3451295830 Rabbi

November 14, 2017 | Author: Erman Ilker | Category: Christ (Title), Torah, Crucifixion Of Jesus, Apologetics, Faith
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Jacob Neusner

Ein Rabbi spricht mit Jesus

Jacob Neusner

Ein Rabbi spricht mit Jesus Ein jüdisch -christlicher Dialog Aus dem Amerikanischen von Karin Miedler und Enrico Heinemann

� H ERD ER --- - - ;J �­

FREIBURG

·

BASEL ·WIEN

T itel der amerikanischen Originalausgabe: A Rabbi Talks with Jesus Copyright© 1993 by Jacob Neusner Published by Doubleday Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier Alle Rechte vorbehalten- Printed in Germany © der deutschen Ausgabe: Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2007 www.herder.de © deutsche Übersetzung: Claudius Verlag München

Herstellung: fgb freiburger graphische betriebe 2007 www.fgb.de ·

ISBN 978-3-451-29583-6

Inhalt

Vorwort .

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1. Ein praktizierender Jude im Gespräch mit Jesus .

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2. Nicht um aufzuheben, sondern um zu erfüllen Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist . . . , ich aber sage euch . . ... . .

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3.Ehre deinen Vater und deine Mutter­ Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen

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4.Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig ! Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat verboten ist.... . . . . . . .. . .. . .. . .. . .. 76 .

5.Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig ­ Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz, komm und folge mir nach

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. . . . . . . . . . . . 93 .

6.Ihr sollt heilig sein Heiliger als heilig. . ............................. 1 17 7. Du sollst jedes Jahr den Zehnten von der gesamten Ernte geben Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und laßt das Wichtigste im Gesetz außer acht ......... 134 .

8. Wieviel Thora ist es denn nun ? . . . . . . . . . ... .

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. . . . .. . 152

Ein Nachwort ................................... 163

Vorwort

In diesem Buch will ich ganz direkt und ohne Ausflüchte darlegen, warum ich mich dem Kreis der Jünger Jesu nicht angeschlossen hätte, wenn ich im ersten Jahrhundert im Lande Israel gelebt hät­ te. Ich hätte meine Ansicht hoffentlich höflich, auf jeden Fall mit Argumenten und Fakten vernünftig begründet, dargelegt. Wenn ich seine Bergpredigt gehört hätte, wäre ich ihm aus guten und wichtigen Gründen nicht nachgefolgt. Das mag für manche Men­ schen schwer nachvollziehbar sein, hat doch die Bergpredigt wie kaum ein anderer Text unsere Zivilisation geprägt und zusammen mit einigen anderen Lehren Jesu besonders viel Zustimmung ge­ funden. Genauso schwer vorstellbar mag es sein, daß man diese Worte mit ihren überraschenden Forderungen zum erstenmal hört und sie nicht als bloße Kulturklischees aufnimmt. Und genau dies schlage ich vor: zuhören, als hörte man zum erstenmal, und sich dann damit auseinandersetzen. Ich schreibe dieses Buch, um ein wenig deutlicher zu machen, warum die Christen an Jesus Christus und an die frohe Botschaft von seiner Herrschaft im himmlischen Königreich glauben, die Juden hingegen an die Gesetze der Thora des Mose glauben und auf der Erde ihr eigenes Reich von Priestern und das heilige Volk aus Fleisch und Blut gründeten. Ihre Überzeugungen verlangen, daß gläubige Juden sich mit den Lehren Jesu auseinandersetzen, denn seine Lehren widersprechen der Thora in wichtigen Punkten. Wo Jesus von der Offenbarung Gottes an Mose am Berg Sinai ab­ weicht, hat er unrecht, und Mose hat recht. Indem ich ohne Ent­ schuldigung die Gründe dafür nenne, daß wir nicht einer Meinung sein können, möchte ich den religiösen Dialog zwischen christli-

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chen und j üdischen Gläubigen fördern. Die Juden haben Jesus lange als Rabbi und als einen von uns gepriesen. Das ist für den christlichen Glauben ganz und gar belanglos. Die Christen ihrer­ seits haben das Judentum als die Religion gepriesen, aus der Jesus hervorging, und das kann für uns schwerlich ein Kompliment sein. Wir haben bisher eine direkte Auseinandersetzung über we­ sentliche Unterschiede zwischen unseren Religionen vermieden, sowohl mit Blick auf die Person Jesu und seine Ansprüche als auch mit Blick auf seine Lehren, um die es auf den folgenden Seiten vorrangig gehen wird. Er erho b den Anspruch, zu reformieren und zu verbessern: » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: . . . Ich aber sage euch . . . « Wir behaupten - und darüber streite ich auch -, daß die Thora vollkommen war und ist und nicht verbessert wer­ den kann und daß die jüdische Religion, die sich auf die Thora, die Propheten und die Schriften gründet, das heißt, auf die ur­ sprünglich mündliche Überlieferung, die niedergeschrieben wurde in der Mischna, den Talmuden und dem Midrasch, daß diese j ü­ dische Religion in Vergangenheit und Gegenwart Gottes Wille für die Menschheit war und ist. Auf dieser Grundlage will ich aus j ü­ discher Sicht einigen wichtigen Lehren Jesu widersprechen. Damit bringe ich meinen Respekt gegenüber den Christen zum Ausdruck und erweise ihrem Glauben alle Ehre. Denn um zu streiten, müs­ sen wir uns gegenseitig ernst nehmen. Einen Dialog gibt es nur, wenn wir sowohl uns selbst als auch den anderen achten. Ich be­ mühe mich, auf diesen Seiten Jesus mit Hochachtung zu begegnen, aber ich will auch mit ihm über das streiten, was er sagt. Was ist mein Anliegen ? Es wäre ein Erfolg für mich, wenn die Christen ihren Glauben an Jesus Christus erneuerten - aber auch das Judentum respektierten. Ich will den Christen erklären, war­ um ich dem j üdischen Glauben anhänge, und das sollte den Chri­ sten eine Hilfe sein, die entscheidenden Überzeugungen zu be­ nennen, die sie jeden Sonntag zum Kirchgang bewegen. Die Juden werden hoffentlich ihre Bindung an die Gesetze des Mose inten­ sivieren, aber auch das Christentum achten. Ich möchte, daß die Juden verstehen, warum man den jüdischen Glaubensüber8

zeugungen zustimmen sollte: » der All-Barmherzige sucht das Herz « , » die Thora ist euch nur gegeben, um das menschliche Herz zu reinigen « . Juden wie Christen sollen auf diesen Seiten Bestäti­ gung finden, denn jede Seite wird hier genau die entscheidenden Punkte erkennen, die den Unterschied zwischen Judentum und Christentum ausmachen. Warum bin ich mir dieses Ausgangs so sicher? Ich glaube, wenn beide Seiten zur gleichen Auffassung über die uns entzweienden Punkte gelangen und jede mit gutem Grund ihre jeweilige Wahr­ heit bekräftigt, dann können alle in Frieden Gott verehren und lieben und wissen, daß es wirklich ein und derselbe Gott ist, dem sie alle dienen - auf unterschiedliche Weise. So ist dies ein reli­ giöses Buch über Unterschiede zwischen den Religionen: ein Streit über Gott. Mein Ziel ist es, Christen zu besseren Christen zu machen, denn auf den folgenden Seiten können sie zu einer klareren Vorstellung darüber gelangen, was sie glauben. Und Juden können bessere Ju­ den werden, denn sie werden hier - so hoffe ich - erkennen, daß die Thora Gottes der Weg ist ( nicht nur unser Weg, sondern der Weg), den einen Gott zu lieben und ihn zu verehren, den Schöpfer von Himmel und Erde, der uns berufen hat, Gottes Namen zu dienen und zu heiligen. Mein Anliegen ist einfach: Die Wahrheit der Thora läßt manches, was Jesus gesagt hat, falsch erscheinen. Von der Thora her gesehen, hing Israel zur Zeit Jesu einer voll­ gültigen Religion treu ergeben an, die keiner Reform oder Er­ neuerung bedurfte, nur der Glaube an Gott, Treue und die Heili­ gung des Lebens durch die Erfüllung von Gottes Willen waren gefordert. Will ich nun damit sagen, die Christen sollten nach der Lektüre dieses Buches ihre christlichen Überzeugungen aufgeben ? Keines­ wegs. Die Christen können viele gute Gründe für ihren Glauben an Jesus Christus nennen ( nicht nur, daß Jesus der Christus war und ist) . Das akzeptiere ich, aber ich akzeptiere nicht, daß er das Gesetz erfüllt, erhalten oder bestärkt, daß er die Thora verbessert hätte. Natürlich hat das Christentum seine Eigenständigkeit nie 9

als Nachteil betrachtet. Fs sah sich nie als bloße Fortsetzung oder Reform des älteren, des jiidischen Glaubens (der stets als korrupt, verdorben und indiskutabel dargestellt wird ), sondern als Neuan­ fang. Insofern soll diese Auseinandersetzung - unter fairen Be­ dingungen - die Gläubigen nicht beunruhigen. Das ist nicht meine Absicht. Aber wenn die Christen den bei Matthäus geäußerten Anspruch ernst nehmen - nicht um aufzuheben, sondern um zu erfüllen -, dann sollte das Christentum meiner Meinung nach die Thora (oder auch das »Judentum « ) neu überdenken: Der Sinai ruft, die Thora sagt uns, was Gott von uns erwartet. Will ich nun einen Streit j üdischer Apologeten mit der alles an­ dere als neuen Argumentation - ja zum historischen Jesus, nein zum Christus des christlichen Glaubens - beginnen? Nicht wenige Apologeten des Judentums (einschließlich christlicher Apologeten des Judentums) unterscheiden zwischen dem Jesus, der lebte und lehrte - ihn achten und verehren sie -, und dem Christus, der (ihrer Meinung nach) ein Produkt der Kirche ist. Sie werden sagen, der Apostel Paulus habe das Christentum erfunden. Jesus selbst habe nur die Wahrheit gelehrt, was wir gläubigen Juden bestätigen können. Ich will auf den folgenden Seiten einen ganz anderen Weg einschlagen. Mich interessiert nicht, was danach geschah. Ich möchte wissen,

wie

ich reagiert hätte, wenn ich dort am Fuße je­

nes Berges gestanden hätte, auf dem Jesus seine später so genannte » Bergpredigt « hielt. Meine abweichende Auffassung richtet sich nicht gegen das » Christentum« in allen seinen Ausprägungen, auch nicht gegen den Apostel Paulus und den komplexen und gewaltigen » Leib Christi « , den die Kirche in Vergangenheit und Gegenwart dar­ stellt. Ich will auch keine Apologie einer j üdischen Religion ent­ werfen, die sich auf das negative » Warum nicht Christus ? « kon­ zentriert. Die Juden müssen nicht immer erklären: » Warum nicht«, denn die Botschaft der Thora lautet immer: » Warum . . , weil . . « Das Judentum in all seinen komplexen Ausprägungen ist .

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etwas anderes als nur ein Christentum ohne Christus ( bei den Of­ fenbarungsschriften das Alte Testament ohne das Neue) . Das Ju10

denturn ist eine andere Religion, nicht nur Nicht-Christentum. Und es geht hier nicht um den j üdischen Glauben im Gegensatz zum christlichen oder um Jesus im Gegensatz zu Christus (in die­ sen engen biographisch-historischen Begriffen, über die es sich nicht zu streiten lohnt) . Dies i s t kein wissenschaftliches Buch. Ich beziehe mich nur auf eine Darstellung dessen, was Jesus gesagt hat: auf das Evangelium

des Matthäus. Aus Gründen, auf die ich im Nachwort näher ein­ gehen werde, scheint mir dieses Evangelium besonders geeignet für den Dialog mit der Thora oder dem Judentum. Der Jesus, mit dem ich mein Streitgespräch führen werde, ist nicht der historische Jesus, der aus der Vorstellung irgendeines bemühten Wissen­ schaftlers geboren wurde, und das hat einen einfachen Grund: Es gibt zu viele und zu unterschiedliche künstliche historische Ge­ stalten, um ein Streitgespräch mit ihnen zu führen. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, warum gläubige Menschen über et­ was unterschiedlicher Meinung sein sollten, was ihnen nur in wissenschaftlichen Werken begegnet. Wenn Juden das Neue Te­ stament aufschlagen, nehmen sie doch an, sie hören vom Jesus Christus der Christenheit, und wenn Christen dasselbe Buch auf­ schlagen, sind sie sicher der gleichen Auffassung. Damit will ich nicht sagen, daß der historische Jesus nicht in den Evangelien präsent oder dahinter zu finden sei. Ich will nur sagen, daß das Evangelium, wie wir es lesen, den meisten Jesus so vorstellt, wie wir ihn kennen. Ich schreibe für gläubige Christen und für gläu­ bige Juden. Sie kennen Jesus aus der Bibel. Ich beziehe mich auf eines der Evangelien. Dies ist mein fünftes Buch über das Christentum aus der Sicht des j üdischen Glaubens. Die ersten vier Bücher haben sich einfach und logisch nacheinander ergeben, jedes bereitete das Thema für ein nächstes vor. Ich begann mit der Frage: Zu welchem Zeitpunkt in der Vergangenheit trat das Judentum als religiöses System in die Auseinandersetzung mit dem Christentum ein ? Ich erkannte das Zeitalter Konstantins als den Augenblick, in dem beide Seiten, je­ weils ins Gespräch mit sich selbst vertieft, auf gemeinsame The11

men stießen. Dies habe ich dargelegt in meinem ersten Buch Ju ­ daism and Christianity i11 the Age of Constantine. Issues of the Initial Confrontation, Chicago 1 9 87 Uudentum und Christentum zur Zeit Konstantins. Themen der ersten Auseinandersetzung) . Es folgten die Titel ]ews and Christians. The Myth of a Common

Tradition, New York und London ·1 990 (Juden und Christen. Der Mythos von der gemeinsamen Tradition), The Bible and Us. A

Priest and a Rabbi Read the Scriptures Together, zusammen mit Andrew M. Greeley, New York 1 990 ( Die Bibel und wir. Ein Priester und ein Rabbi lesen gemeinsam die Schrift ) und Telling

Tales. Making Sense of Christian and ]udaic Nonsense. The Ur­ gency and Basis for ]udaeo-Christian Dialogue, Louisville 1 99 3 ( Geschichten erzählen. Christlichem und jüdischem Unsinn einen Sinn geben. Notwendigkeit und Grundlage für den j üdisch­ christlichen Dialog). Die Titel sprechen für sich und bedürfen hier keiner weiteren Erläuterung. Jedes Buch hat sein eigenes Thema, folgt logisch aus dem je­ weils vorhergehenden und leitet zum nachfolgenden über. Das vorliegende Buch stellt dabei einen Höhepunkt dar. Wie bereits erläutert, ging ich von der Frage aus: Haben die jüdische und die christliche Religion jemals zur selben Zeit über dasselbe Thema gesprochen ? In meinem nächsten Buch ]ews and Christians. The

Myth of a Common Tradition behaupte ich, daß Judentum und Christentum gänzlich unabhängig voneinander zu sehen sind. Das Christentum ist nicht die »Tochterreligion « , und es gibt keine ge­ meinsame fortlaufende » j üdisch-christliche Tradition « . In The

Bible and Us. A Priest and a Rabbi Read the Scriptures Together, das ich zusammen mit einer der wirklich großen Persönlichkeiten der heutigen Religionswissenschaft geschrieben habe, wird ein fortlaufendes Streitgespräch - von meiner Position aus - mit fol­ gendem Inhalt geführt, daß es zwischen Judentum und Christen­ tum keinerlei Überschneidungen gibt, nicht einmal bei der ge­ meinsamen Lektüre der Bibel. Das Fazit ist (meiner Meinung nach), daß die beiden Religionen, selbst wenn sie dieselbe Schrift lesen, unterschiedliche Fragen stellen und zu unterschiedlichen 12

Schlußfolgerungen gelangen - sie haben keine gemeinsame Tradi­ tion. Mein guter Freund Pater Greeley ist anderer Ansicht. Er meint, er habe den Streit gewonnen, ich meine, ich hätte ge­ wonnen, und wir sind jetzt bessere Freunde als zuvor. Die beiden Bücher, die auf unser gemeinsames folgten, wurden allein durch die Begegnung mit Pater Greeley möglich, die in mir ein tiefes Gefühl für seinen Glauben geweckt hat. Sonst hätte ich mich nicht weiter mit dem Thema beschäftigt. Ich wollte aber die Be­ schäftigung mit einer Religion nicht aufgeben, die einen so be­ merkenswerten Kopf wie Andrew Greeley hervorgebracht hat. Das dritte Buch entstand als Fortsetzung des zweiten. Telling Tales beschäftigt sich mit der Frage, ob die beiden Religionen ei­ nen Dialog führen können, wenn sie doch keine gemeinsame Tra­ dition haben. Ich versuche zu erklären, warum es bislang nie einen Dialog gegeben hat und warum auch auf beiden Seiten niemals ein entsprechender Wunsch bestand. Im nächsten Schritt entwickle ich eine Vorstellung davon, wie erste Anfänge eines solchen Dia­ logs zwischen den Religionen aussehen könnten. Dieses vierte Buch stellt eine Art des Dialogs dar, den ein praktizierender Jude mit der christlichen Religion beginnen könnte: einen richtigen Streit mit Jesus selbst. Das ist nicht der einzige Dialog, sicher auch nicht der beste, aber ich nehme den Begründer des Christentums ernst, ohne Herablassung ( » ein großer Prophet, aber . . . « ) und ohne Heuchelei ( » ein großer Rabbi, aber . . . « ) . In diesem Buch behaupte ich, daß das gegenseitige Erzählen von Geschichten uns auf dem Weg des Dialogs weiter bringen wird. Und so kam ich auf die Idee, die Geschichte zu erzählen, wie ich es in dem vor­ liegenden Buch tue. Eigentlich war die Niederschrift das Ergebnis einer Art Wette. Mein lieber, langj ähriger Freund Laurence Tisch fragte mich bei einem Zusammentreffen im familiären Kreis:

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Jack, wie lange

brauchst du im allgemeinen, um ein Buch zu schreiben ? « Ich ant­ wortete: » Das kommt natürlich auf das einzelne Projekt und seine Anforderungen an. Jedes Buch hat seine eigenen Regeln. Aber wenn es um eine Darstellung für ein breites Publikum geht, brau13

ehe ich normalerweise ungefähr eine Woche, wenn ich das Buch erst einmal im Kopf habe. Es kommt darauf an, meistens schreibe ich ein Kapitel am Tag, manchmal auch zwei, und für manche Kapitel habe ich zwei Tage gebraucht. Dann muß es natürlich überarbeitet werden, aber eine Woche kommt ungefähr hin. « Er schien überrascht, und mich überraschte sein Erstaunen. Ich fragte mich, ob ich nicht vielleicht d och zu optimistisch gerechnet hatte. Also setzte ich mich zu Hause hin und schrieb dieses Buch im ganz normalen Arbeitstempo von einem Kapitel am Tag, wie üblich. Ich überarbeitete es natürlich und lege nun diese meiner Ansicht nach lesbare Fassung vor. Aber ich bringe das Buch immer mit Laurence Tischs Verwunderung über etwas in Verbindung, was mir und den Menschen um mich herum vollkommen normal er­ scheint; seine Verwunderung hat bewirkt, daß ich mich hinsetzte und niederschrieb, was ich schon seit langem in Gedanken mit mir herumtrug. Jacob Neusner Am 2. 8 . Juli 1 9 9 2., meinem sechzigsten Geburtstag

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1 Ein praktizierender Jude im Gespräch mit Jesus

»Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden ... Scharen von Menschen aus Galiläa, der Dekapolis, aus Jerusalem und Judäa und aus dem Gebiet jenseits des Jordans folgten ihm. Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie.« (Matthäus

4,23 . 2 J; J, I - 2)

