ihr Spiegelgesicht verlor und die einstmals zu ertragen die Zelle den Gefangenen erst unfähig machte. Wenn der Zweck dieses ungeheuer konsequenten Vorganges die Strafe war, dann war die Strafe ohne Sinn. Niemand konnte durch sie «in ernster Reue Kraft
gewinnen», niemand zur «friedsamen Furcht der Gerechtigkeit» gelangen. Und niemand von denen, die dies als Sinn der Strafe dekretierten, glaubte auch daran. Es war so, daß der Direktor und der Pfarrer und jeder einzelne Beamte und daß gar der Herr Strafvollzugspräsident selber behutsam auswichen, wenn ich sie in gnädigst mir bewilligtem Gespräch fragte, ob sie wirklich an den Sinn der Strafe glaubten, daß sie vorsichtig sich auf Paragraphen und Gesetze zurückzogen und einmütig erklärten, sie täten bloß ihre Pflicht, und ebenso einmütig verrieten, wie unbehaglich sie sich im Bereiche dieser Pflicht bewegten. Hier stimmte etwas nicht. Die Strafe war nicht legitim. Sie mochte für die, die sie verhängten und vollzogen, praktisch sein oder bequem, sie mochte durch Tradition geheiligt sein oder durch Erfahrung bestätigt — und es war nicht einmal etwas von dem der Fall —, eins war sie nicht: sie war nicht die rächende Gewalt eines ethischen Prinzipes, die im Namen einer höheren Einheit als der des nicht geeinten Volkes verkündet und vollzogen wird. Darum war die Strafe nicht legitim, darum war sie ohne Frucht und ohne Sinn. Darum war die Ordnung, in der sie sich vollzog, so unerträglich, daß jedes Sichwehren gegen sie dem natürlichsten Instinkt entsprang. Im Grunde war diese Ordnung um ihrer selbst willen da, und jede Maßnahme, die in ihrem Namen geschah, hatte als Begründung einzig eine imaginäre und anscheinend stets bedrohte Sicherheit, die gewahrt mußte. So mochte sie wohl ein verkleinertes, aber darum verschärft getreues Spiegelbild abgeben von jener anderen Ordnung, derentwegen
ich es für nützlich hielt, ein destruktives Element zu werden. Schon lange gingen Gerüchte in der Anstalt von einer grundlegenden Reform des Strafvollzuges. Nicht mehr der Gedanke der Strafe sollte im Mittelpunkte stehen, sondern der der Erziehung. Niemand wußte Genaueres anzugeben über die Art dieser Erziehung; die Beamten brauchten lange Zeit, bis sie das Wort «progressiv» aussprechen konnten, länger noch, bis sie ungefähr eine Ahnung hatten, was es bedeutete; befreunden konnten sie sich nie mit ihm. Als endlich die ersten Bestimmungen herauskamen, mußte es peinlich vermieden werden, befangenen von ihrem Sinn und Inhalt Auskunft zu geben. Doch genug sickerte durch, um die Arbeitsräume und Schlafsäle mit eifrigem Gespräch zu füllen. Die Vermutungen gingen so weit, die Hoffnungen stiegen so hoch, daß es später bitter enttäuschen mußte, als sich die Konferenz langsam und vorsichtig entschloß, wenigstens einen Teil der Bestimmungen in Kraft zu setzen. Eine dieser Bestimmungen lautete, daß jeder Gefangene, der neu eingeliefert wird, in die erste Stufe des progressiven Strafvollzuges einzureihen sei; führe er sich während der ersten neun Monate einwandfrei, dann könne er auf Beschluß der Konferenz in die zweite Stufe versetzt werden; in die dritte konnten Gefangene nur gelangen, wenn sie noch nicht vorbestraft waren, wenn sie die Hälfte ihrer Strafe verbüßt hatten, wenn sie mindestens neun Monate in der zweiten Stufe eingereiht waren, wenn sie sich so gut geführt harten, daß nicht der geringste Tadel gegen sie vorlag, wenn die Konferenz einstimmig zu der festen und unumstößlichen Ansicht
gelangt war, daß sie nicht mehr rückfällig werden konnten. Die erste Stufe sollte einen grünen Streifen, die zweite zwei und die dritte drei am Ärmel der Jacke tragen. Die erste Maßnahme der Anstaltsleitung war der Befehl, grüne Streifen herzustellen. Und jedermann erhielt einen grünen Streifen. Weiter geschah neun Monate lang nichts. Nach Ablauf der neun Monate wurde ich vor die Konferenz, zitiert, und der Herr Direktor teilte mir mit, daß ich auf seinen Vorschlag in die zweite Stufe versetzt sei; zwar sei meine Führung nicht einwandfrei gewesen, sagte der Direktor ernst, doch fügte er sogleich die emphatisdie Versicherung hinzu, aber er halte mich nicht für schlecht. Ein zweiter grüner Streifen wurde mir an den Ärmel genäht, Weiter erfolgte für drei Monate nichts, außer, daß mir gestattet wurde, einen größeren Teil meines Verdienstes in Kautabak anzulegen, als es den Gefangenen der ersten Stufe gestattet war. Um diese Vergünstigung voll auszunutzen, fing ich zu priemen an. Von den dreihundertfünfzig Gefangenen waren etwa dreißig mit mir zusammen in die zweite Stufe versetzt worden, darunter Edi. Ich setzte mich mit Edi durch Kassiber in Verbindung, und wir benachrichtigten alle Gefangenen der zweiten Stufe, sie sollten sich jeder für sich zur Audienz melden und möglichst mit gleichen Worten dem Herrn Direktor mitteilen, daß das Glück, in die zweite Stufe versetzt zu werden, durchaus zu ertragen sei. Der Herr Direktor aber hielt sich strenge an die Verordnung, daß die Vergünstigungen nicht etwa alle auf einmal, sondern nach Maßgabe des Verdienstes nach und nach gewährt werden sollten.
Und Edi und ich bewogen die anderen, sich für jeden Donnerstag zur Audienz zu melden und eine neue Vergünstigung zu verlangen. Als die neun Monale der zweiten Stufe herum waren, konnte der Herr Direktor mich mit Stolz darauf aufmerksam machen, daß ich alle Vergünstigungen genoß, die für die zweite Stufe vorgesehen waren. Ich hatte eine Stunde länger Licht in der Zelle, ich durfte jeden Monat statt alle zwei Monate einen Brief schreiben und einen empfangen, ich durfte öfter Besuch bekommen, und ich durfte mir in beschränktem Umfange eigene Bücher halten. In beschränktem Umfange, das hieß, ausschließlich Fachliteratur, die geeignet war, den Gefangenen beruflich weiterzubilden. Ich teilte dem Herrn Direktor mit, daß ich den Beruf eines Schriftstellers als nahrhaft und zweckmäßig erkannt und beschlossen habe, mich ihm eifrig zu widmen. Es gäbe mithin kein Buch, das nicht zu meiner beruflichen Fortbildung geeignet sei. Dann aber geschah es, daß zu feierlichem Akt die Konferenz zusammentrat, um sechs Gefangenen die außerordentliche Würde der dritten Stufe zu verleihen. Die dritte Stufe, sagte der Herr Direktor, sei der Übergang zur Freiheit. Wir sollten uns der hohen Gnade und des Vertrauens der Beamtenschaft würdig erweisen, sagte er, besonders erwarte er, und hierbei sah er mich prüfend an, daß derjenige, der auf Grund seiner Überzeugungstäterschaft in die dritte Stufe versetzt werde, nicht vergesse, daß, wer Anspruch erhebe, als anständiger Mensch behandelt zu werden, auch sich als anständiger Mensch benehmen müsse. Die dritte Stufe, sagte er, sei ein Versuch, das Edle im Gefangenen zu erwecken. An uns liege es, zu beweisen,
daß dies möglich sei. Wir könnten uns im übrigen immer bei besonderen Wünschen auf direktem Wege vertrauensvoll an ihn wenden. Ich wandte mich sofort vertrauensvoll an ihn und bat, daß auch Edi in die dritte Stufe versetzt werde. Wenn ich als Überzeugungstäter betrachtet würde, könne auch er dasselbe Recht beanspruchen. Da hörte ich, daß Edi begnadigt worden sei. Ich traf ihn auf dem Beamtenflur. Er eilte atemlos an mir vorbei. «Begnadigt!» schluckte er und winkte mir mit einer unendlich hiflosen Handbewegung zu. Er rannte zitternd und kopflos weiter, lachend, stotternd, jedem Gefangenen, jedem Beamten zurufend, tausend Dinge in die Hand nehmend und immer wieder weglegend, in Hast und in Furcht. In Furcht, er fürchtete sich vor der Freiheit, er mußte sich vor ihr fürchten, so wie ich mich vor ihr fürchtete, wie vor etwas ganz Unfaßbarem, Unheimlichem, dem man bedingungsloser ausgeliefert sein muß als der Zelle. Kam er denn in die Freiheit? fragte ich mich sofort. Er kam aus enger Zelle in staubige Werkräume, er kam aus klammernden Fesseln, um sofort in andere, nicht minder drückende gezwungen zu werden. Er lief den Gang entlang, und bevor er in die Kanzlei eintrat, drehte er sich noch einmal um, hob die Hand und winkte zum letzten Male. Das war das Letzte, was ich von ihm sah. Jahre spater las ich in einer Zeitung seinen Namen, er war unter einer Reihe anderer Namen aufgeführt als eines der Opfer eines Zusammenstoßes zwischen Polizei und Erwerbslosen. Ein Brief, den er mir nach seiner Entlassung schrieb, wurde mir wegen
«beleidigender und anstößiger Ausdrücke» nicht ausgehändigt und zu den Akten gelegt. Für mich begann eine Zeit, die um eine Schattierung heller war als die verflossenen vier Jahre. Der Direktor meinte es ernst mit der neuen Verordnung, wie er es mit jeder Verordnung ernst meinte. Weitaus die Mehrzahl der Beamten meinte es nicht ernst. Es war in der Tat ein groteskes Verlangen, von ihnen pädagogische Fähigkeiten zu erwarten. Diese biederen Männer, seit Jahrzehnten im Dienst, mit dem Zuchthaus verwachsen wie mit ihren krummen Säbeln und dem riesigen Schlüsselbund, sahen sich murrend und kopfschüttelnd an, wie die Gefangenen der dritten Stufe in der wöchentlichen Turnstunde über ein Seil hüpften, wie sie Kniebeugen machten und über den Kasten sprangen. Sie murmelten wütend, da lernten die Spitzbuben, wie man über eine Zuchthausmauer geht und wie man vor dem Gendarm ausreißt. Sie knurrten, wenn sie gezwungen waren, an sechs Zellen eine Stunde später das Licht auszudrehen, sie spotteten über die schüchternen Bilder und fadenscheinigen Vorhänge im Tagesraum der dritten Stufe, in dem sich die sechs Auserwähhen manchmal versammeln durften. Sie versuchten, gerade die dritte Stufe zu schikanieren, wo sie konnten, und waren maßlos verblüfft, als sie merkten, daß der Direktor auf einmal nicht immer den Beamten so ohne weiteres recht gab, kam es einmal zwischen ihnen und den Dreistreifigen zu Streitereien. Sie zogen sich schließlich erbittert zurück und ließen uns in Ruhe und lauerten auf die Gelegenheit, uns eins auszuwischen, und versäumten es nicht, die anderen Gefangenen gegen uns ein wenig aufzuhetzen.
