170 - Der Feuerberg
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Description
Kajum Tangrykulijew
Das Böckchen mitdem Glöckchen
·
Die kleinen Trom_peterbücher
Band 171
Kajum Tangrykulijew
Das Böckchen
mit dem Glöckchen
Der Kinderbuchverlag Berlin
Aus dem Russischen von Corrinna Wojtek Originaltitel: r1\838 4a6aHa und K031\IIIK c 6y6eH4111KOM (gekürzte Fassung) Illustrationen von Jörg Parschau
1. Auflage 1984
1984 1976 (Die Augen des Hirten), .Aachchabad", 1982 (Das Böckchen mit dem Glöckchen) Lizenz-Nr. 304-270/512/84-(30)
©DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN- DDR ©Verlag .Malysch", Zeitschrift
Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
7761 7 Jahren en Besteii-Nr. 6321256 00176 LSV
Für Leser von
DIE AUGEN DES HIRTEN
Der Brunnen "Zwei Pappeln" Wir fahren durch den Sand der Kara kum-Wüste. Onkel Kuly hat mich mit genommen.. Er ist Schafhirt. Früher sind die Hirten viele Monate mit ihren Herden unterwegs gewesen, heute aber gibt es Autos, und die Hir ten lösen einander alle zwei Wochen ab. Wir fahren zur Ablösung. Unser Ziel ist ein Brunnen, und wir haben eine.n weiten Weg vor uns. Der Brunnen heißt "Zwei Pappeln". ln der Wüste ha ben alle Brunnen Namen wie Men schen.
Neben dem unseren stehen
zwei Pappeln. Zwei Pappeln in der Wü ste. Die Hirten kennen· sie gut. Im La ger der Schafhirten, im Kasch, werde ich von meinem Großvater Tschary er5
wartet, von Tschary-Agha, wie wir sa gen, wenn wir einen Menschen vereh ren. Sein Leben lang ist er mit den Her den durch die Wüste gezogen. Im zeiti gen Frühjahr bricht er zu den " Zwei Pappeln" auf und b.leibt dort bis tief in den Winter hinein. Der Winter aber ist bei uns kurz. Im
Kosch wartet auch noch der
kluge Hund Akbai auf mich und das Ka mel Baiyr. Sie sind alle drei schon alt Tschary-Agha, Akbai und Baiyr.
Frühling in der Wüste Ihr meint, die Wüste bestünde nur aus Sand,
aus
unbelebtem
glühendem
Sand? Das ist nicht wahr. Es ist Frühling. Alle Sträucher blü hen. Die Dünen scheinen zu brennen. Das ist blühender Mohn. Und in der 6
Ferne leuchtet Grün. Buchweizen, Tamarisken, Salzkraut, Saxaul, Kameldorn - das alles wächst hier. Und Yschkyn, eine Pflanze, aus deren
.Wurzeln
man
Tee
kochen
kann. Ganz oben auf den Sanddünen hat sich Borstenhirse ausgebreitet. Wenn die Sonne alles andere Grün schon hat verdorren lassen, wird die Borstenhirse erst richtig grün, denn sie kann die Feuchtigkeit
in
ihren Wurzeln
spei
chern. Ein Adler zieht seine Kreise und hält nach einem Ziesel oder Hasen Aus schau. Die kleinen rundlichen Wüsten mäuse nehmen Reißaus und schlüpfen in ihre Höhlen. Als wir bei einem verlassenen Brun nen Rast machen, erblicken wir eine Kobra. Sie hat sich steil aufgerichtet, die Säcke an ihrem Hals sind gebläht, 7
aber wir tun ihr nichts zuleide, denn diese Schlangen sind geschützt, weil man ihr Gift für Arzneimittel braucht. Dann sehen wir noch Antilopen. Die können vielleicht flitzen! Eine ganze Weile fliegt über unse rem " Gasik" eine Blauracke dahin, ein großer, himmelblau leuchtender Vo gel. Gegen Abend langen wir im Kosch an. Die riesige Sonne streift schon fast die fernen Dünen. Die Hirten sitzen auf dem Filzteppich, trinken Tee und ·essen Kaurma
gebratenes
Hammel
fleisch. Tschary-Agha erhebt sich und be grüßt Onkel Kujy. Mir legt er die Hand auf die Schulter. · Die dicht zusammengedrängt dalie genden
Schafe
rappeln
sich
hoch,
strecken die Mäuler vor und beäugen die Ankömmlinge. Tschary-Aghas Ge8
hilfe ist gerade dabei, ein Kamel zu be laden. Es bringt Lebensmittel, Wasser und einen Filzteppich für das Nachtla ger in die Steppe, wo die Schafe ge gen Mitternacht lagern und ausruhen. Sie weiden in der Nacht, denn am Tage ist es zu heiß. Onkel Kuly hat sich rasch umgezo gen. Er hat jetzt Stiefel aus fester Lein wand an, damit er sich die Füße nicht an Dornen verletzt, und man kann in der Dunkelheit auf eine Schlange tre ten oder auf einen Skorpion. "Ruh dich von der Fahrt aus, Söhn chen" , sagt Tschary-Agha zu Onkel �uly. "Ausruhen kann ich mich noch ge nug, verehrter Tschary-Aghal Mich zieht's in die Steppe. " " " Darf ich mit in die Steppe? frage ich. " " Ja, morgen , verspricht Tschary9
Agha. " Heute wollen wir Tee trinken und in die Sterne schauen. " " " Erzählst du ein Märchen? " " Nun gut, ich erzähle.
Märchen Die Sonne geht unter. Dunkelheit brei tet sich über den Sand. Hinter der Ki bitka, dem Nomadenzelt, taucht mein Freund Baiyr auf. Er erkennt mich wie der. Ich tätschle ihm die Flanken und den Hals. Das Kamel seufzt und läßt sich auf die Knie nieder. Gewiß ist es gekommen, weil es auch Tschary Aghas Märchen hören will. Tschary-Agha erzählt bedächtig, es ist, als höre er sich selbst zu. Ist ein Märchen zu Ende, fängt er gleich ein neues an. Lautlos ist der alte Akbai aus dem 10
Dunkel herangekommen. Er hat sich neben Tschary-Agha gelegt und hört ebenfalls zu. Und schläft beim Zuhören ein. Er ist schon alt! "Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein reicher Bauer, ein Bei. Der besaß so viele Schafe und Pferde, daß er sie nicht zu zählen vermochte. Aber je reicher einer ist, desto geiziger ist er, das ist bekannt. Ging einem Hirten mal ein Stück Vieh verloren, wurde er vom " Bei grausam bestraft. Tschary-Aghas Rede plätschert leise dahin wie ein Bächlein. Es hört sich gut zu. "Armut zieht Unglück an, wie man so sagt. Ein mal mußte einer der Pferdehirten in den Aul reiten, und so vertraute er die Herde seinem Sohn an. Der Junge hü tete die Herde redlich den ganzen Tag, und doch gingen ihm in der Steppe zwei Pferde verloren. Er lief zum Bei, fiel vor ihm auf die 11
Knie und sagte: , lki at jok! Zwei Pferde sind weg!' , Steh auf und such sie!' schrie der Bei. ,Oder du bekommst meine Peit sche zu spüren, du weißt ja, wie sie aussieht!' Der Bei hatte eine dicke Peitsche, in die waren Haken aus Eisen eingefloch ten. Keine Peitsche war das - eher das Gebiß eines Wolfsrachens. Der Junge lief in die Steppe hinaus. Er suchte und suchte, aber er fand die Pferde nicht. Da stieg er auf eine hohe Düne und jammerte: ,Ach, hätt ich doch Flügel und könnte fliegen, dann würde ich die Pferde finden und könnte heimkehren zu Mutter und Vater in den heimatlichen Aul.' Er hatte kaum ausgesprochen, da waren ihm Flügel gewachsen, und er flog über Dünen und Berge. Habichtflü gel waren ihm gewachsen, und Raub12
vögel flogen um ihn herum. Die verlo renen Pferde aber konnte er nirgends finden. ,lki-at-jok! lki-at-jok!' schrie er ver zweifelt, und davon bekam er seinen Namen: Jkatjok, und das heißt Kuk kuck. Der lkatjok baut kein Nest und brütet seine Jungen nicht selber aus. Für so was hat er keine Zeit, er muß ja die Pferde suchen.