Stellen Sie sich vor, Sie sind im Sommer auf einer staubigen Straße in Galiläa unterwegs und treffen eine Gruppe Jugendlicher, die von einem jungen Mann angeführt wird. Seine Erscheinung fesselt Ihre Aufmerksamkeit: Wenn er spricht, hören die anderen zu, antworten, diskutieren, richten sich nach ihm, zeigen Interesse an dem, was er sagt, und folgen ihm. Sie wissen nicht, wer dieser Mann ist, aber Sie sehen, daß er die Menschen in seiner Begleitung beeindruckt und ebenso fast alle anderen, die ihm begegnen. Die Menschen reagieren auf ihn, manche werden ärgerlich, andere bewundern ihn, einige glauben aufrichtig an ihn, aber niemanden lassen der Mann, seine Worte und Taten, gleichgültig. Nun gehen Sie im Geiste 1 9 Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück, und versuchen Sie sich vorzustellen, Sie hätten noch nie etwas vom Christentum gehört. Sie würden nur einige Sätze dieses Mannes kennen, einige wenige Geschichten, die man über ihn er­ zählt, einige Geschichten, die er selbst erzählt hat, einiges, was er getan hat. Können Sie jetzt nach Galiläa zurückkehren zu einer

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Begegnung mit Jesus, ehe er nach Jerusalem ging ? Können Sie die Worte, die schon unzählige Male wiederholt wurden, so auf­ nehmen, als würden sie zum erstenmal ausgesprochen ? Dann, und nur dann können Sie dem Mann mit seinen Jüngern begegnen und sich da, wo Sie leben, die Frage stellen: Was hätte ich getan, wenn ich dabeigewesen wäre ? Wenn ich nicht gewußt hätte, was aus ihm wird (aus der Perspektive eines heute gläubigen Christen ge­ sprochen), hätte ich ihn als meinen Meister angenommen, und wäre ich ihm gefolgt? Lesen wir einmal die Worte, mit denen Matthäus Jesus zitiert, versetzen wir uns kraft unserer Phantasie auf eine staubige Straße in Galiläa, und tun wir einen Augenblick lang so, als hätten wir diese Worte, die jahrhundertelang nachgesprochen wurden, noch nie gehört. Dann, und nur dann, wenn wir die Worte, die über die Jahrhunderte hinweg schal geworden sind, wieder als frisch und herausfordernd empfinden, können wir die Begegnung neu er­ leben - das Zusammentreffen, den Disput, die Konfrontation -, die nach meiner Überzeugung am Beginn des Christentums steht: die Begegnung mit Jesus. Nachdem heute so viele Lehren zu banalen Sätzen und Kli­ schees verkommen sind, ist es schwierig, Jesu Worte als Heraus­ forderung, als Stachel oder als Entgegnung auf anderslautende Behauptungen aufzunehmen. Aber das gehört zu unseren Auf­ gaben, wenn wir eine ernsthafte Diskussion über tiefe Wahrheiten führen wollen. Ich glaube auch, es ist an der Zeit, daß einige be­ stimmte Lehren Jesu bei Matthäus nicht als banale Sätze und all­ gemeine Wahrheiten verstanden werden, sondern als streitbare, energische Behauptungen, die eine Bestätigung durch den Disput verlangen. Denn wenn Sie die Geschichten bei Matthäus lesen, kommen Sie um die Einsicht nicht herum, daß Jesus Dinge sagte, die er für neu und bedeutsam hielt, und daß er den Anspruch er­ hob, seine Lehren wiesen den richtigen Weg zur Befolgung und Erfüllung der Thora, der Gebote, die Gott Mose auf dem Berge Sinai gegeben hat. Was ist gewonnen, wenn die Christen Jesu Rede davon, was 16

Gott von uns erwartet, als Wahrheit des Evangeliums annehmen, die Juden indes sie allem Anschein nach nicht beachten? Sie waren als Streitpunkte gedacht, als Kritik an anderslautenden Ansichten, und seiner Meinung nach waren sie wirkungsvolle, neue, noch nie dagewesene Formulierungen der Offenbarung Gottes an Israel in der Thora und durch die Thora. Bedeutet es, daß die Christen nun diese bedeutungsschweren Lehren, die die Welt verändert haben, als bloße Tatsachenfest­ stellungen hinnehmen sollten? Und sollten die Juden höflich und im übrigen unbeteiligt die Worte anhören, die Jesus als seine Thora anbot und die unzweifelhaft als Thora-Lehre gedacht wa­ ren, wie es zu seiner Zeit viele andere gab ? Im Gegenteil: Je mehr wir uns bemühen, die Worte zu hören, als hätten wir sie noch nie gehört, um so deutlicher wird uns, daß er ganz besondere Dinge sagte, Dinge, die weder ohne weiteres angenommen noch einfach umgangen werden dürfen, wie es Christen und Juden jewei ls über Jahrhunderte hinweg getan haben. Hier ist ein Mensch, ein junger Mann mit seinen Jüngern, den manche bewunderten, manche haßten, den aber niemand einfach übersah. Ich glaube, wir sind es ihm schuldig, daß wir einmal aufmerksam zuhören, und das be­ deutet eine neue Begegnung mit Interesse, nicht einfach einen Kniefall und Gehorsam auf der einen Seite oder ein gelegentliches Zunicken auf der anderen Seite. Und so sage ich einfach: Ich kann mir vorstellen, diesem Mann zu begegnen und unter Beachtung der Höflichkeitsregeln mit ihm zu diskutieren. Das ist meine Art des Respekts und die einzige Höflichkeit, die ich mir auch von anderen wünsche, die einzige Achtungsbezeigung, die ich Menschen angedeihen lasse, die ich ernst nehme - und daher auch respektiere und sogar liebe. Ich kann mir vorstellen, mit ihm zusammenzutreffen und zu diskutieren, einige seiner Behauptungen aufzugreifen und ihn auf der Basis unserer gemeinsamen Thora, der Schriften, die die Christen später als » Altes Testament « übernahmen, kritisch zu befragen. Aber ich kann mir auch vorstellen, daß ich sage: » Mein Freund, gehe du deinen Weg, und ich gehe meinen. Ich wünsche 17

dir alles Gute - aber ohne mich. Deine Thora ist nicht die des Mose, und alles , was ich von Gott habe, alles, was ich von Gott brauche, ist diese eine Thora des Mose. « Wir träfen uns, wir diskutierten, wir trennten uns als Freunde ­ a ber wir trennten uns auf j eden Fall. Er ginge seinen Weg, nach Jerusalem, an den Ort, den Gott ihm seiner Mein ung nach be­ stimmt hatte; ich ginge meinen Weg, nach Hause zu Frau, Kin­ dern, Hund und Garten. Jesus ginge seinen Weg zum Ruhm, ich würde meinen Aufgaben und Verpflichtungen nachkommen. Matthäus macht es uns leicht, das, was ehedem offensichtlich und selbstverständlich erschien, als neu und wunderbar wahr­ zunehmen. Er beschreibt den Schauplatz mit einigen einfachen Sätzen: » Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie . . . « Mit diesen Worten beschwört Matthäus das Bild eines Thora-Lehrers herauf, der seine Schüler unterweisen wird. Jesus setzt sich, und das ist, wie wir aus späteren Schriften über die Rabbis wissen, ein Hinweis darauf, daß eine ernsthafte Unterweisung beginnen soll: Sich hinzusetzen war das Zeichen für den Beginn der Unterrichtsstunde. Die Jünger versammeln sich um ihn und verstummen. Es ist eine würdige und förmliche Szene. Je­ sus führt kein Gespräch, er hält auch keine Vorlesung, er ver­ kündet die Wahrheit. Die Jünger hören zu, denn zu gegebener Zeit werden sie ein Streitgespräch beginnen und die Wahrheiten ge­ nauer untersuchen, sie in Zweifel ziehen, verdeutlichen und sich selbst im gegenseitigen Austausch überzeugen. In diesem Kontext müssen wir den Sinn des Wortes » Thora « verstehen. Das Wort » Thora « hat zwei Bedeutungen: Einmal bezeichnet es die Offenbarung Gottes an Mose auf dem Berg Sinai. In der an­ deren Bedeutung meint es » die Unterweisung in der Lehre der Thora durch einen Lehrer « . Es ist eine etwas eigenartige Bedeu­ tungsverlagerung: Jesus unterweist in der Thora, und seine Lehre heißt ebenfalls Thora . Denn seine Beschäftigung mit der Thora des Mose - und Matthäus macht deutlich, daß Jesus in das Thora­ Studium vertieft ist -, bedeutet, daß die Dinge, die er sagen wird, 18

auch eine Fortsetzung, Erweiterung, Ausarbeitung oder Erklärung der Thora sein werden. Er ist ein Lehrer der Thora . Im Rahmen der Thora lehrt er die Thora und fügt ihr selbst etwas hinzu: So sind auch seine Bemühungen eine Arbeit der Thora. Die simple Feststellung, daß Jesus ein Thora-Lehrer ist, der sei­ ne Schüler in der Thora unterweist, ermöglicht ein Streitgespräch über ein bestimmtes Thema, nämlich was Gott von mir erwartet. Wir gehen von einer gemeinsamen Basis aus: was Gott Mose am Berge Sinai offenbarte und was Mose in der Thora niederschrieb. Ein bestimmtes Problem, eine vereinbarte Tagesordnung, gemein­ same Tatsachen: das sind die Voraussetzungen für eine ernsthafte, gründliche Auseinandersetzung, einen Dialog. In dem Versuch, diese Meinungsverschiedenheit zu klären, erzähle ich im folgen­ den die Geschichte, wie ich mit Jesus diskutiert und versucht hät­ te, ihn und die Menschen in seiner Begleitung davon zu über­ zeugen, daß ihre Sicht der Thora - was Gott von den Menschen erwartet - an einigen wichtigen und wesentlichen Punkten falsch ist. Und aus diesem Grund, weil diese bestimmte Lehre so weit von der Thora und vom Bund am Berge Sinai abweicht, hätte ich ihm damals nicht nachfolgen können und kann ich ihm auch heute nicht nachfolgen. Nicht weil ich starrköpfig oder ungläubig wäre, sondern weil ich glaube, daß Gott uns eine andere Thora gegeben hat als die, die Jesus lehrt. Und diese Thora, die Mose am Sinai erhalten hat, ist die Richtschnur für die Thora des Jesus. Sie be­ stimmt über richtig und falsch, recht und unrecht für alle weiteren Thoras, die die Menschen im Namen Gottes lehren werden. Ich möchte mit Jesus darüber sprechen, wie seine Lehren mit der Thora zusammenpassen. Habe ich ein Wahrheitskriterium aufgestellt, das meine Position auf Kosten Jesu stärkt? Schwerlich, denn Jesus sagt ausdrücklich, daß er gekommen sei, das Gesetz zu erfüllen, und nicht, um es aufzuheben. In den Worten von Mat­ thäus heißt das:

» Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um auf19

zuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des GesetZ!!S vergehen, bevor nicht alles ge­ schehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten u11d Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich k ommen.« (Matthäus J, I 7 - 20) Da beide Parteien des Streitgespräches der gleichen Überzeugung sind, ist die Thora das legitime Kriterium der Wahrheit. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn, wie wir noch sehen werden, fordert Jesus bei Matthäus die Menschen auf, wenigstens drei der Zehn Gebote zu verletzen. Ich werde Jesus von Angesicht zu Angesicht fragen: Wie kannst du die Menschen auffordern, einige der Zehn Gebote zu verletzen, und doch behaupten, die Thora zu lehren, geschweige denn die Thora, die Gott Mose am Sinai gab ? Als gläubiger, praktizierender Jude kann ich dem Mann, der verschiedentlich ebenfalls als praktizierender und gläubiger Jude dargestellt wird, auch die Frage stellen, ob seine Worte mit der Thora vom Berge Sinai übereinstimmen. Nach Matthäus glauben Jesus und ich - zusammen mit dem gesamten gläubigen Israel des Bundes -, daß Gott die Thora gibt. Jesus und ich glauben zusam­ men mit all jenen, die sich zu den Kindem Abrahams, Isaaks und Jakobs zählen, daß es unsere Pflicht ist, die Thora zu erfüllen. Deshalb halte ich ein faires Streitgespräch zwischen gleich­ rangigen Gegnern für möglich. Aber das Streitgespräch und die Kontroverse sind Ausdruck aufrichtigen Respekts, und ich will mit jeder Zeile meines Buches diesem Menschen, der eine so au­ ßerordentliche Wirkung hatte, meine Achtung erweisen. Ich weiß, daß Christen heute wie damals nur schwer die fort­ dauernde Lebendigkeit der Thora und des j üdischen Glaubens verstehen können. Mit Blick auf den vermeintlichen » Unglauben « 20

Israels haben die Cl1risten die Juden » Verräter « genannt und meinten damit »Abtiünnige « , haben sie die Juden als wider­ spenstig und störrisch bezeichnet und ihnen unverbesserliche Ignoranz vorgeworfen. Das Evangelium teilt Israel in Gläubige und stillschweigende Mittäter auf, und 2.000 Jahre lang hat man die Juden, die dem Gesetz des Mose treu geblieben waren, als Christusmörder gebrandmarkt. So ist man mit uns, dem ewigen Israel , sehr ung nädig umgesprungen, vielleicht aus verständlichen Gründen. Wenn wir die Uhr b i s zu einem bestimmten Punkt im Leben Jesu zurückdrehen ( als er Lehrer in Galiläa war, vor den Schrecken der Kreuzig ung, aber auch - aus christlicher Perspektive - vor dem erlösenden Wunder der Auferstehung), dann wird auch eine an­ dere Haltung a ußer der der Alternative » Glauben oder Nicht­ glauben an Jesus als Christus« denkbar. Diese Haltung hatten wahrscheinlich die meisten Menschen in Israel, die Jesus und seine Lehren zu Lebzeiten kannten, und diese Haltung nehme ich in diesem Buch ein: Ich folge Jesus nicht nach, ich arbeite nicht gegen ihn, ich sage nur ein höfliches Nein und gehe meiner Wege. Diese Haltung ist überzeugend, wenn wir uns vorstellen, wir wären in Galiläa und hörten einen Thora-Lehrer lehren, lange bevor er in die Geschichte und die Ewigkeit einging. Aber ist ein solches Treffen mit Jesus in Galiläa nicht eine un­ geheure Respektlosigkeit? Wie kann ich es überhaupt wagen, mit dem Meister zu streiten ? Darauf kann ich sowohl aus persönlicher wie auch aus religiöser Sicht antworten. Ich lebe ein Leben der Gelehrsamkeit, und wenn ich die Vorstellungen anderer nicht ernst nehme, könnte ich ohne weiteres einfach zustimmen und meiner Wege gehen, oder ich könnte herablassend reagieren, zum Schein beipflichten und mich über den anderen lustig machen. Die Lehrer, bei denen ich wirklich etwas gelernt habe, haben mir auf­ merksam zugehört und mir ihre Kritik mitgeteilt, und nur solche Lehrer habe ich respektiert. Ebenso zeige ich meinen Respekt für meine Studenten darin, daß ich ihnen aufmerksam zuhöre und ihre Ideen kritisiere. 21

Aber ein Streitgespräch ist mehr als eine persönliche und viel­ leicht idiosynkratische Art der Ehrerbietung; gewiß bringt es nicht viele Sympathien ein. Für einen guten Freund, der in der Politik tätig ist, bin ich der streitbarste Mensch, den er kennt. Ich verstehe das als Kompliment, und er meint es auch als Kom­ pliment, besonders in meinem Fall. Ein guter, solider Streit ist auch der Thora zufolge der richtige Weg, sich an Gott zu wen­ den, ein Akt größter Ergebenheit. Der Gründer des ewigen Israel, Abraham, hat mit Gott um die Erhaltung Sodoms gestritten. Mose hat hin und wieder mit Gott gestritten. Viele Propheten haben einen Streit begonnen, wie zum Beispiel Jeremia . Unser Gott, der Gott der Thora, erwartet, daß man mit ihm streitet. Und die tiefste Zustimmung zu Gottes Gebot und Willen in der Thora - das Buch ljob - ist ein zäher, systematischer Streit mit Gott. Als Gläubiger der Thora, als Jude, gehe ich an die Dinge ganz anders heran. In meiner Religion ist der Streit eine Art Gottes­ dienst wie das Gebet: eine vernünftige Debatte über wesentliche Fragen, ein Streitgespräch , das vom Respekt für das Gegenüber geprägt ist und das möglich wird durch eine gemeinsame Aus­ gangsbasis . Diese Art von Streit ist nicht nur eine Geste der Ehr­ erbietung und des Respekts für den anderen, sondern bringt so­ zusagen die Gabe des Intellekts auf dem Altar der Thora dar. Ich finde, ein Nichtchrist kann dem, den die Christen Christus nen­ nen, keine aufrichtigere Ehrbezeigung erweisen als ein gutes, so­ lides Streitgespräch. Soviel zum Wie der Auseinandersetzung. Aber warum soll ein solches Streitgespräch überhaupt geführt werden ? Warum ist es gerade jetzt, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, so dringend nötig? Zweitausend Jahre lang hat man sich wechselseitig mehr oder weniger übersehen. Die Juden nahmen als selbstverständlich an, daß der christliche Glaube keinerlei Auswirkung auf die Thora habe. Die Christen wiederum stellten den jüdischen Glauben so abschreckend dar, daß man sich ernsthaft fragen mußte, welches Interesse ein ehrbarer Mensch an einem Dialog mit der j üdischen 22

Religion haben könnte. • Warum also sollten wir jetzt eine Aus­ einandersetzung beginnen, die 2000 Jahre lang nicht geführt wur­ de? D i e Auseina ndersetzung wird kommen, weil e s zum einen im Amerika des

u.

Jahrhunderts einen Dialog der Religionen geben

wird. Unsere typisch. amerikanische Neugier und unser grund­ sätzlich vorhandener guter Wille werden ihn ermöglichen. Zum anderen sind im freiheitlichen Klima Amerikas die Religionen und damit auch die Juden aufgefordert, über sich selbst aufzuklären. In einem überwiegend christlichen Land lautet die Frage: Warum seid ihr nicht wie wir Christen ? Der Dialog wird auch deshalb kommen, weil innerhalb der un­ terschiedlichen christlichen Glaubensrichtungen dieses Landes eine floriert, die sich selbst als j üdische Religion bezeichnet, das » Messianische Judentum«, das einerseits den jüdischen Glau­ bensregeln folgt ( mehr oder weniger), andererseits aber auch den Glauben an Jesus als Christus enthält. Die Menschen wollen wissen, warum sie nicht zugleich Juden und Christen sein können. Das traditionelle Judentum läßt dies nicht zu. Warum nicht? Was ist falsch an Jesus? Diese Formulie­ rung der Frage ist vielleicht nicht ganz glücklich, aber nahe­ liegend, bedenkt man die Vertrautheit - in Kopf und Herz, Intel­ lekt und Gefühl - zwischen Juden und Christen, die nun in der offenen, freiheitlichen amerikanischen Gesellschaft zum Gedeihen beider beiträgt. Darüber hinaus fühlen sich die Christen selbst zum Judentum hingezogen. Zum Teil entscheiden sie sich für das Judentum, nachdem sie durch das Christentum zum Berge Sinai (das » Alte •

Dieses Urteil mag hart klingen, ich habe es in meinem anderen Werk, das als Ergänzung zu diesem Buch gesehen werden kann, näher ausgeführt (Telling Tales, Louisville 1993) . Dort beschreibe ich den jüdisch-christli­ chen Dialog bis heute, und ich untersuche, wie das Christentum das Ju­ dentum darstellt. Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß es äußerst abstoßend dargestellt wird. Ich gehe auch auf die umgekehrte Sicht- Juden über das Christentum- ein, die leider nicht viel positiver ausfällt.