Die Gefangenen der ersten Stufe aber pflegten mit Inbrunst auf die der zweiten Senfe zu schimpfen, so lange, bis sie selber in der zweiten Stufe waren. Wer keine Aussicht hatte, in die dritte zu gelangen, war von vornherein Gegner des progressiven Strafvollzuges als eines Systems der fürchterlichsten Ungerechtigkeit. «Da geht die Mörderklasse!» sagte einer, als wir einmal zur Sonderfeierstunde neben- und nicht hintereinander im Hofe gingen. In der Tat, trotzdem die Auswahl keineswegs nach der Straftat getroffen war, sondern einzig nach dem Grade der persönlichen Eigenschaften des Charakters, war keiner unter den Dreistreifigen, der wegen eines Verbrechens gegen das Eigentum oder gegen die Sittlichkeit bestraft war. Da war ein Schuhmacher, verurteilt zu zwölf Jahren, weil er im Handgemenge einen Bauern erschlug, der sich an seine Frau gemacht; ein Feldwebel, lebenslänglich, der einem Schneider auflauerte und ihn erschoß, weil der am Wirtshaustische behauptet hatte, er hätte während des Krieges Fleisch verschoben; ein Handlungsgehilfe, fünfzehn Jahre, weil er mit seinem Bruder, der im Zuchthaus verstarb, vom Kriege heimkehrend und Arbeit suchend, einen Grubenmagnaten angefallen hatte und auf der Flucht vor Verfolgern einen Nachtwächter erschoß; ein Straßenbahnschaffner, zehn Jahre, weil seine nichts weniger als angenehme Ehefrau unter Eid behauptete, er habe ihr Rattengift in die Bohnensuppe gestreut; ein Techniker, zwölf Jahre, weil er nicht dulden wollte, daß man seinen, wie sich später herausstellte, unschuldig des Diebstahls bezichtigten Vater verhaftete, und den Landjäger erstach. Alle diese Männer waren verträgliche Leute, kameradschaftlich
und voll des einzigen Wunsches, in Frieden ihren Beschäftigungen nachzugehen. Daß man sie als Verbrecher behandelte, begriffen sie nicht, und ihre Gespräche drehten sich um angenehme Mädchen mit rundlichen Formen und die Zubereitung aussichtsreicher Fleischgerichte. Wenn wir zumenkamen, spielten wir Schinkenklopfen oder Halma und waren uns einig darüber, daß auch die wohlmeinendste Strafvollzugsordnung nicht geeignet sei, erwachsene Menschen zu irgendeiner Art von Idealtypus oder zu einem getreuen Staatsbürger zu erziehen, und daß es verdienstlich sei, sich mit allen verbotenen oder erlaubten Mitteln Tabak zu verschaffen. Wir rauchten, trotz des strengen Verbotes, ausgekauten Priem und Seegras und waren entschlossen, auf dies Vergnügen nicht zu verzichten, selbst auf die Gefahr hin, im Falle des Erwischtwerdens in die höllischen Regionen der ersten Stufe zurückgestoßen zu werden. Im übrigen konnte uns kaum einer der mißgünstigen Beamten etwas anhaben, denn wir waren mit allen Kniffen vertraut und wußten von den meisten zuviel. Die Erlaubnis, mir in unbeschrankter Anzahl Bücher kommen zu passen, hatte meine Tage sinnvoller gemacht. Ich verkroch mich nun, da ich nicht mehr unbedingt an die Zelle gebimden war, aus freien Stücken emsig in sie und las. Ich warf mich hinein in eine Weit, die mir fremd und unsagbar köstlich geworden war, ich las alles, was mir die Hände kam, ohne Plan und System durcheinander, lernte Englisch und Spanisch nach der Methode ToussaintLangenscheidt, ohne bis heute die Aussprache beherrschen zu können —, era ciego de nacimiento,
ewig wird mir dieser erste Satz des spanischen Lehrganges im Gedächtnis bleiben —, ich buchstabierte mir die Augen stumpf, wenn das Licht in der Zelle erloschen war, im schmalen Schein der Hoflaterne und brachte mich mehr denn je um jeden Schlaf. Manchmal stieg ich des Morgens, sobald der schmale Streif des Himmels im Fensterviereck sich zu erhellen begann, vom zerwühlten Bett nach den zermürbenden Stunden der durchwachten Nacht, machte Freiübungen, bis ich an allen Gliedern zitterte, und hatte, wenn die Kalfakter mit hallendem Getöse die Kaffeekessel über die Steinfliesen der Gänge schleiften, schon viele Kapitel gelesen, ohne ein anderes Gefühl zu spüren als das des Ärgers, nun unterbrochen zu werden. Immer öfter kam der Direktor in meine Zelle, um mich seines Vergnügens zu versichern, daß ich mir nun meine eigene Welt gebaut. Selbst der Hinweis, daß er sich dieses Vergnügens hätte schon sehr viel früher erfreuen können, nahm ihm nichts von seiner unerschütterlichen Sanftmut, und sein Wohlwollen begann, mir unheimlich zu werden. Er habe immer nur seine Pflicht getan, sagte er, und es sei nun seine Pflicht, erzieherisch auf mich einzuwirken. Ich versuchte, ihm den Glauben an die Möglichkeit meiner und meiner Mitgefangenen sittlichen Läuterungen zu nehmen, aber die langen Unterredungen endeten schließlich doch immer nur mit der erstaunlichen gegenseitigen Feststellung, daß wir beide im Grunde doch ganz respektable und umgängliche Menschen waren, und daß diese Tatsache nicht aussagen könne über den Sinn oder Unsinn des nunmehr geheiligten Erziehungsprinzips im progressiven Strafvollzug
Eines Tages aber ließ mich der Direktor rufen, und als ich vor ihm stand, bat er mich, Platz zu nehmen. Ich erschrak sehr ob dieses Umstandes, doch der Herr Direktor bestand darauf, und als ich mich auf einem richtig gepolsterten Stuhle mit einer vollkommen überraschenden Lehne niedergelassen hatte, eröffnete er mir, er könne mir die freudige Mitteilung machen — ich eprang erregt auf, aber er winkte erschrocken, mich wieder zu setzen —, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sei, schon innerhalb der nächsten Wochen eine amtliche Anweisung eintreffen zu sehen, die meine Begnadigung und Entlassung zum Gegenstand habe. Freunde hätten für mich ein Gesuch eingereicht. Er könne die günstigsten Aussichten prophezeien, denn eine nationale Regierung sei ans Ruder gelangt, und es sei eine weitgehende Amnestie in Vorbereitung. Ich lag nach Einschluß mit unter dem Kopf gekreuzten Armen auf dem Bett und starrte an die Zellendecke, auf die sich die Gitterstabe im zitternden Licht der Hoflaterne abzeichneten. Immer wieder fragte ich mich, ob denn dies überhaupt möglich sei, ob es denkbar sei daß ein Tag käme, und bald käme, morgen schon kommen könne, an dem ich nicht des Abends mein Bett herunterklappen würde, um müde und unlustig den Schlaf herbeizusehnen, ein Tag, an dem sich mir die Welt auftun würde, eine unwahrscheinliche, eine unerhört vielgestaltige Welt mit Frauen und Ideen und Bewegung und Forderung, eine Welt, die beklemmend sein mußte in ihrer Fülle, voll starker Farben, mit Bäumen und Häusern und Eisenbahnen, mit Bergen und Flüssen und Männern,
die einen richtigen weißen Stehkragen tragen, keine Uniform und keine braune Kluft, Menschen mit Gesichtern, nicht mit Fratzen, und Tiere und eine Luft, die in der Ferne bläulich wird, und alles, alles, und jedenfalls nichts von dem, was mich jetzt umgab. Das war das Wichtigste. Jedenfalls eine Welt, von der ich mir nur eine unerhört beglückende Vorstellung machen konnte, wenn ich mir alles wegdachte, was mich jetzt umgab. Ich versuchte mir voraustellen, wie es denn früher war. Aber das war alles blaß und verschwommen, und die Bilder zeigten sich gleich regellosen Träumen, ganz flächig, wirr, Gesichter von Kameraden huschten unwirklich vorüber, Stunden im Baltikum —, wo war das noch, diese alte Panjehütte, wer war das noch, der so schwer und ächzend im Graben lag, wann war das noch, dies Aufblitzen der Schüsse aus dem Sumpf — Nächte in einer schemenhaften Dachstube, in der in der Ecke Gewehre stunden — nichts, das war nichts, fern und fremd das alles und ohne starke Beziehung. Wie denn, auch keine Beziehung mehr zu Kern? Nein, bei Gott — ich stand auf und brachte die Augen nahe an das Bild an der Wand, das nun schon vier Jahre lang da hing — keine Pose also, dachte ich und mich fröstelte ein wenig. Pose jeder Gedanke über Rathenau? Ich hockte mich auf das Bett und überlegte. Ich zwang mich, an andere Dinge zu denken, ich verfolgte die vier Jahre, strich über sie hin und zurück. Also das, also das war mein Leben, vier Jahre lang! Schreie aus der Arrestzelle, Nacht für Nacht, man hört gar nicht mehr hin. Ein Beamter kommt, schließt die Tür auf, steckt den Kopf in die Zelle, sagt: «Sachen
packen.» Er schlägt die Türe wieder zu und kommt nach einer Viertelstunde wieder und sagt: «Mitkommen.» Ich gehe mit und frage, wohin und warum. Der Beamte sagt: «Maul halten» und öffnet irgendeine andere Zelle und sagt: «Da rein!» und die Türe knallt zu, und ich stehe da inmitten eines Wirbels von Fragen, auf die ich nie eine Antwort erhalte. Das war eine Zellenverlegung. Es ist unbekannt, ob sich ein Stück Vieh, das von einem Stall in den anderen gebracht wird, Gedanken macht über den Sinn dieses Vorganges. Ich machte mir jedenfalls Gedanken darüber. Niemals wurde dem Gefangenen eine Begründung für irgendeine in seinen täglichen Ablauf einschneidende Maßnahme gegeben. Anfangs folgte ich der natürlichsten Reaktion und machte es wie Edi —ach Edi, wo war der jetzt? — Ich weigerte mich zu tun, was mir befohlen war, bis nach wilden Brüllereien, die das ganze Zellenhaus in Aufruhr brachten, die Wachtmeister anrückten und die in der Vorschrift empfohlene Anwendung von Gewaltmaßregeln, gewürzt mit dem nicht eben freundlichen Ausdruck der persönlichen Gefühle unnötig aufgeschreckter Beamter, in ihre Rechte trat. Später aber hielt ich dem erstaunt zuhorchenden Beamten einen längeren Vortrag darüber, daß von jeher der Befehl ein schlechter Befehl war, der nicht von vornherein seinen Sinn klar erkennbar in sich trüge, und der ihn aussprach, nicht eben ein guter Vorgesetzter. — Gesichter tauchten auf, abgeschliffene Fratzen über der braunen Jacke. Da war Biedermann und der alte May und der Lazarettkalfakter und der Arrestkalfakter, und da war, wer war das noch, richtig, der Kerl, der mich verpetzt hatte, weil ich Edi
einen Skrind zugesteckt hatte, und wie hieß das Schwein, der meinen Ausbruch verraten hatte, um begnadigt zu werden? Vorbei. Nichts war wirklich, nichts blieb haften. Die Nächte im Arrest, die Zeit, da ich im Lazarett bei Edi wachte, die eins, zwei, drei, vier verschiedenen Pfeifen, die ich mir verschafft hatte und die alle erwischt wurden, und die fünfte nicht, die ich nun unter den Büchern versteckt hielt. Da lag bei den Büchern der Packen Briefe, auf einen jeden hatte ich mit zermürbender Inbrunst gewartet, und jeder war zuletzt doch eine Enttäuschung geblieben, und der eine lag auch dabei, der eine, der mir berichtete, wie es zu Ende ging mit den Geächteten. Wo las ich doch noch kürzlich von den Geächteten? Richtig, in den IslandSagas. Da waren die Geächteten Männer, die sich nicht fügen wollten in die Satzung der Sippen und darum hinausgetrieben wurden aus dem geordneten Bereich, ihre Waffen durften sie behalten, aber jedermann, der stärker war ab sie, durfte sie töten. Es waren aber immer die kriegerischsten Männer gewesen, die sich nicht fügen wollten der zahmen Zucht und darum geächtet wurden, und allmählich war es so, daß aus den Geächteten die Ächter wurden, daß die Sippe verrottete, weil sie sich ihrer kämpfenächsten Kräfte beraubt, und aus den Wäldern brachen die Verfemten und blieben doch die Herren im Land. Da gab es noch keine Zuchthäuser damals — was sollen die knabenhaften Träume —. Stunden irrsinnigster Verzweiflung; hatte ich nicht schon den Glasscherben in der Hand, damals nach dem ersten gescheiterten Ausbruch? Warum hatte ich es eigentlich nicht getan, ein kurzer Schnitt in die Pulsader — warum, warum?
— Und warum mußte Senta bellen, der Wachhund, den ich des Nachts immer vor meinem Fenster durch die Büsche rascheln hörte, den ich mit Fleischstücken aus dem Sonntagsessen gefüttert, um ihn an mich zu gewöhnen, warum mußte Senta bellen, als ich schon mit dem Mauerhaken in der Hand im Hofe stand? Weihnachten bekam ich immer Besuch. Wie fürchtete ich mich doch jedesmal vor dem Augenblick, da ich vom Beamten in den Besuchsraum gerufen wurde, und wie sehnte ich mich ein Jahr lang immer nur nach diesem Moment. Der tolle Schmerz, wenn ich mich noch einmal umdrehte und noch einmal und winkte, und dann sah ich den langen Gang hinunter, bis das eiserne Gitter sich wieder schloß und die innere Tür zuknarrte und dann die äußere, und ich ging taumelnd zurück in die Zelle und schmiß mich auf den Tisch und — verdammt. Wacht auf, Verdammte dieser Erde, das sang Edi immer, des Abends, wenn aus der brütenden Stille der ferne Schrei kam, irgendwo wurde einer in den Arrestzellen geprügelt. Und einmal, da sang Edi das Lied während der Weihnachtsfeier an Stelle des Chorales und wurde abgeführt. Die Weihnachtsfeier. Wie ich mich ärgerte, wenn einzelne Gefangene anfingen zu heulen, wie ich mich empörte über die Girlanden und Kerzen in der Anstaltskirche und über das bunte Transparent «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen, die eines guten Willens sind». «Die eines gulen Willens sind», immer diese zarten Anspielungen, wie ich sie haßte, wie ich sie suchte, überall, mich über sie zu ärgern. Der Pfarrer, der einmal von der Kanzel sagte, im Grunde hätten die Gefangenen ja nur geringe Schuld, das schlechte
Beispiel sei es eben, das schlechte Beispiel, da sähen die Kinder ja schon, wie die Mutter mit dem Schlafburschen Unzucht triebe... Und ich verlangte daraufhin vom Direktor, der Pfarrer solle gezwungen werden, von der Kanzel herunter zu betonen, er habe jedenfalls meine Mutter nicht gemeint. Das starr verzogene Gesicht des Pfarrers, als er dann zu mir kam, sich zu entschuldigen, und er hätte das ja nicht so gemeint! Tausend Bilder, keines glühend, das war mein Leben, vier Jahre lang. Und dies alles nicht mehr, wenn ich frei bin, frei... Bald, unwirklich bald. Nun stand ich, von einer irrsinnigen Unruhe getrieben, den halben Tag an der Tür und lauschte, ob nicht mein Name gerufen werde, ob niemand kam, mich zu holen. Tag für Tag, Nacht für Nacht rechnete ich. Jetzt konnte das Gesuch beim Justizminister sein, jetzt kam es vielleicht zum Referenten, jetzt ging es zum Reichspräsidenten, jetzt zum Oberreichsanwalt... Der Direktor suchte mich auf, wenn es irgend anging. Er sagte, er habe bei einer Konferenz in Berlin, an der er teilgenommen habe, mit dem zuständigen Herrn vom Ministerium über das Gesuch gesprochen. Ich könne voller Hoffnung sein. Er sagte ein andermal, ich solle mich schon vorbereiten, es könne jeden Tag die Begnadigung dasein. Er ordnete an, mein Anzug solle ausgebessen und gebügelt werden, und der Hausvater kam und nahm mich mit auf die Kammer, und ich breitete meine Sachen aus, um den Mottenpulvergeruch verfliegen zu lassen. Und dann hieß es eines Tages, ich solle sofort zum Direktor kommen. Ich rannte so schnell, daß der Beamte kaum folgen konnte. Ein Gefangener rief mir zu: «Ich gratuliere»,
Beamte lachten, die Sonne beglänzte die Gänge. Der Direktor ließ mich eintreten. Er bot mir keinen Stuhl an. Er blätterte in einem Aktenstück und war sehr bleich. Er sah mich von unten herauf an und räusperte sich und sagte: «Es ist ein neuer Haftbefehl gekommen für Sie. Sie sind angeklagt des Mordes an dem Oberleutnant Weigelt. Sie werden morgen an das zuständige Landgericht abtransportiert.»