So legt der
lkatjok
seine Eier in fremde Nester, und seine Jungen fliegen, sobald sie flügge sind, von ihren Zieheltern fort und suchen die verlorenen Pferde. Sie suchen und suchen und können sie doch nicht fin den. " Das Feuer, auf dem der Tee gekocht worden war, ist fast erloschen. Ein Stückehen Kohle flammt noch einmal, zweimal rot auf und verblaßt wieder, hat keine Kraft mehr. 13
" Kennst du noch mehr Märchen von " Vögeln, Großvater? Tschary-Agha greift bedächtig nach der
Kanne und gießt Tee in seine
Schale. Mir ist, als sähe ich ihn im Traum. "Ach, mein Kamelchen, das Volk weiß über jeden Vogel, über jedes Tier ein Märchen. Ich werde dir noch das vom Wiedehopf erzählen. Kennst du " den bunten Vogel mit dem Schopf? " "Ja, Tschary-Agha. " Dann hör zu. Es war einmal eine Frau, die hatte zwei Töchter. Die eine
war ihre leibliche Tochter, die andere ihre Stieftocher. Die leibliche Tochter wurde gehätschelt und getätschelt, die Stieftochter aber mußte vom frühen Morgen bis zum späten Abend den Rücken krumm machen und schwer ar beiten. Die Stiefmutter scheuchte das Mädchen so herum, daß die Ärmste 14
kaum Zeit fand, ihr Haar zu kämmen. Einmal trug die Stiefmutter ihr auf, die Milch zu kochen. Das Mädchen fachte das Feuer an, stellte den Kessel auf den Herd, in den Kessel goß es die Milch, und dann kämmte sie ihr Haar. Die turkmenischen Frauen haben lan ges, dichtes Haar, das herabfließt wie ein Fluß von den Bergen zur Zeit der Schneeschmelze. Das
Mädchen
steckte
sich
ein
Kämmchen ins Haar, steckte es mal hierhin, mal dorthin. Währenddessen stieg die Milch wie zum Trotz höher und höher - und lief über. Die Stiefmutter stürzte herbei. Sie packte das Mädchen am Arm und jagte es hinaus in die Steppe. , Lauf, wohin
du
willst,
du'
nichtsnutziges
Ding, aber schaff mir den Rahm her. Ohne den Rahm brauchst du dich nicht wieder blicken zu lassen.' 16
Das Mädchen lief weinend davon. Es lief und lief, und auf einmal begann es zu fliegen. Seine Arme hatten sich in Flügel
verwandelt,
die
scheckigen
Lumpen in Federchen, und auf seinem Kopf steckte ein Kämmchen. Das Mäd chen hatte sich in den Vogel Wiede hopf verwandelt.
Und seit der Zeit
fliegt er in der weiten Welt herum und schreit: , Hopf! Hopf! Wo ist der Rahm aus dem Topf?' Wer gute Augen hat, der kann das Kämmchen auf dem Kopf des Wiedehopfs erkennen. Doch auch jetzt hat der Wiedehopf niemals Zeit, sich zu kämmen. "
Der Morgen Danach erzählte Tschary-Agha die Ge schichte vom Jäger Mahmud, ;dem Sohn einer Witwe. Er drang in ein un17
terirdisches Reich
ein,
tötete einen
Dev, einen Dämon, rettete eine Peri, eine gute Fee, und flog dann auf dem Vogel Simrukh . . . Wohin flog er doch gleich? Auf einmal sah ich, daß nicht Mahmud auf den smaragdgrünen Fe dern liegt, sondern ich. Ich liege auf den Federn! Um mich herum wird es hell. Da öffne ich die Augen - und sehe in die Sonne. Die Schafe kehren von der nächtli chen Weide zur Tränke zurück. Schafe sind nicht stumpfsinnig, wie viele mei nen. Sie sind gescheit. Eine Herde hat ungefähr
tausend
Schafe,
aber
am
Brunnen können nur zweihundert bis dreihundert
auf
einmal trinken.
Die
ganze Herde steht und wartet, solange die ersten trinken. Haben die sich satt getrunken, gehen sie beiseite und war ten. Zusammen sind sie zur Tränke ge kommen, zusammen ziehen sie auch 18
wieder
ab
und
begeben
sich
zur
Ruhe. Akbai läuft herbei und legt mir die Pfote auf die Schulter. Dies bedeutet, daß ich zu Tschary Agha kommen soll.
Akbai Akbai ist in der Wüste aufgewachsen und hat sein ganzes Leben unter deri Schafen und Hirten verbracht. Nie ist es den Wölfen gelungen, ihn zu überli sten, obwohl sie viele Tricks kennen. So teilt der schlaue Leitwolf das Rudel in zwei ungleiche Teile. Die kleinere Gruppe
greift
die
Schafherde
zum
Schein von vorn an. Sie locken die Hunde auf sich, während der Hauptteil des Rudels aus dem Hinterhalt heran stürmt.
Die
Wölfe 19
reißen
ein
paar
1,
/.'
Schafe und machen sich dann mit ihrer Beute davon. Akbai kennt die Tricks der Wölfe und die Gewohnheiten der Schafe. War er da, hatte die Herde nichts zu befürchten. Als er alt gewor den war, brachte Tschary-Agha den Hund in den Aul. Mochte er dort im Grünen, im angenehm kühlen Schatten der Bäume einen beschaulichen Le bensabend verbringen. Als Tschary-Agha wieder zurück in die Wüste ging, legte er Akbai an die Kette und bat die Familie, ihn den gan zen Tag und die ganze Nacht nicht los zumachen.
Akbai heulte und sprang
Tag und Nacht wie besessen hin und her. Als er endlich von der Kette befreit wurde, schenkte er dem Futternapf kei nen einzigen Blick, sondern stürmte so gleich auf und davon. Im Kosch ange langt, stürzte er zur Tränke und schlab berte fast eine Stunde lang Wasser. 21
Dann trottete er mit hängende.m Kopf zu seiner Hundehütte und legte sich daneben, Hund
nachdem
herrisch
zur
er
den
Seite
jungen
gedrängt
hatte. Als Tschary-Agha seinen alten Hund erblickte, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Er trat zu ihm, hockte sich hin
und
flüsterte
schuldbewußt
ein
paar zärtliche Worte, während er ihn hinter dem Ohr kraulte. Akbai winselte und
wedelte
mit
dem
Stummel
schwanz.
' Wie ich Wasser holte Tschary-Agha überlegte lange, was er Akbai für eine Arbeit geben könnte. Als ich voriges Jahr bei Großvater im Kosch war, sagte er zu mir: " Söhn chen, wenn du einmal Schafhirt wer22
den willst, mußt du anfangen, alles or dentlich zu lernen. Die Wissenschaft der Hirten ist nicht schwer, aber man braucht ein ganzes Leben dafür. Paß auf, ich habe dem Kamel Baiyr zwei Kübel aufgeladen. Sitz auf und reite zum Nachbarbrunnen. Mit Wasser aus diesem
Brunnen
schmeckt
der Tee
besser. Ich bitte dich nur um eines: I
Sollte das Kamel unterwegs stehen-
bleiben und Gras fressen oder ein biß chen herumtrödeln - laß es gewähren. Treib es nicht an und steig auch nicht ab. Und damit es euch nicht langweilig wird, nehmt ihr Akbai mit. " Wir machten uns auf den Weg: Ak bai, Baiyr und ich. Wir gingen und gin gen, doch vom Brunnen war weit und breit nichts zu sehen. Später erfuhr ich, daß es zwölf Kilometer bis zum Brun nen sind. Keine kleine Entfernung. Und Baiyr - latsch, latsch - rupft hier ein 23
Hälmchen,
schaukelt
da
um
einen
Sandhügel, während Akbai Ziesel jagt und Hasen aufstöbert. Plötzlich kommt uns ein Opa entgegen, ein ehrwürdiger Greis. "Wohin des Weges so spät am " Tage, mein Söhnchen? fragte er. "Aus welchem Kosch bist du denn?"
Ich gab Auskunft über das Woher und Wohin. Da kriegte das Väterchen einen
richtigen
Schreck.