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Testament« ) gekommen sind und darin schon das Ziel sehen. W ir können somit heute feststellen, daß beide Seiten sich nicht nur als Nachbarn, sondern im Hause Israel selbst begegnen. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum der Dialog in­ nerhalb der ernsthaften Auseinandersetzung in so großer Ver­ trautheit abläuft. Wie ich schon erwähnt habe, als ich den Streit als Mittel der Auseinandersetzung mit einer anderen Religion verteidigt habe, kennzeichnet Streit Weggefährten, und Juden und Christen gehen mittlerweile häufig einen gemeinsamen Weg in der Ehe und bei der Erziehung ihrer Kinder. Das Haus Israel beher­ bergt heute Christen, die Nachkommen von Christen und solche, die vom Christentum zum Judentum konvertiert sind . Juden tre­ ten zum Christentum über, wie auch Christen zum Judentum übertreten. Der j üdisch-christliche Austausch findet heute auch in der Familie statt, denn es werden immer mehr Ehen geschlossen, in denen die Partner neben dem Alltag die religiösen Über­ zeugungen des jeweils anderen teilen. Wo können die Juden im christlichen Glauben vertraute Auffassungen finden ? Und wie reagieren sie, wenn sie mit den selbstbewußten Ansprüchen der in Amerika dominierenden Religion konfrontiert werden ? Wir Juden finden aus der Perspektive unserer Religion manche Grundüberzeugungen der anderen wenig einsichtig. Viele Be­ hauptungen sind jedoch schwer zu widerlegen, geschweige denn, daß man darüber ein vernünftiges Streitgespräch führen kann. Was sollen wir zum Beispiel von der Vorstellung halten, Gott habe eine Mutter gehabt, auf die er hörte ? Wie sollen wir die in der Menschheitsgeschichte einzigartige Behauptung verstehen, daß Jesus fleischgewordener Gott ist, » unser Abbild, uns ähnlich« nach dem Schöpfungsbericht in der Genesis ? Kein anderes menschliches Wesen ist in dieser Weise Gottes Ebenbild gewesen, inkarnierter Gott. Diese und andere Glaubensgrundlagen des Christentums sind für alle, die nicht dem christlichen Glauben anhängen, unfaßbar. Umgekehrt ist den Christen, die mit Recht verstanden werden wollen, das Selbstbild des ewigen Israel un­ verständlich. Während die Juden die Vorstellung, daß Gott nur in 24

einem einzigen Menschen inkarniert sein soll, nicht verstehen können, ist für die Christen die Vorstellung des auserwählten Gottesvolkes Israel nicht nachvollziehbar. Denn keine Seite findet in den eigenen Erfahrungen eine Analogie zu den Vorstellungen, die der anderen Seite besonders heilig sind. Und diese für das je­ weilige Selbstverständnis der Gläubigen wichtigen Grundüber­ zeugungen künden von etwas Einzigartigem - das per defini­ tionem nur intuitiv begriffen werden kann. Der fleischgewordene

Gott, die Auserwähltheit des Volkes Israel, diese leitenden Wahr­ heiten von Christus auf der einen Seite, der Thora auf der anderen können nicht Gegenstand einer rationalen Auseinandersetzung zwischen uns und den anderen werden. Hier ist kein Streitge­ spräch über richtig und falsch, Wahrheit und Unwahrheit mög­ lich, das von einer gemeinsamen Grundlage ausgeht und auf wechselseitig anerkannten Tatsachen basiert. Diese einfache Feststellung läßt eine Sackgasse ahnen, doch damit können wir uns auf Dauer nicht abfinden. Können wir uns denn damit zufrieden geben, daß wir unseren Freunden und Nachbarn, manchmal auch deren Söhnen, Töchtern und Ehe­ gatten oder sogar unseren eigenen Kindern nichts zu sagen haben ? Und kann es sein, daß sie uns nichts zu sagen haben ? In einer freien, offenen Gesellschaft wie der amerikanischen, wo sich Menschen frei bewegen, sollte kein feindseliges Schweigen be­ wahrt werden - nach dem Motto » Du glaubst, wir nicht« oder » Das glaubst du, das glauben wir«. Aber noch weitere Überlegungen sprechen dafür, die Ausein­ andersetzung der Christen mit der jüdischen Religion ernst zu nehmen: Nachdem die Christen 2.000 Jahre lang ein Nein von den Juden gehört haben, erschien ihnen natürlich Jesu eigenes Volk, Israel, störrisch und in überwiegend negativem Licht. Da aber das Negative auch eine kraftvolle Bestätigung darstellt, erwächst aus der Begegnung von Christentum und Judentum mehr als nur ein Nein. Es ist ein » Nein, weil . . .«. Und das >>Weil« steht am Beginn einer langen Diskussion zwischen den beiden Parteien. Darum will ich auf den folgenden Seiten zeigen, wie Israel, das Volk Got25

tes, im Lichte einer vernünftigen Auseinandersetzung zwischen dem, was Jesus lehrte, und der Thora gesehen werden könnte. Ich spreche von einer Auseinandersetzung über das Wesentliche, und das Wichtigste dabei ist die gemeinsame, von beiden Seiten ak­ zeptierte Wahrheit: die Thora . Nach welchen Regeln soll nun aber die gemeinsame, faire Aus­ einandersetzung ablaufen ? Zunächst müssen beide Seiten zu demselben Thema sprechen . Deshalb wähle ich einen Bericht über Jesus, der speziell für Israel geschrieben wurde: das Evangelium des Matthäus. Da Matthäus' Darstellung von Jesus aus einer jü­ dischen Gruppe stammt und an das übrige Israel gerichtet war und da weiterhin betont wird, daß Jesus nicht gekommen sei, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen, kann ein richtiges Streitgespräch stattfinden. Denn hier und nur hier haben wir wirklich gemeinsamen Boden vor uns, nämlich die Thora. Nach der Thora werden alle Lehren und Handlungen beurteilt, sie bildet die Ausgangsbasis für die Auseinandersetzung: eine einzige Quelle der Wahrheit, an die wir uns wenden können. Worüber kann das ewige Israel mit Paulus oder Johannes streiten ? Für sie sind die Fragen geklärt, die Jesus bei Matthäus aufwirft. Der Jesus bei Paulus ist von den Toten auferstanden. Der Jesus bei Johannes steht insgesamt außerhalb von Israel, bei ihm sind die »Juden « die anderen und die Feinde. Aber der Jesus bei Matthäus ist als einer von uns dargestellt. Zweitens muß jeder Mitstreiter die Integrität des anderen aner­ kennen. Fast alle christlichen Schriften, die gegen die jüdische Religion polemisieren, und ein großer Teil der christlich-wissen­ schaftlichen Literatur zum Thema Judentum versagen heute im­ mer noch den Juden jede Spur von Ehre. So ist ein Dialog nicht möglich. Nicht nur, daß wir keinen Grund hätten, mit ihnen zu sprechen, warum sollten sie mit uns sprechen wollen, wenn sie die Juden doch als Monster darstellen ? Ich kann mir zum Beispiel keine Auseinandersetzung mit dem Jesus bei Johannes vorstellen, wo das ewige Israel mit unverhohlenem Haß beschrieben wird. Im Matthäusevangelium hingegen liegen die Dinge anders. 26

Matthäus schildert mehr als nur eine übernatürliche Gestalt. Sein jesus aus dem Hause David hat nicht nur Wunder gewirkt, sondern er starb auch, verbrachte drei Tage in der Hölle, stand dann von den Toten auf und ließ ein leeres Grab zurück. Die Schrift des Matthäus führt auch als einzige die Lehren, die Jesus zu seinen Lebzeiten verkündete, als Beleg an, warum ich Jesus als Christus annehmen sollte. Es scheint mir daher richtig und ange­ messen, einige dieser Lehren zu untersuchen und mich zu fragen, ob ich sie innerhalb des ewigen Israel als Teil der Thora akzeptie­ ren kann. Und genau dieses schlage ich vor. Dadurch erkenne ich die grundlegenden Überzeugungen der anderen Seite, die ein Au­ ßenseiter nicht nachprüfen kann, als gültig an. Oder ich lasse sie außer acht, weil sie nicht zu der Sache gehören, zu der ich Stellung beziehen soll: Das möge der Leser selbst entscheiden. Drittens schuldet jede Partei der anderen Respekt. Die Christen, die Jesus Christus als fleischgewordenen Gott verehren, werden wahrscheinlich eine solche gründliche Auseinandersetzung als Form der Verehrung seltsam finden, und da haben sie nicht ganz unrecht. Weder in den j üdischen Schriften, in denen gegen die christliche Religion polemisiert wird, noch in den christlichen Schriften, in denen gegen die j üdische Religion polemisiert wird, wurde jemals festgestellt, daß wir um dieselben Dinge streiten, die denselben Wahrheitskriterien unterliegen, und um nichts anderes. Aber wie kann ich mit dem menschgewordenen Gott streiten ? Nun, wie ich bereits sagte, sobald der fleischgewordene Gott sagt: » Tue lieber dieses als jenes « , und sich dabei auf die Thora beruft, ist es richtig und angemessen, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Ich möchte noch einmal betonen, daß im Judentum das Streit­ gespräch eine Form des religiösen Diskurses darstellt: So sprechen wir miteinander, so zollen wir uns gegenseitig Respekt und zeigen unsere Achtung. Das Judentum verlangt als eine wichtige religiöse Betätigung das » Studium der Thora « , und dazu gehören Streitge­ spräche, Dispute und Auseinandersetzungen über Behauptungen, Beweise, die Gültigkeit von Untersuchungen wie auch in anderen 27

Wissensgebieten. Ich verbringe mein Leben mit dem Studium der Thora (auf eine besondere Weise), und mir ist beides geläufig: die ernsthafte Konfrontation mit dem Intellekt und den Vorstellungen des anderen aufgrund meiner religiösen Überzeugung und die Rücksicht auf den Standpunkt des anderen aufgrund meiner weltlichen Berufung. In dieser Hinsicht bitte ich die Christen, einen Zug der j üdi­ schen Tradition zu übernehmen. Wie die Christen legen auch wir Wert auf die Vernunft und auf vernunftbegründeten Glauben, eine der großen geistigen Traditionen der Menschheit in unseren hei­ ligen Büchern. Das wichtigste einzelne Buch im Judentum ist der Babylonische Talmud (ca. 6oo n. Chr. ) , ein fortlaufender Kom­ mentar zu einem philosophischen Gesetzeskodex, der sogenann­ ten Mischna (ca. 200 n. Chr. ) . Der Talmud ist nichts anderes als ein langes Streitgespräch, oder vielmehr besteht er aus An­ merkungen dazu, mit denen wir heute den Streit rekonstruieren können, der vor so langer Zeit ausgetragen wurde. Und seit der Talmud seine endgültige Form gefunden hat, haben alle, die ihn gelesen haben, nicht nur dem Streit zugehört, sondern auch ver­ sucht, mitzustreiten. Das religiöse Leben nach der Thora, das Ju­ dentum, nimmt daher die Form einer sehr langen Auseinander­ setzung über dieses und jenes an. Andere verbringen Stunden mit dem Aufsagen von Psalmen und Gebeten, auch viele Juden tun das. Aber die wirkliche Elite unseres Glaubens, die Meister ( und jetzt auch die Meisterinnen ! ) der Thora verbringen viel Zeit mit Debatten über die Worte der Thora, wie sie in der Mischna und im Talmud stehen. Dies ist unsere höchste Tat im Dienste Gottes, nachdem wir unseren Mitmenschen gegenüber unsere Pflicht er­ füllt haben. Warum ist das so? Weil wir den Einsatz des Geistes, den Aus­ tausch von Gedanken, Behauptungen, Gründen, Beweisen, Er­ kenntnissen, kurzum die Auseinandersetzung als Anwendung dessen ansehen, was wir mit Gott gemeinsam haben, was uns Gott gleich macht, und das ist unser Geist. Ich würde gerne mit Gott streiten, wie es die großen Rabbis taten, wenn ich Gelegenheit 28

dazu hätte, warum also nicht mit dem inkarnierten Gott der an­ deren ? Wie könnte ich meinen Respekt für diese Religion und diese Gestalt besser zum Ausdruck bringen, als auf seine beste Antwort mit meiner besten zu reagieren ? Wie gesagt, ein Streit soll Ausdruck des Respekts sein, keine Beleidigung. Abraham traf mit Gott in Sodom zusammen. Mose bestand darauf, Gott in der Feldspalte zu sehen. Die Propheten und Ijob gehören schließlich (auch) zu unserer Thora. Und die mündliche Überlieferung des Gesetzes, die wir vom Berge Sinai haben, lehrt uns die Regeln vernünftiger Auseinandersetzung über heilige Dinge, einer Auseinandersetzung zwischen Men­ schen, die glauben, daß wir durch Anwendung von Vernunft und praktischer Logik beim Studium der Thora Gott dienen. Wenn wir in den Himmel kommen, hoffen zumindest einige von uns, daß sie dort oben in die Akademie, die himmlische Jeschiwa aufgenommen werden und sich an den Streitgesprächen von Mose, unserem Rabbi, und den großen Weisen beteiligen kön­ nen. Unsere Religion kennt keine größere Geste des Respekts als ein Streitgespräch. Jene Art des j üdisch-christlichen Dialoges lehne ich ab, bei der j ahrhundertlang von j üdischer Seite nur behauptet wurde, daß das Christentum erstens eigentlich nicht existiere und daß es zweitens, falls es doch existierte, ohne Einfluß auf das Ju­ dentum sei ( mit den Begriffen des Judentums: auf » die Thora « ) . Drittens wurden böse Geschichten über die Person Jesu verbreitet. Ich betrachte Schriften mit Abscheu, in denen die Religionen oder heilige Frauen und Männer diffamiert werden. Hier teile ich die Empörung der islamischen Welt über Rushdies Satanische Verse aus muslimischer Sicht (ob diese Sicht der Realität entspricht, steht hier nicht zur Debatte ) . Ich kann auch die tiefe Verletzung der Christen über die entwürdigenden Darstellungen Jesu ver­ stehen, die heutzutage so viel Aufmerksamkeit erregen. Im Dien­ ste öffentlicher Entscheidungsträger bin ich für die Christen ein­ getreten, die sich dagegen wandten, daß öffentliche Gelder für die Diffamierung ihres Glaubens und dessen Begründer ausgegeben 29

werden. Die Reaktion der Öffentlichkeit war klar: Ich mußte da­ für bezahlen, aber ich habe es gern getan. Meine Absicht ist ganz und gar nicht zu verletzen, ich will le­ diglich eine Auseinandersetzung beginnen. Dies wiederum e� klärt, warum ich bei der Debatte nur die diesseitige Erscheinung einer insgesamt übernatürlichen Gestalt berücksichtige. Jeder, der dem Jesus bei Matthäus begegnet, erkennt, daß der Evangelist den in­ karnierten Gott vor Augen hatte. Auf diesen Seiten ist mir bei je­ der Zeile bewußt, daß ich über den Gott der anderen spreche, ei­ nen Gott, dem Gebete und Ergebenheit zuteil werden, in dessen Dienst manche ihr Leben stellen, daß ich nicht über einen Men­ schen spreche, sondern über den fleischgewordenen Gott, an den sich viele Menschen in ihrer Hoffnung auf ewiges Leben wenden. Ich stelle keineswegs den Glauben der Gläubigen in Frage, das steht einem Außenseiter auch gar nicht zu. Ich wäre stolz, wenn die christlichen Leser bei der Lektüre meines Buches sagten: »Ja, wir haben die Fragen, die Sie aufwerfen, bedacht und uns im Gei­ ste mit Ihnen auseinandergesetzt. Nun wiederholen wir mit um so stärkerem Glauben unser Bekenntnis zu Jesus Christus. « Und nichts würde mich glücklicher machen, als von einem j üdischen Leser zu hören: »Jetzt verstehe ich, warum wir sind, was wir sind, und ich bin stolz darauf. « Es geht nicht darum, daß ich diesen Streit gewinnen will. Es ist vielmehr ein Streit, der sowohl Juden als auch Christen jene an­ dere Position der Thora plausibel machen soll, die die Juden fast 2000 Jahre lang bej aht haben, seit sie sich entschieden haben, Je­ sus nicht nachzufolgen, sondern ihren eigenen Weg zu beschreiten. Ich sage dies nicht als Entschuldigung, ich sage es ohne Hinter­ gedanken und Arglist. Ich bestätige nur die Thora vom Sinai nochmals gegenüber dem Jesus Christus bei Matthäus: Zumindest würde Mose das von jedem von uns und von dem Jesus bei Matt­ häus erwarten. Wenn ich nun sage, heute würde ich ein Streitge­ spräch anbieten, wenn ich diese Worte hörte, spreche ich von dem sterblichen Menschen, der unter uns wandelte und mit uns sprach. Wenn ich nur diese Worte hätte und nichts von dem Lebensweg, 30

den Wundern, der Kreuzigung und der Inthronisation zur Rechten Gottes wüßte, was hätte ich ihm geantwortet? Nicht ja, aber . . . , auch kein Lob auf den großen Lehrer und Rabbi, nicht einmal die Versicherung, er sei doch wenigstens ein Prophet, wenn schon nicht der Messias - nichts von alledem . Es ist unaufrichtig, Jesus einen Rang innerhalb des Judentums zu geben, der den Christen zu Recht gering und unangemessen erscheint. Wenn er nicht der Messias, der inkarnierte Gott ist, was nützt es dann, wenn ich seine Lehren als die eines Rabbis oder Propheten ansehe ? Mit solchen Zugeständnissen weicht man dem Problem nur aus und verschleiert die eigentliche Ablehnung: Jesus kann alles ge­ wesen sein, nur nicht das, was die Christen behaupten - nämlich Christus, Messias, inkarnierter Gott. So hat weder in der Vergan­ genheit noch in unseren Tagen eine gründliche Auseinander­ setzung über diejenige Seite des christlichen Jesus Christus, des inkarnierten Gottes, stattgefunden, die im Widerspruch zum jü­ dischen Glauben stehen könnte. Mehrere Generationen j üdischer Apologeten haben

den

.. Wundertäter aus Galiläa « lauthals gepriesen und ihn in die Tra­ dition eines Elija und der chassidischen Rabbis des 1 8 . Jahr­ hunderts und später eingeordnet. Andere Generationen verehrten Jesus als einen großen Rabbi. Solche Ausflüchte gegenüber dem christlichen Anspruch auf Wahrheit funktionieren nicht mehr. Die Christenheit glaubt nicht an einen galiläischen Wundertäter, auch verehren die Christen keinen Rabbi. Ich für meinen Teil will nicht ausweichen, will keine Zugeständnisse machen. Ich werde den Gott anderer nicht mit sinnlosen Komplimenten überschwenglich loben: das wäre erniedrigend und unaufrichtig. Indem ich die Lehren des Jesus aufgreife, der bei Matthäus dargestellt ist, zolle ich einer Sache ernsthafte Aufmerksamkeit, die bisher unter den Juden wenig Beachtung gefunden hat. Denn bis in unser Jahrhundert hinein haben Juden das Christentum ab­ gelehnt, ohne die Lehren Jesu im einzelnen zu betrachten. Vom ersten Jahrhundert bis in unsere Zeit haben die Juden auf Jesus immer nur im Zusammenhang mit dem Christentum insgesamt 31

reagiert, auf das komplexe Bild dieses Mannes und seiner Bedeu­ tung. Weil den Juden immer bewußt war, was später geschah - aus der christlichen Sicht: Jesu Tod und Auferstehung, die Gründung seiner Kirche, die Ausbreitung dieser Kirche über die ganze Erde ­ haben sie sich nicht vorstellen können und haben es deshalb auch nicht versucht, einen bescheideneren, aber ernsthafteren Ge­ dankenaustausch mit Jesus als Christus zu unternehmen. Ich will es versuchen. Anstatt Matthäus' Geschichte von Jesus nach Art der Gelehrten zu kritisieren, wollen wir sie lieber anhören und uns vorstellen, wir wären selbst Akteure darin. Matthäus war ein großer Ge­ schichtenerzähler, was allein schon die Tatsache belegt, daß von damals bis heute die Leser immer wieder von seiner Erzählung tief bewegt sind. Warum können wir dann nicht an der Geschichte teilhaben und ihre Qualitäten anerkennen ? Ich will von jetzt an nicht mehr die wissenschaftliche Zuordnung >> der Jesus bei Matt­ häus « gebrauchen. Dies ist kein wissenschaftliches Buch - ich nenne nicht einmal die Büc her, die ich gelesen habe, um das Evangelium des Matthäus zu verstehen, und eigentlich ist dies auch kein Buch über das Matthäusevangelium. Dies ist ein Buch über die Begegnung zweier Glaubensgemeinschaften. Außerdem versteht jeder, daß der Jesus bei Matthäus nur eine Seite, nur eine Facette jenes Jesus darstellt, der wirklich gelebt und gelehrt, der Wunder gewirkt und Jünger um sich geschart hat, der durch Pon­ tius Pilatus verfolgt und gekreuzigt wurde, von den Toten aufer­ standen ist und nun auf dem Thron sitzt. Matthäus ist nur ein Weg zum wirklichen Jesus. Aber ich will die Geschichte als Teil der christlichen Bibel lesen, so wie es die Gläubigen in den Kirchen und wie es übrigens auch die Juden tun, wenn sie das Neue Testament aufschlagen - so, und nicht in der geltenden Lesart der Theologen in den Universitäten und Seminaren. Ich streite mit dem Jesus, den gläubige Christen verehren, den sie aus den großen Erzählungen kennen, darunter auch diese eine, die speziell für Juden geschrieben wurde. Also hören wir in die Geschichte hinein, die Matthäus von Jesus er32

zählt, und sprechen wir über die Dinge, die der Erzähler uns schildert, als geschähen sie direkt vor unseren Augen. Wir kennen nur zwei Dinge: die Thora und Matthäus' Bericht über das, was Jesus sagte - sonst nichts. » Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu re­ den und lehrte sie . . . « Ohne weiteres gelangen wir zu diesem Berg in Galiläa, wo Jesus das Herzstück seiner Lehre verkündete. Wir stehen am Fuß des Berges. Wir schauen hinauf und erkennen die Gestalt eines Mannes. Er sagt vieles. Wir erfassen nur einiges da­ von - wir, das ewige Israel, erinnern uns an den anderen Berg Sinai - und an das, was Mose uns dort auf Gottes Geheiß hin sagte.