Transport Allmählich wird es hell. Ich löse mich fröstelnd vom Fenster. Die Nacht hat doch ein Ende genommen. Auf dem Gang tönt ein Geräusch. Vorsichtig tastet der Schlüssel, die Türe öffnet sich, es ist soweit. Der Hauptwachtmeister flüstert ein «Guten Morgen». Ich lächle und sage: «Es ist, als würde ich jetzt zur Hinrichtung geführt.» Der Hauptwachtmeister schüttelt den Kopf, er murmelt: «Nu, nu, so schlimm wird's nicht werden.» Ich nehme zögernd meine kleine schwarze Mütze und gehe hinter dem Hauptwachtmeister her. So sah ich die Gänge noch nie, völlig tot, im fahlen Grau des Morgens. Wir gehen auf den Zehenspitzen. Eine vermummte Gestalt schiebt sich vorbei, der Nachtbeamte. Im Beamtenflur brennt nur eine Gasflamme. Der Hauptwachtmeister sagt halblaut: «Der Herr Direktor wünscht Ihnen viel Glück.» Er sieht mich
nicht an dabei. Er öffnet die Tür zur Kanzlei. Darinnen steht der Begleitbeamte. Ich werfe schnell einen Blick auf das Transportpapier, es ist rot, also werde ich gefesselt. Einen Augenblick will sich alles in mir aufbäumen, dann halte ich die beiden Arme vor mich hin. Die Fessel schnappt zu, die Handgelenke sind eng in die Brezel eingezwängt. Dann aber führe ich mühsam die Arme zum Munde und reiße mir mit den Zähnen die Grünen Streifen herunter. Der Hauptwachtmeister hebt beschwichtigend die Hand. Wir wenden uns zum Gehen. Der Hauptwachtmeister streckt die rechte Hand vor, dann sieht er verlegen auf die Fessel und läßt sie wieder sinken. Eine Tür wird geschlossen, die zweite, die dritte. Wir stehen vorm Haupttor, die Nachtwache schließt auf, ich trete auf die Straße hinaus. Ich drehe mich noch einmal um, sehe an der grauen Front des Zuchthauses empor. Über dem igen des Tores stehen in den Stein gehauen die Worte: «O Maria». Die Straßen sind leer. Die Fenster sind geschlossen, die Vorhänge heruntergelassen. Aus dem Hotel «Zum Deutschen Kaiser» tritt verschlafen der Oberkellner mit fleckiger weißer Schürze. Er sieht mich, und die Hand, die er zum Gähnen an den Mund gehoben, bleibt in halber Höhe. Aus einer Weinkneipe kommen eine Anzahl Herren. Sie bleiben plötzlich stehen und sehen mich an. Ich schließe die Augen und gehe vorüber. Ihre Blicke brennen mich so im Rücken, daß ich die Schultern zusammenziehe. Wir kommen auf eine breite, baumbepflanzte Chaussee. Der Boden knirscht bei jedem Schritt. Die riesigen Ulmen breiten in der Frühsonne ihre Zweige hoch und gewölbt über uns. ich
atme tief auf. Der Morgenwind fegt mir den Staub der Zelle aus den Lungen. Wir schreiten rasener aus. «Wo ist der Turmberg?» frage ich. Ich weiß, es ist ein Turmberg nahe bei der Stadt. Der Beamte zeigt schweigend mit dem Daumen über die Schulter. Ich drehe midi um, da liegl die Stadt, ein Gewirr von braunen und schwarzen Dächern, mitten darin hoch und grau eine Mauer mit vielen schwarzen kleinen Vierecken. Die Straßen der Vorstadt greifen mit langen Annen weit in das platte, leicht gesenkte Land. Ich sehe keinen Berg und bin enttäuscht. Ein Arbeiter radelt uns entgegen. Er wendet sich auf seinem Rade mir zu, ich schaue hinter ihm her, er fährt noch lange mit zurückgedrehtem Kopf. Der Bahnhof, ein kleines rotes Gebäude vor holprigem Pflaster, steht inmitten dichter Büsche. Der Beamte führt mich schnell durch die Sperre, hält mich am Ärmel fest. Eine Frau mit großem Tragkorb weicht mir mit hastiger Bewegung aus. Bahnbeamte gehen langsam vorbei. Reisende kommen, mit Koffern und Schachteln. Wir stehen hinter einer Säule. Weit führen die Stränge der Schienen ins Land. Das Gras zwischen den braunen Steinen ist voller Tau. Der Zug kommt, donnert an mir vorbei, der Sammelwagen hält gerade vor mir. Eine Tür wird aufgerissen, ich klettere mühsam hoch, die Fesseln fallen. Ein schmaler Gang, an dessen beiden Seiten numerierte Türen sind, verliert Sich ins Dunkel. Eine Tür fliegt auf, der Zugwachtmeister gibt mir einen kurzen Stoß, ich trete ein, die Türe schließt sich, Der Raum ist gerade so groß, daß ich auf der engen Seitenbank sitzen kann. Wenn ich mit gekrümmten Knien auf der Bank stehe,
kann ich den Kopf an das schwarze feste Innengitter legen und sehe durch einen der schmalen, senkrechten Spalte ins Freie. Der Zug fahrt an. Ich presse dieAugen an das Gitter und klammere mich mit den Händen an der Wand fest. Bald fangen meine Beine an zu zittern. Bauernhäuser fliegen vorbei, Büsche, die länglichen Vierecke gelbreifer Kornfelder. Da ist eine Schranke, ein Fuhrwerk steht davor, der Bauer hat eine Pfeife im Mund. Ein Kirchturm ragt über Bäume. Kleine Stationen kommen, ich kann ihre Namen nicht lesen. Jedesmal,wenn der Zug anfährt, wippe ich mit den Knien, um nicht zu stürzen. Allmählich schmerzen meine Augen, die Zugluft streift sie scharf. Ich wische die Lider aus, bereue es sogleich. Ein Lastauto ist mir entgangen, ich sehe die graue Plane gerade noch entschwinden.Reklameplakate stehen mitten im Feld. Zäune knattern vorbei, die roten Mauern einer Fabrik. Die Landschaft ist menschenleer. Der Horizont verschwimmt im Dunst. Eine größere Stadt kündigt sich durch lange Reihen von Güterwagen auf Nebengleisen an. Wir fahren nun schon etwa eine Stunde. Der Zug bremst kreischend. Plötzlich knarrt meine Tür, ich fahre herum und poltere von der Bank. «Raus», sagt der Beamte. «Geht's denn nicht weiter?» frage ich erstaunt. Der Beamte gibt keine Antwort. Ich klettere aus dem Wagen, drei Schutzpolizisten stehen draußen und ein Mann mit einem Schäferhund. Mir werden die Fesseln angelegt, ich blicke unterdes den Bahnsteig entlang. Viele Menschen starren neugierig zu mir her. Wir gehen durch die Sperre, rechts und links faßt mich einer von den Polizisten, vor mir geht ein Polizist und hinter mir
folgt so dicht, daß er zuweilen mit seinen Stiefelspitzen meine Hacken trifft, der Mann mit dem Hund, Ich halte die Arme starr vor mich hin und blicke zu Boden. Wir gehen sehr schnell. Wir gehen durch Anlagen. Die Leute weichen schon von weitem aus, ich habe das Gefühl, daß sie alle stehenbleiben und mir nachblicken. Ich versuche, zynisch um mich zu schauen, aber es fällt mir sehr schwer. Wenn sie wenigstens wüßten, wer ich bin, denke ich; ich werde rot. Ich fasse mit den Händen nach meiner Mütze, um sie tiefer ins Gesicht zu rücken, die beiden Polizisten greifen sofort fester zu. «Ist das Liegnitz?» frage ich. Keine Antwort. Eine Dame mit zwei Windhunden bleibt stehen und zieht die Tiere an den Leinen zu sich. Sie hat einen hellen, großen Hut, der ihr Gesicht beschattet. Ich hätte gern ihr Gesicht gesehen. Wir überqueren einen Platz. Eine Straßenbahn fährt auf schmaler Spur vorbei, der Schaffner beugt sich über das Geländer der Plattform und sieht mich an. Bald ertrage ich das nicht mehr. Ich weiche scheu jedem Auge aus. Die Menschen streichen nun vorbei wie Schatten. Aber das erniedrigt mich noch mehr. Ich raffe mich zusammen und blicke einem Herrn fest ins Gesicht. Da wendet er den Blick. Ich blicke allen fest ins Gesicht und fühle mich sofort freier. Aus einem Torweg kommt ein kleines Mädchen in weißem Kleide, wohl sechs Jahre alt. Sie bleibt stehen, sieht mich an, zeigt auf einmal mit dem Finger auf mich und ruft: «Das ist der böse Mann!» Gott segne dich, du kleines helles Mädchen, und möge dich dereinst ein braver Bäckermeister freien.