" Bis zum Brunnen ist's nicht mehr weit, aber es
wird bald dunkel, und euch kann sonst " was zustoßen. Er griff nach dem Zü gel, aber da sprang Akbai ihn von hin " ten an. " Gehst du weg! schrie ich, aber der Hund tat, als hörte er nicht. Der Alte gab den Zügel frei, und sofort ließ der Hund von ihm ab. Baiyr setzte sich wieder in Bewegung. "Treib es " an! rief der Alte. " Es wird schnell " Nacht. Wirst dich im Sand verirren! " "Ja, mach ich , sagte ich, hatte aber 24
Tschary-Aghas
Ermahnung,
das
Ka
mel nicht zu schlagen und anzutreiben, noch gut im Gedächtnis. Als
wir
beim
Brunnen anlangten,
stürzten sich die Hunde vom Kosch auf uns.
Plötzlich aber verstummten sie
und wedelten mit dem Schwanz, als ob sie uns kannten. Den Hunden folgte ein Junge, der an die fünf Jahre älter war als ich. Mit stolz gereckter Brust saß ich auf dem Kamel: Ja, da machst du Augen! Ich bin durch die Wüste herge ritten! Er aber nickte mir nur gleichgül tig zu, als wäre-ich kein verwegener Ka melreiter, sondern eine Fliege. Er ließ mein Tierchen sich hinlegen, füllte die Kübel mit Wasser und winkte kurz: " "Mach's gut! Das Kamel stand auf und trabte los. Es fraß jetzt kein Gras mehr, es machte große Schritte und ging zügig. Und Akbai sprang nicht hin ter den Zieseln her, sondern lief neben . 25
uns und bewachte uns. ln der Dämme rung kamen wir wieder in unserem Kosch an. Tschary-Agha, der uns schon erwar tete, lobte uns: " Fein, Söhnchen! Fein, Akbai! Da� habt ihr wirklich gut ge macht. " Bis zum Herbst holte ich Wasser für unseren Kosch, aber erst kurz vor mei ner Rückkehr in den Aul erfuhr ich, daß Akbai und Baiyr das Wasser für die Hir ten allein holten, wenn ich nicht da war. Tschary-Agha hatte sie dazu abge richtet. Der Sandsturm Als Akbai noch ein junger Hund war, · hat er einmal eine ganze Schafherde gerettet. Tschary-Aghas Gehilfe war in die Siedlung gegangen, um frische Fladen 26
'
.
zu holen, und Tschary-Agha war allein bei der Herde geblieben. Das machte ihm nichts aus. Den Weg hätte er auch
mit geschlossenen Augen gefunden, und falls Wölfe über die Herde herfie len, hatte er ja seine Flinte und den zu verlässigen Akbai. Plötzlich war über den hohen Dünen ein Rauchwölkchen zu sehen, als ob da jemand Pfeife rauchte. Und wenn die Dünen rauchen, ist ein Sturm im An zug. Tschary-Agha jagte die
Schafe in
eine Senke. ln den Senken ist der Wind weniger heftig. Akbai umrundete die Herde und tr-ieb die Schafe zusam men. Wenn Schafe Angst kriegen, ren nen sie auseinander, und nichts und niemand kann sie aufhalten und wieder zusammenbringen. Die Schafe beugen im Sturm den Kopf tief hinab zur Erde und lassen sich 27
- vom Wind treiben. Das stolze Kamel hingegen stemmt sich dem Wind ent gegen. Tobt ein Sturm, ist die Sonne vor Staub nicht mehr zu sehen, und es wird ganz dunkel. Tschary-Agha wickelte sich in seine Burka und legte sich neben die Herde. Der Sturm wurde heftiger. Die Schafe sprangen auf und rannten los. Tschary Agha wollte ihnen nachlaufen, doch der Wind riß ihn von den Beinen. Sand drang ihm in die Augen, in die Nase, in die Ohren, knirschte zwischen den Zäh nen.
So
beschloß Tschary-Agha
zu
warten, bis der Sturm abflaute. Gegen Morgen ließ der Sturm nach. Tschary-Agha arbeitete sich aus dem Sandhaufen heraus und sah sich um keine Schafe, kein Hund, nicht mal eine Spur von ihnen. Er suchte und suchte, und fand auf 28
einmal ein Glöckchen. So ein Glöck chen, wie es das Leittier der Schaf herde, ein Ziegenbock, um den Hals hat. Er heißt Serke. Es ist eine böse Sa che, wenn der Serke das Glöckchen verliert.
Wenn
weit
und
breit
kein
Glöckchen zu hören ist, wie soll man da die Herde finden? Man kann doch unmöglich alle Dünen ablaufen. Tschary-Agha eilte in die Siedlung und holte Leute zu Hilfe. Vier Tage suchten sie nach der Herde. Am fünf ten Tag fanden sie sie endlich. Fast zweihundert
Kilometer
vom
Weide
platz entfernt. Die Schafe weideten bei einem al ten, verfallenen Brunnen, und bei ihnen war Akbai. Man zählte die Schafe.
Es fehlte
nicht ein einziges. Das war dem Hund zu verdanken! Er hatte fünf Tage ge hungert, hatte Durst gelitten, aber er 29
war nicht von der Herde gewichen. Er hatte auf den Hirten gewartet.
Das Kamel und der Junge Auch das Kamel Baiyr war eine Be rühmtheit. Baiyr bedeutet Hügel, und bestimmt hat es diesen Namen bekom men, weil es groß und stark ist. Als
Baiyr alt wurde, brauchte es
nicht mehr zu arbeiten. Man meinte dem Kamel damit etwas Gutes zu tun, aber ihm bekam das nicht, es wurde schwermütig. Eines Tages kam Murad, der Sohn von Onkel Kuly, zu Baiyr. Er gab ihm ein Stück Fladen.
" " Ich heiße Murad , sagte der Junge zu dem Kamel, "und du bist Baiyr. Wir wollen Freunde sein. " Murad ging jeden Tag zu dem Ka30
mel, er fütterte es und kraulte es am Hals. Und das Kamel legte sich seinem Freund zuliebe auf die Erde, was eine Aufforderung an Murad war, einen klei nen Ritt zu machen. Ende Mai, das Gras in der Wüste war schon völlig verdorrt, ging Murad mit Baiyr Holz sammeln. Obwohl die Bündel
des
dünnen
Steppenge
sträuchs nicht schwer waren, trug das alte Kamel sie stolz mit zurückgeworfe nem Kopf und vorgestreckter Brust. Es arbeitete wieder, es half den Men schen. ln einiger Entfernung stand ein klei ner
Saxaulstrauch, der eine Menge
trockener Zweige hatte. Murad arbei tete froh und munter bis zum Mittag. Es war brütend heiß wie im Back ofen. Murad bekam Durst.
Da aber
mußte er feststellen, daß er die Was sertlasehe vergessen hatte. Bis nach 31
Hause war es recht weit, und so be schloß er, unterwegs zu dem großen Takyr abzubiegen. Ein Takyr - das ist fester, ebener Boden, wo sich im Früh jahr Wasser sammelt. Murad wußte, daß im Takyr Gruben sind, worin noch Wasser zu finden war. Der Takyr war schon von weitem zu sehen. Er blinkte im Sonnenlicht wie ein Spiegel. Das kam vom Salz, das sich an der Oberfläche des Bodens ab gelagert hatte. Anfangs ging Baiyr zwar auf den Ta kyr, aber dann bockte er. " "Überleg doch , redete Murad ihm zu, "bis nach Hause ist es weit, und " ohne Wasser kommen wir um. Er wollte zu dem Tümpel rennen, doch Baiyr schnappte mit dem Maul sein Hemd und hielt ihn zurück. " " Du bist heute aber komisch! sagte Murad verwundert. " Das ist bestimmt 32
von der Hitze. Komm, wir wollen trin ken." Baiyr gehorchte dem Freund nicht. Der Boden federte wie angetrockne ter Teig, aber der Junge beachtete es nicht. Ungefähr zehn Schritte vor der Wassergrube sank er plötzlich bis zu den Knien ein. Sosehr er sich auch ab mühte, er konnte die Beine nicht her ausziehen.
Im Gegenteil, er merkte,
daß er immer tiefer einsank. Noch lag er zwar mit dem Bauch auf der ,Erde, aber der tückische Boden platzte auf, und aus den Rissen sickerte Wasser. Baiyr!" schrie Murad verzweifelt. " Das Kamel machte ein paar Schritte auf dem unebenen Boden, dann legte E:lS sich hin und kroch.