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2 Nicht um aufzuheben, sondern um zu erfüllen

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist . . . , ich aber sage euch

» Denkt nicht, ich sei gek ommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um auf­ zuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles ge­ schehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. « (Matthäus J, I 7 - 2 o) Man mußte nicht weit reisen, um den Meister zu treffen. Er war überall. Um aber die ganze Botschaft zu hören, mußte ich warten bis zu dem Tag, als er auf den Berg stieg und zu seinen Jüngern sprach; da konnten auch andere Menschen ihn hören. Neugierig war auch ich gekommen, um zu hören, wie die Thora das Leben in meiner Zeit und an diesem Ort bestimmen sollte. Und es war gut, daß ich mich so entschieden hatte. Denn die Worte, die er an jenem Tag sprach, sind nun als Bergpredigt in 34

Matthäus 5 , 1 - 7,29 überliefert und bilden die wichtigste Erklä­ rung der Lehren Jesu. Die Bergpredigt besteht aus wohlgeordneten Aussagen, mit denen man sich auseinandersetzen kann - anders als mit den Wundern, die Jesus wirkte, seiner Lebensgeschichte, seinen Taten und natürlich dem Leiden am Kreuz, seinem Tod und der Auferstehung: » Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden . . . « (Matthäus 2 8,6) All diese Teile des Evangeliums, die » frohen Botschaften « , sind verständlich für Gläubige, denn an sie sind die frohen Botschaften des Matthäus auch gerichtet. Aber mit seinen Jüngern auf dem Berg sitzend, lehrt Jesus sie - und ebenso uns Umstehende - seine Thora. Hier sagt er den Menschen, worum es geht, was sie tun sollen, was Gott von uns erwartet und wie wir leben sollen. Jesu Thora ist wichtig, und nach seinen eigenen Worten ist sie auch umstritten. Also fordert er zur Auseinander­ setzung auf und eröffnet den Weg zum Streitgespräch, wie es jeder Lehrer tut, der eine Veränderung im Denken der Menschen be­ wirken möchte - oder gar eine Änderung in ihrem Leben. Ich will mich an der Auseinandersetzung über diese speziellen Themen beteiligen, die mein Leben und meine Welt angehen und die am Berge Sinai in einer ganz bestimmten Weise erörtert wurden. Als wir zum erstenmal von Jesus selbst und nicht nur über ihn hören, erzählt er den Menschen vom Königreich Gottes. Das ist für mich ein vertrautes Thema, das mir die Thora nähergebracht hat. Wenn ich das Joch der Gebote in der Thora auf mich nehme und sie erfülle, dann erkenne ich die Herrschaft Gottes an. Ich lebe im Königreich Gottes, im Herrschaftsbereich des Himmels hier auf der Erde. Das heißt es, ein heiliges Leben zu führen: im Hier und Jetzt nach dem Willen Gottes zu leben. Denken wir an den Bund des ewigen Israel mit Gott, dann überzeugt uns diese Botschaft gewiß, denn die Thora ordnet das Leben Israels als ein Königtum von Priestern und heiligen Men­ schen, das durch den Propheten Mose und durch die von Gott ge­ weihte Priesterschaft, die Aaron, der Bruder Mose, gegründet hat, unter der Herrschaft Gottes steht. Wenn wir das sogenannte » Schema « rufen: » Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist ein35

zig « ( Deuteronomium 6,4 - 9 ), fordern wir uns mit dem ersten Wort » höre « auf, daß wir » das Joch des himmlischen Königtums annehmen « , wie die Lehrmeister der Thora sagen. Das heißt, wir nehmen die Gebote an, die Gott uns mit dem Bund am Sinai ge­ geben hat. Auch als Jesus begann, Israel das Gesetz zu lehren, be­ zogen sich wesentliche Teile seiner Thora auf vertraute Themen. Gleich zu Anfang kündigt er an, seine Absicht sei es nicht, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern sie zu erfüllen. Die Thora behält ihre Gültigkeit: Das ist seine Botschaft, und unter dieser Voraussetzung komme ich und höre zu. Er hat ein Recht darauf, aufmerksam angehört zu werden. Ich stehe da, höre Worte, die mich bewegen, und höre vertrau­ ensvoll zu. Denn Jesu erste Worte gewinnen mein Vertrauen. Er eröffnet seine Predigt über das Evangelium vom Königreich mit einer Botschaft, an der kein Anhänger der Thora des Mose Anstoß nehmen wird: » Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich . . . Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie wer­ den das Land erben. « (Matthäus 5 ,3 . 5 ) . » Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frie­ den stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden « (Matthäus 5 ,6 - 9 ) . Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend je­ mand gegen diese Lehren etwas einzuwenden haben könnte, denn sie stehen im Einklang mit dem Versprechen der Thora: »Wer sie a ber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. « Aber was folgt i n dem von Matthäus vorgegebenen Rahmen als nächstes ? » Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt. « (Matthäus s , u - u). Warum sollte man die Jünger eines Mannes verfolgen, der jene seligpreist, die ein reines Herz haben, die Frieden stiften und die arm sind vor Gott? Jesu Aufmerksamkeit hat sich unversehens von denen, die arm sind vor Gott, von den Trauernden, von den Friedliebenden, 36

von den nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, von den Barmherzigen abgewandt und einem » Ihr « zugewandt. Das ist ein Mißton und erregt meine Aufmerksamkeit. Wenn ich genau hinhöre, kann ich noch Nachklänge einer Kontroverse erkennen, aber ich verstehe den Anlaß nicht. Denn das » Ihr« hat sich von uns Juden, dem heutigen ewigen Israel, auf jene verlagert, die » um meinetwillen « verfolgt werden. Nichts in der Botschaft des Mei­ sters weckt meinen Widerspruch; im Gegenteil, die Thora schützt besonders die Armen, die Trauernden, die Friedliebenden und die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit. Die Thora lehrt uns, Barmherzigkeit zu üben. Keine dieser Lehren erklärt, warum die­ ser besondere Meister mich warnt, ich könnte verfolgt werden, wenn ich ihm nachfolge. Er versichert mir: » Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Ge­ setz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. « Das kann nur bedeuten, daß es Ablehnung und Verfolgung nicht deshalb geben wird, weil etwas, was er sagt, dem widerspricht, was am Sinai verkündet wurde. Warum aber sollte es dann Verfolgung geben, warum werden die getröstet, die um seinetwillen leiden ? Der Weise auf dem Berg nennt selbst den Grund. Er erklärt, daß zwischen der Botschaft vom Sinai und der neu verkündeten ein Unterschied be­ steht. Man sagt mir, ich solle mich auf etwas Neues, Originelles einstellen, auf etwas, das besser ist als alles zuvor - und dennoch soll es eine Lehre im Einklang mit dem Gesetz sein, das Gott Mose am Sinai offenbarte. So stellt sich der Weise eine achtbare Auf­ gabe, eine, die sich jeder Weise in jeder Generation stellen sollte: Ü bernimm eine Traditi o n ganz und vollständig, gib sie unge­ schmälert, aber nicht unverändert weiter, und du wirst einen rechtmäßigen Platz in der Kette der Überlieferungen vom Sinai finden. Die Aufgabe einer jeden Generation ist es, zu empfangen und weiterzugeben, wie es im ersten Satz des Mischna-Traktats Abot heißt, der Worte der Gründerväter der jüdischen Religion enthält. Die Mischna ist ein philosophisches Gesetzeswerk und wurde 37

etwa im Jahre 200 n. ChL fertiggestellt. Sie ist die erste maß­ gebliche kanonische Schrift des Judentums nach der Hebräischen Bibel. Die j üdische Religion beruft sich auf die Mischna und er­ kennt neben der Hebräischen Bibel (oder dem » Alten Testament « ) und der Mischna keine anderen heiligen Bücher an. Alle späteren heiligen Bücher gehen entweder von der Heiligen Schrift oder der Mischna aus. Somit ist sie die wichtigste Schrift im Judentum nach der Thora. Im vorliegenden Traktat werden Grundlagen des Glaubens und zentrale Verhaltensregeln dargelegt. Er beginnt mit den folgenden Worten: » Moses erhielt die Thora vom Sinai und überlieferte sie ]osua und ]osua den Ältesten und die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Synagoge. Diese stellten drei Sätze auf: Seid vorsichtig beim Richten! Stellt viele Schüler auf. Macht einen Zaun um die Thora. «

Es ist deshalb richtig und angemessen, daß dieser weise Lehrer die Bedeutung sowohl aufnimmt als auch weitergibt, das Erbe vom Sinai entgegennimmt und zugleich der nächsten Generation etwas überliefert, das er dem Erbe vom Sinai hinzugefügt hat. Da die Männer der Großen Synagoge nicht vom Zitieren der Heiligen Schrift sprechen, sondern davon, ihre eigenen Lehren der Kette der Überlieferungen hinzuzufügen, erwarte ich auch von Jesus nicht nur eine Wiederholung oder Paraphrase der Heiligen Schrift, sondern etwas Neues, das doch ganz und gar zu der überlieferten ­ und jetzt weitergereichten - Thora gehört. Ich bin auf sein Ange­ bot vorbereitet: die Thora aufnehmen, aber auch die Erneuerung der Thora durch den Meister anhören. Deshalb ist mir der Vorgang ganz vertraut, daß eine Abfolge von Lektionen dargelegt wird und jede mit der Feststellung be­ ginnt, daß andere, frühere Meister eine geringere Wahrheit lehrten als der größere Meister Jesus. Das ist mit der Behauptung gemeint, das Gesetz und die Propheten sollten nicht aufgehoben, sondern 38

erfüllt werden. Fünf wichtige Aussagen fesseln meine Aufmerk­ samkeit: I. » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Du sollst nicht töten . . . Ich aber sage euch: jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. « (Matthäus 5,2.I 2.2.) 2. . » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. « (Matthäus 5, 2. 7 - 2. 8) 3 · » Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht . . . (Matthäus 5 ,J 3 - 34) 4· » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. « (Matthäus 5,3 8 -3 9) 5. »Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist: Du sollst dei­ nen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch ver­ folgen . . . Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist. « (Matthäus 5,43 -44·4 8) Wir müssen den Inhalt der Aussagen Jesu von der Form trennen, in die er sie kleidet. Die Botschaft rechtfertigt mein Vertrauen, aber danach verstehe ich um so weniger, was an diesen weisen, tiefgründigen Interpretationen der Thora umstritten sein soll: eine Thora - die Lehre eines Meisters -, die gut zur Thora, der Offen­ barung Gottes an Mose am Berge Sinai, paßt, eine Offenbarung, die Raum schafft für die Lehren anerkannter Weiser aus allen Zeiten. Diese Aussagen Jesu weisen in das Zentrum, das Herz der Thora-Botschaft. 39

. In seiner Darlegung, wie das Gesetz und die Propheten nicht aufgehoben, sondern erfüllt werden, stellt Jesus eine Reihe von Lehren auf, die insgesamt einen Anspruch der Thora beinhalten, der höher ist, als den Menschen bislang bewußt war. Nicht allein, daß ich nicht töten darf, ich darf mich nicht einmal der Schwelle des Zorns nähern, die zum Mord führt. Nicht allein, daß ich kei­ nen Ehebruch begehen darf, ich darf mich nicht einmal dem Weg nähern, der zum Ehebruch führt. Ich darf nicht nur keinen Mein­ eid in Gottes Namen schwören, ich soll überhaupt nicht schwö­ ren. Diese Formulierungen sind Ausarbeitungen von drei der Zehn Gebote. (Wir werden später noch auf zwei weitere kommen. ) In dem jüdischen Text, der Autoritäten zugeschrieben wird, die lange vor Jesus gelebt haben, heißt es: » Macht einen Zaun um die Tho­ ra. « Das bedeutet: Meide sogar die Dinge, die zur Sünde führen, nicht nur die Sünde selbst. Wenn ich die Aussöhnung suche, ziehe ich einen Zaun gegen den Wunsch zu töten, durch die Keuschheit in Gedanken ziehe ich einen Zaun gegen den Ehebruch in der Ausführung. Wenn ich überhaupt nicht schwöre, schwöre ich auch keinen Meineid. Diese Botschaft ist es wert, gehört zu werden. Sie macht den eigen­ artigen Kontrast zwischen dem, was ich gehört habe, und dem, was ich jetzt höre, verständlicher. Der Kontrast soll auch Auf­ merksamkeit erregen, und das gelingt, ich bin beeindruckt - und bewegt. Gewiß, die Rabbinen kamen in den großen rabbinischen Schriften im Laufe der Zeit zu demselben Schluß: Man soll den Zorn, die Versuchung und den Schwur meiden. Aber das gehört nicht eigentlich zu unserer Auseinandersetzung. Wichtig ist, daß viele Lehren aus der Weisheitsliteratur und den prophetischen Schriften, die Sprichwörter zum Beispiel, zu den gleichen lobens­ werten Schlußfolgerungen kommen, etwa daß der Herr falsche Zeugen haßt, daß man die Schönheit einer bösen Frau nicht im Herzen begehren, sich nicht durch ihre Wimpern fangen lassen soll und ähnliches ( Sprichwörter 6, 2 5 - 26). Die Unterweisung in der Thora durch eine Paraphrase der Thora gehörte später zur üblichen Lehrweise der Rabbinen. Wir 40

kennen den großen Meister Jochanan ben Sakkai (der Name klingt seltsam; Jochanan heißt Johannes und >> ben Sakkai « kann mit » der Gerechte « übersetzt werden, >>Johannes der Gerechte « klingt schon weniger exotisch) . In Aussprüchen, die ihm und sei­ nen Schülern zugeschrieben werden, finden wir genau dasselbe Programm: Er formuliert die Anforderungen der Thora vom Sinai konkreter und in einem präziseren Rahmen. Schauen wir uns an, wie er seine Schüler unterrichtete, wie auch sie die Lehren der Thora paraphrasierten, um sie konkreter und gleichzeitig tief­ gründiger darzulegen. Dann wird deutlich, warum mir die Situa­ tion aus der Bergpredigt so vertraut ist: » Rahban ]ochanan ben Sakkai erhielt [die Thora] von Hillel und Schamma;. Er sprach: Wenn du die Thora in reichem Maße gehalten hast, so tue dir nichts darauf zugute, denn dazu bist du geschaffen. Fünf Schüler hatte Rahban ]ochanan ben Sakkai, und das sind folgende: Rabbi Eliezer ben Hyrkanos, Rabbi ]osua ben Chananja, Rabbi ]ose der Priester, Rabbi Simeon ben Neta­ nel und Rabbi Eleazar ben Arach . . . Er sprach zu ihnen: Geht aus und schaut: welches ist ein gu­ ter Weg, den der Mensch befolgen soll? Rabbi Eliezer sprach: ein gütiges Auge. Rabbi ]osua sprach: ein guter Genosse. Rabbi ]ose sprach: ein guter Nachbar. Rabbi Simeon sprach: wer auf die Folgen sieht. Rabbi Eleazar sprach: ein gutes Herz. Da sprach er zu ihnen: Ich gebe den Worten des Eleazar ben Arach den Vorzug vor euren Worten, weil in seinen Worten eure Worte mit enthalten sind. Er sprach zu ihnen: Geht aus und schaut: welches ist ein böser Weg, dem der Mensch fernbleiben soll? Rabbi Eliezer sprach: ein böses Auge. Rabbi ]osua sprach: ein böser Genosse. Rabbi ]ose sprach: ein böser Nachbar.

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Rabbi Simeon sprach: wer borgt und nicht zurückgibt. Rabbi Eleazar sprach: ein böses Herz. Da sprach er zu ihnen: leb gebe den Worten des Eleazar ben Arach den Vorzug vor euren Worten, weil in seinen Worten eure Worte mit enthalten sind. Sie sprachen [jeder] drei Worte. Rabbi Eliezer sprach: Die Ehre deines Genossen sei dir so lieb wie deine eigene. Werde nicht leicht zornig. Bekehre dich einen Tag vor deinem Tode. Rabbi Jose sprach: Hab und Gut deines Genossen sei dir so lieb wie dein eigenes. Schicke dich an, die Thora zu lernen; denn sie fällt dir nicht als Erbschaft zu. Alle deine Handlungen sollen im Namen Gottes geschehen. « (Mischna, Abot 2, 8ff.) Will ich die Bedeutung des großen Gebotes aus Levitikus 1 9, 1 8 » D u sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« - erklären, wende ich mich am besten an die Jünger von Jochanan ben Sakkai. Die Sätze am Ende des Zitats bringen mich dem Ziel » meinen Nächsten lieben wie mich selbst« am nächsten. Sie besagen, ich soll die Ehre meines Nächsten ebenso achten wie die Ehre, die mir zukommt, sein Eigentum ebenso achten wie meines. Weder jesus noch die Schüler des Jochanan ben Sakkai zitieren Verse aus der Heiligen Schrift oder andere Texte. Die Schüler stellen als Antwort auf die Frage ihres Lehrmeisters einfach eigene Behauptungen auf. Der entscheidende Vers aus Levitikus 1 9, 1 8 wird nicht zitiert, ist aber sehr gegenwärtig. Wenn wir das so ausdrücken, wie Mat­ thäus Jesus sprechen läßt, würde es sich folgendermaßen anhören: >> Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich aber sage euch: Die Ehre deines Genossen sei dir so lieb wie deine eigene. « '' Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich aber sage euch: Das Eigentum deines Genossen sei dir so lieb wie dein eigenes. « Jetzt werden Sie verstehen, warum ich gesagt habe, daß die 42