In einer schmalen, schmutzigen Seitengasse liegt das Polizigewahrsam. Ein Beamter führt mich über ausgetretene Stufen einer wackeligen Treppe in einen großen Raum, in dem viele braune Betten stehen, nimmt mir die Fesseln ab und schließt mich ein. Ich eile sofort ans Fenster. Es ist groß, aber fest gefügt, die Gitterstäbe stehen sehr eng. Nichts steht in dem Raum außer den Betten, auf denen sich schmutzige graue Strohsäcke mit den wunderlichsten Beulen wölben. Ich schiebe eines der Betten an das Fenster und steige hinauf, um besser ausschauen zu können, aber mein Blick trifft auf eine Mauer. Ich gehe auf und ab. In mir ist alles kalt und tot. Ich registriere, was ich sehe, ohne darüber nachzudenken. Wahrscheinlich sind Wanzen im Zimmer, es riecht widerlich. Wanzen bin ich gewohnt. Im Zuchthaus habe ich immer Wanzen in der Zelle gehabt, zuweilen, wenn die morgendliche Strecke zu groß wurde, beschwerte ich mich, und es kam ein Gefangener, der die Ritzen des Bettes mit der Stichflamme einer Lötlampe abtastete, so daß der Rauch versengten Holzes und verbrannter Farbe noch tagelang die Zelle füllte. Auch hier war so gearbeitet wurden. Der Gefängnismief ist überall der gleiche. Ein Beamter bringt mir das Essen, dicke Graupen, fade und ohne Fleisch. Ich lasse es stehen, es ist mir nicht nach Essen zumute. Der Beamte kommt nach einer Stunde wieder, nimmt schweigend den vollen Kump fort. Nach einer Weile bringt er mir eine Zeitung. «Da haben Sie was zum Lesen», sagt er und verschwindet eilig wieder. Es ist das katholische Sonntagsblatt; ich lese es ganz durch. Eine Minute
später habe ich völlig vergessen, was drin steht. Ich gehe auf und ab. Gegen Abend kommt mit Gepolter eine Schar Männer, die Bündel und Säcke tragen. Sie füllen sofort den Raum mit Schreien und Fluchen, mich beachten sie anfangs kaum. Einige haben keine Schuhe an, ihre unsagbar schmutzigen Füße ragen aus zerschlissenen, fleckigen Hosen, die kaum noch zusammenhalten. Sie sprechen untereinander polnisch, ich verstehe kein Wort. Bald werden sie immer aufgeregter, und ich merke, daß sie sich mit mir beschäftigen. Ich stehe an dieWand gelehnt und schaue sie mir an. Sie verbreiten einen durchdringenden Geruch. «Hast du Tabak?» fragt mich einer. Ich schüttele stumm den Kopf Sie schnattern umeinander. Schließlich pocht einer an die Tür, der Beamte kommt. Sie reden erregt auf ihn ein. Ihr Sprecher sagt endlich in gebrochenem Deutsch, sie seien keine Verbrecher, sie seien polnische Wanderarbeiter, die bloß ausgewiesen werden sollten, man könne ihnen nicht zumuten, mit einem Zuchthäusler zusammen die Nacht verbringen zu müssen. Der Beamte sagt verlegen zu mir, ich solle ihm folgen, Er bringt mich in einen anderen, kleineren Raum, in dem schon ein alter Mann mit bloßen Füßen auf einem der beiden Betten sitzt. Der Alte war wegen Landstreicherei aufgegriffen. Ich frage ihn mit betonter Höflichkeit, ob es ihm was ausmache, mit einem Zuchthäusler zusammen die Nacht zu verbringen. Er grinst mich an, und der Beamte murmelt, er hätte leider keinen Einzelraum mehr für mich frei. Das Fenster dieser Zelle ist niedrig und offen. Ich lehne mich hinaus, soweit es geht. Ich blicke auf eine
schmale Straße mit niedrigen verwahrlosten Häusern. Kinder spielen im Rinnstein. Ab und zu gehen Arbeiter vorbei. Ein Fuhrwerk knarrt um die Ecke. Aus einer dunklen Haustür tritt eine Frau und ruft mit klagender Stimme: «Siegfried!» Der Laternenanzünder kommt, er dreht mit langem Stab den Gashebel und schultert die Stange, sobald das grünlichbleiche Licht angeflammt ist. Ich sehe noch seinen Schatten an der nächsten Laterne. Es wird dunkel. Der Alte hockt immer noch unbeweglich auf dem Bett. Ich bleibe Stunde um Stunde am Fenster. Die Kinder sind verschwunden. Die Lichter in den Häusern verlöschen. Ein junges Mädchen huscht aus der Nebengasse, sieht sich um und stellt sich dann in eine dunkle Ecke, dicht unter meinem Fenster. Ich sehe ihren Umriß. Sie hat ein Kopftuch um. Sie wartet lange unbeweglich. Ein Schritt hallt in der nächtlichen Straße. Das Mädchen ruft leise einen Namen, den ich nicht verstehe. Ene Gestalt schießt auf sie zu, sie treffen sich, umschlingen sich. Sie gehen langsam, eng aneinander gepreßt, die Straße hinauf, an der Laterne vorbei. Manchmal bleiben sie stehen und küssen sich. Sie verschwinden im Dunkel. Ich wende mich in die Zelle zurück und taste nach meinem Bett. Ich lege mich auf den Strohsack und ziehe den stinkenden Woilach hoch. Der Alte regt sich. Er hebt die Beine auf das Bett und streckt sich hin. Sein Atem geht röchelnd. Er hat noch kein Wort gesprochen. Ich sage: «Gute Nacht.» Schweigen. Plötzlich sagt der Alte ins Dunkel hinein: «Die ganze Welt kann mich am Arsche lecken.» Morgen. Ich stehe auf und wasche mich in einer schmalen, schmutzigen Schüssel, ohne Seife. Ich
trockne mich mit meinem Taschentuch ab. Der Alte liegt unbeweglich und zusammengekrümmt unter seinem Woilach. Ein Beamter kommt. Er fragt: «Wie heißen Sie?» Ich nenne meinen Namen. Er sagt: «Mitkommen.» An der Tür erwartet mich die gleiche Karawane wie am vergangenen Tag. Ich werde gefesselt, wir gehen durch die Stadt, Eine Schulklasse kommt uns entgegen, viele Kinder bleiben stehen, der Lehrer winkt, sie trappeln zögernd weiter. Herren mit Aktenmappen, Frauen mit Einholtaschen. Die Morgensonne liegt auf den Straßen, tüncht die Stadt mit schimmerndem Grau. Der Verkehr wird stärker. Viele Autos hupen vorbei, sie haben langgestreckte, blanklackierte Karosserien. Alle Gesichter wenden sich mir zu. Ich sage laut: «Die ganze Welt kann mich...» «Schweigen Sie!» unterbricht mich der Polizist zur Linken grob. Wir kommen an den Bahnhof, wir drängen uns durch die Sperre. Da steht schon der Zug. Viele Möwen fliegen, blitzschnell, weiße, flatternde Schatten, zwischen den Gleisen. Die Reisenden füttern die Vögel. Wenn sie mich sehen, hören sie damit auf. Ich klettere in den düsteren Sammelwagen. Ich zwänge mich in meine Koje und steige auf die Bank. Nach einer Weile kommt der Mann, der mich mit dem Hunde begleitet hat, und bringt mir einen Kanten Brot und ein in Papier gewickeltes Stück Speck. Der Zugwachtmeister bringt mir einen Topf heißen, dünnen Kaffee. Der Zug fährt. Ich zerre, indes meine Knie an das Holz der Kojenwand schlagen, Fetzen Speckes vom Stück und verschlinge sie. In der Nebenzelle summt einer ein Lied. Wenn der Zug hält, höre ich, wie sich die
Gefangenen von Fensterspalt zu Fensterspalt unterhalten. Es ist drückend heiß, Die Sonne flimmert auf den Feldern. Mir kommt es so vor, als hüte ich noch nie soviel Sonne gesehen. «Sagan», rufen draußen die Schaffner. Auf einmal ist Gepolter in allen Zellen. «Schatzi, Schatzi», flötet der in der Nebenkoje. Ich schaue angestrengt auf den Bahnsteig. Da gehen Schupoleute und haben ein Mädchen zwischen sich, ein Mädchen mit braunem groben Rock und Umschlagetuch, eine Gefangene. Das Mädchen hat kleine geringelte Locken an den Ohren, es wirft blitzschnell einen Blick auf mein Fenster, lächelt und geht vorüber. Gleich darauf höre ich Geräusche auf dem Gang. Die Gefangenen unterhalten sich laut und unbeirrt. «Puppe» ruft einer, hinten, an den letzten Zellen tönt Gekicher. «Ein feines Mädchen», sagt mein Nebenmann laut. Der Zug keucht langsam, und der Wagen schüttelt stark. An einer kleinen Station, mitten im Walde, bleiben wir liegen. Anscheinend ist der Wagen abgehängt worden. Ich sehe nur einen Busch dicht vor meinem Fenster und einen Stapel Baumstämme, von denen zähes Harz rinnt. Ein betäubender, stickiger Duft kommt aus dem durchbluteten Walde. Mein Hemd klebt von Schweiß, ich ziehe den Rock und die Weste aus. Der Nebenmann pocht an die Wand. «Woher kommst du?» fragt er am Fenster. Ich gebe ihm Antwort. Er kommt aus dem Zuchthaus Görlitz und soll nach Kassel zum Termin. Hat schon drei Jahre abgerissen und noch vier vor sich, ungerechnet das, was er in Kassel zu erwarten hat. ich nenne ihm meinen Namen und frage nach einem Kameraden, der auch in Görlitz sitzen soll. Ja, der sei da, Bibliothekskalfakter,
Ich frage aufgeregt nach Näherem. Die Hitze wird unerträglich. Ich streife auch das Hemd von den Schultern und sitze nun mit bloßem Oberkörper da. Die Beamten kümmern sich nicht um unsere Unterhaltung. Mein Nebenmann fragt laut, was mit der Puppe los sei. «Meineid zwei Jahre», kommt die Antwort. «Hallo, Schatzi!» «Hallo!» Das Mädchen hat eine helle Stimme. Sie lacht. Bald geht's nach Hause. Sie ist als Zeugin geladen nach Halle. Die Gefangenen lärmen, stöhnen über die Hitze, lachen über das Mädchen, das immer muntere Antworten gibt. Vier Stunden lang bleiben wir liegen. Allmählich ist es im Wagen still geworden. Endlich geht es weiter. Viel Wald und weite Flächen Bruch und Heide, dazwischen kleine Dörfer, die sich vom Himmel an den Boden drücken lassen. In Kottbus höre ich, wie im Gange Türen geschlossen werden. Eiligst ziehe ich mich an. Schwere Tritte und Schlüsselgeklirr. Ein Beamter schließt meine Tür, er fragt: «Wie heißen Sie?» Ich nenne meinen Namen. Er sagt: «Mitkommen.» Ich klettere mit steifen Gliedern aus dem Wagen. Draußen stehen schon in zwei Reihen geordnet die anderen, das Mädchen ganz hinten allein. Manche haben Zivil an, mit sauber gebügelten, schäbigen Hosen, manche die braune Kluft wie ich. Ich bin der einzige, der gefesselt wird. «Oh, das ist wohl ein Schwerer?» höre ich das Mädchen sagen, Ich drehe mich um und lache sie an. «Ein ganz Schwerer», sage ich, «dreifacher Lustmord!» Das Mädchen fährt etwas zurück, dann sagt sie energisch: »Das glaube ich nicht.» Sie sieht mich an und fragt: «Du bist wohl ein Politischer?» Der Beamte zerrt mich fort. Wir klettern
über einige Gleise und gehen an einem wartenden Zuge entlang. Sofort bevölkern sich die Abteilfenster, «Lassen Sie die Faxen!» sagt ein Polizist zu dem hinter mir schreitenden Gefangenen. Wir kommen an den neuen Sammelwagen. Ich steige als erster ein und sehe mich oben nach dem Mädchen um. «Heil Moskau!» ruft sie plötzlich. Der Beamte gibt mir einen Stoß und stopft mich in eine Zelle. In der neuen Zelle sind alle Wände dicht bekritzelt. Name steht neben Name, mit Bleistift geschrieben oder mit einem scharfen Gegenstand eingekratzt. Hinter manchem Namen steht ein Hakenkreuz oder ein Sowjetstern. Ich lese aufmerksam. Ich führe mit dem Zeigefinger Zeile um Zeile ab. Und da steht der Name Jörgs. Kein Zweifel, es ist seine Schrift. Mich erfaßt eine ungeheuere Fröhlichkeit. Ich drehe mir einen Knopf von der Hose und kratze sorglich gerade unter Jörgs Namen den meinen ein. Ich überlege mir, ob ich ein Symbol dazu zeichnen soll. Schließlich füge ich das Datum des Tages an. Die Monotonie der Fahrt ist unierbrochen. Plötzlich steht die ganze Zeit lebendig wieder auf. Ich hocke auf der Bank und halte die vom ununterbrochenen Herausblinzeln geröteten und entzündeten Augen geschlossen. Ich sitze so Stunde um Stunde. Es ist schon dunkel. Wir sind lange gefahren. Immer noch tönen Bruchstücke der Unterhaltung von Koje zu Koje. Wir fahren anscheinend in einen großen Bahnhof ein. Der Beamte kommt und fragt: «Wie heißen Sie?» Ich nenne meinen Namen. Er sagt: «Mitkommen.» Wie mich das alles anekelt. Draußen warten Polizisten.
Überall sind die Polizisten gleich. Sie reden das gleiche, sie haben den gleichen Ton in der Stimme und den gleichen Dreh im Handgelenk, wenn sie mir die Fessel anlegen. Wir gehen durch den menschenwimmelnden Bahnhof. Auch die Bahnhöfe sind überall gleich und die Menschen. Der grüne Wagen wartet vorm Portal. Wir steigen ein, das Mädchen sitzt abgesondert. Ich kaue langsam meinen Speck. Wir fahren rumpelnd, hören nur ferne Geräusche, Klingeln von Straßenbahnwagen und Autohupen, die sonderbar gespenstisch zu uns tönen. In einem dunklen Hofe werden wir abgeladen und eilig nach verbotenen Dingen durchsucht. Dann treten wir in eine große Zelle, in deren spärlichem Licht eine Reihe niederer Feldbetten stehen, ohne Bezüge, und mit Strohsäcken, die voller blutiger Fleckchen sind. In der Ecke steht ein blecherner hoher Kübel, der unsagbar stinkt. Wir sind zu sechst, ich erkenne einige an der Stimme wieder. Einer stellt sich mir höflichst vor, es ist der Nebenmann, der nach Kassel soll. Er sagt, er sei Essigfabrikant. Bald stellt es sich heraus, daß seine Fabrik aus einem Keller im Norden Berlins besteht, in dem der Fabrikant mit seinem Bruder zusammen Essig braut. Er unterhält die ganze Gesellschaft, die auf den Betten liegt und über die Wanzen flucht, die aus allen Falten der Strohsäcke kommen. Sie sprechen von Staatsanwälten, Zuchthausbeamten und Weibern. Das Thema Weib ist unerschöpflich. Einer erzählt mit heiserer, schleimiger Stimme Zoten. Es klingt, als tropfe ihm der Speichel aus den Mundwinkeln. Schließlich sagt der Essigfabrikant: «Jetzt aber Schluß mit den Schweinereien.»