Obwohl der Boden unter Baiyr ein sank, arbeitete es sich nahe an Murad heran, packte sein Hemd mit den Zäh nen und kroch langsam zurück. Der 33
Sumpf gluckerte, aber da war Murad schon in Sicherheit. Er kroch zu Baiyr, umarmte das Ka mel und schmiegte die Wange an sei nen Kopf.
" "Verzeih mir, Baiyr , sagte der Junge zu dem klugen Freund. "Aber nun schnell weg von hier. " Das Kamel sah Murad mit sanften, traurigen Augen an, rührte sich aber nicht vom Fleck. Und da sah Murad, daß der Boden rings um Baiyr einsank. Den Jungen hatte der Sumpf freigege ben, nun aber wollt� er das Kamel ver schlingen.
" " Baiyr! Lieber Baiyr, halt aus! Murad riß dem Kamel die Saxaulbündel vom Rücken, schob ihm die Zweige unter
den Bauch und rannte, ohne sich zu besinnen und ohne sich umzusehen, nach Hause. Er erinnerte sich nicht, wie oft er hin34
fiel,
weiterkroch,
sich
keine
Pause
gönnte, weil der Sumpf nicht warten würde. Völlig erschöpft stürzte er in das No madenzelt und konnte bloß noch flü stern: " Rettet Baiyr! Er hat mich geret tet. " Als er am Morgen aufwachte, war er allein in der Kibitka. Baiyr! erinnerte er siGh und sprang auf. Die Beine wollten ihm nicht gehor chen,
ihm war schwindlig, aber er
schleppte sich hinaus. Baiyr stand neben der Kibitka, und vor ihm lag ein Armvoll Heu. Baiyr hörte auf zu kauen und wandte den Kopf zu Murad. Murad mußte lachen, denn das Heu stach nach allen Seiten au�
Baiyrs
Maul
Schnurrbart.
36
heraus
wie
ein
Die Augen des Hirten Heute ist Toi, ein Festtag. Eine Kara wane ist in unserem Kosch eingekehrt, eine Expedition vom Geographischen Institut. Die Hirten haben zu Ehren der Gäste viele gute Speisen zubereitet, sie ha ben lschleki gebacken, das sind ge füllte Hirtenpasteten, und Pilaw und Schurpu gekocht. Pilaw ist Reis mit Hammelfleisch
und
Schurpu
. eine .
Suppe, die sehr gut schmeckt. Nach dem Essen trinkt man Tee und unterhält sich. Alle sind besorgt. Das Frühjahr ist bald vorbei, und noch ist kein Tropfen Regen gefallen. Das Gras ist schnell verdorrt, und das Vieh wird bald kein Futter mehr finden. " Nur keine Aufregung. Ehe unser Fest hier zu Ende ist, wird ein starker 37
Regenguß über der Wüste niederge
hen. "
Es ist Tschary-Agha, der das sagt. Er hat gerade seine Herde zur Tränke ge trieben und macht es sich nun auf dem Teppich bequem. "Woher willst du das wissen, ehr würdiger Vater?" fragt der Leiter der Expedition. " Es ist kein Wölkchen am Himmel."
meine Kamelchen!" sagt "Ach, Tschary-Agha lachend. " Das weiß ich so gewiß, wie ich gestern gewußt habe, daß eure Expedition heute an un seren Brunnen kommen wird. " " Du sprichst in Agha. "
Rätseln, Tschary
" ln Rätseln! ln Rätseln! Ich bin euren Spuren gefolgt und habe die Herde an getrieben,
damit
ich
zum
Festmahl
nicht zu spät komme. Ach, Kinder, da seid ihr nun viele Jahre zur Schule ge38
gangen, habt auf der Universität stu diert. Mich hat das Leben ausgebildet, mein ganzes Leben. Und mein Lehrer war die Karakum. Zehn Jahre ist's ner, daß ich mein Kamel an eure Expedition verkauft habe, und heute hat es euch hierher gebracht. Ich habe seine Spur wiedererkannt. " " Nun sag schon, Tschary-Agha, woran du erkennst, daß es bald regnen wird. " "Als ich mit den Schafen beim Brun nen angelangt war, haben sie sich zu sammengedrängt und an die Erde ge schmiegt, wie vor einem Sturm - ein sicheres Zeichen, daß es regnen wird, ein ganz sicheres Zeichen. " Die gelehrten Leute schenken mei nem Großvater nicht viel Glauben, zu mal
die
Sonne
weiter
unerbittlich
brennt. Kein Wölkchen ist aufgekom men, kein Lüftchen hat sich erhoben, 40
doch Tschary-Agha soll recht behalten. Wir haben den Tee noch nicht ausge trunken, Wind.
da erhebt sich ein starker
Er treibt große
Regenwolken
heran, und es beginnt in Strömen zu regnen. Als die Expedition weiterzieht, ist der Sand naß. Die Wüste ist vor unseren Augen grün geworden. Von dem nas sen Sand riecht es nach Fluß.
Die Höhle Tschary-Agha und ich sitzen da und warten auf Onkel Kuly und die Herde. Endlich tauchen sie auf. Als
sie
näher
kommen,
erkennt
Tschary-Agha, daß in der Nacht bei Onkel Kuly etwas passiert sein muß. Und so ist es! Ein Wolf hat einem der Schafe den Fettschwanz abgerissen. 41
Es gibt Schafe, die Fettschwanzschafe heißen, und die haben einen Schwanz, der so dick ist wie ein prall gefüllter Sack. ln ihm lagert sich Fett ab. " Na. dann werden wir uns wohl ein mal die Höhle ansehen müssen" , sagt Tschary-Agha. Ich bestürme ihn mit Fragen. "Wo ist die Höhle? Wie hat der Wolf den Schwanz abgerissen? Und was wird nun mit dem Schaf?"
", " Das Schaf wird es überstehen sagt Tschary-Agha, " und die Höhle wirst du morgen mit eigenen Augen sehen. Weißt du, bei uns in der Steppe sagt man: Besser einmal mit eigenen Augen gesehen als zehnmal gehört. " Am nächsten Morgen ziehen wir in die Steppe. Ich hatte gedacht, wir ha ben einen weiten Weg vor uns, aber schon nach ungefähr zwei Kilometern steigen wir einen 42
Berghang
hinauf.
" " Söhnchen , flüstert Tschary-Agha, " schmieg dich an die Erde und rühr dich nicht. " Er legt sich neben mich, greift nach dem Fernglas und kriecht vorsichtig ein Stückehen weiter. Dann sieht er durchs Fernglas und winkt mich heran. " Sie sind vor der Höhle" , flüstert er mir ins Ohr. Ich sehe zwei ausgewachsene Wölfe und drei Junge. Die Wölfin beißt den Wolf in die Schul ter, schubst ihn mit den Pfoten weg, er aber fletscht nicht einmal die Zähne. Ich blicke zu Tschary-Agha hin. Der Wolf hat heute bei der Jagd nicht viel Glück gehabt, denke ich, er hat wenig mitgebracht. Die Wölfin kann von den Jungen nicht weg, und so muß er allein für vier sorgen. Da hält ein einziger Fettschwanz nicht lange vor. "Warum macht ihr nicht schon auf den Wurf Jagd?" "Weil man heute sagt, daß die Wölfe 43
auch nützlich sind. Und dann macht uns dieser Wurf keine Angst: Wölfe rühren ihre Nachbarn nicht an. Dieser Familienvater da ist sicher erst nach vielen Mißerfolgen über unsere Herde hergefallen. Aber wart nur, bis die Jun gen herangewachsen sind, dann gehen wir auf die Jagd. Die Jungen muß man lebendig fangen, man kann sie zäh men. " Und dann werden die Schafe von den Wölfen bewacht! ging es mir durch den Sinn. Ich hab vielleicht einen Groß vater! Man füttert die Wölfe, und die Schafe bleiben heil und unversehrt!