Botschaft mein Vertrauen gewinnt, die Form mich aber irritiert. Mit der Berufung auf die Thora und die weitergehende Erklärung ihrer Absicht stellt sich Jesu Thora der Herausforderung, die sich die Weisen selbst gewählt haben, nämlich die Thora nicht nur zu übernehmen, sondern sie auch weiterzugeben. Und das bedeutet nicht nur Wiederholen und Paraphrasieren, sondern Lehren, Er­ läutern, Ausführen und Ausschmücken. Genau das tut Jesus in diesen Sätzen. Das heißt nicht, daß ich jeder Aussage, die mit den Worten » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist « beginnt, sofort zustimme und mir denke: Es klingt vertraut, aber besser. In manchen Aus­ sagen Jesu suche ich vergeblich nach einer so offensichtlichen Be­ stätigung seines Anspruchs, er sei nicht gekommen, um auf­ zuheben, sondern um zu erfüllen. Denn im vierten und fünften Satz stellt sich ein neues Problem. Warum dem Bösen nicht Wi­ derstand leisten ? Die Botschaft der Thora und der Propheten lau­ tet anders. Natürlich verstand niemand darunter die exakte phy­ sische Vergeltung des Zugefügten; man kannte auch damals eine finanzielle Entschädigung für Körperverletzung. Die Lehre, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten, hat kei­ nerlei Bezug zu » Auge für Auge « . Das gehört nicht in die Katego­ rie » einen Zaun um die Thora ziehen « . Es ist eine religiöse Pflicht, dem Bösen Widerstand zu leisten, für das Gute zu streiten, Gott zu lieben und die zu bekämpfen, die sich zu Feinden Gottes machen. In der Thora wird nie erwähnt, daß man dem Bösen nicht wider­ stehen soll, und es wird weder der ängstliche Mensch gelobt, der sich unterwirft, noch der arrogante Mensch, der es für unter seiner Würde hält, dem Bösen entgegenzutreten. Passivität angesichts des Bösen nützt dem Bösen. Durch die Thora ist das ewige Israel aufgerufen, immer für die Sache Gottes einzutreten. Sie billigt den Krieg und erkennt legitime Macht an. Darum erstaunt mich Jesu Aussage, es sei eine religiöse Pflicht, vor dem Bösen die Arme zu verschränken. Sicher, in den Sprichwörtern heißt es: » Eine sanfte Antwort dämpft die Erregung. « ( Sprichwörter I 5 , 1 ) Wer diesen Vers kennt, 43

wird sich in der Erweiterung, die jesus nennt, wiederfinden. Auch folgenden Satz sollten wir nicht übersehen: » Hat dein Feind Hunger, gib ihm zu essen, hat er Durst, gib ihm zu trinken; so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt, und der Herr wird es dir vergelten. « ( Sprichwöner 2 5 , 2 .1 - 2 2) Aber dieser eher raf­ finierte Rat ist weit entfernt von dem Satz: » Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand. « Dies ist eine gänzlich an­ dere Forderung. Der fünfte Satz zitiert eine Aussage, die nicht in der Thora zu finden ist. Sie enthält kein Gebot, das besagt, man solle seine Fein­ de hassen. Die Thora der späteren Rabbinen forderte: Hasse das Böse, nicht den Übeltäter. Wer die Thora kennt, wird sich fragen, wo wir dieses » Gebot« gehön haben sollen; Gott hat es jedenfalls Mose nicht offenbart, damit er es an uns weitergebe. Aber die Feinde Gottes sind eine andere Sache, ihnen leisten wir Widerstand - an anderen Stellen der Erzählung tut das auch Jesus. Darüber hinaus fordert uns die Thora eindeutig auf, die Feinde Gottes zu bekämpfen: Amalek zum Beispiel, Korach und viele andere. Wie passen die beiden Punkte zusammen ? C. G. Montefiores Beobachtung erscheint mir sehr weise:

»]esus hatte nicht öffentliche Gerechtigkeit, die Ordnung bürgerlicher Gemeinschaften, die Organisation von Staaten im Blick, sondern nur die Frage, wie die Mitglieder seiner religiösen Bruderschaft sich untereinander und gegenüber Außenseitern verhalten sollten. Die öffentliche Gerechtigkeit liegt außerhalb seiner Zuständigkeit. « • Wenn jesus seine jünger, die im Kreis um ihn herum Platz ge­ nommen hatten, lehren wollte, auch die andere Wange hin­ zuhalten, dem anderen den Mantel zu überlassen, noch eine Meile mit ihm zu gehen - wer kann ihm widersprechen ? Das ist der Weg



C. G. Montefiore: The Synoptic Gospels, New York 1968 (Nachdruck der Ausgabe 1 9 27), S.7 1 .

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der Nachsicht, den schließlich auch Jochanans Schüler als den guten Weg ins Bewußtsein riefen: Das Wichtigste ist ein gutes, verzeihendes Herz. Aber diese Botschaft ist nicht an die Menschen am Fuße des Berges gerichtet, sondern nur an jene, die auf dem Gipfel Platz genommen haben. Jetzt sind wir wieder an dem Punkt angelangt, wo wir feststellten, daß Jesus seine Lehren auf das » Wir « konzentrierte, auf die kleine Gruppe von Jüngern, die sich auf dem Berggipfel um ihn herum versammelt hatte, während der Rest unten stand. Jesus spricht nicht zum ewigen Israel, sondern zu einer Gruppe von Jüngern. Ab und zu erkennen wir eine Einschränkung in der Perspektive. Aber das ewige Israel ist vom Sinai nicht als eine An­ sammlung von Familien hervorgegangen, sondern als etwas Grö­ ßeres - eine Gemeinschaft, die als ganze mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile, viel mehr als Familien, die eher ein Volk ist, eine Nation, eine Gesellschaft: » ein Königreich aus Priestern und heiligen Menschen « . Im Laufe der weiteren Ausführungen zu sei­ ner Lehre beginne ich mich zu fragen, ob hier nicht das Ziel ver­ fehlt wurde; das ist keine Sünde, es ging nur daneben. Jesus spricht auf dem Berg nicht zu » ganz Israel « , sondern nur zu diesem und jenem, zu einzelnen Menschen und Familien. Er spricht über unser Leben, aber nicht über die ganze Welt, in der wir leben. Denn wir hören

eine Botschaft für

Heim

und

Herd,

für das

Er­

wachsenwerden und das Altwerden, a ber nicht für die Gemein­ schaft, den Staat, die fortdauernde soziale Ordnung, die das ewige Israel in dieser Welt bildet. Gleich am Anfang fällt auf, daß Jesus die Armen, die Trau­ ernden, die Friedfertigen, die Barmherzigen und die Friedensstifter im Blick hat. Wir werden später noch darauf zurückkommen. Sie alle sind Teil des ewigen Israel, von Gott aus gesehen vielleicht der beste Teil. Aber ich suche nach einer Botschaft, die nicht nur mich allein angeht, mein Leben und meine Familie, sondern uns alle, das ewige Israel, alle diejenigen, die am Sinai nicht als bunt zu­ sammengewürfelte Menge standen, sondern als Volk Gottes, als Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs. Jesus selbst ist 45

nach Auskunft von Matthäus - ein Sohn Davids und Abrahams. Als er auf dem Berg steht, sind das nicht die Zuhörer, die er vor sich sieht. Aber ich bin Teil seiner Zuhörerschaft. Das meine ich, wenn ich von dem verfehlten Ziel spreche. Damit können wir zum Inhalt sagen: Es ist viel Verdienstvolles, aber das, was verschwiegen wird, erweist sich als verhängnisvoll. Wir - das ewige Israel müssen aus der Thora erfahren, was Gott von uns erwartet. Jesus jedoch hat nur gesagt, wie ich als Einzelmensch tun kann, was Gott von mir erwartet. In der Wendung vom » Wir« vom Berge �inai zum " Ich « in der Thora des galiläischen Weisen vollzieht Jesus einen bedeutenden Schritt - in die falsche Richtung. Wäre ich dort gewesen, dann hätte ich mich gefragt, was er nicht mir persönlich, sondern uns allen zu sagen hat: dem ganzen Israel, das sich an j enem Tag in den anwesenden Personen, die seine Thora hören wollten, vor ihm versammelt hatte. Wenn aber das Wesentliche mir sowohl verdienstvoll wie auch fehlerhaft erscheint, dann ist die Form genau so, wie Matthäus sagte, nämlich erstaunlich. Wenn ich dort gewesen wäre, hätte ich das Erstaunen der Menge geteilt? Jawohl, und zwar aus dem glei­ chen Grund, den Matthäus nennt: " Denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten. « ( Matthäus 7,2.9) Die Formulierung » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist« wirft die Frage auf: Von wem ? Warum ? Ein Thora-Lehrer wird nach der Thora beurteilt und ist ihr verantwortlich. Und wenn es um die Thora geht, wird natürlich ein eindeutiger Bezug auf die Thora erwartet. Daß sie unerwähnt bleibt, erweist sich als un­ aufrichtig. Denn wer wüßte nicht, daß die Formulierung » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist « sich auf das bezieht, was Gott Mose am Sinai verkündet hat? jesus weiß das, als er dort oben auf dem Berg steht, ich weiß es, und alle um mich herum wissen es. Denn was ich gehört habe, ist das, was Gott zu Mose in der Thora gesagt hat: » D u sollst nicht morden, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht 46

mißbrauchen « und weitere der Zehn Gebote. So ist hier der rechtsgültige Anspruch, und zwar das in der Thora Gesagte zu interpretieren, in eine wahrhaft verwirrende Formulierung ge­ kleidet. Ja, ich wäre erstaunt gewesen. Da steht ein Lehrer der Thora, der in seinem eigenen Namen sagt, was die Thora im Namen Gottes verkündet. Es ist eine Sache, in eigenen Worten darzutun, wie eine grundlegende Lehre der Thora den Alltag bestimmt: » Die Ehre deines Genossen . . . , sein Eigentum . . . sei dir so lieb wie dein eigenes . . . « Etwas anderes ist es aber, zu behaupten, die Thora sagt dies, ich a ber sage euch . . . , und dann im eigenen Namen zu ver­ künden, was Gott am Sinai offenbart hat. Das erklärt, warum ich mich einerseits gewundert und andererseits auch Gefallen an den Lehren dieses Meisters der Thora gefunden hätte. Er ist ein Lehrer, der mein Verständnis für einiges, was Gott in der Thora weiter­ gegeben hat, erweitert, insbesondere durch seine Erklärung, wie man einen Zaun um einige der Zehn Gebote ziehen kann und wie ich leben soll, um meinen Glauben an Gott und seine Vorsehung offenbar werden zu lassen: » Rühme dich nicht des morgigen Ta­ ges, denn du weißt nicht, was der Tag gebiert« (Sprichwörter 2.7, 1 ) und ähnliche Sätze. Was ist das denn für eine Thora, die Lehren unserer Thora ver­ bessert, ohne die Quelle - und die Quelle ist Gott - dieser Lehre zu nennen ? Nicht so sehr die Botschaft macht mir Sorgen, obwohl ich auch gegen dies oder jenes Einwände hätte, sondern der Über­ bringer der Botschaft. Und zwar aus dem Grund, daß die Form der Aussage einen Mißklang erzeugt. Auf dem Berg spricht Jesus mit den Worten: » Ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist . . . Ich aber sage euch . . . « Diese Worte stehen in auffälligem Kontrast zu den Worten des Mose am Berge Sinai. Wie wir gesehen haben, spra­ chen die Weisen in ihrem eigenen Namen, behaupteten aber nicht, die Thora zu verbessern. Der Prophet Mose spricht nicht in seinem eigenen Namen, sondern im Namen Gottes, er sagt, was Gott ihm eingegeben hat. Jesus spricht nicht als Weiser und auch nicht als Prophet. Als Mose sich am Berg Sinai an das Volk wendet, beginnt 47

er mit den Worten: » Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägyp­ ten geführt hat; aus dem Sklavenhaus. « Mose spricht als Gottes Prophet, im Namen Gottes, für die Sache Gottes. Wie soll ich auf jenes andere >> Ich « reagieren, das in scharfem Kontrast zu dem steht, was ich gehört habe ? Nun, Matthäus weist selbst in seiner Geschichte auf diesen Kontrast hin: » Denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Voll­ macht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten. « Mose allein hatte die Vollmacht. Die Schriftgelehrten lehren die Botschaft und die Bedeutung dessen, was Mose mit der Vollmacht Gottes als Thora niedergelegt hat. So sind wir wieder dort, wo wir begonnen haben: bei der Schwierigkeit, im Rahmen der Thora den Lehrer zu ver­ stehen, der abseits der Thora, vielleicht auch über der Thora steht. Wir erkennen nun an vielen Punkten in diesem ausführlichen Be­ richt über die besonderen Lehren Jesu, daß es um die Person Jesu geht und nicht um seine Lehren. Immer wieder versichert er den Jüngern mit Blick auf ihre Be­ ziehung zu ihm: >> Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen be­ schimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. « (Matthäus s , n ) » Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr ! , wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. « (Matthäus 7 , 2 .1 ) » Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. « ( Matthäus 7,24) Diese und viele ähnliche Sätze sind nicht an das ewige Israel gerichtet, son­ dern nur an j ene ( und andere) Israeliten, die das » Ich « anerkennen, das auf » meinen Vater « verweist und von » diesen meinen Worten « sprechen kann. Alles paßt zusammen. Am Sinai sprach Gott durch Mose. Auf diesem galiläischen Hügel spricht Jesus für sich selbst. Mose sprach durch Gott zu » uns « , dem » ewigen Israel « , und wir, Israel, antworteten mit » wir « : » Wir werden tun, wir werden ge­ horchen. « In Galiläa spricht Jesus zu Menschenmassen, und sie sind erstaunt über seine Lehren. In der Menge spricht er einzelne Zuhörer an, die daher erkannt werden können. Es sind Einzel­ personen im ewigen Israel, sie hören ihren Meister sprechen, wie 48

gesagt, nicht als » ihr« ( der anderen, der Außenseiter) Schrift­ gelehrter, sondern » wie einen, der (göttliche) Vollmacht hat« . Nach einiger Zeit würde ich Mut fassen und den Meister an­ sprechen, ein Stück mit ihm gehen und mich mit ihm unterhalten. Aber hier, beim ersten Zusammentreffen, würde ich meine Ge­ danken für mich behalten. Mein Problem ist einfach in Worte zu kleiden, und hätte ich an jenem Tag auf den Berg hinaufsteigen und den Meister und seine Jünger ansprechen können, dann hätte ich folgendes gesagt: » Meister, wie kannst du für dich selbst spre­ chen und dich nicht auf die Lehren der Thora berufen, die uns Gott am Sinai gegeben hat? Es hat den Anschein, als betrachtetest du dich selbst als Mose oder als über Mose stehend. Die Thora des Mose erwähnt aber nicht, daß außer Mose und den anderen Pro­ pheten noch ein weiterer uns Unterweisung - Thora - bringen oder daß es eine weitere Thora geben soll. So weiß ich nun wirk­ lich nicht, was ich von deinem Anspruch halten soll. Du sprichst als >IchWirwir< vom Volke Israel, zu dem auch du gehörst. « Schon an diesem allerersten Tag würde mir somit deutlich wer­ den: Wenn ich nicht bereits an dieses » Ich « glaube, das der Thora gegenübersteht, dann muß es mir äußerst schwerfallen, die Anrede zu verstehen. Und das erklärt auch die besondere Betonung von » ihr « , die um » meinetwillen « verfolgt werden, als hätte sich die Menschenmenge am Fuße des Berges in den galiläischen Hügeln verloren. In der vorliegenden Szene beginnt Jesus mit einer Bot­ schaft an ganz Israel, wendet sich aber, wie wir gesehen haben, allmählich nur dem Teil von Israel zu, der zu ihm gehört. Da ver­ wundert es nicht, wenn der Erzähler uns berichtet, die Menge sei erstaunt gewesen, als Jesus seine Ausführungen beendet hatte. Nach den Kriterien der Thora hat Jesus etwas beansprucht, das außer Gott niemandem zusteht. Außerdem errichtet Jesus immer wieder eine Mauer zwischen sich und anderen Israeliten, die er als Heuchler bezeichnet. » Wenn du Almosen gibst, laß es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den 49

Leuten gelobt zu werden. • ( Matthäus 6,2.) » Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden . . . Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Ver­ borgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten. « ( Matthäus 6, 5 - 6) Bevor ich fortfahre, will ich kurz auf diese Kritik an der öffent­ lichen Frömmigkeit eingehen. Die zitierten Aussprüche enthalten für sich genommen sowohl stichhaltige Kritik an Auswüchsen öf­ fentlicher Frömmigkeit als auch eine Ablehnung des israelitischen Lebens in der Gemeinschaft. Man kann Heuchler wegen ihrer Zurschaustellung von Barmherzigkeit und protziger Frömmigkeit verurteilen. Sicherlich gibt es auch im ewigen Volk Israel heute wie in alter Zeit einen gewissen Anteil an Heuchlern, Menschen, die mit ihrer Frömmigkeit sich selbst feiern. Aber eine andere Sache ist es, wenn jemand behauptet, daß das eigentliche Gebet nur in­ dividuell stattfinde, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, im Ver­ borgenen. Wenn Jesus damit meinte, öffentliches Gebet sei un­ schicklich, dann hat er damit den Grundsatz der Thora in Frage gestellt, daß die Israeliten Gott nicht als einzelne, sondern ge­ meinsam und gleichzeitig dienen sollen. Es ist richtig, daß die Thora die Gebete einzelner, die allein für sich beten, anerkennt. Aber durch die Thora ist Israel auch aufge­ fordert, Gott in der Gemeinschaft zu dienen, zum Beispiel im Tempel. Daß nur das Gebet im Verborgenen ein wahres Gebet sei, läßt sich aus der Thora schwerlich begründen. Mit so einer Be­ hauptung stellt Jesus die gesamte Tradition des gemeinschaft­ lichen Gebets in Frage, das » Wir « im Gebet der Israeliten. Man kann natürlich etwas dagegen haben, wenn Menschen in der Öf­ fentlichkeit ihre Frömmigkeit zur Schau stellen. In Synagogen, aber auch in Kirchen habe ich hinreichend Anlaß gefunden, mich über solche Frömmigkeit zu wundern. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn man den öffentlichen Gottesdienst prinzipiell ablehnt. Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Wie beurteile ich auf 50

dem Hintergrund der Thora die besonderen Behauptungen über richtig und falsch, Wahrheit und Unwahrheit, die Jesus an jenem Morgen aufgestellt hat? Ich möchte eine Auseinandersetzung un­ ter fairen Bedingungen führen, die von beiderseitig anerkannten Fakten ausgeht - den Fakten in der Thora. Aber die Thora bereitet mich nicht auf Botschaften vor, in denen ein » Ich « dem in der Thora Gesagten widerspricht, und sie hilft mir auch nicht, eine Botschaft zu verstehen, die so formulien ist, daß die Quelle der Lehre, die Thora, umgangen wird. Die ganze Offenbarung vom Sinai wird hier in das » Daß gesagt worden ist« verwiesen, und das steht im Gegensatz zu dem » Ich « . Schließlich kam die Thora zum ganzen Volk Israel, das a m Fuße des Sinai versammelt war. Diese Thora hier scheint a ber speziell an jene weiter vorn gerichtet zu sein, die an den glauben, der diese Thora lehn - die nicht glauben, daß er die Thora lehn, sondern daß er, größtenteils für sich selbst sprechend, offenban, was Gott will. Ich trete beiseite, einerseits beeindruckt von einer neuen, tie­ fen Einsicht in einige der Zehn Gebote, andererseits auch höchst aufgewühlt. Bei dieser Thora geht es eindeutig um etwas anderes als bei der Thora-Lehre von Johannes dem Gerechten für seine Schüler. Glücklicherweise habe ich Gelegenheit, in der Menge nach vorn durchzudringen, und ohne Scheu stelle ich mich dem Lehrer in den Weg: » Meister, darf ich dir eine Frage stellen ? « » Bitte . « » Könnten wir darüber sprechen, was d u heute früh gesagt hast, über die Hauptsache, nicht über die Einzelheiten ? « » Was hältst du für die Hauptsache ? « » Du hast gesagt: >Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Ge­ setz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. • Aber du führst nicht an, was die Thora tatsächlich sagt. Damit tust du genau das Gegenteil dessen, was du angekündigt hast: Die Thora wird aufgehoben und nicht erfüllt. Allerdings gebe ich gerne zu, daß du ihre Lehre in auffallender Weise verbesserst. 51

Du beschreibst, wie ich einige der Zehn Gebote besser befolgen kann, aber du hast vergessen, mir zu sagen, daß du eben dies vor­ hattest. Du rätst mir, einige der klugen Sprichwörter zu befolgen, a ber du nennst die Sprichwörter nicht. Die Zuhörer sind über­ rascht über deine Art zu sprechen. Du sprichst nicht wie ein Tho­ ra-Lehrer, sondern anders. « Zum großen Erstaunen der Menge antwortet Jesus nicht. Da­ mit endet der Bericht von der großen Botschaft. Und doch . . . Und doch suche ich in dieser Botschaft vom Berg vergeblich nach der Thora für das Vol k dort unten, die für uns alle gleicher­ maßen bestimmt ist, für Israel. Ich glaube, das, was ich nicht höre, beunruhigt mich mehr als das, was ich höre. Denn am Ende prä­ sentiert Jesus seine Lehre so, daß er Aufmerksamkeit erregt - » ihr habt gehört, daß . . . gesagt worden ist, . . . ich aber sage euch . . . « : Das schreckt natürlich auf, das muß man ihm zugute halten. Und vieles, was er sagt, verlangt Beachtung, manches Zustimmung, die Ablehnung könnte zum Teil auch nur Spitzfindigkeit sein. Wenn aber seine Schüler, die am Rande der Menschenmenge standen, mich gefragt hätten: » Na, das klingt doch gar nicht schlecht, oder? Kommst du mit uns ? « Dann hätte ich geantwortet: » Wenn ich mit euch gehe, verlasse ich Gott. « Erstaunt hätten sie gefragt: » Wie meinst du das ? « » Wenn Gott durch Mose spricht « , hätte ich geantwortet, » dann wendet er sich an das ganze Volk Israel, aber euer Meister spricht zu euch. Wir anderen sind Außenseiter. Und Gott kennt keine Außenseiter im Volke Israel, nur Sünder, denen die Thora zur Umkehr rät. Jesus ist wie ein Prophet, der für sich selbst spricht, aber er ist kein israelitischer Prophet. Er spricht wie ein Außenseiter, oder wenn er einer von uns ist, dann macht das, was er sagt, uns andere zu Außenseitern. Er ist einer von uns, aber er betrachtet uns mit Distanz, wie ein anderer Prophet auf einem anderen Berg vor langer Zeit - aber dieser Prophet hatte sich aus den Ungläubigen erhoben: 52

•Am nächsten Morgen nahm Balak Bileam mit sich und führte ihn zu den Baalshöhen hinauf. Von dort konnte er bis zum Volk sehen.< (Numeri 2 2,4 1 ) •Denn vom Gipfel der Felsen sehe ich es, von den Höhen aus erblicke ich es. < ( Numeri 2 3 ,9 ) Er sah e s immer nur aus der Ferne, und e r war gekommen, um es zu verfluchen, aber Gott zwang ihn, es zu segnen. Euer Meister segnet jene, die tun, was er sagt. Mir wäre Tadel von einem Propheten Israels lieber als der Segen des Propheten der Ungläubigen. Seine Thora gilt nur für einige von uns, aber nach unserer Thora werden wir alle beurteilt. « Nein, wenn ich an jenem Tag dort gewesen wäre, hätte ich mich diesen Jüngern und ihrem Meister nicht angeschlossen. Ich wäre wieder in mein Dorf und zu meiner Familie zurückgekehrt und hätte weiter als Teil des ewigen Israel gelebt. Montefiore benennt den Grund: » Öffentliche Gerechtigkeit liegt außerhalb seiner Zu­ ständigkeit« , ebenso die Gesamtheit des ewigen Israel, in der ich lebe. Ich will niemanden verletzen, aber ich habe Einwände gegen eine Lehre, die nur mich persönlich meint, nicht aber meine Fa­ milie und mein Dorf, kurzum das ewige Israel, das wir hier und j etzt verkörpern.