Ich wache öfter auf. Von den Betten kommt Stöhnen und Fluchen. Die Luft im Raume ist schwer und stickig. Mir wirbelt der Kopf. Aus dem Magen steigt es zur Kehle. Ich taumele zum Kübel und kotze. Einer springt auf und schleudert mit wildem Ruck den Strohsack auf die Erde und steht wie ein Schatten davor und stiert zum Fenster. Andere werfen sich hin und her. Ich schlafe wieder ein und erwache im grauenden Morgen. Alle sind schon auf, einer dreht einen Skrind, der reihum geht. Auch ich nehme einen Zug, um den kotterigen Geschmack zu ersticken. Dann losen wir, wer zuerst auf den Kübel darf. Der Kübel ist so voll, daß der Kot über den Rand spritzt, wenn man ihn benutzt. Jedesmal, wenn der Deckel gehoben wird, geht eine Welle verpestenden Gestankes durch den Raum. Das Fenster kann nicht geöffnet werden. Wir sitzen stumpfsinnig, ungewaschen, unausgeschlafen und hungrig herum, die Gesichter stechen fahl aus dem widerlich grauen Dunst. Die Tür knallt auf, der Beamte kommt. «Wie heißen Sie?» fragt er mich. Ich nenne meinen Namen. «Mitkommen», sagt er. Ich gehe mit, onne mich noch einmal umzusehen. Der Zug zuckelt durch das Saaletal, ich lasse das Auge nicht vom fingerbreiten Fensterspalt. Da ist Naumburg. Ich denke an die Ute vom Naumburger Dom und an die Nacht in Halle, und es schüttelt mich. Ich versuche, das Gefängnis und das frühere Kadettenhaus in Naumburg auszumachen. Bald muß Bad Kösen kommen. Ich starre auf die bewaldeten Hänge und bin unbeschreiblich aufgeregt, Meine Lippen sind sehr trocken, und der Kopf glüht. Meine
Finger haken sich in das Gitternetz. Da endlich kommt Bad Kösen, Da oben geht der Waldweg zur Rudelsburg. Die Höhen schwingen sich in leichter Rundung zurück. Da ist die Saale wieder. Ich presse das Auge, fiebrig atmend, so nahe an das Gitter, daß das Weiße fast am rostigen Drahte klebt. Da ist die Rudelsburg, sie wächst aus dem gelblichen Fels. Jetzt, jetzt... Ich starre nach oben. Die Saaleck... Zwei graue Schatten, die Türme schießen gewaltig hoch, drehen sich langsam umeinander und sind vorbei. Kern, schreie ich ... Die Türme sind vorbei. Ich falle auf die Bank zurück, mein Kopf schlägt an die Wand. Der Beamte schließt die Türe auf und sieht mich an. «Ich werde Ihnen ein bißchen Luft lassen», sagt er und sichert die Türe durch eine kleine Kette, so daß sie eine Handbreit offen steht. Ich hocke auf der Bank und rühre mich nicht In Kassel verbrachte ich eine unruhige Nacht allein in einer sauberen Zelle. Der Zug halt in Marburg. Der Beamte kommt und fragt: «Wie heißen Sie?« Ich nenne meinen Namen. Er sagt: «Mitkommen!» Zwei Schutzpolizisten fesseln mich und nehmen mich In die Mitte. Wir gehen am Bahnsteig entlang. Überall stehen Studenten mit bunten Mützen. Wir gehen mitten durch sie hindurch. Sie schweigen verlegen, wenn ich vorbeikomme, treten etwas zurück und starren mich an. Ich betrachte mir aufmerksam die Gesichter. Sollten nicht Bekannte unter ihnen sein? Da, wahrhaftig, den kenne ich doch, den Dicken mit dem zerhackten Gesicht? Mit dem war ich doch in Oberschlesien zusammen? Natürlich, das ist er.
Ich gehe dicht an ihm vorbei, er steht mit seinen Kommilitonen. Ich sehe ihn eisern an, sein Blick streift mich verwundert, dann erkennt er mich. Er erkennt mich, fährt etwas zurück, seine Hand geht hoch, stockt, plötzlich dreht er sich mit kurzem Ruck um und starrt irgendwohin in die Luft. Ich bin vorbei, ich sage laut: «Der will sicherlich Staatsanwalt werden.» Der Beamte sagt: «Maul halten.» Ich steige müde in den neuen Wagen und sitze, ohne mich zu rühren, bis zur Ankunft an meinem Bestimmungsort. Des anderen Tages wurde ich vom Untersuchungsrichter acht Stunden lang ohne Unterbrechung vernommen.
1927 Zu vielen Vernehmungen wurde ich geführt, auf viele Fragen gab ich Antwort und unter viele Prottokolle setzte ich meinen Namen. Jedesmal, wenn der Untersuchungsrichter in das Vernehmungszimmer trat, hatte das dicke Aktenbündel, das er unter dem Arme trug, an Umfang gewonnen. Und als der Untersuchungsrichter nach der letzten Vernehmung die verstreuten Papiere zusammensuchte und in eine blaue Mappe packte, klopfte er triumphierend auf den Packen und sagte, die Voruntersuchung sei nun beendet, denn er habe hier ein genaues Bild der Vorgänge, um die es sich handelte. Aber ich konnte seiner satten Sicherheit nicht trauen. Ich hatte Gelegenheit genug, den
eigentümlichen Unterschied zu spüren zwischen dem, was ich mir in aufgewühlten Nächten bitteren Grübelns voll zurechtgelegt, und dem, was späterhin im Protokoll mit meinem Namen unterzeichnet war. Was dort in der gewölbten blauen Mappe auf dreitausend Seiten gelben Aktenpapiers geschrieben stand, das mochte mit Bienenfleiß Stück für Stück zusammengesucht sein, es mochte Material genug enthalten aus mannigfacher Zeugenbekundung, aus Polizeiberichten und Personenstandsaufnahmen, es mochte minutiös den Lauf der Tat verfolgen, es blieb doch fern und fremd den Dingen, die damals in Wahrhaftigkeit geschehen waren. Nichts, was in jener unsagbar verwirrten Zeit lebendig und bewegend war, stand wieder auf, sondern es erstand zu eignem schemenhaftem Leben, zu einer neuen Wirklichkeit, ein Vorgang, der erdichtet war von vielen Hirnen, von denen jedes eine anders sublimierte. So kam es, daß ich aus dem trocknen Nachhall einer Tat das Bild der Tat nicht wiedererkannte; so kam es, daß der Untersuchungsrichter immer genau da irrte, wo er die ganze Wahrheit zu wissen glaubte, daß von hundertundzwanzig authentischen Zeugenaussagen sechzig die anderen sechzig wieder aufhoben, daß die Anklageschrift sich als ein Dokument von erschütternder Ahnungslosigkeit erwies, daß in der Gerichtsverhandlung das Drama zur Komödie wurde. So kam es, daß der ermordete Oberleutnant Weigelt plötzlich ohne die entfernteste Ähnlichkeit mit irgendeiner Art von Wasserleiche im Gerichtssaal stand und seine Aussage machte. Er stand an sieben Tagen der Verhandlung mit gesenktem Kopfe vor der
Schranke, ohne auch nur einmal einen Blick auf die Anklagebank zu werfen, und antwortete widerwillig und stockend auf die Fragen, die der Vorsitzende und der Staatsanwalt und der Verteidiger an ihn richteten. Daß er sich bis zu einem Wasserwerk geschleppt habe, dessen Licht vom Tatort aus zu sehen war, gab er an und er wollte trotz der drängenden Fragen des ernsthaft blickenden Vorsitzenden nicht deutlich machen, warum er dem Pförtner, an den er sich um Hilfe gewandt, erzählt habe, er sei einem Raubüberfall von Unbekannten zum Opfer gefallen. Sicherlich wäre es dem Staatsanwalt sehr nützlich gewesen, auf seine eindringlichen Vorhalte hin zu erfahren, aus welchem Grunde Weigelt sich zwei Stunden vor seiner polizeilichen Vernehmung aus dem Krankenhause, in das er gebracht worden war, mit unbekanntem Ziel entfernte, so die Behörde der öffentlichen Sicherheit nahezu fünf Jahre lang in der beschämendsten Unwissenheit lassend über die geheimnisvollen Vorgänge jener Nacht. An die näheren Umstände der Tat könne er sich nur ganz dunkel noch erinnern, beteuerte der Zeuge Weigelt und erzählte dann hastig, er habe zwei Jahre lang unter falschem Namen als Pferdeknecht gearbeitet und nun sei er erster Ingenieur eines größeren Werkes. Nein, er habe kein Interesse an der Aufrollung dieses Falles, sagte er erleichtert auf die sanfte Frage des Verteidigers; es sei ihm im Gegenteil äußerst peinlich, was ihm mit Ausnahme des Staatsanwaltes jedermann im Gerichtssaal gern zu glauben schien. Der Staatsanwalt aber verteidigte sieben Tage lang mit beschwörendem Flattern des Haupthaares und der
Robenärmel die Welt seiner Akten. Er verwies mit aufgeregter Stimmkraft jeden seiner Hauptbelastungszeugen darauf, daß zu den Akten anders angegeben worden sei; aber er lockte jedesmal nur den zarten Vorwurf heraus, das sei eben auch anders zu verstehen. Er fuhr gleich einem Gummiball aus seinem Berg von Büchern und Papieren, um mit eifervollen Argumenten verwirrte Dinge noch mehr zu verwirren; aber er versank auch wieder aktenblätternd, wenn der Verteidiger mit wenigen sachten Zügen die verfahrene Angelegenheit ins günstige Geleise lenkte. Er focht, ein tapferer Löwe in der Wüste der Politik und der Gesetze, mit dem Gebrülle seines Zornes über die Verwerflichkeit der Welt; aber der Donner seiner Rhetorik konnte das Gekicher im Zuhörerraum ebenso wenig ersticken wie der wiederholte Mahnruf des entrüsteten Vorsitzenden, hier sei doch kein Theater. Mir aber schien es doch wie ein Theater. Ich saß fast unbeteiligt auf meinem Bänkchen und mußte mich immer wieder zwingen, dem Staunen darüber zu entfliehen, wie wenig mich im Grunde anging, was da verhandelt wurde, Ich hatte meine Aussage ins Tintenfaß hineingesprochen, das da auf dem Richtertische stand. Nun horchte ich auf die Geräusche dieses dumpfen Saales, in den ich plötzlich hineingepflanzt war, und die kleine Freude, den Trott der Zelle unterbrochen zu wissen, erstickte in dem ohnmächtigen Gefühl, Hauptperson und gleichzeitig ausgeliefertes Objekt zu sein. Was gingen mich die Reden an, die da hin und her gingen zwischen Staatsanwalt und Verteidiger, zwischen Vorsitzendem und Zeugen? Ich raffte mich auf und lauschte und
erhob mich und stellte Fragen und erläuterte und rief dazwischen. Hier galt es ja wohl, sich zu wehren, dachte ich, und ich verfing mich in der Lust, hier mitzutun und den Staatsanwalt zu ärgern und die Geschworenen, die mit vorgeneigten Köpfen und gerunzelten Stirnen auf mich starrten, einzufangen und die Belastungszeugen zu verwirren. Sicherlich hatte das, was hier verhandelt wurde, sehr viel mit mir zu tun und sehr viel auch mit dem Gang des Verfahrens, aber mit der Tat, die zur Verhandlung stand, hatte es gar nichts zu tun. Da starrten aus der Tiefe des Raumes hundert Augenpaare auf mich, da zappelte ein aufgeregter Herr in schwarzer Robe und mit rutschendem Kneifer, da saßen Beamte in grüner Uniform und mit gewaltigen Schnurrbärten. Das las ein Mann mit Barett aus knisternden Papieren vor, und da stand ein stotternder Jüngling mit erhobener Schwurhand. Aber was hatte das mit der Tat zu tun? Da wälzte der Verteidiger die Bände der Reichsgerichtsentscheidungen, da machte der Geschworene Notizen, und da saßen die wahren und großen Sachverständigen am Pressetisch und schrieben, die verbrecherischen Anlagen des Angeklagten seien schon klar ersichtlich aus der Struktur seiner fliehenden Stirn und den nahe beieinanderliegenden Augen, oder sie machten die Leser auf die durch Zeugenaussagen erhärtete Tatsache aufmerksam, daß der Angeklagte schon in frühester Jugend aus dem Garten des Nachbarn Äpfel gestohlen habe. Und da kamen die Kameraden der Reihe nach in den Saal, die früheren Kameraden, die ich kaum wiedererkannte und die mich kaum wiederzuerkennen
schienen. Sie kamen und warfen einen schnellen Blick nach meinem Platz, und bauten sich vor dem Richter auf und sagten ihr Sprüchlein her. Und ich sah sie an und nichts wollte sich melden von dem, was einstmals uns aneinander band. Das waren gutrasierte Herren in schwarzen Röcken, die da standen, sie gaben ernsthafte bürgerliche Berufe an und schienen jederzeit bereit, die ihnen zustehenden Zeugengelder zu kassieren. Sie setzten sich auf die Zeugenbank, wenn sie entlassen waren, und betrachteten mich so verstohlen, wie sie mich grüßten, wenn ich zu ihnen hinsah. Sie standen, wenn ich in meine Zelle zurückgeführt wurde, auf den Gängen des Gerichtes herum und winkten mir und schüttelten meine Hand, wenn es anging, und dann begaben sie sich zum Mittagessen, und ich hatte mich sehr gefreut, sie wiederzusehen. Dann war noch Weigelt da, der ziemlich einsam auf seinem Stuhle saß; wenn ich herausgeführt wurde, ging ich dicht an ihm vorbei. Weigelt! Ja, Weigelt hatte ziemlich viel mit der Tat zu tun. Das Gericht beraumte einen Lokaltermin an. Genau an dem gleichen Tage, an dem vor fünf Jahren die Tat geschehen war, zur selben nächtlichen Stunde und an demselben Orte stand ich mit Weigelt und sollte demonstrieren, wie das damals gewesen war. Und ich packte ihn und drängte ihn an das Geländer, und unten klickerte das dunkle Wasser, und da stand Kern und so hatte ich den Weigelt... Und wie ich seinen Kopf an das Geländer duckte, und er das Bein hob, zuzustoßen, da wandte er den Blick und drehte mühsam unter meinem Griff den Hals und sah zum erstenmal mich wieder an und lächelte