Wassermelonen Tschary-Agha
steckt
Wassermelo
nen. Es gibt nichts Süßeres als Wasser44
melonen, die in der Wüste gewachsen sind. " Mag die Wüste ruhig etwas für die Hirten tun!" sagt Tschary-Agha und steckt Melonenkerne zwischen Kamel dorn. Ein anderes kleines Melonenfeld legt er auf dem Hang einer alten Düne an. Wo
Borstenhirse und
Buchweizen
wachsen, hätte es wenig Sinn, Melo nen zu ziehen. Dort ist zwar ein grünes schattiges Fleckchen, aber die Melo nen würden zwischen diesen Pflanzen nicht gedeihen. Die Pflanzen der Wü ste sind wie Pumpen, sie saugen alle Flüssigkeit in sich auf. " "Zum ersten , erklärt mir Tschary Agha, " muß man den richtigen Platz
aussuchen. Und zum zweiten muß man die
Melonenkerne
vor
Schildkröten,
Zieseln und Sonne schützen. Sorgst du nicht dafür, daß die Pflänzchen Schat46
ten haben, wird der heiße Sand sie von den Wurzeln abschneiden wie mit der Schere. Gegen die Schildkröten ma chen wir aus Zweigen einen Flecht zaun. Die füchse naschen zwar auch gern Melonen, aber nicht die Kerne, sondern das saftige Fruchtfleisch. Die Ziesel wittern die Kerne und fangen an zu wühlen. Der Sand rieselt weg, als ar beiteten sie mit einem Bagger. Doch im
rechten
Moment
erscheint
der
Fuchs. Er packt den Gauner am Kra gen: Die Kerne bleiben', wo sie sind, du Dummkopf! Wenn die Melonen reif sind, esse ich das Weiche und lasse dir die Kerne. Und falls du nicht einsehen willst, was zu deinem Besten ist, ver speise ich dich zum Mittagessen!" Tschary-Agha hat heute gute Laune, und
so
traue
ich
mich
zu
fragen:
"Großvater, wann nimmst du mich mit auf die Weide?" 47
" Heute, kannst dich schon darauf vorbereiten. Heute wird es schön sein in der Steppe. Wir haben Vollmond." Als es auf den Abend zugeht, hat der alte Tschary-Agha Schmerzen in den Beinen, und ich lasse traurig den Kopf hängen.
Tschary-Agha
aber
hält
Wort.
" " Du gehst mit Onkel Kuly , sagt er, " "und wirst ihm helfen.
Mit der Herde auf der Weide Onkel Kulys Vater war Schafhirt, und sein Großvater und sein Urgroßvater sind auch Schafhirten gewesen. Die Ellenbogen auf den gekrümmten Hirtenstab gestützt, steht
Kuly-Agha
reglos in der Wüste. Wie ein Riese. Ihm gegenüber verschwindet die matte Abendsonne langsam hinter den Dü48
nen. Gemächlich folgen wir den Scha fen. Wir haben die Hunde Sakar und Bassar mit.
Die Sonne steht schon
sehr tief, doch der Sand atmet immer noch Hitze aus. Kuly-Agha lauscht auf den Klang des Glöckchens. Der Serke führt die Herde mal hierhin, mal dorthin. Er wittert, wo gutes Futter steht. Die Herde zieht da hin und frißt.
Kuly-Agha ist ihr ein
Stückehen gefolgt und bleibt nun wie der
stehen.
Er
blickt,
auf
seinen
Krummstab gestützt, in den Sonnenun tergang. Nun ist die Sonne verschwun den. Sie hat uns mit ihren Strahlen zum Abschied noch einmal zugezwin kert. Die Sonne kann sich jetzt ausru hen, und wir arbeiten. " Bis morgen!" sagt Kuly-Agha zur Sonne. Onkel Kuly ist sehr schweigsam. Das sind die ersten Worte, die ich heute von ihm gehört habe, und dabei ziehen 49
wir schon zwei Stunden mit der Herde. Die Dunkelheit kriecht in die Senken, es wird richtig unheimlich.
Nun ra
schelt es auch noch. Ich schaue mich um. Schleichen sich etwa Wölfe heim lich an die Herde heran? Genau in diesem Moment geht über den Dünen der Mond auf. Kuly-Agha hat seinen Esel eingefangen und ihm ein Glöckchen um den Hals gebunden. Der Esel trägt die Lebensmittel und das Wasser für die Menschen und die Hunde. Wenn er im Dunkeln von der Herde abkäme, müßten wir hungern und frieren. Der Sand hat sich endlich abgekühlt. Nun ist es in der Wüste angenehm frisch. Die vom Mondlicht überfluteten Dünen sehen aus, als wären sie mit Milch übergossen. Es ist so hell, daß die Sandkörnchen unter den schimmern wie Schnee. 50
Füßen
Die Schafe fressen, ohne· aufzublik ken. Die Hunde liegen, den Kopf auf den Pfoten, zu Onkel Kulys Füßen. Ihre Augen schlafen, aber ihre Ohren zittern bei jedem Geräusch wie Blätter im Wind. Die Hunde sind heute ruhig. Die Nacht ist klar, und in einer Nacht wie dieser werden es die Wölfe nicht wa gen, die Herde anzugreifen. Um Mitternacht hören die Schafe auf zu fressen. Sie scharen sich auf ei nem freien Fleck zusammen und l�gen sich hin. Kuly-Agha
hat
den
Esel
aus der
Herde herausgeholt, die Vorräte und das Wasser abgeladen, Zweige abge brochen und ein Lagerfeuer angezün det. Nun stellt er in einem Kupferkessel Wasser zum Kochen auf. Den Hunden stellt er Wasser in einem Gumminapf hin. Sakar steht auf, Bassar trinkt im 51
Liegen. Das Feuer ist nur klein, aber es verbreitet Wärme. Das Wasser im Kessel fängt an zu kochen. Onkel Kuly gießt den Tee auf. Er nimmt wenig Wasser. So ist der Tee stark und vertreibt die Schläfrigkeit. Wir setzen uns zehn Schritte vom Feuer entfernt auf die Burka und trin ken Tee. Es ist gefährlich, allzu lange neben
dem
Feuer
zu
sitzen.
Sein
Schein zieht alles mögliche Ungeziefer an wie zum Beispiel Giftspinnen und Skorpione. Das Feuer hat die letzten Zweige ver schlungen und wird fahl. Und fahl wird alles ringsum.
Sogar das Mondlicht
scheint seinen Glanz verloren zu ha ben.
Die Sterne werden heller.
Hunde
gehen
auf
ihre
Runde.
Die Die
Herde döst vor sich hin. Kuly-Agha hat seinen Krummstab, 52
das Kopfkissen der Hirten, unter den Kopf gelegt und schaut wieder in den Himmel. Auch ich sehe hinauf. Ja, da ist der Polarstern, der Leitstern. Und dort der Nacht
Große Bär, der die ganze
hinter
der
Sternenschönheit
herschleicht und sie umgehen will. Vor Sonnenaufgang
schleicht
sich
der
Große Bär nach Osten und legt sich im Rücken des Polarsterns auf die Lauer, und
genau
in
diesem
Augenblick
taucht über den Dünen das lustige Sie bengestirn auf- die Plejaden. Die
Schafhirten
kennen
sich
am
Himmel nicht schlechter aus als die Astronomen.
" " Söhnchen , hat Tschary-Agha ein mal zu mir gesagt, "wenn du durch den Wüstensand ziehen willst, mußt du die Wüste kennen wie deine Handfläche. Den Himmel aber mußt du kennen wie jeden einzelnen Finger deiner Hand. 53
Wer den Himmel nicht kennt, wird die "
Wüste nie kennenlernen.
Die Schafe setzen sich in Bewegung und ziehen weiter. Auch Onkel Kuly und ich stehen auf und folgen langsam der Herde. Die Schafe ziehen zurück zum Brun nen, zum Wasser. Der Himmel wird heller, Sand und Gras duften angenehm. Tschary-Agha
empfängt
uns
mor
gens am Feuer und bewirtet uns mit duftendem grünem Tee. " Guten Morgen, Schafhirt! zu mir.
54
"
sagt er
DAS BÖCKCHEN MIT DEM GLÖCKCHEN
Und . . . Und . . . Und Arslan sah dem Großvater zu. Rahim Agha pflückte die reifen Aprikosen vom Baum.
Der
Großvater ist groß,
die
Früchte sind klein. Und einer Ameise sah Arslan zu. Die Ameise ist klein, schleppt sich aber mit �inem mächti gen trockenen Halm ab. " Großvater! lan.
Großvater!"
rief
Ars
Rahim-Agha trat zu seinem Enkel sohn.