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3 Ehre deinen Vater und deine Mutter

Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen

» Denkt nicht, ich sei gek ommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter, und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. « (Matthäus I O,J 4 - 3 7)

Nach dem, was wir bisher gehört haben, könnten wir beschließen, dem Lehrer nicht zu folgen, und schweigend nach Hause gehen. So hätte ich mich nach der Bergpredigt verhalten. Wir könnten auch an dem, was Jesus zu sagen hatte, generell das Interesse verlieren. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß mir dies zur dama­ ligen Zeit passiert wäre, und zwar aus einem einfachen Grund: Daß Jesu Lehre später einen großen Teil der Weltkultur durchdrungen und geprägt hat, hatte nichts damit zu tun, daß die christliche Streitmacht besonders schlagkräftig gewesen wäre. Die Erklärung liegt vielmehr in der Kraft seiner Botschaft, der sich kein denkender Mensch wirklich entziehen kann. So hätte ich mir auf meinem lan­ gen Nachhauseweg am Nachmittag durch Galiläa meine Ge­ danken darüber gemacht, was ich an diesem Tag vernommen hatte. 54

Mit der Thora im Sinn hätte ich Jesu Auslegung der Zehn Ge­ bote wohl sehr einleuchtend gefunden: Du sollst nicht töten, j a nicht einmal zürnen. Du sollst keinen Ehebruch begehen, ja nicht einmal an Ehebruch denken. Du sollst keinen Meineid schwören ( » du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht miß­ brauchen « ), du sollst überhaupt nicht schwören. Einleuchtend finde ich diese Deutung nicht deshalb, weil sie eine so präzise An­ weisung enthält: Man soll sich nicht auf einen Weg begeben, der zur Übertretung eines Gebotes führt. Die Deutung gefällt mir, auch wenn ich sie nicht für neu halte. Es wurde ja schon gesagt, man solle einen Zaun um die Thora ziehen. Aber jetzt werden ei­ ner möglichen Übertretung noch engere Grenzen gesetzt: Es darf sie weder im Herzen noch im Geist noch in der Vorstellung geben. Und da begegnen mir die Gebote auf einmal im Alltag, in dem ein Mord außergewöhnlich, aber der Zorn allgegenwärtig ist, der Ehebruch rar, aber die Versuchung häufig, der Meineid selten, aber der Schwur an der Tagesordnung. So hat Jesus den Zehn Geboten mit einer kraftvollen Deutung Unmittelbarkeit und Le­ bensnähe verliehen. Wenn ich die Eindringlichkeit seiner Worte bewundere, so sehe ich auch ihre Tragik: Gerade da, wo wir stark sind, liegt unsere Schwäche . Um zu verdeutlichen, was ich meine, erinnere ich dar­ an, daß wir unser Leben nicht nur im Inneren, in unserem Be­ �ußtsein, leben. Wir leben auch in Gemeinschaft mit anderen. Keiner von uns ist ein » Ich « allein, wir alle sind Teil eines » Wir « . Und dieses » Wir « besteht aus Heim und Familie, darüber hinaus auch aus der Gemeinschaft jenseits unserer vier Wände. Nun ist klar, daß Jesus vom Privatleben gesprochen hat, wie er vom Gebet in der verschlossenen Kammer sprach. Wir, das ewige Israel, beten dagegen zusammen und nicht immer nur allein, nicht einmal vor­ nehmlich allein » in einer Kammer « . Jesu Empfehlung wider­ spricht dem, was uns Juden ausmacht: daß wir immer und überall » Israel « sind, ein unteilbares Volk und eine Gemeinschaft von Familien, die alle von den gleichen Vätern und Vorvätern ab­ stammen, von Abraham und Sara, von Isaak und Rebekka, von 55

Jakob und Lea und Rahel. Ihr Gott ist unser aller Gott, und des­ halb beten wir zu ihm auch mit der Formel: » Gelobt seist du, Herr, unser Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs . . . « Wo in der stillen Kammer ist Raum für das » Wir « , für diese ganze Familie ? Jesu Empfehlung, wie wir beten sollen, steht in dieser Thora der Innerlichkeit noch für sehr viel mehr. Die Bergpredigt, so wie ich sie verstehe, zielt nur auf eine Dimension meines Seins ab: auf die individuelle. Die beiden anderen Sphären des menschlichen Seins, die Gemeinschaft und die Familie, werden leider übergangen und das, obgleich in der natürlichen Ordnung der Dinge doch zu­ erst das Dorf, dann die Familie und erst dann der einzelne kommt, der in den beiden ersten seinen Platz findet. Die beiden erst­ genannten wichtigen Dime nsionen des Lebens vermag ich in der Lehre, die Jesus vom Berg herab verkündet hat, nicht zu erkennen. Allerdings fällt dieser Mangel nicht sofort auf. Zuerst war ich tief beeindruckt von der neuartigen und eindringlichen Deutung der Zehn Gebote, die durch Jesus einen sehr persönlichen Sinn bekommen haben. Deshalb kam ich auf meine ursprünglichen Vorbehalte erst später wieder zurück. Und zum Kern des Problems stieß ich erst dann vor, als ich mir den Sinn der anderen Gebote vor Augen führte: Lassen auch sie sich so fassen wie die drei erwähn­ ten ? Kann ich aus den anderen Geboten eine Botschaft formu­ lieren, auch wenn sie vielleicht nicht so eindringlich klingt wie Jesu Worte: » Ihr habt gehört, daß gesagt worden ist . . . Aber ich sage euch . . . « Ich will nicht nur Lehren hören, sondern auch Schlüsse ziehen, nicht nur nachbeten, sondern mir eigene Gedanken machen und das, was ich gehört habe, selbständig durchdenken. Die Größe dieses Meisters liegt ja nicht nur in seinen Worten, sondern auch darin, daß er mich lehrt, so zu denken wie er. Ein glänzender Schüler - und der möchte ich in dieser Thora-Vorlesung sein zeichnet sich nicht dadurch aus, daß er seine Lektion lernt, sondern dadurch, daß er eigenständig Schlüsse zieht. Ein guter Lehrer lehrt eine Lektion, die ein guter Schüler lernt. Ein glänzender Lehrer bringt das Lernen bei, und ein glänzender Schüler kann selbständig 56

denken. Übertragen auf unsere Zeit und mein persönliches Leben als gelegentlicher Lehrer und immerwährender Schüler, der zu­ weilen sogar von früheren Schülern lernt, heißt das: Ein guter Schüler schreibt mit, ein hervorragender Schüler denkt mit. Eigene Gedanken entwickelt man freilich nur, wenn Stand­ punkte zur Diskussion gestellt, Blickwinkel angeboten, Argu­ mente vorgebracht und weiterführende Überlegungen angeregt werden, wenn man aufmerksam zuhört und sich die Worte des anderen durch den Kopf gehen läßt. Deshalb nehme ich Jesus ernst. Auch ohne von der Nachwirkung seines Lebens und seines Werkes zu wissen, müßte ich feststellen, daß er für mein Ver­ ständnis der Thora eine gewaltige Herausforderung darstellt. Ich zolle ihm Respekt, indem ich mich eingehend mit seinen Lehren auseinandersetze. Ich möchte Schlüsse ziehen, das heißt, an­ wenden, was ich gelernt habe, möchte Wiederholung des Ge­ lernten in selbständiges Denken verwandeln. Bei den Schlüssen, die ich auf meinem langen Nachhauseweg an diesem Tag hätte ziehen wollen, wäre es folglich um richtiges Denken gegangen: » Ihr habt gehört . . . , aber ich sage euch . .

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und dann auch um den >> wunderbaren Zaun um die Thora •• , der in diesen herausfordernden und eindringlichen Worten angekündigt wird . In Gedanken suche ich nach Entsprechungen zu den drei Geboten, die mein persönliches Verhalten leiten: nicht töten, nicht ehebrechen und den Namen des Herrn nicht mißbrauchen. Da ich die Zehn Gebote auf Anleitungen zur Lebensführung hin über­ prüfe, kann ich die wichtigen theologischen Anweisungen, die ge­ wissermaßen der Prolog sind, getrost außer acht lassen: keine an­ deren Götter haben und sich kein Götzenbild machen. Was aber ist mit dem Bereich zwischen dem vollkommen Öf­ fentlichen und dem ganz Privaten ? Dem Bereich, der weder das ganze Israel im Abstrakten, aus dem Blickwinkel des Himmels, noch das Privatleben, das Gebet in der verschlossenen Kammer, umfaßt? Hier, in diesem mittleren Bereich, geht es um das Leben mit den anderen: Israel in Gemeinschaft. Es geht um die Familie, den Grundbaustein der sozialen Ordnung. 57

Jesus beginnt mit grundsätzlichen Aussagen zum Leben mit Gott, und er schließt mit Anleitungen für die persönliche Lebens­ gestaltung. Zwischen den theologischen Geboten am Anfang und den persönlichen am Ende entdecke ich zwei weitere, die sich um das Leben in der Gemeinschaft drehen, das heißt um die Gesell­ schaft im Hier und Jetzt. Hier lebe ich, und hier blüht das Leben: Folglich ziehen die beiden Gebote meine Aufmerksamkeit auf sich:

» Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was da­ zugehört; am siebten Tage ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt. « (Exodus 2 0, 8 - I I) » Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt. « (Exodus 2 0, 1 2) Hier haben wir es nicht mit Gott und dem Volk Israel einerseits und dem Verhalten von Einzelmenschen andererseits zu tun, das heißt mit dem richtigen Handeln und (was Jesus, und nicht nur er, als Lehrer der Thora mit Recht hervorhebt) der richtigen Ein­ stellung. Das eine Gebot betrifft den Sabbat mit Blick auf die Schöp­ fungsgeschichte, das andere betrifft Heim und Familie im be­ sonderen, den gesamten Haushalt. Es geht nicht um ganz Israel auf der einen Seite und mein persönliches Verhalten auf der an­ deren Seite, sondern um die Bausteine, aus denen sich das ewige Israel seit Abraham, Isaak und Jakob bis hin zu meiner Mutter und meinem Vater zusammensetzt. Am Sabbat werden Familie und Haus mit anderen Familien und Häusern in einem heiligen 58

Augenblick zu einem Ort versiegelt, mit dem die Schöpfung der natürlichen Welt gefeiert wird: die Heiligung von Raum und Ort in der Natur. An einer Deutung des Gebotes zum Sabbat werde ich mich im folgenden Kapitel versuchen. Wichtiger ist im Augen­ blick, was Jesus zu dem Gebot über die Familie zu sagen hat, das da lautet: » Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Lande, das der Herr, dein Gott, dir gibt. « (Exodus l.o, n ) Jesu Lehre überrascht und beunruhigt, denn hier wider­ spricht er direkt der Thora: » Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter . . . « Das ewige Israel im Land, so besagen die Zehn Gebote, be­ hauptet sein Land dadurch, daß es Vater und Mutter ehrt. In die­ sem Zusammenhang kommen Gottes Worte an Mose große Be­ deutung zu: » . . . damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt « . Ein Jünger, der Jesu Botschaft gehört hat, könnte nun darauf verweisen, daß ich die Liebe zu meinen Eltern zurückstellen muß, um dem Ruf Jesu zu folgen: » Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, der ist meiner nicht würdig. Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen. « ( Matt­ häus 1 0, 3 8 - 3 9 ) Das heißt, daß ich, wenn ich auf ihn höre, Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, Frau und Kinder im Stich la$sen soll. Was aber wird dann aus Israel ? Wenn alle tun, was er verlangt, löst die Familie sich auf, verfällt das Heim und geht zu­ grunde, was Dorf und Land, den Leib der Familie, zusammenhält. Muß ich, um Jesus zu folgen, gegen eines der Zehn Gebote ver­ stoßen ? Nicht genug damit: Nach der Vorstellung, die uns die Thora vermittelt, bildet » Israel « eine Familie, das Israel des Hier und Jetzt, das » Israel nach dem Fleisch « oder nach Menschenart in der späteren Sprache des Christentums, die wirkliche, lebendige und gegenwärtige Familie von Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel. Wir beten zu dem Gott, den wir - am An­ fang - durch das Zeugnis unserer Familie kennen, zum Gott Ab59

rahams, Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakob, Leas und Rahels. Um zu erklären, wer wir, da�; ewige Israel, sind, verweisen die Ge­ lehrten auf unsere Abstammung, auf fleischliche Bande, auf den Zusammenhalt der Familie als Grundlage für die Existenz Israels. Auch Jesus tut dies, aber er stellt das Bild auf den Kopf: Meine Familie sind alle Menschen, die tun, was Gott will. Dabei wird die Abstammung so etwas wie das Ergebnis wahrer Frömmigkeit. Aus diesem Grund ist fiir mich das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, weder persönlich noch privat, sondern öffentlich, sozial und kollektiv. Jesus stellt nun meine vordringliche Verantwortung gegenüber der Familie und ihre zentrale Bedeutung innerhalb der sozialen Ordnung in Frage. Damit nicht genug, er sagt es noch deutlicher:

»Als ]esus noch mit den Leuten redete, standen seine Mutter und seine Brüder vor dem Haus und wollten mit ihm spre­ chen. Da sagte ;emand zu ihm: Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. « (Matthäus 12,4 6 - 50) Lehrt mich Jesus nicht, gegen eines der beiden Gebote zur sozialen Ordnung zu verstoßen ? Ein Jünger könnte dagegenhalten: » Um ihm zu dienen, müssen wir mit ihm gehen. Vater und Mutter geben uns das Leben in die­ ser Welt; Jesus, der für uns der Christus ist, gibt uns das ewige Leben. « Und auch in einem uns eher vertrauten gelehrten Rahmen - denn wir können uns mit Jesus über seine Lehre, seine Lehrsätze, befassen - verläuft der Weg des Lernens über die Nachfolge, Nachahmung und Beachtung. Wir müssen zuhören und dis­ kutieren, es reicht nicht, eine Stunde oder länger am Fuß des Ber60

ges auszuharren. Folglich kommt der Jünger - vielleicht Matt­ häus ? - zum Schluß: » Eine Stunde herumstehen heißt nicht, daß man Jesu Lehre begreift, so hört man nur seine Worte. « Wie soll ein Lehrmeister wahre Lehren verkünden, wenn nicht durch das Beispiel, mehr durch die Tat als durch das Wort? Die Thora, wenn sie nur Buch bleibt, ist toter Buchstabe, bloßes Wort auf Pergament. Zum Leben erwacht sie erst durch die Einstellung und die Tat, durch die Art, wie ihr die Lehrmeister körperliche Gestalt verleihen. So bringt uns die Forderung, die Thora zu stu­ dieren, in Konflikt mit dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren. Und nicht nur das: Die Jünger Jesu leugnen ihre Pflicht nicht nur gegenüber ihren Eltern, sondern auch gegenüber ihren Familien. Wenn sie verheiratet sind, was soll dann aus Frau und Kindern werden ? Die Thora gebietet uns nicht nur, Vater und Mutter zu ehren, sie erlegt uns auch Verantwortung gegenüber der Ehefrau auf. Wie verhält es sich damit? Was soll in einer Welt, in der Jünger und Lehrmeister ganz selbstverständlich Männer sind, aus den Ehefrauen werden ? Folglich geht es nicht nur um die Eltern, sondern auch um Frau, Kinder und Heim, um den gesamtem Haushalt, der im Gebot zu Sabbat so detailreich beschrieben wird: » . . . du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. « ( Exodus 2.o, r o ) Es beunruhigt mich zutiefst, daß ich, um Jesus zu folgen, Heim und Familie im Stich lassen soll, während mir die Thora beiden - und der Gemeinschaft - gegenüber doch heilige Pflichten auferlegt hat. Versichert Jesus nicht, es sei unsere Aufgabe, das Gebot zu befolgen, das Gott Adam und Eva gegeben hat: frucht­ bar zu sein und sich zu mehren, das Leben auf Erden fortzu­ führen ? Matthäus verrät uns nicht, ob Jesus verheiratet war und eine Familie mit Kindern hatte. Jesus verlangt von seinen Jüngern, daß sie das Kreuz auf sich nehmen und ihm folgen. Und doch muß das Reich des Himmels, das das ewige Israel nach dem Gebot der Thora errichten soll, auf der Grundlage einer dauerhaften Ge­ meinschaft in Heiligkeit entstehen. 61

Mit dem gleichen Problem wurden später auch die Lehrer und Schüler der Thora konfrontiert. Ein vorausschauender Jünger Jesu könnte folglich darauf verweisen, daß auch Schüler der Thora von ihren Lehrern von Haus und Familie weggerufen würden und Frau und Kindern für lange Zeit den Rücken kehren müßten, um sich ganz dem Studium der Thora zu widmen. In der Tat liegt einer der großen Liebesgeschichten des j üdischen Schrifttums dieses Motiv zugrunde: die Bereitschaft der Frau, ihren Mann zum Studium der Thora zu schicken und dabei selbst zurückzustecken. Was Jesus für sich verlangt, wäre somit nicht mehr als das, was Thora-Lehrer von ihren Schülern verlangen: Stelle die Thora über Heim und Familie.