verzerrten Mundes. Da sprang der Funke jenes Einvernehmens auf, da wir die Tat erkannten, und durch den Bann der Tat einander, und erkannten, daß, was unter ihrem Bann geschah, nur ihn anging und mich. Da ging es nicht um das Gesetz der Menschen, dem Mörder und dem Opfer ging es nicht darum, wie konnte das Gesetz nun Sühne heischen für die Tat und Strafe für den Mörder? Und Weigelt machte sich mit rascher Armbewegung frei und sagte laut ins Dunkel zu der Schar der Herren, die das Gesetz vertraten, nun könne er sich ganz genau erinnern, daß ich in jenem strittigen und ungeklärten Augenblick am Wasser vom Mordversuch zurückgetreten sei... Ich wurde drei Tage später wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, Man brachte mich zur weiteren Strafverbüßung in die Landesstrafanstalt. Es war dies ein neueres Gebäude mit ein wenig größeren Zellen, die in drei von einer Zentrale aus beherrschten Flügeln lagen. DieZelle bot das gleiche Bild wie jene, die ich bislang bewohnt. Es waren dieselben Typen von Beamten, die hier Dienst taten, es war derselbe Mief in den Gängen und dieselbe Auswahl von Gefangenen, die als Kalfakter von Zelle zu Zelle liefen. Es war alles so, wie ich es gewohnt war, und lange dauerte es nicht, bis ich glaubte, daß nichts sich verändert habe und daß sich niemals auch etwas verändern werde. Die täglichen Redensarten wechselte ich mit den Beamten und die tägliche Arbeit wurde täglich in die Zelle getragen, ich führte der täglichen Kampf um kleine Vergünstigungen, um ein Stück Bleistift, um ein Buch, um einen Brief, ich
schloß den täglichen Spaziergang mit dem gewohnten kleinen Seufzer ab. Und die täglichen Gerüchte über eine neue Amnestie waren auch da, Der Direktor hatte große Bedenken, mir die gleiche Spazierstunde zu gestatten wie den Gefangenen der dritten Stufe. Denn in dieser Anstalt waren mehrere Kommunisten inhaftiert, und der Herr Direktor konnte nicht umhin, mich vor ihnen zu warnen. Das seien doch ganz ungebildete Elemente, sagte er, und sie trügen nur Unruhe unter die Gefangenen, und ich solle mich ja nicht mit ihnen abgeben. Aber ich drang darauf, keine Sonderstellung einzunehmen, und nahm von vornherein an, daß der Herr Direktor die Kommunisten mit fast den gleichen Worten vor mir gewarnt hatte. Die Kommunisten gingen zur Freistunde in kleinen, festgeschlossenen Grüppchen und waren daran zu erkennen, daß sie nicht das Abzeichen der dritten Stufe trugen. Ich betrachtete sie neugierig bei meinem ersten Spaziergang, sie schienen sich aber nicht um mich zu kümmern. Einmal aber, als ich ein wenig langsamer ging, zogen sie in ruhigem Gespräch an mir vorbei, und einer hob die Hand beinahe militärisch an die Mütze und sagte mit freundlicher Vertrautheit: «Guten Tag, Fähnrich!» Ich sah ihn überrascht an, und er verzog das Gesicht und meinte: «Ich denke, Fähnrich, wir beide haben schon einmal in derselben Scheiße gesessen.» Und schob seinen Arm unter den meinen und sagte: «Das ist nicht nett von dir, daß du den alten Korporal Schmitz nicht wiedererkennst!» Da beteuerte ich ihm, daß ich nicht zu stolz geworden wäre, mit einem verdammten Zuchthäusler Arm in Arm zu gehen, wenn es ein alter Kamerad aus dem Baltikum sei, und wir
zogen einträchtig miteinander des Weges und ließen den Aufsichtsbeaten verblüfften Gesichtes hinter uns hersehen. Schitz halte vier Jahre Zuchthaus wegen Verbrechens gegen das Sprengstoffgesetz. Ob bei Rotfront mehr Ruckzuck sei als im Baltikum, fragte ich ihn, und er antwortete unerschütterlich, wenn auch nicht mehr Ruckzuck, so doch mehr Sinn. Darüber gerieten wir in Streit und wir stritten uns an diesem Tage wie am nächsten, wir wiesen uns erbittert gegenseitig bürgerliche Denkungsweise nach, und es machte ihm nichts aus, zur Stützung seiner Thesen sich auf die Heilige Schrift zu berufen, und mir nichts, zum Beweise meiner Behauptungen das Kommunistische Manifest anzuziehen. Wir stritten uns beide noch an dem Tage, auf den wir, ohne es uns eingestehen zu wollen, mit der gleichen brennenden Hoffnung gewartet hatten, an dem achtzigsten Geburtstag des Reichspräsidenten; es sei inkonsequent von ihm, sagte ich, die Begnadigung anzunehmen, und er sagte, es sei liberale Eitelkeit, sie zu verweigern. Aber als das Amnestiegesetz in Kraft trat, wartete ich vergeblich an der Zellentür,ob man mich nicht bald zum Direktor rufe, ich wartete mit einer zitternden Verzweiflung, die ich mir erbost hinwegzuschelten versuchte, und ich wußte nicht, ob ich losheulen oder loslachen sollte, als ich Schmitz und seine Genossen in Zivil mit Schachteln und Koffern über den Hof zum Tore ziehen sah, als ich gleich darauf den schmetternden Tusch der Rotfrontkapelle hörte und die Beamten grinsend erzählten, die Kommunisten seien draußen mit Blumensträußen und Lorbeerkränzen empfangen worden.
Die Glocke von der Zentrale hämmerte ihre drei Schläge. Ich stand vorn Scheniel auf und stellte mich an die Tür und tastete wie so oft mit den gespreizten Fingern gedankenlos den Eisenbeschlag ab. Draußen auf dem Gang knallten die Zellentüren, Schritte schlurften vorüber. Ich aß hastig an meinem Brot, gleich mußte der Gesang anheben. Jeden Sonnabend vor Einschluß wurde vom Gefangenenchor der Feierabend eingesungen. Wenn sie nur nicht immer so sentimentale Lieder sängen, dachte ich, «Wenn ich den Wandrer frage» oder «Nach der Heimat möcht ich eilen» — und ich ärgerte mich, daß ich doch immer lauschte, das Ohr an der Ritze der Tür, und mich nicht regte, bis das Lied zu Ende war. Da huben sie an: «Es ist bestimmt in Gottes Rat...» Ich lehnte die Stirn an die Wand der Schwelle.Der kalte Stein machte mich ein wenig frösteln. Das ist nun mein Leben, dachte ich, und sah auf meine Finger, die am Eisen des Beschlages lagen. Die Finger waren dünn und weiß, und die schwarzen Ränder unter den Nägeln machten sie fremd und tot. Ich blickte aufmerksam auf die Hand. Es war die Hand eines alten Mannes. Ich ging, indes sie draußen sangen, auf den Zehenspitzen zum Spiegel und sah hinein. Die Haare waren dünn und farblos geworden, sie ließen weit die Stirne frei, und das Gesicht war grau, die Haut ledern, und um die Augen zog sich ein Geflecht winziger Falten. Ich öffnete den Mund, die Zähne waren alle gelb und brüchig, das Zahnfleisch blaß. Ich setzte mich auf das herabgelassene Bett und dachte daran, wie müde ich den ganzen Tag sei, und konnte doch das Nachts nicht
schlafen, und da war so eine taube Stelle im Kreuz, die manchmal wieder schmerzte. Wie alt bin ich eigentlich, rechnete ich nach, und erschrak, daß ich nachrechnete. «Ich bin jetzt fünfundzwanzig Juhre alt», stellte ich laut fest und legte mich dann aufs Bett. Der Gesang war fertig, und der Kalfakter hieb den Riegel vor. Das Licht verlosch. Draußen im Walde, der sich hinter der Mauer einen sanften Abhang hinaufschob, schrie klagend ein Käuzchen. Vor zehn Jahren war ich noch Kadett. Da lebte ich in den roten Mauern des Hauses in Lichterfelde. Jetzt waren die Mauern, in denen ich lebte, grau. Das war ja wohl ein bißchen sinnlos, mein Leben, wie? Nein, das war verdammt nicht sinnlos. Nur die Tatsachen dieses Lebens waren sinnlos. Aber Tatsachen sagen ja nichts Entscheidendes aus. Weigelt war noch in der Pause zwischen dem Schluß der Beweisaufnahme und dem Beginn der Plaidoyers zu mir in die Wartezelle gekommen und hatte atemlos gesagt, er wünsche mir viel Glück, und das damals sei ein Warnungsschuß für ihn gewesen, und er sei nun ein anständiger Mensch geworden. Er war ein anständiger Mensch geworden. Die Kameraden waren auch anständige Menschen geworden. Der Staatsanwalt, derselbe, der mit dem Pathos der Gerechtigkeit fünf Jahre Zuchthaus für mich beantragt hatte, derselbe, der Einspruch gegen meine Begnadigung erhob, war noch vor meinem Abtransport ins Zuchthaus bei mir gewesen und hatte mir gesagt, er habe immer nur mein Bestes gewollt, er tue nur seine Pflicht. Der Staatsanwalt war auch ein anständiger Mensch. Alle waren anständige Menschen. Es gab überhaupt nur anständige Menschen auf der Welt. Es ist
Einbildung, daß es Schurken gäbe. Ich überlegte mir, ob ich schon einen Schurken kennengelernt hatte. Nein, ich hatte keinen kennengelernt. Unter den Kameraden nicht und unter den Gegnern nicht und nicht unter den Gefangenen und selbst nicht unter den Beamten. Der Mensch ist gut, dachte ich, und spürte die volle Würde meines Hohns. Der Mensch ist gut, und es kommt auf ihn nicht an. Wenn mir die Gerichtsverhandlung eines gesagt und gezeigt hatte, dann war es die Gewißheit, daß der Kampf der Geächteten zu Ende war. Der Staatsanwalt hatte mit tragischer Gebärde die schauerlichsten Hintergründe aufgerollt, er hatte die O. C. beschworen, und alles hatte gelacht, wie über den Butzemann, der einmal ging im Reiche herumdibum. Die Zuhörer hatten gelacht und die Zeugen und die Kameraden und. die Justizwachtmeister. Am Pressetisch hatten sie gegrinst wie die Honigkuchenpferdchen am Weihnachtsbaum, und selbst der Kommissar, der von der IA Berlin zur Beobachtung des Verfahrens entsandt war, hatte geschmunzelt. Es war vorbei und alles war umsonst. Ich stand auf und ging hin und her. Dann war auch mein Leben verpfuscht. War es denn verpfuscht? Es war ungeheuer reich geworden. Es gab keine Sekunde meiner Vergangenheit, die ich missen mochte. Und was mir in der Kehle saß, wie ein würgender Pfropfen, das war nur die Furcht, keine Aufgabe mehr zu haben. Das war dieselbe Furcht, vor der sich die guten Menschen retteten in das, was sie mit verlogener Schleimigkeit Pflicht nannten. Das, was wir getan hatten, genügte nicht. Es mußte aus unserem Tun die neue Aufgabe
wachsen, oder wir hatten geirrt. Ich wußte, daß wir nicht geirrt hatten. Ich wußte, daß wir gar nicht geirrt haben konnten. Denn wir hatten nach dem drängenden Willen der Epoche gelebt. Und überall war uns die Bestätigung unseres Tuns zugewachsen. Wir hatten gefährlich gelebt, da die Zeit gefährlich war, und da die Zeit chaotisch war, war alles, was immer wir dachten oder taten oder glaubten, chaotisch. Wir waren besessen von dieserZeit,besessen von ihrer Zerstörung, und besessen auch von dem Schmerz, der die Zerstörung erst fruchtbar machte. Wir hatten uns an die einzige Tugend, die diese Zeit verlangte, die der Entschiedenheit, herangeworfen, weil wir den Willen zur Entscheidung hatten, wie diese Zeit ihn hatte. Die Entscheidung aber war nicht gekommen. Noch immer stand da eine Welt, der es vor sich selber graute. Nein, der Kampf war noch nicht zu Ende. Jedermann spürt, daß er noch nicht zu Ende sein kann. Und wenn die Welt der Geächteten versunken war, weil die Zeit sie aus ihrem Bann entließ, die Aufgabe blieb. Wir nannten uns einstmals Revolutionäre, und wir hatten ein Recht, dies zu tun. Wir, die wir um die Verwandlung der deutschen Lage rangen, hatten mehr Recht dazu als jene, die ihren Kampf führten um eine Verlagerung ihrer sozialen Position. Jene kämpften, weil sie keine Herrschaft anerkennen wollten, die legitim, wir, weil wir keine anerkennen wollten, die illegitim war. Die Herrschaft aber, die wir anzugreifen die Aufgabe hatten und immer haben werden, war illegitim, weil sie sich auf eine Werteordnung stützte, die von den Bedürfnissen der Menschen diktiert war,
und nicht von jener ewigen, tieferen Gewalt, um derentwillen es erst notwendig war, Bedürfnisse zu haben. Wir hatten uns immer auf diese Gewalt berufen, auf nichts anderes. Wir hatten uns nie berufen auf Parteien und Programme, auf Fahnen und Zeichen, auf Dogmen und Theorien. Und wenn unsere Haltung ein Gerichtetsein bedeutete, dann darum, weil sie es sich zum Ziele setzte, die Gewalt gegen die Erscheinungen, das Leben gegen die Konstruktionen, den Rang gegen das Glück, die Substanz gegen die Verfälschung durchzusetzen, dann darum, weil es uns nicht genügte, nach dem Sinn des Kommenden zu fragen, sondern auch nach den Maßstäben. Da war die Aufgabe. Es gab nur ein einziges Verbrechen, das, sie nicht zu erfüllen. Das Feld war weit und offen, auf dem der Kampf Gottes und der Dämonen spielte. Und dieses Feld, bewaffnet mit der letzten Inbrunst eines Willens, eines Glaubens, zu durchstreifen, bereit, sich zu entscheiden, das konnte einzig nun die Forderung an den Einzelnen bedeuten. Ich schlief sehr getröstet ein.