" " Guck mal! Der Junge wies auf die Ameise. "Wohin schleppt sie das Rie sending?" Der Großvater lächelte und legte Arslan die Hand auf den Kopf. 56
" Da kann mein Kamelehen mal se hen, daß die Ameisen das arbeitsam ste Volk auf der Erde sind. Der Halm wird als Baumaterial für den Ameisen haufen genommen oder als Nahrung. Als
Trockennahrung.
Den
Ameisen
braucht nicht bange zu sein, wenn der Winter kommt und der Boden hart ge froren ist. Sie haben es in ihrem Haus "
warm, und satt werden sie auch.
" Dann will ich auch. arbeiten, damit wir es im Winter warm haben und ge " nug zu essen da ist , sagte Arslan. " Gut, Kamelchen! Das hast du dir " fein ausgedacht , lobte flahim-Agha. " Hier hast du einen Eimer, lies die her " untergefallenen Aprikosen auf. Großvater und Enkel arbeiteten mit einander.
" " Bist tüchtig, Kamelchen! sagte Ra hirn-Agha, als er nach einer Weile ei nen Blick in Arslans Eimer warf. " Der 57
Eimer ist fast voll. Für heute ist's ge nug. Geh und wasch dir die Hände, wir " fahren zu Tante Aigül. " Und wo wohnt Tante Aigül?" " " Im Aul. " " Und wo ist der Aul? " " Das siehst du, wenn du da bist. " " Und womit fahren wir? " "Mit meinem Motorrad.
"Mit dem roten?" " "Ja, mit dem roten.
" Und wer lenkt?" " " Ich.
" Und ich fahr im Beiwagen?" " " Du fährst im Beiwagen.
Der Großvater setzte Arslan in den
Beiwagen, verstaute den Eimer mit den Aprikosen zu seinen Füßen und ließ schnell den Motor an, weil aus Arslan die Fragen herausschossen wie Was ser
aus
einem
geplatzten
sack. 58
Wasser
Großmutter Mengli-Edshe kam aus dem Haus, um die beiden Reisenden zu verabschieden. Rahim-Agha mußte wohl oder übel den Motor noch einmal abstellen und sich eine Menge Rat schläge anhören, wie man Motorrad fährt, wenn man den Enkel bei sich hat. Arslans Eltern studierten in der Stadt, und die Großmutter hatte Großvater und Enkel unter ihrer strengen Fuch· tel.
Der beste Freund Rahim-Agha blieb zwei volle Tage im Aul.
Und
diese
ganzen
zwei
Tage
steckte Arslan beim Aghil, beim Pferch. Das Vieh war auf den Sommerweiden in den Bergen und in der Steppe, doch im Aghil war noch eine Ziege niit ei nem
grauen
Böckchen, 59
auf
dessen
Stirn ein kleiner weißer Stern leuch tete. Kaum hatte Arslan das Böckchen er blickt, rannte er sofort zu ihm hin. Er rupfte ein Büschel Klee ab, schob es zwischen die Stangen und lockte das " Böckchen: "Mä-mäh! Mä-mäh! Dem Böckchen schien der Junge auch sehr zu gefallen. Es sprang nach rechts und links, rannte im Kreis herum und blieb dann wie festgewurzelt ge nau dort am Flechtzaun stehen, wo Arslan wartete. Mit vorgeschobenem Mäulchen
nahm
es
den
sprang wieder davon. " He! Komm her zu uns! Kinder.
Klee "
und
riefen die
Aber Arslan hatte keine Lust, mit den Kindern zu spielen, er wollte mit dem Böckchen spielen. Als Rahim-Agha sich für die Heim fahrt fertigmachte, fand er Arslan beim 60
Aghil. Der Junge fütterte seinen neuen Freund mit einem Stückehen Fladen. " Komm, Kamelchen, es ist Zeit, daß " wir fahren! rief Rahim-Agha dem En kel zu. " Großvater, bitte laß uns das Böck " chen mitnehmen , bettelte Arslan. " Das Motorrad hat einen starken Mo " tor, der schafft das. " Der Motor schafft das, aber das " Böckchen ist noch zu klein , hielt Ra hirn-Agha dem Enkel entgegen.
�,Es
muß noch Milch bei seiner Mutter trin ken. Damit es groß und· kräftig wird. Wir nehmen es das nächste Mal mit. " Komm, wir fahren. " " Nein, Großvater! sagte Arslan ent
schieden.
" Ich lasse meinen Freund " nicht zurück. Fahr ohne mich. " "Wie denn das! sagte Rahim-Agha
verwundert. " Ich fahre mit dir hierher, und zurück komme ich alleine. Da ließe 61
mich deine Großmutter nicht über die Schwelle. " Tante Aigül kam zum Aghil. " "Wenn's so steht, Neffe , sagte sie, " schenke ich dir das Böckchen und
noch ein Glöckchen dazu. Nächstes
Mal darfst du das Böckchen mitneh men. "
" "Tante Aigül! Arslan schlug bittend die Hände zusammen. " Können Sie das denn nicht verstehen? Ich kann
doch meinen besten Freund nicht ver lassen!"
" "Aigül, der Dshigit hat recht! sagte Rahirn-Agha. " Du könntest uns ja auch beide mitgeben - die Ziege und das Böckchen. Die Ziege bringen wir später
wieder zurück. "
" Großvater, das ist ein guter Ge danke!" Arslan klatschte in die Hände. " Nur keine Sorge, Tante Aigül! Das Motorrad hat einen starken Motor, der 62
schafft uns alle - Großvater, mich, die Ziege und meinen Freund, das Böck chen. " " " Na, wie ihr meint! sagte Tante Ai gül· lächelnd. "Aber solange das Böck chen noch wächst, mußt du die Ziege
auf die Weide führen, damit sie genü gend Milch für den Kleinen hat. Kannst du das schon?"
" " Klar kann ich das! Um das zu be kräftigen, sprang Arslan sogar ein Stückehen hoch. " Das kann ich, das kann ich! Und Gras haben wir jede Menge. So hohes Gras, daß ich nicht mehr zu sehen bin. " Tante Aigül holte aus dem Haus ein Glöckchen, das an einem roten Band hing, und das bekam das Böckchen um den Hals gebunden. Das
Böckchen
sprang,
und
das
Glöckchen läutete. Als das Böckchen im
Aghil
herumlief, 63
bimmelte
das
Glöckchen fröhlich. Es klingelte wie ein Bergbach, der von Steinehen zu Stein ehen hüpft. Die geflügelte Schlange Das
Böckchen knabberte an einem
Zweig. Die Ziege rupfte Gras. Sie hatte ein wachsames Auge auf ihr Böckchen und den kleinen Menschen. Die Ziege war zufrieden: Das Böck chen und der Junge trieben keinen Un fug. Sie waren mit wichtigen Dingen beschäftigt. Das Böckchen übte sich im Zweigeabnagen, und sein Freund Arslan baute etwas. Arslan, der allerdings der Meinung war,
er
hüte Ziege und
Böckchen,
baute einen Ameisenweg. Ein belebter Ameisenpfad zog sich durch das Gras von einer unbekannten Ferne in eine andere. Arslan konnte 65
nicht erkennen, woher und wohin die Ameisen eilten. Eines aber erkannte er von oben: Die Ameisen, die alle eine schwere Last schleppten, machten ei nen unnötigen Umweg. Arslim nahm eine Ameise und setzte sie auf seinen geraden Weg. Die Ameise war jedoch. unfolgsam.