R[abbi] Akiba [der weder lesen noch schreiben konnte] war Hirt des Ben Kalba Sabua, und als dessen Tochter sah, wie keusch und redlich er war, sprach sie zu ihm: Willst du, wenn ich mich von dir antrauen lasse, ins Lehrhaus gehen? Er er­ widerte ihr: Jawohl. Da ließ sie sich von ihm heimlich an­ trauen und sandte ihn hin. Als ihr Vater es erfuhr, jagte er sie aus seinem Hause und gelobte ihr jeden Genuß von seinem Vermögen ab. Er ging fort und verweilte zwölf Jahre im Lehrhaus, und als er zurückkam, brachte er zwölftausend Schüler mit. Da hörte er, wie ein Greis zu ihr sprach: Wie lange noch willst du lebendige Witwenschaft führen? Sie aber erwiderte ihm: Wenn er auf mich hören würde, könnte er da noch zwölf Jahre bleiben. Hierauf sprach er: Es ge­ schieht also mit ihrer Einwilligung. Da kehrte er zurück und verweilte wiederum zwölf Jahre im Lehrhaus, und als er zu­ rückkam, brachte er vierundzwanzigtausend Schüler mit. Als seine Frau dies erfuhr und ihm entgegenging, sprachen die Nachbarinnen zu ihr: Borge doch Gewänder und kleide dich ein. Diese aber erwiderte ihnen: Der Fromme kennt die Seele seines Viehs. Als sie zu ihm herankam, fiel sie aufs Gesicht und küßte ihm die Füße. Da stießen seine Diener sie fort; er aber sprach zu ihnen: Lasset sie, meines und eures ist ihres. »

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Als nun ihr Vater hörte, daß ein bedeutender Mann nach der Stadt gekommen sei, sprach er: Ich will zu ihm gehen, viel­ leicht löst er mein Gelübde auf. Hierauf kam er zu ihm, und er fragte ihn: Würdest du gelobt haben, wenn er ein bedeutender Mann wäre? Dieser erwiderte: [Nicht einmal,] wenn er einen Ab­ schnitt oder eine Halacha [gelernt hätte]. Hierauf sprach er: Ich bin es. Da fiel er aufs Gesicht und küßte ihm die Füße; auch gab er ihm die Hälfte seines Vermögens. « (Der Baby­ lonische Talmud, Kethuboth, 62b - 63a) Kann man es Jesus folglich zum Vorwurf machen, wenn er seinen Jüngern sagt: » Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig ? « Nähme die Thora Gestalt an ­ wie die Weisheit im entsprechenden Buch der Schrift -, dann würde sie nicht weniger verlangen. Jesus verlangte von den Jün­ gern ja nicht mehr, als daß sie ihre Liebe zu ihm über die Liebe zu ihren Familien stellen. Und bildet nicht auch er eine Familie, auf­ bauend auf einem unsichtbaren Fundament aus Loyalität und Liebe, eine übernatürliche Familie, in der in der Liebe schließlich etwas aufscheint, das das rein Natürliche überstrahlt? Ist dies nicht ebenfalls eine Familie, der Grundbaustein für das Reich des Himmels, das neue Haus Israel ? So könnte der Jünger für seinen Meister sprechen. Aber nicht nur das. Vorausblickend könnte er weiter darauf verweisen, daß spätere Meister von ihren Schülern das Gleiche verlangen würden, und auch hier hat er wieder recht. Die Thora, wie sie von anderen später ausgedeutet wurde, lehrt Israel, die Liebe zur Thora in Gestalt des Schriftgelehrten über die Liebe zu Vater und Mutter zu stellen. Wodurch unterscheidet sich ein sol­ ches Ansinnen von der Forderung Jesu, daß diejenigen, die ihm nachfolgen, ihn mehr lieben sollten als ihre Familien ? Wir wenden uns sogleich dem einzigen Unterschied zu, der natürlich in der Gegenüberstellung » Thora versus Christus « liegt. In den Formu63

lierungen späterer Gelehrter finden wir genau den gleichen Ge­ gensatz, den wir in Jesu Lehre ausgemacht haben: Abstammung und Familie gegenüber anderen, übernatürlichen Banden, die eine im wahrsten Sinne des Wortes » heilige « Familie begründen, eine Familie, die auf einer heiligen, unseren Verstand übersteigenden Liebe - weltlich gesprochen, auf einer übernatürlichen Liebe beruht. So wundert es de11n gar nicht, daß sich römisch-katholi­ sche wie orthodoxe Christen in den Armen der Jungfrau Maria so gut aufgehoben fühlen, um in ihrer Sprache zu sprechen. Im folgenden Kommentar aus der Mischna werden Kenntnisse der Thora und die Abstammung, im damaligen Israel ein be­ deutender Punkt, einander gegenübergestellt. Obwohl die Kasten des Tempels - Priester und Leviten - eine herausragende Stellung innehatten und diese von ihrer Abstammung - von Aaron bezie­ hungsweise Mose nach der Thora - herrührte, gebührte dem Schüler eines Gelehrten der Vorrang. Im einzelnen sah das so aus:

» Ein Priester geht einem Leviten vor, ein Levit einem Israe­ liten, ein Israelit einem Bastard . . . Falls sie alle [in ihrer Bil­ dung im Hinblick auf die Thora] gleich sind. Wenn aber ein Bastard ein Gelehrter und ein Hohepriester ein Unwissender ist, so geht der gelehrte Bastard dem unwissenden Hohen­ priester vor. « (Mischna, Horajot, 3 , 8) Da ein Abkömmling aus einer gesetzlich nicht zulässigen Verbin­ dung (zum Beispiel zwischen Bruder und Schwester als eine von verschiedenen Möglichkeiten) eine besonders heikle gesellschaft­ liche Stellung hatte, war der Satz, eine solche Person könne vor einem Hohepriester Vorrang haben, eine gewaltige Provokation. Übertragen auf unsere Verhältnisse bedeutet dies ungefähr soviel, als würde man einem unbedeutenden Dozenten der Politikwis­ senschaft bei einem Staatsbankett einen besseren Platz zuweisen als dem Universitätspräsidenten oder gar dem Staatspräsidenten. Und dabei spiegelt dieser Vergleich noch nicht einmal die gesamte Tragweite des zitierten Satzes wider. Denn die Tochter des Uni64

versitäts- oder Staatspräsidenten könnte einen Assistenzprofessor oder auch einen Doktoranden problemlos heiraten, wohingegen der Tochter eines Priesters die Eheschließung mit einem Ab­ kömmling aus einer illegitimen Verbindung strengstens verboten wäre. Das ist die Bedeutung des Satzes » Wenn aber ein Bastard ein Gelehrter und ein Hohepriester ein Unwissender ist, so geht der gelehrte Bastard dem unwissenden Hohenpriester vor « . Wenn Je­ sus uns sagen wollte, daß es für die Menschen wichtiger als alles andere sein sollte, seinem Ruf zu folgen, dann könnte ich dies in dem später noch zu erörternden Zusammenhang durchaus gleichsetzen mit Lehrsätzen der Thora, wie ich sie verstehe. Mit anderen Worten: Der einfachste Jünger des Meisters geht einem Menschen mit bester Familientradition vor. Die Thora tritt damit an die Stelle der Abstammung, und der Meister der Thora erhält einen neuen Familienstamm. Vor diesem Hintergrund leuchtet mir ein, wie mir Jesus als mein Meister eine neue Abstammung verschaffen kann. Er übernimmt die Rolle ei­ nes Vaters, genaugenommen eines Vaters im Geiste. So gesehen kann ich mich arrangieren mit seiner Forderung, eine neue Familie anzuerkennen, eine Familie, die auf der Vaterschaft Gottes und auf der Nachfolge Jesu beruht: » Hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter. « Kann ich eine solche Äußerung angesichts der Thora, wie ich sie jetzt verstehe, nachvollziehen ? Ja, ohne jede Schwierigkeit. Und doch werden bei der Erörterung des Gegenstandes später genau an diesem Punkt Einwände auftauchen. Da es sich bei den Thora-Lehrern anders als bei Jesus nur um eine Gefolgschaft im Geiste handelt, liegen die Dinge doch nicht so einfach: Es ist ja gar nicht gesagt, daß ein Schüler seinen Vater im Stich lassen muß, um seinem Meister zu folgen, auch wenn er dem Vater das Leben in dieser und dem Meister das Leben in der kommenden Welt ver­ dankt. Die Dinge verhalten sich hier ganz anders: Der Meister hat zwar Vorrang vor dem Vater, aber Vater, Lehrmeister und Schüler 65

bleiben einander durch die gleichen Beziehungen verbunden, durch eine dauerhafte soziale Ordnung. Hierzu heißt es beispiels­ weise:

» [Sind] das von ihm selbst Verlorene und das von seinem Vater Verlorene [gleichzeitig zurückzuschaffen], so geht sein Eigentum vor. [Sind] das von ihm selbst Verlorene und das von seinem Lehrer Verlorene [gleichzeitig zurück­ zuschaffen], so geht sein Eigentum vor. [Sind] das von seinem Vater Verlorene und das von seinem Lehrer Verlorene [gleichzeitig zurückzuschaffen], so geht das seines Lehrers dem seines Vaters vor. Denn sein Vater hat ihn in das Leben dieser Welt gebracht; aber sein Lehrer, der ihn in der Weisheit unterrichtet, bringt ihn in das Leben der zukünftigen Welt. Falls aber sein Vater dasselbe Ansehen genießt wie sein Leh­ rer, so geht das von seinem Vater Verlorene vor. Tragen sein Vater und sein Lehrer [jeder] eine Last, so nehme er [zuerst] die seines Lehrers ab, und danach nehme er die seines Vaters ab. Befinden sich sein Vater und sein Lehrer in Gefangenschaft, so löse er [zuerst] seinen Lehrer aus, und danach löse er sei­ nen Vater aus. Wenn aber sein Vater ein Gelehrter ist, so löse er [zuerst] seinen Vater aus, und danach löse er seinen Lehrer aus. « (Die Mischna, Baba meßia, 2, I I) Zunächst einmal ist j eder sich selbst der Nächste. Allerdings fällt auf, daß Meister und Vater in Konkurrenz zueinander stehen, so­ fern der Vater kein Thora-Gelehrter ist. Ist dies der Fall, dann hat der Meister eines Schülers keinen Vorrang mehr vor dessen Vater, Vater und Meister genießen vielmehr den gleichen Status. Hier zeigt sich, daß mein weiter oben gezogener Vergleich hinkt, wonach Christus auf die gleiche Weise Vorrang vor der Fa­ milie habe ( das heißt die übernatürliche Beziehung vor der natür­ lichen Abstammung) wie die Thora vor der Familie. Für die Ge­ lehrten, vertreten durch die zitierten Regeln, steht die Thora für 66

die Gleichheit des ganzen Israel ( damals von Männern, heute von Männern und Frauen gleichermaßen ) . Wenn zwei verschiedene, aber vergleichbare Ansprüche zueinander in Konkurrenz treten der des Gelehrten gegen den des ungelehrten Vaters -, dann leitet sich der Vorrang des einen Anspruchs aus der Kenntnis der Thora ab. Treten indes zwei gleichwertige Ansprüche in Konkurrenz zu­ einander - der des Gelehrten gegen den des Vaters, der ebenfalls Gelehrter ist -, dann wiegt der Anspruch des Vaters, der auf der Kenntnis der Thora und auf der Abstammung beruht, schwerer als der Anspruch des Gelehrten. Vor dem Hintergrund dieser Erörterung erweist sich die ur­ sprüngliche Analogie als ungenau und unscharf. Ich habe Christus mit der Thora verglichen, und dieser Vergleich erscheint nun schief. Denn im Mittelpunkt der oben geführten Diskussion steht ja nicht der Gelehrte oder der Vater, sondern die Thora. Wieso die Thora ? Weil die Kenntnis der Thora beiden Männern Ansehen verschafft. Und wenn beide Männer das gleiche Ansehen haben, dann genießt der Vater Vorrang vor dem Meister. Lassen sich die Worte Jesu entsprechend deuten ? Ganz und gar nicht, denn An­ hänger Christi zu sein ist einzigartig. In diesem Fall ist es nicht die - jedermann mögliche - Anhängerschaft gegenüber der Thora, die der Beziehung zwischen Meister und Schüler einen über­ natürlichen Charakter verleiht. Es geht einzig und allein um die Anhängerschaft gegenüber Jesus Christus, und zu diesem Rang, dem Rang Christi, ist Jesus allein berufen. » Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter « bedeutet nicht das gleiche wie der Satz: » Wer Gelehrter, Meister der Thora, wird, der kommt in den Rang der Thora. « Das eine ist nur besonders auf Jesus anwendbar, das andere auf jedermann. Die Thora steht in einer Welt, Christus in einer anderen. Einmal mehr stoßen wir auf den ganz persönlichen Charakter der Lehre Jesu, in der das Augenmerk auf ihn selbst und nicht auf die Botschaft gerichtet ist. Wir sehen, daß jeder ein Gelehrter der Thora werden und zu einem bestimmten Status gelangen kann. Im 67

Umgang mit Jesus hingegen ist Jesus das einzige Vorbild. Der Satz » Nimm das Kreuz und folge mir « heißt nicht das gleiche wie » Studiere die Thora, die icl1 lehre, die ich zuvor bei meinem Mei­ ster studiert habe « . Die Allfforderungen » folge mir« und » folge der Thora « klingen ähnlich, sind es aber nicht. Vielmehr drücken sie einen Gegensatz aus. Jeder Israelit ( früher, und heute auch jede Israelitin) kann die Thora beherrschen und Gelehrter (oder Ge­ lehrte) werden, aber nur Jesus kann Jesus Christus sein. Ich habe zwischen den beiden Arten, wie man als Jünger einem Meister Gefolgschaft leistet - die von Jesus geforderte und die in der Mischna dargestellte - einen Vergleich gezogen. Aber nichts an diesem Vergleich führt mich zu jener Forderung, die die Gren­ zen der Thora weit übersteigt und für die Thora letztlich keine Bedeutung hat. Der Einwand, Jesus verlange von mir einen Bruch der Zehn Gebote, wenn er mir verbietet, Vater und Mutter mehr zu lieben als ihn, erweist sich in Wahrheit als bedeutungslos, denn darum geht es im Kern gar nicht. Ich habe bisher nur einen Ver­ gleich gezogen, bei dem zwischen der Lehre Jesu und dem Juden­ tum ein erstaunlicher Gegensatz zum Vorschein gekommen ist. Allein mit der Feststellung eines Gegensatzes läßt sich noch keine Auseinandersetzung führen. Wie kann ich auf der Basis der Fra­ gen, die uns alle überall und immer bewegen, mit Jesus zur dama­ ligen Zeit und an jenem Ort in eine Diskussion treten ? Dazu müssen wir zunächst eine Frage anschneiden, die nicht die Thora, sondern vielmehr unsere Schuldigkeit gegenüber Gott be­ trifft. Welches Interesse hat Gott daran, daß wir Vater und Mutter ehren ? Jesus sagt darüber in der zitierten Bibelpassage sehr deut­ lich: » Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. « ( Matthäus 1 0,40) Es geht also nicht einfach darum, ob wir Vater und Mutter mehr schulden als unserem Meister, und auch nicht darum, ob wir so weit gehen dürfen, unsere Eltern zu verlassen, um Jesus zu fol­ gen (oder um die Thora zu studieren) . Vielmehr entdecken wir hinter dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren, einen ähnlichen Anspruch wie hinter der Forderung, die Jesus an uns stellt. 68

» Rabbi [der Patriarch Juda Hanassi] sagt: Beliebt ist die Eh­ rung von Vater und Mutter vor dem, der sprach, und die Welt ward, indem er gleichstellte (wog) ihre Ehrung und Furcht seiner Ehrung und Furcht und ihre Fluchung seiner Flu­ chung. Es steht geschrieben: >Ehre deinen Vater und deine Mutter< und dementsprechend steht geschrieben (Sprich­ wörter 3,9): >Ehre den Ewigen mit deinem Vermögen. < Er stellt gleich die Ehrung von Vater und Mutter mit der Ehrung Gottes. Es steht geschrieben (Levitikus I 9,3): > Vater und Mutter sollt ihr ehrfürchtenDen Ewigen, deinen Gott sollst du ehrfürchten Und wer flucht seinem Vater und seiner MutterEin Mann, wenn er seinem Gotte flucht. < Er stellt gleich die Fluchung von Vater und Mutter der Fluchung Gottes.[Der Rabbi weiter:] Komm und sieh die Gebung ihres Lohnes! [Denn der Gehorsam gegenüber beiden Geboten ist eins.] Es ist gesagt: >Ehre den Ewigen von deinem Ver­ mögen Und füllen werden sich deine Schatzkammern mit SättigungEhre deinen Vater und dei­ ne MutterDamit lang seien deine Tage. < Es ist gesagt: >Den Ewigen, deinen Gott sollst du fürchten Und aufgehen wird euch, die ihr meinen Namen fürchtet, die Sonne des HeilsEin Mann (je­ der), seine Mutter und seinen Vater sollt ihr ehrfürchten und meine Sabbate sollt ihr hüten.< Was ist hinsichtlich des Sab­ bats gesagt? (]esaja J 8, IJ - I4): > Wenn du zurückziehst am Sabbat deinen Fuß u.s.w., dann wirst du dich ergötzen an dem Ewigen, und ich lasse dich einherfahren auf den Höhen der Erde. < (Mechiltha, ]ithro Bachodesch, 8, 2. 0)

69

Damit ist deutlich, um was

es

wirklich geht: Die Verehrung der El­

tern ist die diesseitige Entsprechung der Verehrung Gottes. Es geht nicht nur um die Gefolgschaft, sondern um einen Vergleich zwi­ schen Beziehungen: die Beziehung zwischen Schüler und Meister, zwischen Kind und Eltern sowie die Beziehung des Menschen zu seinem Gott. Damit komme ich zu dem Streitgespräch zurück, das ich, wenn nicht am selben Tag mit Jesus persönlich, so am folgen­ den mit einem seiner Jünger hätte führen wollen. Es mündet in die Frage: » Ist dein Meister denn Gott ? « Denn j etzt ist mir klar, daß das, was Jesus von mir fordert, allein Gott von mir verlangen kann. Wenn ich darum nicht wie der Jünger antworten kann: »Ja, wenn ich Jesus folge, folge ich Gott « , dann kann ich den Pfad, den mir dieser Meister mit seinen Worten weist, auch nicht ein­ schlagen. Schließlich verlangt Jesus als Meister etwas, das nur Gott verlangt - so hat es Juda, der Patriarch Israels, am Ende des zweiten Jahrhunderts gesehen, wenn man einer später ent­ standenen, ihm zugeschriebenen Schrift glauben darf. Wenn Jesus die Familienbande auf die Beziehung des Schülers zu seinem Mei­ ster überträgt, so ist dies nur ein erster Schritt auf einem Weg, der letztlich dahin führt, den Meister nicht nur über die Eltern zu stellen, sondern ihm ebensoviel Verehrung zuteil werden zu lassen wie Gott. Ich habe weiter oben darauf hingewiesen, daß manche eine Trennlinie ziehen zwischen dem » Jesus der Geschichte « und dem » Christus des Glaubens « , zwischen dem Glauben Jesu und dem des Paulus, zwischen Jesus Christus und seinem mystischen Leib, der christlichen Kirche. Manche Christen vertreten die Auffas­ sung, der historische Jesus, der Mann, der tatsächlich lebte und lehrte, würde seinen Glauben in dem, was die christliche Kirche später lehrte, nicht mehr wiedererkennen. Sie identifizieren sich mit den » wahren « Lehren des Menschen Jesus, nicht aber mit den späteren Dogmen, die die Kirche ihrer Meinung nach im Namen Christi formuliert hat. Und nicht nur das: Jüdische Kritiker des Christentums unter­ scheiden zwischen Jesus, den sie als Rabbi oder wegen seiner er70