Frei Fünf Jahre lang halte ich jeden Morgen dasselbe Gefühl: Dies ist der trübseligste, hoffnungsloseste und düsterste Tag, den ich erleben kann. Fünf Jahre lang hatte jeder Tag nur dadurch seinen Sinn, daß er
vorüberging, war jeder Tag nur ein Schritt zum ersten Tage der Freiheit. Fünf Jahre lang kreisten meine Gedanken um diesen ersten Tag, um die ersten vierundzwanzig Stunden und ihren unsagbaren Gehalt an Sonne, Weite und Leben. Der schrille Klang der Glocke von der Zentrale fuhr jäh in meine Träume. Aufschreckend hörte ich ihren blechernen Nachhall, der beleidigend die schwere Luft des Baues zerriß. Matt und zerschlagen richtete ich mich auf, blickte stumpf auf die schwarzen Wände, auf das graue, von den Gitterstäben zerteilte Viereck des Fensters. Ich überlegte mir, wie ich den Tag beleben könnte. Vielleicht kam der Arzt auf fünf Minuten zu mir. Ich könnte mir das Schlafpulver verlängern lassen. Ich taumelte ans Fenster und ließ das Oberlicht herab. Aber die Welle kalter Luft konnte mir den Kopf nicht frei machen, der von dieser Nacht mit ihren wüsten Fratzen, ihrem stinkenden Schweiß, ihrem fauligen Atem noch so benommen war, daß jeder Gedanke schmerzte. Auf dem Gang knallten die Türen, in das Schleifen der Brotkörbe mischte sich das Geklapper der Holzpantinen der Kalfakter, das Klirren der Eisenkessel. Ich tastete mich zum Kübel, hob ihn mühsam aus dem Gestell und stellte mich mit angehaltenem Atem an die Tür. Der Kübel war voll, der Deckel schwamm in den wassergefüllten Rillen. Ich preßte den Mund an die Ritze der Tür und sog den kühlen Hauch des Ganges ein. Ins Schloß rasselte der Schlüssel. Der Beamte drehte das Licht an, das grell mir in die blinzelnden Augen schoß. Ich stellte den Kübel vor die Tür und nahm in die beschmutzten Finger das Brot. Die Tür knallte zu, ich schlüpfte in die
Kleider, in die grauweißgestreifte Kluft, in die klobigen Stiefel. Nach kurzem Waschen in der schmalen Schüssel räumte ich, wie jeden Tag, die Zelle auf, klappte das eiserne Bett an der Wand hoch und hockte mich auf den Schemel. Das Brot aß ich, langsam kauend, nur, um den Priem nicht auf nüchternen Magen zu nehmen, ich mußte mich mit dem Pensum beeilen. Die fünfundsechzig Meter Bast, die ich zu flechten hatte, beherrschten den ganzen Tag. Sechzehntausendmal mußte ich dieselbe Handbewegung machen; wenn ich am Ende des Monats wieder sechs Pensen zu wenig ablieferte, würde mir der Direktor, der mich für ungenügende Arbeit zu bestrafen freilich nicht wagen durfte, Tütenkleben zuweisen, und das war noch stumpfsinniger. Der feuchte, muffige Bast färbte meine Finger. Verworren drangen die Geräusche des Ganges und der Zentrale zu mir; die Glocke gellte und teilte den Tag ein. Um halb zehn Uhr, als ich die Schlüssel immer näher an meine Tür heranklirren hörte, stand ich müde und verdrossen vom Schemel aaf und band mir das Halstuch um, zum Spaziergang. Der Beamte kam, ich trat hinaus und ging im gewohnten Trott mit acht Schritt Abstand hinter dem Zellennachbar her. Auf der Zentrale stand mit Würde der Hauptwachtmeister. Als er mich sah, beugte er sich über das Geländer und sagte: «Geben Sie mir Ihr Arbeitsbuch!» Das Arbeitsbuch wurde außer derZeit nur von Gefangenen verlangt, deren Begnadigung eingetroffen war. Ich blieb erschrocken stehen und sah zum Hauptwachtmeister hinauf. Der blieb in unbewegter Haltung, trommelte nur, ungeduldig, wie mir schien, mit den Fingern auf dem Geländer. Ich machte mit
leerem Herzen kehrt, ging zur Zelle zurück und holte das Arbeitsbuch. Der Hauptwachtmeister nahm es, blätterte ein Weilchen darin, dann steckte er es ein und verschwand. Ich trappte eilig hinter den anderen her durch die langen Gänge. Der enge Hof mit der hohen Mauer tat sich vor mir auf. Die Dezembersonne war kalt, und der Wind pfiff um die Ecken. Ich blieb auf der Höhe der Treppe eine Sekunde stehen, wie immer, und sah den schmalen Streifen von der Welt, den man einzig hier von dieser Stelle aus sehen konnte: ein Streifen Wiese, eine Landstraße, verschwimmende, menschenleere Hügel. Da faßte mich ein Beamter am Arm: «Sie sollen nochmal zur Zentrale kommen!» Auf der Zentrale stand mit feierlichem Gesicht der Direktor. Ich konnte auf einmal kaum mehr atmen. Der Direktor sah mich prüfend und mit kalten Augen an, Ich blieb vor ihm stehen, beinahe befriedigt, daß ich mich wieder einmal offensichtlich getäuscht. Der Direktor sagte: «Ich habe Ihnen eine freudige Mitteilung zu machen ...» «Wann, wann...?» schrie ich auf. Der Direktor streckte mir lachend die Hand entgegen und sagte: «Sie können um elf Uhr entlassen werden.» Ich riß mich zusammen. Eine Sekunde zögerte ich, dann schüttelte ich doch die gereichte Hand. Ich drehte mich taumelnd, stolperte die Treppe hinunter und lief dann mit fast geschlossenen Augen auf meine Zelle zu. Da stand der Hauptwachtmeister, er schloß auf, faßte nach meinem Handgelenk und sagte: «Puls 250!»
Ich kam nicht zur Besinnung. Ich warf meine Sachen, Bücher, Hefte, Bilder, Briefe in eine Kiste, von dieser Kiste in eine andere, und es wurde mir nur dumpf bewußt, daß dies Gerümpel alles in sich schloß, was in den fünf Jahren mir einzig von Wert und einzig zur Freude war. Die Tür flog dauernd auf und zu. Der ganze schwerfällig bureaukratische Apparat der Strafanstalt geriet knarrend in Bewegung und räusperte sich, um mich auszuspucken. Ich mußte die Sachen packen, baden, abrechnen, mich rasieren lassen; ich lief von der Zelle zur Kammer, von der Kammer in die Kanzlei; ich rannte blind an den Beamten vorbei und sah, daß die Gefangenen, die mir begegneten, mich so anblickten, wie ich Jahr für Jahr die Entlassenen und Begnadigen angesehen hatte, mit feindlichem Neid. Auf einmal war ich ihnen fremd, ausgeschlossen von ihrer gedrückten Gemeinschaft. Und gerade so viel Zeit hatte ich zur Selbstkontrolle, um mich zu schämen, daß sie mir, auch mir auf einmal schändlich wurden, Ausgestoßene, Verachtete. Gerade so viel Zeit hatte ich, um zu spüren, wie das betrogene Herz gegen das Hirn pochte, und wie das Hirn ärgerlich beiseiteschob, was sich bebend melden wollte. Kleinkram füllte mich aus und ließ dem Bewußtsein nur dumpfes, verschleiertes Gefühl. Im Grunde hatte ich Furcht. Furcht vor der Freiheit? Furcht vor dem Wandel, vor der Erlösung aus der Starre? Löste sich denn die Starre? Ja, sie löste sich, aber sie setzte sich nicht in Freude, sie setzte sich in Bewegung um, in zitterndes, eiliges, nervöses Bewegen, als hätte ich keine Sekunde mehr zu versäumen, als sei jeder Augenblick jetzt wichtig, trüge die Vielgestalt der Welt in sich, erfülle mein ganzes Sein und lasse nicht Raum
für klares Empfinden und Wollen. Wann war es, daß ich schon einmal in dieser ungeheuren Spannung stand, daß ich erlebte, tief und intensiv erlebte und doch nicht zum Erleben kam? Damals, vor dem ersten Gefecht? Und dann stand ich in der Abgangszelle, streifte bebend die grauen, widerlichen Kleider ab, schlüpfte in das weiße, gestärkte, knatternde Hemd, schleuderte die schweren, genagelten Pantinen an die Wand, strich über feine Wäsche und Strümpfe mit plötzlich weich und empfindsam gewordenen Fingerspitzen — der Kragen, steif und schneeweiß, der seidene Binder, der Anzug aus blauem, gutem, griffigem Stoff, wie das saß und paßte, wie ich die krummen Schultern reckte, wie sich auf einmal das Selbstbewußtsein wieder herrisch erhob, die Freude am Augenblick! Ich setzte den Hut auf. Ich hob die leicht gewordenen Füße, ich zog die Handschuhe an; der neue Koffer stand mit blitzenden Schlössern an der Tür, die sich öffnete und den Weg freigab, den Weg zum Tore... Fünf Jahre lang dachte ich an den Moment, da das schwere Zuchthaustor hinter mir zuschlagen werde. Mußte mich das nicht durchzucken wie ein elektrischer Schlag? Mußte sich nicht die Welt auftun, größer und herrlicher, als ich es ertragen könnte? Den ersten Gedanken in der Freiheit, den wollte ich mir bewahren bis an jenes andere Tor, das mich einmal verschlingen würde; der erste Gedanke in der Freiheit mußte alle Süßigkeit der Erde in sich bergen, oder es lohnte nicht, in Freiheit zu leben... Ich stand im finsteren Torweg. Ein Gefangener, der Hofkalfakter, klapperte in seinen Patinen auf mich zu, grinste und hob den Finger hoch: «Mit dem rechten Fuß
über die Schwelle, und ja nicht mehr umsehen! Sonst kommst du wieder!» — Ich lächelte schwach. Der Beamte an der Pforte schob die eisernen Türflügel auf, ein Streifen blassen Sonnenscheins erhellte den Torweg. Ich nahm den schweren Koffer auf und trat hinaus. Das Tor schlug kreischend hinter mir zu. Ich war frei. Ich dachte: «Werde ich auch noch den Zug erreichen?» Dies war mein erster Gedanke in der Freiheit. Ich ging durch die Dorfstraße. Der schwere Koffer raubte mir jegliche Form. Mir schien, als habe ich die niederen Fachwerkhäuser mit den großen Torbogen schon immer im Blick gehabt. Es war nichts außergewöhnlich. Einige Gänse bogen schnatternd um die Ecke, und die Dorfstraße war sehr matschig. Schien die Sonne nicht? Ich glaube, sie schien. Duftete es nicht herb und frisch und gar nicht mehr muffig? Ich glaube, es war so. Lächelte die Bauersfrau mit den breiten Röcken nicht freundlich? Vielleicht, aber vielleicht erkannte sie auch den entlasscncn Strafgefangenen, und der Blick war prüfend und mißtrauisch. Ich wußte es nicht. «Mensch, wach auf, du bist frei!» pochte das Herz gegen das Hirn, aber das Hirn antwortete ärgerlich: «Ja, ja, schön und gut, aber beeile dich, du mußt den Zug erreichen!» — Am Bahnhofsschalter öffnete ich den blauen Umschlag, den man mir in der Anstaltskanzlei gegeben hatte. Zum ersten Male war wieder Geld in meiner Hand, viel Geld, wie ich glaubte, es waren beinahe zwanzig Mark, der Arbeitsverdienst von fünf Jahren.