Sie rannte herum, dann
krabbelte sie
auf
ihrem
gewohnten
Pfad weiter. Auch eine zweite Ameise gehorchte Arslan nicht. Und eine dritte nicht. Da grub der Junge ein Loch in den Ameisenpfad. Die Ameisen sollten um das Loch herumkrabbeln und dann auf seinen geraden Weg einbiegen. Aber falsch gerechnet! Die Ameisen krabbel ten in das Loch hinein und samt ihrer Last auf der anderen Seite mühsam wieder heraus. " "Ach, ihr! sagte Arslan zu den Amei sen. 66
Er legte einen Holzspan über das Loch. Die Ameisen freuten sich über die Brücke. Nun ging ihre Arbeit flott voran. Arslan ließ die Ameisen sein und machte sich an die Arbeit. Großmutter Mengli-Edshe hatte gesagt, es sei Zeit, einen Futtervorrat für den Winter anzu legen. Er hatte einen kleinen Futtersack mitgenommen, als er die Ziege und das Böckchen zum Weiden austrieb. Nun sammelte er abgefallene Maul beerblätter und Zweige hinein. Da fuhr auf einmal eine Schlange aus dem Gras auf. Flügel klatschten, dann sank sie wieder ins Gras. Arslan warf den Futtersack weg, lief aber nicht davon. Hatte er sich das viel leicht nur eingebildet? Flügelschlagend sprang die Schlange wieder hoch und sank zurück ins Gras. Arslan rannte, was das Zeug hielt. 67
" schrie er, " Großvater! Großvater! aufs Haus zulaufend. " Dort! Beim " Maulbeerbaum! "Wer ist dort? Ein Wolf? Ein Scha " kal? fragte der Großvater und suchte sich einen Stock. Da " Nein! " Schlange!
ist
eine
fliegende
" Kamelchen! Schlangen haben keine " Flügel. "Aber ich hab's gesehen. Ich hab's selber gesehen! Sie hat mit den Flü " geln geflattert. Der Großvater legte den Stock hin und überlegte.
" Nein, En �elchen, das war keine ge flügelte Schlange. Das war ein Vogel, der von einer Schlange erwischt wor den ist. Ich habe so was schon oft ge " sehen. " " Der arme Vogel , sagte Arslan. " "Ja, mir tut er auch leid , pflichtete 68
Rahim-Agha ihm bei. Sie standen da und sagten. nichts mehr, denn sie konnten dem Vögel chen nicht mehr helfen.
Holz für den Tamdyr " Großvater, darf ich mit den Jungen ins Holz?" Arslan keuchte, denn er war gerannt. Rahim-Agha besah sich den Enkel sohn aufmerksam von den Füßen bis zum Kopf und lächelte. " Sieh an, uns ist ein tüchtiger Helfer herangewachsen. Gestern hat Groß mutter gesagt, sie müßte bald mal wie der Tschurek backen, aber das Reisig für den Tamdyr ginge zur Neige. Aj, bist ein prächtiger
Bursche, Arslan.
Danke, daß du für die Familie sorgst, für Großmutter und mich. Geh nur mit 69
ins Holz, aber sieh zu, daß du immer in der
Nähe
der Jungen
bleibst,
und
nimm dir Brot mit. Wer arbeitet, muß auch essen. "
" Arslan nahm " Danke, Großvater! das Brot und einen Strick und stürmte davon. Das Böckchen mit dem Glöckchen sprang mal rechts, mal links neben sei nem Freund her. Die Jungen gingen zuerst zum Pur purweidendickicht, aber hier gab es nur wenig trockenes Reisig.
·
"Jungs! Wir gehen durch die Serna zum Schogan rüber!" sagte Jagmur, ihr Anführer, der schon sieben war und im Herbst in die Schule kam. Schogan nennt man dort die Inseln im Fluß und Serna - Flußarme. Das Wasser in der Serna war flach, es ging Arslan bis zu den Knien. " "Mäh-ä-äh! schrie das Böckchen, 70
sein fröhliches Glöckchen schepperte kläglich. Es traute sich nicht ins Was ser. komm, hab keine " Glöckchen, Angst!" rief Arslan, der ans Ufer der kleinen Insel kletterte. " "Mäh-ä-äh! meckerte das Böckchen zur Antwort. " " Das muß man rübertragen , sagte
Jagmur.
"Von selber geht das nie " durch die Serna. " " Klar geht es! stritt Arslan. "Zwei " mal muß man rufen, dann kommt es. " Hast du ihm etwa das Zählen beige
bracht?" sagte Jagmur ungläubig und " rief: " Glöckchen! Das Böckchen drehte nicht mal den
Kopf in seine Richtung.
" "Was du für Quatsch erzählst! Jag mur lachte. " " Es gehorcht nur Arslan! sagte Sa " par. "Arslan, ruf es! 72
" " Glöckchen! Glöckchen! schrie Ars lan, und das Böckchen machte einen Satz ins Wasser, dann einen Sprung und noch einen - und war auf der ln sei.
" sagten die " Ein echtes Wunder! Jungen. "Arslan ist ein richtiger Domp " teur. Am Ufer der Insel zog sich ein deut liph erkennbarer Pfad hin. An Tamaris kendickicht und grünem Schilf vorbei gingen die Jungen ihn entlang. Bald kamen sie auf eine Lichtung. Hier hatte der im Frühjahr über die Ufer getretene
Fluß
Buschwerk,
Wurzeln
und Gras zurückgelassen. " Kinder, das ist das richtige Holz zum Pilaw kochen!" jubelte Jagmur. " Kann man damit auch den Back ofen, den Tamdyr, heizen? " " " Klar! Die Jungen trugen das Reisig zu 73
Bündeln zusammen. Auf einmal wich das Böckchen, das um seinen Herrn herumsprang,
ängstlich
zurück
und
schnaubte.
" " Eine Schlange! schrie Arslan und sehrniß das Reisig hin. " "Ach wo! Jagmur lachte. " Das · ist bloß eine Natter. Keine Angst, heb das " Reisig ruhig auf. Die Jungen banden ihre Reisigbün del zusammen und setzten sich im Kreis hin, um zu essen. Fast alle hatten Fladen mit oder ein Stück Tschurek, dieses ungesäuerte süße Brot, und wer nichts hatte, dem gaben die anderen etwas ab. Da tauchte ein Esel auf dem Pfad auf. "Jungs, den fangen wir ein und la " den ihm die Bündel auf , schlug Jag mur vor. Gesagt, getan. 74
Die
Jungen
umringten
das
Esel
ehen, das gar nicht die Absicht hatte, wegzulaufen.
" "Wem gehört der? fragte Arslan. " Rumtreiber , " Das ist irgendein
sagte Jagmur. " Los, wir packen ihm Gras auf den Rücken und laden ihm " dann das Holz auf. Es fand sich noch ein Strick. Sie ban den ein großes Reisigbündel, hoben es gemeinsam hoch, luden es dem Esel auf und trieben diesen zur Furt. Als sie bei der Serna anlangten, er kannten sie diese kaum wieder. Das Wasser war gestiegen, es war trübe und schmutzig. "Wie kommen wir nun hinüber? fragte Arslan erschrocken.
"
"Wir schwimmen eben. Wer kommt " mit? fragte Jagmur, sich ein Herz fas send. Die Jungen sahen einander an und 75
wichen vom Fluß zurück. Das Wasser war fast dreißig Meter breit. " " Schwimm du allein , sagte Sapar zu Jagmur. " Du rufst Erwachsene her, " und wir bleiben hier sitzen. " "AIIeine hab ich Angst , gestand Jagmur ein. " Da kann man im Nu weg " sein. " "Aber was sollen wir dann machen?
Arslan schlang die Arme um sein Böck chen. Die Jungen drehten sich um und schauten zur Sonne. Sie war im Unter gehen. Und ohne daß sie es ausge macht hatten, fingen sie an zu rufen, in der Hoffnung, von einem Erwachsenen gehört zu werden. Aber niemand antwortete. "Wir müssen doch nicht etwa auf " der Insel übernachten? sagte Sapar laut. "Wir rufen weiter, aber alle zusam76
men!" schlug Jagmur vor. Die Jungen schrien im Chor und ein zeln, sie riefen nach dem Vater, nach dem Bruder und nach der Mutter. Auf ihr Geschrei hin tauchte· aus dem lnnern der Insel ein Mann mit ei ner
Schaufel
auf.
Es
war
Agha. ,.Wie
kommt
ihr
denn
Bairam hierher?"
fragte er die Jungen.
" "Wir haben Holz gesammelt , ant wortete Jagmur für alle. "Was denn, langt euch nicht das Holz auf der anderen Seite?" sagte Bai ram-Agha ärgerlich und trug dann die Kinder eines nach dem anderen durch die Furt. Er war stark wie ein Riese. Nahm einen Jungen samt seinem Holz bündel auf die Schulter. Als Arslan an der Reihe war, trug er nicht nur Arslan und sein Holz, sondern auch noch das Böckchen mit dem Glöckchen. 77
Zuletzt lud Bairam-Agha das Holz von dem Esel ab und trug es durch die Serna, den Esel aber jagte er wieder in die Tiefe der Insel.