habeneo Lehren sogar als großen Propheten verehren, und der christlichen Lehre. Sie porträtieren den galiläischen Wundertäter als Rabbi oder Propheten, aber nicht als Christus. Und es gibt christliche wie auch j üdische Schriftgelehrte, die eine Trennlinie zwischen ihrem bewunderten Jesus und dem Apostel Paulus ziehen, der ihrer Meinung nach aus dem Glauben an den Rabbi und Propheten Jesus die christliche Religion geschmiedet hat. Jedenfalls führt sowohl die j üdische wie die christliche Deutung des Neuen Testamentes im Hinblick auf die Begriffe wie auf den Gesamtzusammenhang zu einer ganz wesentlichen Unter­ scheidung. Da ich mich bei meinem Streitgespräch nur auf ein Evangelium stütze, auf die Darstellung Jesu durch einen Evangelisten und auf Äußerungen in Jesu Namen, kann ich diese komplizierteren Pro­ bleme nicht ausführlich erörtern. Doch mir stellt sich die Frage, wieso wir in den Äußerungen Jesu nach Matthäus weder den hi­ storischen Jesus noch den Christus der christlichen Religion iden­ tifizieren sollten. Diese Unterscheidung, die für einige Formen des Christentums und für jüdische und christliche Theologen und Apologeten wichtig ist, erscheint mir nicht gut begründet. Denn wenn allgemein akzeptiert wird, daß Jesus die Dinge, mit denen wir uns auseinandersetzen, tatsächlich gesagt hat, dann müssen wir uns weiterreichende Gedanken machen, ob wir zwi­ schen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens so ohne weiteres unterscheiden können. Jedenfalls vermag ich an­ band unserer Beobachtungen zu dem Widerspruch zwischen der gebotenen Verehrung von Vater und Mutter und den Ansprüchen Jesu nach Vorrang vor der Familie ( ,. Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig « ) eine Kluft zwischen dem Menschen Jesus und dem Christus des Glaubens nicht aus­ zumachen. Die Worte Jesu, so haben wir gesehen, ergeben ja nur dann Sinn, wenn man Jesus als Christus des Glau bens sieht. Wenn wir seine Haltung gegenüber dem Gebot, Vater und Mutter zu ehren, den Äußerungen anderer Gelehrter gegenüberstellen und dabei einen Vergleich anstellen - bei dem sich beide Vergleichs71

glieder wirklich entsprechen -, dann entdecken wir im histori­ schen Jesus eben jenen Christus des Glaubens, den die Christen zwanzig Jahrhunderte lan.g im Jesus des Matthäus wie im Christus des Paulus gefunden haben. Wo bietet sich dann aber ein Ansatzpunkt für das angekündigte Streitgespräch, das ich mit dem Menschen jesus gerne führen würde ? Könnte ich mit jesus dem Gelehrten tatsächlich einige Worte wechseln, würde mir eine Frage nach wie vor unter den Nägeln brennen: » Meister, was ist mit Israel und seinen Familien und Dörfern ? Hast du ein Gesetz, das uns lehrt, wer unsere Väter und Mütter, unsere Söhne und Töchter lieben soll ? Was ist mit uns, den Vorständen unserer Haushalte, mit uns, die wir hier und j etzt das ewige Israel bilden, das ständige Israel vor der Thora vom Sinai ? Was soll aus uns werden ? « Den Meister zeichnet die Fähigkeit aus, daß er dem Schüler zuhören kann: daß er Antworten auf Fragen findet, die an ihn gerichtet werden, nicht auf Fragen, die er gerne beantworten würde, was niemals das gleiche ist. Der wahre Gelehrte ( und man kann ohne Schmeichelei sagen, daß jesus in den Geschichten des Evangeliums als Musterbild eines Lehrers erscheint) stellt zur Klärung der Frage eine Gegenfrage (die er dann möglicherweise ebenfalls beantwortet. ) Im vorliegenden Fall könnte Jesus zum Beispiel fragen, was ich meine mit den Worten: » Was soll aus uns werden ? « Daraufhin würde ich ihm ausführlich und deutlich meine Ge­ danken darlegen: » Ich verstehe deine Lehre zu den Geboten, daß ich nicht morden, keinen Ehebruch begehen und kein falsches Zeugnis wider meinen Nächsten ablegen soll. Um diese Gebote der Thora hast du einen hohen und sicheren Zaun gezogen. Ich bin ein besserer Mensch, weil ich dein Gesetz vernommen habe, bin Gottes Thora näher, als ich zuvor hätte sein können: Du hast er­ füllt, gehalten und halten gelehrt, hast weder aufgehoben noch zerstört. Aber geht es bei der Erfüllung der Thora durch dein Gesetz im­ mer nur um mein individuelles Verhalten ? Gibt es kein Gesetz für 72

mich als Teil einer Familie, als Teil jenes Israel, das vor dem Sinai existierte und sich am Fuß des Berges Sinai versammelt hat ? Für die Kinder Abrahams und Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakobs und Leas und Rahels ? Ich stamme aus der Familie Israel. Was hast du zu mir als Teil dieser Familie zu sagen ? « Es wäre Anmaßung, vom Meister zu verlangen, daß er etwas wiederholt, das er an anderer Stelle schon gesagt hat. Bevor ich fortfahre, möchte ich deshalb prüfen, ob die Lehren der Berg­ predigt, die Matthäus in den Kapiteln 5 bis 7 wiedergibt, nicht etwas enthalten, das weder » ganz Israel « in der Beziehung zu Gott betrifft ( » Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. « ) noch meine persönliche Beziehung zu Gott, sondern etwas, das mich als Teil meiner Familie, dieses Grundbausteins der sozialen Ordnung Israels, angeht. Die Antwort liegt natürlich in dem » Ihr « , in der Frage, an wen Jesus sich in seiner Rede auf dem Berg eigentlich wendet. Daß er mich persönlich meint, gilt mir als sicher. Andererseits redet Jesus die Menschen im Plural und nicht im Singular an und meint folg­ lich mehrere. Wenn wir wissen wollen, wen er mit seinem » Ihr« genau meint, müssen wir uns seinen beiden Zuhörerschatten zu­ wenden: » Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie. « ( Matthäus 5 , 1 - 2. ) Seine Zu­ hörerschaft besteht folglich aus den Jüngern auf dem Berg und der Menge der Israeliten am Fuß des Berges. » Meister, wen meinst du mit >Ihr< ? Nur die Jünger? Offenbar nicht. Vieles von dem, was du an jenem Tag gesagt hast, richtete sich an uns alle. War es ganz allgemein an uns alle gerichtet? Ge­ wiß nicht. Einiges betraf deine Jünger im besonderen. Unter an­ derem zum Beispiel der Satz: >Selig seid ihr, wenn ihr um mei­ netwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet.< « (Matthäus 5 , 1 1 ) » Meister, gibt es ein Israel in deinem >Ihr< ? Nicht ein >Israel< draußen, im Abstrakten, sondern eines im Inneren, in meinem Dorf und meiner Familie ? Meister, sprichst du nur zu mir, nicht zu meiner Familie ? Nur zu 73

deiner Familie, den Jüngern, nicht aber zu deiner Familie nach dem Fleisch ? Wo, Meister, ist dann Platz und Raum in deinem >Ihr< für dieses >Wir•, das Israel ausmacht1 « Der Meister muß diese Frage nicht beantworten, e r hat bereits geantwortet. Er hat andere Dinge im Sinn. Ich stelle meine Fragen, und er gibt seine Antworten. Sofern ich nicht seine Fragen stelle, bekomme ich von ihm keine Antwort. In seinen Antworten höre ich auch eine Erwiderung auf meine Fragen:

» Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, daß ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, daß ihr etwas anzuziehen habt. Ist nicht das Le­ ben wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung? Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheu­ nen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlän­ gern? . . . Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir an­ ziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himm­ lischer Vater weiß, daß ihr das alles braucht. Euch aber muß es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird er euch alles andere dazugeben. « (Matthäus 6,2J - 2 7, 3 1 - 3 3 ) Hier wendet sich der Meister mit seinem » Ihr « eindeutig a n Israel, schließt in sein » Ihr « alle Juden mit ein. Ausdrücklich stellt er dieses » Ihr « den Heiden gegenüber. Während die Heiden sich um körperliche Belange kümmern müssen, wird der » himmlische Va­ ter « für das Wohl der Seinen sorgen. So hat Jesus für mich in Israel doch eine Botschaft. Allerdings ist Israel hier nicht Familie und Dorf; um die Bedürfnisse von Familie und Dorf, vom Israel des Hier und Jetzt, um Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird sich 74

Gott schon kümmern. Aber wenn ich mich dort, wo ich lebe und mit denen ich lebe, um sein Reich und seine Gerechtigkeit küm­ mern soll, dann bleibt das ohne Konsequenz. Wieder einmal fin­ den wir eine Botschaft im Schweigen, wie wir sie auch in der Pre­ digt finden, die wir vom Berg herab vernommen haben. Dieses » Israel « ist etwas ganz anderes als das Israel des Heims und der Familie, das ich kenne. Mir bleibt nur der Einwand:

»Aber Herr, das Israel des Heims und der Familie ist doch dort, wo ich lebe. « Und das führt mich wieder auf die anderen Fragen zurück, die mit den Zehn Geboten aufgeworfen wurden: Was ist mit Israel, da,

wo es ist, was ist mit Israel, wenn es stattfindet? Um diese etwas undurchsichtigen Fragen zu erhellen und um zu erläutern, warum sie von Bedeutung sind, wenden wir uns wieder dem Gebot zu, das von uns verlangt, daß wir den Sabbat heilig halten, das Gebot, indem von Zeit und Raum die Rede ist: vom Israel des Hier und Jetzt, dem Israel von Heim und Dorf.

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4 Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig !

Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat verboten ist

» In jener Zeit ging Jesus an einem Sabbat durch die Korn­ felder. Seine Jünger hatten Hunger; sie rissen deshalb Ahren ab und aßen davon. Die Pharisäer sahen es und sagten zu ihm: Sieh her, deine Jünger tun etwas, das am Sabbat ver­ boten ist. Da sagte er zu ihnen: Habt ihr nicht gelesen, was David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig waren wie er in das Haus Gottes ging und wie sie die heiligen Brote aßen, die weder er noch seine Begleiter, sondern nur die Priester essen durften? Oder habt ihr nicht im Gesetz ge­ lesen, daß am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat ent­ weihen, ohne sich schuldig zu machen? Ich sage euch: Hier ist einer, der größer ist als der Tempel. Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer [Hosea 6, 6], dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt; denn der Menschensohn ist He" über den Sabbat. « (Mat­ thäus r 2, r - 8) Die Berichte über die zahlreichen Wundertaten des Meisters Heilungen von Aussatz, Lähmung und Fieber, die Besänftigung eines Sturmes, das Austreiben von Dämonen - hätten damals ge­ wiß meine Aufmerksamkeit erregt. Allerdings war man Wunder gewohnt und durfte sie nach der Thora erwarten, und andere 76

Wundertätige hätten mich auch nicht enttäuscht. Solche Dinge mögen damals notwendig gewesen sein, aber für mich haben sie keinerlei Bedeutung. Was sind schon übernatürliche Ereignisse als Beweis für die Behauptungen des Meisters, wenn ich doch er­ fahren will, welche Lehre er mir zur Thora verkündet: Ich will Untersuchungen, Argumente und Beweise. Und es spricht sehr für Jesus, daß er Menschen, die Zeichen von ihm verlangten, fortge­ schickt hat. Es ging ihm um die Botschaft. Folglich beobachte ich mit Wohlwollen und geduldigem Inter­ esse, wie der Meister durch Städte und Dörfer zieht, in » ihren « Synagogen lehrt, » das Evangelium vom Reich « verkündet und » alle Krankheiten und Leiden« heilt ( Matthäus 9,3 5 ) . Aber die Predigt, die er auf dem Berg in Galiläa gehalten hat, beschäftigt mich noch immer. Mit den Zehn Geboten im Sinn beobachte ich mit besonderer Aufmerksamkeit, wie es der Meister mit dem Sabbat hält und was er dazu zu sagen hat. Denn im Alltagsleben nach der Thora be­ deutet der Sabbat Höhepunkt und Erfüllung. Des Sabbats ge­ denken und ihn heilig halten war damals und ist heute, was das ewige Israel gemeinschaftlich tut. Dieser Tag macht das ewige Is­ rael zu dem, was es ist, zu dem Volk, das sich wie Gott nach der Schöpfung am siebten Tage von seiner Schöpfung ausruht. Der Sabbat hat einen positiven und einen negativen Aspekt. Am Sab­ bat dürfen wir keine niederen Arbeiten verrichten, denn an diesem Tag feiern wir die Schöpfung. Sechs Tage stellen wir Dinge her, am siebten würdigen wir sie. Sicher, wenn ich das Tun und Treiben des Meisters und seiner Jünger am Sabbat beobachte und sie danach beurteile, setze ich mich dem Vorwurf aus, ich wolle » heiliger sein « als sie. Wer bin ich schon, daß ich es mir leisten kann, das religiöse Leben anderer zu kontrollieren ? Gott sorgt sich um uns alle - und er allein ist unser Richter. Diese Frage hätte ich auch gar nicht aufwerfen wollen. Wenn aber Jesus sie aufwarf oder wenn sich seine Jünger in einer Weise verhielten, die die Leute verblüffte oder verärgerte, dann ist das doch etwas anderes. Und diesen Lauf sollten die 77

Dinge denn auch nehmen. Sie gaben sich noch nicht einmal den Anschein, den Sabbat so zu halten, wie die Leute es üblicherweise taten. Warum ist diese Frage eigentlich so wichtig ? Ist die Thora eine bloße Sammlung von Zau bersprüchen, von Geboten und Ver­ boten ? Durchaus nicht. Beim Sabbat geht es um sehr viel mehr, und genau dies ist der Grund, warum Jesus und die Jünger ihre Lehre auch vor dem Hintergrund verkünden, wie man am Sabbat leben und ihn heiligen soll. Denn am Sabbat nicht zu arbeiten be­ deutet mehr, als ein Ritual peinlich genau zu erfüllen. Es ist eine Art Nachahmung Gottes. Gott ruhte am siebten Tag und erklärte ihn für heilig. ( Genesis 2, 1 - 4 ) Und dies sagt uns, warum wir, das ewige Israel, am Sabbat ruhen, ihn genießen und als heiligen Tag begehen. Wir tun am siebten Tag, was Gott am siebten Tag der Schöpfung getan hat. Darum ist die Art, wie Jesus die Frage stellt, von so großer Be­ deutung. Jesus greift das Thema » Sabbat« auf, problematisiert es und leistet so sehr viel mehr, als nur durch das Land zu ziehen und Wunder ohne Botschaft und Bedeutung zu vollbringen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang zwei Äußerungen Jesu zum Sabbat, die in enger Beziehung zueinander stehen. Beide handeln zunächst einmal vom Sabbat im Hinblick auf unsere Be­ ziehung zu Gott und erst in zweiter Linie im Hinblick darauf, was wir an diesem besonderen Tag zu tun oder zu unterlassen haben. Seine Diskussion führt er ganz im Rahmen der Thora: Der Sabbat ist ein diesseitiger Augenblick, der von der Ewigkeit zeugt. Er bil­ det ein Kernstück unseres Lebens mit Gott und ist für Jesus somit ein Kernstück seiner Lehre. Um das, was man an diesem Tag tun oder lassen soll, geht es erst in zweiter Linie. Seine Darlegungen zum Sabbat stehen (wie Matthäus sie wie­ dergibt) entsprechend nahe beieinander. Jesus spricht zunächst von Ruhe von der Arbeit und dann - und erst dann - vom Sabbat. Fügen wir beides zusammen, ergibt sich eine überraschende Bot­ schaft:

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»Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht. « (Matthäus I I , 2 7 - 3 0) Da ich am Sabbat ruhe, wie Gott am siebten Tag der Schöpfung ruhte, zielt diese Passage doch ganz offenbar auf die Frage ab: Wie komme ich zu Gott ? Und wie finde ich Ruhe ? Beide Fragen hätten in einem beliebigen Kontext unabhängig von der Thora keine Beziehung zueinander. Aber eines der Zehn Gebote lautet: » Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! . . . Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und ein Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt. « Wenn wir uns nun bewußt sind, daß wir den Sabbat halten sol­ len, weil Gott am Sabbat geruht hat, dann sehen wir, daß wir dieses Gebot befolgen sollen, damit wir Gott ähnlich werden. Das Thema von Mühsal und schweren Lasten auf der einen Seite und von Ruhe auf der anderen paßt nun sehr gut zusammen mit Jesu Angebot: » Kommt alle zu mir . . . Ich werde euch Ruhe ver­ schaffen. « Für sich genommen geht es in der Äußerung Jesu nur um Ruhe. Doch wird zugleich deutlich, daß er in diesem Zusammenhang auch vom Sabbat spricht. Wenn ich Jesu Worte höre, denke ich automatisch an den Sabbat, mit dem das ewige Israel Ruhe für seine Seele findet. » Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott ge­ weiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun. « ( Exodus 20,9 - 1 0) Dieses Gebot ist weder alltäglich noch ein kindliches Ritual wie beispielsweise die Regel, auf dem Bürgersteig die Schritte nur in 79

einem ganz bestimmten A bstand zu setzen. Es hat vielmehr eine sehr große Bedeutung. Durch den Propheten jesaja ließ Gott uns wissen: » . . . wenn du den Sabbat (einen Tag) der Wonne nennst . . . , keine Geschäfte be­ treibst und keine Verhandlungen führst, dann wirst du am Herrn deine Wonne haben . . . « (Jesaja s 8 , I 3 - I 4 ) Wenn Jesus von Ruhe für meine Seele, von Erleichterung meiner Lasten spricht, so ver­ knüpft er dies mit der Aufforderung, meine schwere Last gegen seine auszutauschen. So soll ich Ruhe finden. Und im selben Zu­ sammenhang erfahre ich bei Matthäus, wie die Jünger Jesu sich am Sabbat mit Nahrung versorgten, was Jesaja wohl als » Gänge machen « oder » Geschäfte betreiben « bezeichnet hätte. (Jesaja 5 8 , 1 3 ) Jesus erklärte dies mit dem Hinweis: » Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat. « Diese Lehre begleitet eine gute Tat, die Jesus zufolge am Sabbat erlaubt ist:

» Darauf verließ er sie und ging in ihre Synagoge. Dort saß ein Mann, dessen Hand verdo"t war. Sie fragten ihn: Ist es am Sabbat erlaubt zu heilen? Sie suchten nämlich einen Grund zur Anklage gegen ihn. Er antwortete: Wer von euch wird, wenn ihm am Sabbat ein Schaf in eine Grube fällt, es nicht sofort wieder heraufziehen? Und wieviel mehr ist ein Mensch wert als ein Schaf! Darum ist es am Sabbat erlaubt, Gutes zu tun. « (Matthäus 1 2,9 - 1 2) Allerdings geht es beim Sabbat nicht um die Frage des moralisch richtigen Handelns. ( » Darum ist es . . . erlaubt, Gutes zu tun. « ) Wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, warum wir am Sabbat ruhen sollen, dann mutet uns die Behauptung, an diesem Tag sei es er­ laubt, Gutes zu tun, eher seltsam an. Denn sie trifft nicht den Kern der Sache. Beim Sabbat geht es nicht darum, Gutes zu tun oder nicht. Es geht vielmehr um Heiligkeit, und heilig sein bedeutet nach der Thora, Gott ähnlich sein. Das Gebot, den Sabbat zu halten, wird ausdrücklich formuliert 80

und mit zwei verschiedenen, aber gleichwertigen Begründungen versehen:

» Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für hei­ lig erklärt. « (Exodus 2 o, L I) »Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig . . . Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, mit starker Hand und hoch erhobenem Arm dort herausgeführt. Darum hat es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht, den Sabbat zu halten. « (Deuteronomium J, L 2 . LJ) Mit dem Sabbat feiern wir die Schöpfung: An diesem Tag ruhe ich von meinem Werk, weil an diesem Tag Gott nach der Schöpfung ruhte. Ich ruhe, um mich daran zu erinnern, daß ich kein Sklave bin, und auch mein Sklave ruht, damit er daran erinnert werde, daß der Sklave kein Sklave ist. Unter beiden Gesichtspunkten reicht der Sabbat in die soziale Ordnung hinein, gehört er zum bestimmenden Moment einer Gesellschaft, einer sozialen Ord­ nung, die sich um die Wochentage herum organisiert. Wenn Jesus und seine Jünger den Sabbat zu einem Diskus­ sionsgegenstand machen, rühren sie darum an ein heißes Eisen: Was tun wir, um Gott nachzuahmen ? Wie sollen wir leben, damit wir zu dem » ewigen Israel « werden, das Gott durch die Thora in die Welt gebracht hat ? Die Heiligung des Sabbats gehört wie die Verehrung von Vater und Mutter zu jenen bestimmenden Ele­ menten, die aus Israel erst Israel machen. Das gesamte Leben der Gemeinschaft dreht sich um diesen Tag. Ich möchte im folgenden ein Beispiel anführen, wie sehr man die einzelnen Wochentage auf diesen einen heiligen Tag bezogen sehen kann:

» Eleazar, Sohn Chananjas, Sohn Chiskias, Sohn Chananjas ben Gorion sagt: >Gedenke des Sabbattages ihn zu heiligen
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