Als man mir die Luft und den Raum nahm, gab es anderes Geld. Ich beschaute verlegen die Münzen, drehte sie hin und her, Silbergeld und gelbe Groschen. Der Mann am Schalter gab mir die Fahrkarte; ich zählte mühsam ab, er sagte, mit den Augen zwinkernd: «Geld gezählt haben Sie wohl da nicht, woher Sie kommen!» Ich wurde sehr rot, war aber beinahe froh über die Fröhlichkeit des Mannes am Schalter, doch suchte ich seinetwegen ein leeres Abteil, als der Zug kam. Ich kam aus Enge und Starre. Jahrelang sah ich nur vertikale Linien und mein Blick prallte auf Mauern. Der Himmel stand zwischen den Gitterstäben wie eine Kulisse, eine Wand, unbeweglich und unfreundlich. Das bißchen Grün im Hofe war staubig, und die paar meist entlaubten Bäume standen vor grauen Flächen. Die Umwelt war einfach und eintönig. Jede Kleinigkeit bekam unverhältnismäßigen Wert, da einzig sie gerade Linien unterbrach und Flächen gliederte. So wurde der Mensch primitiv, dumpf, unelastisch. Was an Süchten und Träumen sich nicht ersticken ließ, das kam in den langen, schlaflosen Nächten und begehrte nach Weite, nach Luft, nach Gliederung, nach horizontalen, geschwungenen Linien, nach zitterndem, grellem Licht. Wie war der Wald? Ein Schrei des Vielgestaltigen! Wie konnte der Blick hinausschnellen über sanfte Wiesengefälle! Wie konnte man atmen in ungehemmter, streichender Luft! Frei und lebendig war die Landschaft in den Träumen der Zelle. Nun saß ich im Zuge, und die Landschaft bot sich in wechselnden Bildern an. Ich schaute durch das Fenster. Rechts stand der Wald mit strebenden Stämmen. «Ganz nett», dachte ich und sah begierig nach links. Dort
breitete sich geruhig das Feld. Und ich, der ich jahrelang nach dem Erlebnis der Landschaft gehungert hatte, ich zog, rein instinktiv, die Zeitung aus der Tasche, die mir der Arzt noch in der Abgangszelle gegeben hatte, und las. Bis ich erschrak und hochfuhr. Bis ich die Zeitung zusammenknüllte und in die Ecke warf und den Kopf auf die Holzbank legte. Ich war verzweifelt, und doch erschien mir die Verzweiflung wie schlecht gespieltes Theater. Ich kam nicht zum Erlebnis! Fünf Jahre lang stand ich außerhalb der Grenzen. Fünf Jahre lang hatte dumpfeste, trivialste, erkältendste Bürgerlichkeit untätig gelauert, um sich im ersten Augenblick der Freiheit auf mich zu stürzen, alle Regung erstickend. Der Alltag war also stärker als der hochgepeitschteste Mensch! Ich rief mir zu, vernünftig zu sein. Aber ich wollte nicht vernünftig sein. Ich wollte bei allen Teufeln nicht vernünftig sein! Verdammt wollte ich sein, wenn ich vernünftig würde. Aber konnte mir nicht die Zeitung ein lebendiges Bild vermitteln von den drängenden Kräften, die nun das Leben bestimmten? Ich warf die Zeitung zum Fenster hinaus, denn ich fürchtete mich vor meiner Bestechlichkeit. Ich sehnte mich mit Unruhe nach dem ersten Zusammenprall mit Menschenmassen, nach Bewegung, Hasten, nach der Vielheit der Straße und des Marktes. Der Zug fuhr in die Halle des Bahnhofes. Ich drängte mich fühllos durch die Sperre und stand auf dem Bahnhofspatz. Ich war nicht sonderlich verwirrt, aber zur Beobachtung von Einzelheiten mußte ich alles Denken ausschalten, mußte auf alle Vergleiche
verzichten, sonst wäre ich nicht zurechtgekommen. Die Unmasse der Autos, der Verkehr, das Jagen und Hasten, die knalligen Aufbauten der Reklame, all dies schien mir im Grunde vertraut, obgleich vor fünf Jahren das Sichaufeinandertürmen der Eindrucke nicht so wuchtig gewesen sein konnte. Was mich erschreckte und durchkältete, das waren die Menschen. Sie hatten keine Gesichter! Oder, sie hatten alle dasselbe Gesicht. Diese Menschen schienen wie gefesselt, sie schienen sich nicht des Raumes und der Weite bewußt zu sein. Sie gingen stur, freudlos und ohne Ausdruck, beinahe wie Maschinen, wie gutgeputzte, gesättigte, schnaufende Maschinen, bebend von Vitalität, aber keinesfalls lebendig. Sie trugen ihre feinen und eleganten Kleider mit erschütternder Selbstverständlichkeit. Sie gingen mit Sicherheit und ohne Erstaunen — und ich ging mit. Ich fügte mich ein in die strömende Zeile, und automatisch ging mir die Freude am Gutangezogensein verloren, und ich wußte, daß mein Gesicht plötzlich den gleichen kalten und geschäftigen Ausdruck trug. Das merkwürdigste aber waren die Frauen. Sie hatten nichts gemein mit den Frauen aus den Träumen der Zelle. Ihre Gesichter schienen eintönig und nackt und waren von derselben Monotonie wie die hohen, langweiligen Beine. Einzig die Fältchen, die leuchtende Seidenstrümpfe an den Knien warfen, erinnerten an die wüsten Qualen der Zelle, denn einzig sie schienen lebendig. Noch hatte ich zu keinem Menschen gesprochen. Meine feindselige Starrheit hielt an. Ich wollte nichts anerkennen. Ich kam an Straßen und Häusern vorbei, die ich kannte, die ich wiedererkannte, und die mir
dennoch nicht vertraut waren. Ich ging an spielenden Kindein vorüber, und sie waren mir ärgerlich. Ich kaufte Pfeife, Tabak und Streichhölzer, weil ich mich entsann, daß ich dies mir für den Tag der Freiheit vorgenommen hatte, und ich war vor dem Verkäufer völlig unsicher. Wieder verhedderte ich mich mit dem Gelde und bemühte mich krampfhaft, niemanden merken zu lassen, wie sehr ich das Gefühl hatte, ein jeder sähe mir an, woher ich käme. Ich stand einsam im Gewühl der Menschen und verspürte intensiv den Wunsch, in die Zelle zurückzukehren, in die gleichmäßige Ruhe und Geborgenheit. Ich dachte: «Zu Hause essen sie jetzt» und das «Zu Hause» war mir das Zuchthaus. Ich stand vor meiner Wohnung, und ich hatte Furcht, maßlose, erbärmliche Furcht. Ich schellte, es öffnete niemand, und ich atmete erleichtert auf. Ich kletterte zu meiner Dachstube, aber sie war verschlossen. Ich rannte weiter durch die Straßen, trat in ein kleines, stilles Café, saß dort lange und war trostlos und verbittert. Als es dunkelte, ging ich zu ihrer Wohnung. Ich stand vor der Tür wie ein Bettler und hatte dieselbe atemlose Furcht wie ein solcher. Sie öffnete, erschrak und zog mich schweigend durch den Gang in das Zimmer. Sie deckte den Teetisch, ich saß in einem tiefen Sessel, weit zurückgelehnt unter Kissen, und war aufgeregt. Als sie einmal zu mir hinsah, verbat ich mir bitter jedes Mitleid. Ich sprach hastig und gekrampft. Der Raum verengte sich, kein Laut drang von außen ein. An den Fenstern hingen Gardinen, das fiel mir wohltuend auf. Dann wurde mir bewußt, daß ich ein Fremdkörper im Raume war, daß ich kein Behagen
ertragen konnte. Ich konnte nicht länger sitzen, der ich fünf Jahre lang gesessen. Ich hielt es nicht in den vier Wänden aus, der ich fünf Jahre lang in vier Wänden gehaust. Mein Bruder kam, überrascht, eifrig und wohltuend geräuschvoll. Ich kam ins Reden, erzählte wirr, abgebrochen, nach Worten suchend, verzweifelt mit den Armen fechtend. Ich hatte jedes Gefühl für Grenzen verloren, für Grenzen des Redens, des Ausdrucks, des Taktes. Ich fiel den anderen ins Wort, ich war unaufmerksam bis zur Ungezogenheit, und jeder Satz, den ich sprach, begann mit «Ich». Jahrelang war ich das einzig Interessante um mich herum, konnte immer nur mit mir selber sprechen, bot immer nur mir selber Anregung in Grübeln und Fragen. Ich drängte meinen Bruder, mit mir auszugehen. Als ich an der Tür stand, wartete ich darauf, daß sie aufgemacht würde, Dann besann ich mich, und nahm die Klinke in die Hand. Kaum berührte ich sie, da sprang sie schon auf. Ich machte die Tür dreimal auf und wieder zu. Als mein Bruder lächelte, fuhr ich ihn böse an. Es war schon Abend, als mein Bruder mich in ein Lokal mitnahm, in dem er sich mit Freunden traf. Es war ein Kreis von jüngeren und älteren Leuten, die im Leben ihre Stelle ausfüllten und sich mit unendlicher Sicherheit bewegten und gaben. Ich war sehr still und horchte auf die Reden und die Musik. Das Lokal war sehr voll und hatte leere, matt getönte Wände und glatte, metallisch gleißende Pfeiler. Auf der Estrade saßen Musiker mit sonderbaren schwarzen Instrumenten mit vielen silbernen Klappen.
An endlosen Sonntagen hatte ich am Zellenfester gehockt und auf die verworrenen Töne gelauscht, die irgendwo aus dem Städtchen herüberschallten — Konzert auf der Promenade vielleicht, weit von den Mauern, und, wie ich mir ausmalte, umgeben vom vielen festlichen Menschen. Die Musik in dem Kaffeehause war laut und merkwürdig quäkend. Sie bestand im Grunde nur aus Rhythmus und erinnerte an Grieg. Ich hörte interessiert zu und grübelte, ob sie naiv war oder raffiniert. Dann ärgerte ich mich, weil sie keins von beiden war, sondern einfach selbstverständlich. Ich war aber nicht so gefangen von der Musik, wie ich es erträumt hatte, und zweifelte, auch mir eine Spur von Aufgeschlossenheit zu besitzen. Ab und zu ergriff der Mann am Dirigentenpult, ein sehr eleganter Mann, befrackt und selbstbewußt, einen Blechtrichter und brüllle mit strahlenden Mienen irgend etwas in den Saal, was berauschend wirken mußte; denn viele Frauen bekamen einen nervösen, bewegten, lechzenden Ausdruck im nackten Gesicht und zuckten mir Beinen und Schulterblättern. Dann sang ein Neger, alle Gesichter wendeten sich ihm zu. Die Fülle von Eindrücken verwirrte mich. Doch saß ich ganz wohlig im weichen Sessel, trank einen Kaffee, der sonderbar füllig schmeckte, und bemühte mich, alles in mich aufzunehmen, was sich anbot. Die Herren sprachen hinter ihren blitzenden Hornbrillen hervor über Politik, Autos und Frauen. Ich hörte Dinge, die mir ganz fremd waren, die mich verblüfften, und die ich glauben mußte, denn sie wurden mit Nonchalance und Sicherheit vorgetragen. Brennend verspürte ich meine absolute Unzulänglichkeit. Ich hätte gern nach
vielem gefragt, aber ich konnte über alle diese Dinge nicht mitreden, und das beengte mich. Ich war bis zum Bersten gefüllt mit dem Erlebnis der Erlebnislosigkeit und fürchtete bei jedem Wort, das ich sagen wollte, ich käme nicht aus dem begrenzten Umkreis heraus, in dem ich bis dahin gelebt, und ein jeder müßte unverzüglich aus meinen Redewendungen entnehmen, was für ein Umkreis dies war. Dabei drängte es mich brennend, zu sprechen. Ich wollte fragen, wollte aus dem Wust von Worten und Anschauungen das Wesentliche zu mir heranzwingen, irgend etwas Wesentliches — wollte einen Vorstoß machen, um den Kreis zu sprengen, aber ich machte bei jedem Ansturm einen Sprung gegen Gummibänder. Aber wie, war es nicht so, daß diese so sicheren Leute doch ebenfalls irgendwie in Ketten waren? Kamen sie hinüber über ihre Grenzen? Hatten sie das Erlebnis des Einsatzes, das erst ihnen die Berechtigung gibt, Fesseln zu sprengen? War dies die Freiheit, die ich erträumte? War nicht im Grunde alles schief, was diese Leute sprachen, schief und einseitig in seiner Vielseitigkeit? Wer von ihnen wurde sich bewußt des Augenblicks? Wer von ihnen hatte sich sein Leben gebaut, wie man es bauen konnte, wenn man frei, wirklich frei war? Im Grunde waren alle von einer rührenden, satten Unzufriedenheit, wahrend meine Unzufriedenheit brannte und bohrte. Wenn ich die Bilanz der fünf Jahre zog, es blieb ein Plus. Wie könnte ich es ertragen, wäre es anders! Das Bürgerliche aber durfte mich nicht überfallen; denn es ist starr, beweglich vielleicht, aber nicht lebendig. Und
ich mußte leben, leben! Zu lange war ich starr, als daß ich länger warten durfte, zu leben. Das Gesetz der Gleichmäßigkeit, das mich fünf Jahre lang beherrschte, ihm waren diese klugen, intelligenten, beweglichen Herren ebenso unterworfen. In mir aber wirkten Spannungen, die mir nicht den Übergang aus Fesseln in andere Fesseln erlauben konnten, wohl aber den Sprung aus der Starre ins Grenzenlose, in die Freude, in die Härte, in Dinge, die über den Worten stehen. Wir gingen durch die Altstadt. Während gleißende Lichter in den Hauptstraßen flimmerten, stand der Mund über spitzen, gegliederten Giebeln. Katzen schlichen mit erhobenen Schwänzen über die Dächer. Was ich sah, war in seiner Realität unwirklich, und darum fühlte ich mich wohl. Ich konnte keine geraden Linien mehr ertragen, und diese Wirre, vom Munde überströmt, der alles dämpfte und doch Schatten warf, diese Vielgestalt, die den Himmel erst lebendig machte, dies war es, was mich ruhig und sicher werden ließ. Ich war frei, und fünf Jahre waren versunken und vergessen.
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