Märchen Es war Winter geworden. Erde, Him mel und Fluß hatten sich grau ge färbt. Arslan wachte im Dunkeln auf. Er meinte irgendwo in weiter Ferne, möglicherweise am
Ende der Welt,
den Wind heulen zu hören.
" " Großvater, ist das der Wind? fragte Arslan. " Es wird bestimmt schneien. Hab ich recht?" " Nein, Kamelchen, das ist nicht der Wind. Das sind Wölfe. Ich geh mal zum Aghil und seh nach den Scha fen. " 78
Der Großvater zog sich an und nahm das Gewehr von der Wand. " Sieh auch nach meinem Böck chen!" bat Arslan, der sich im Dunkeln nicht hinauswagte.
" " Schlaf, Kamelchen , s(;!gte Rahim Agha, "es dauert noch eine ganze Weile, bis es hell wird. " Der Winter hat kaum angefangen, doch ich möchte, daß bald wieder Frühling ist, dachte Arsfan im Einschlafen. Wenn es lange nicht schneit, macht der Winter nicht viel Spaß. Doch gibt es auch schöne Tage. Das ist, wenn Großmutter Mengli und die anderen Frauen Wolle sortieren, sie zum Spin nen vorbereiten und die Kinder ihnen dabei helfen. Dann werden Märchen erzählt, eines nach dem anderen. Zum Märchenhören nimmt Arsfan sein Böckchen mit. Es läßt sich neben 79
der Schwelle nieder, legt den Kopf auf die
Beine
und
schlummert
in
der
Wärme ein. Heute ist man in Rahim-Aghas Haus zusammengekommen. Die Kinder zer zupfen die Wolle, Großmutter Mengli hat die Spindel in Bewegung gesetzt, die Fäden laufen, und ·nun fängt das Märchen an. "Vor langer, langer Zeit, meine Lämmchen" , erzählt die Großmutter, "siAd in einem fort Feinde über unsere Aule hergefallen. Die Menschen hatten ein schweres Leben, bis bei uns ein starker Dshigit heranwuchs, der Batyr genannt wurde, der Kühne. Nun mach ten die Feinde einen Bogen um unse ren Aul. I
Doch nicht lange lebte das Volk in
Frieden. Aus der Steppe zog eine fin stere Heerschar heran. Batyr ergriff sei nen Säbel, stieg auf einen Hügel und 80
sah,
daß
jenseits
des
Flusses' die
Steppe bis zum Horizont mit feindli chen Reitern bedeckt war. Da trat Batyr vor eine alte Purpur weide und bat sie: ,Verbirg mich, liebe Purpurweide!' Und der Baum öffnete sich vor Batyr und verbarg ihn. Die Feinde aber hatten Bätyr auf dem Hü gel erspäht und jagten
in
Scharen
heran - fanden ihn jedoch nicht. ln ,diesem Moment kam zum Un glück eine Elster angeflogen. Die sah die roten Bänder von Satyrs Chalat aus dem Baum hervorlugen und zupfte an ihnen. Die Bänder ließen sich nicht ab zerren, die zornige Elster kreischte wie toll, und nun erblickten aueh die Feinde die roten Bänder. Sie begriffen, daß Batyr sich vor ihnen in dem Baum ver borgen hatte. Mit ihren Säbeln und ÄXten hieben sie
auf
den
Baum 81
los,
doch
das
brachte weiter nichts ein, als daß ihre Äxte und Säbel stumpf wurden. Die Purpurweide widerstand ihren Schlä gen. Nun schichteten die Feinde Reisig um den Baum und entzüRdeten ein mächtiges Feuer, sie selbst aber ritten lachend davon. Sie glaubten, Satyr ge tötet zu haben. So wäre es auch wirk lich geschehen, hätte nicht eine herbei fliegende Schwalbe Wasser in ihrem Schnabel geholt, löschen.
Die
um das
Feinde
Feuer zu
sahen
die
Schwalbe wohl, dachten aber, in dem Baum wäre ihr Nest und sie flatterte deshalb über dem Feuer herum. Die Feinde machten sich aus dem Staub, die Schwalbe aber trug so lange Was ser in ihrem Schnabe� herbei, bis das Feuer aus ,war. Satyr stieg heil und un versehrt aus der Weide heraus. Seit jener Zeit können die Menschen die Elster nicht leiden. Man erzählt 83
sich, sie sei für ihren Verrat doppelt ge straft worden. Erstens brütet sie früher als die anderen Vögel, so daß ihre Jun gen oft im Frost umkommen, und zwei tens legt sie ihre Eier angeblich durch den Schnabel. " An der Stelle lächelte Großmutter Mengli. " Das hat man sich natürlich nur aus gedacht. Die Elster ist eine unverbes serliche
Diebin und stiehlt Eier aus
fremden Nestern. So haben sich die Menschen auf das, was sie sahen, ei nen Reim gemacht, der gut in das Mär chen paßt. " " Und lan.
die
Schwalbe?"
fragte Ars
" Die Schwalbe ist der Lieblingsvogel der Turkmenen. Überall herrscht große Freude, wenn sie sich einstellt, und nie mand zerstört ihr Nest, auch nicht der allerschlimmste Lausejunge. " 84
Eine Lüge aus Mitleid " Die "Arslan! Du bist eingeschlafen! Großmutter weckte den Enkelsohn.
" Steh auf und bring dein B�ckchen in den Aghil, dann leg dich richtig schla" fen. ·
Arslan zog den Mantel an, setzte d i e Mütze auf und führte das Böckchen am Band mit dem Glöckchen zum Aghil. Draußen war es dunkel, es wehte ein kalter Wind, der den Regen ins Gesicht und in den Kragen trieb. Arslan, der vor Kälte und Angst zitterte, stieß gegen das
breite
Stangentor
zum
Aghil, " schrie dem Böckchen zu " Hinein! Und
rannte ins Haus.
Qas Tor schwankte zwar von Arslans Stoß, war aber nicht aufgegangen. Das Böckchen mußte sich neben dem Zaun schlafen legen, und in der Nacht er schienen die Wölfe. 85
Als der alte Rahim-Agha am Morgen das Unglück sah, wären ihm fast die Tränen gekommen. Wie sollte er dem Enkelsohn
beibringen,
daß
es
das
Böckchen mit dem Glöckchen nicht mehr gab? Da war der Enkel auch schOll . Er kam zum Aghil gerannt und fragte: " "Wo ist denn das Böckchen? " " Dein Böckchen ist weit weg , antwor tete Rahim-Agha seufzend. " Du hast
gestern das Tor nicht richtig aufge macht, hast es nur angestoßen, und so hat das Böckchen draul�en übernach ten müssen. ln aller Frühe sind Antilo pen aus der Steppe hergekommen. Denen hat das Böckchen gefallen, und sie haben es mitgenommen " weite freie Steppe.
in · die
Arslan härte dem Großvater mit weit aufgerissenen Augen zu. Tränen kuller ten ihm über die Wangen. 86
" Und wann kommt es wieder, Groß " vater? "Wenn es die Kränkung, die du ihm zugefügt hast, verwinden kann, wird es wiederkommen. Irgendwann wird es " wiederkommen , log der Großvater aus Mitleid mit dem Enkel und ging Feuer im Herd machen. Arslan
stand
und
spähte
in
die
Steppe, denn er hoffte in der Ferne eine Schar leichtfüßiger Antilopen da hinjagen zu sehen - und in ihrer Mitte das graue Böckchen.
87
.INHALT Die Augen des Hirten 5
Das Böckchen mit dem Glöckchen 56
ab 7 J .
D I E K L E I N E N T R O M P ET E R B Ü C H E R
Wie ein Bergbach, der über Kieselsteine springt, klingelt das Glöckchen am Hals des kleinen Ziegenbocks, wenn er neben Arslan einherspringt Der Junge liebt das Böckchen sehr, das ihm Tante Aigül ge schenkt hat und für das er ganz allein sor gen darf. "unzertrennlich sind die beiden auf der Weide, beim Holzsammeln mit den Jungen oder dann im Winter, wenn Großmutter
beim
Wollespinnen
den
Frauen und Kindern Märchen erzählt. Bis zu dem Abend, als draußen der Wind weht, der Regen peitscht und Arslan eine bittere Erfahrung machen muß. D E R K l N D E R B U C H V E R LA G B E R L I N .
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