164 - Das Faschingsschneiderlein

August 26, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Plants, Nature
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Description

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Band 169

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Illustrationen von Werner Schinko 2. Auflage 1986 Für Leser von 8 Jahren an © Der Kinderbuchverlag Berlin

Inhalt: aus dem „Tagebuch“ der kleinen Tina, ziemlich langweilig, alles naturbezogen, unpolitisch

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EIN REH AUF DEM EIS Viele Tage haben wir gewartet, ob der See nicht endlich zufriert. Am Morgen läuft ein Reh übers Eis. Ganz sicher geht es von einem Ufer zum anderen, probiert den Weg für alle.

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Es ist sechs Tage vor, dem Weihnachtsabend. Jetzt kann Tina die Schlittschuhe vorholen. Wir wissen: Es wird einen langen, festen Winter geben, wenn der See uns um die Zeit trägt – und freuen uns. Doch wie wird das Reh den Winter überstehen? Gleich morgen nach der Schule wollen Tina und der Nachbar Heu in die Futterkrippe bringen.

EINGESCHNEIT Es schneit Es schneit so dicht, daß die Erde dunkel wird vor lauter Schnee. Immer schneller schüttet es vom Himmel herab. Lautlos. Schaufel, Besen, Schieber, ach, die Kraft all unsrer Arme reicht nicht aus:

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Der Schnee weht die Straße zu, den Eingang zu unserem Ort. Er türmt sich in den Gräben. Kein Mensch gelangt mehr zu uns, nicht die Postfrau auf ihrem Fahrrad, nicht das Milchauto, nicht der Barkas mit dem Brot. Die Kühe schreien vor Hunger in ihren entlegenen Ställen. Der Strom fällt aus. Es schneit. Unaufhörlich schippen die Männer. Sie haben eine Schleppe an den alten LKW gebunden. Wie winzig wirken sie – gegen Wind und Schnee gestemmt! Am Abend zünden wir Kerzen an und wärmen uns an ihrer Flamme. Endlich – am dritten Tag – hört es auf zu schneien. Vielfarbig läßt die Sonne die hauchzarten Schneekristalle aufleuchten. Traktoren schieben den

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Weg zu uns frei, bringen den Kühen Futter und uns Milch und Brot. Der Specht hämmert wieder am Telegrafenmast.

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ZITRONENFALTER IM FEBRUAR Der Schnee ist in Batzen von den Kiefern am Waldrand gefallen – eine Mittagsstunde im Februar! Da flattert es zartgelb über den Weg, der mit Schneeresten bedeckt ist. „Ein Zitronenfalter!“ ruft Tina. Sie bleibt stehen und hofft: Vielleicht setzt er sich für einen Augenblick auf meine Hand! Wir lächeln. Das wäre eine Ewigkeit für ein Schmetterlingsdasein! In den Kiefernkronen knistert es. Was ist das? Wir legen die Köpfe in den Nacken und sehen: Die Nadeln strecken und die Samenzapfen öffnen sich in der Sonne. Der Zitronenfalter wendet an der Kreuzung und fliegt weiter, ist nun dem Februarhimmel ein wenig näher.

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VOM KIRSCHBÄUMCHEN Im November pflanzte Tina ein Kirschbäumchen in den Garten neben die kleine Sternmagnolie. – Klein und nackt steht es den Winter über in der frierenden Erde, trägt ein paar Schneeflocken. Wir betrachten es und sagen: „Das Bäumchen!“ Das Frühjahr kommt. Die Sternmagnolie steckt ihre Blüten auf. Das Kirschbäumchen jedoch steht braun und mit geschlossenen Augen. Jeden Tag gehen wir hin, gießen es, wenn es nicht genug geregnet hat. Öffnet es nicht wenigstens ein Auge? Wir warten lange vergebens. Endlich entdecken wir eins – am untersten Zweig! Nun hoffen wir, daß das Bäumchen ein großer Kirschbaum wird mit Blättern und Blüten und Früchten.

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WIE EIN GLÄSERNER MANTEL Die Apfelbäume blühen schon, als nachts der Frost wiederkehrt. Um die Blüten in diesen Nächten zu schützen, besprühen wir sie mit Wasser. Tina sieht zu. Die fliegenden Tropfen erstarren, sobald sie sich auf die Blüten setzen, und werden eine hauchfeine Hülle aus Eis – wie ein gläserner Mantel.

TRAPPEN Mitten im großen Feld, hinter der Wiese, steht eine Schlehenhecke. Im Frühjahr ist sie von weißen Blüten überschüttet. Die Traktoristen und die Kombinefahrer müssen ihre Fahrt unterbrechen und einen Bogen schlagen.

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Beseitigt denn niemand diese scheinbar störende Hecke? Pst, nicht so laut! Seht ihr die seltsamen Vögel? Langbeinig stelzen sie aus der Hecke, wenn der Traktor vorüber ist. Nein, es sind nicht unsere vertrauten Kraniche, sondern Trappen. Die selten gewordenen Großvögel haben hier Re12

vier bezogen. Wir freuen uns! Die Naturschützer im Dorf wachen darüber, daß die Trappen ungestört weiden und ihre Jungen aufziehen können.

MONDFINSTERNIS Tina kommt mit dem Satz nach Hause: „Morgen ist Mond-fin-ster-nis!“ Wir sollen erklären und versuchen es: „Alle paar Jahre begegnen sich Erde und Mond auf ihren Bahnen so nah, daß die Erde ihn mit ihrem Schatten bedeckt!“ „Schatten?“ Tina sieht sich um, entdeckt ihren Schatten auf dem Weg, lang und schmal. „Wie sieht der Schatten der Erde aus?“ Wir stehen am Fenster und warten wie auf eine Theatervorstellung. Zuerst wirft die Erde dem Mond ihren Schat-

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ten über, als sei‘s ein Mantelsaum. Der Schatten rutscht weiter, immer weiter und sieht aus wie aus einem flauschigen dunkelroten Stoff gewebt. Nach zwei Stunden ist nur noch eine schmale Sichel zu sehen. Wir möchten den Augenblick festhalten. Doch der Schatten zieht sich so schnell zurück, wie sich die Erde dreht! Tina sieht dies alles zum ersten Mal. Werden kluge Leute an diesem Abend Neues über Erde und Mond entdeckt haben?

WENN ICH GROSSMUTTER BIN... Tina kommt mit schmutzigen Händen und Schuhen und einem geröteten Gesicht nach Hause.

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„Wir haben am Pioniernachmittag Bäume gepflanzt!“ „Wo?“ wollen wir wissen. „Im Wald am Trünnsee, wo wir im Herbst die großen Semmelstoppel und Habichtspilze gefunden haben.“ Sie sieht aus dem Fenster. „Wenn ich Großmutter bin, gehen meine Enkelkinder unter den Bäumen Pilze suchen.“

HEXEN GIBT ES NICHT „Hexen gab und gibt es nicht!“ sagt Tina und sieht mich streitlustig an. Wozu reden wir von diesen hilfreichen Wesen, die die Heilkraft von Kräutern und Wurzeln kannten: Hirtentäschel gegen Herzweh, Brennessel gegen Frühjahrsmüdigkeit, Johanniskraut als Schlaftrunk.

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Vielleicht hießen die Hexen Hexen, weil sie in Hecken lebten? Tina lacht. Sie braucht keinen Schlaftrunk. Sie will lange wach bleiben – hinter geschlossenen Lidern hören, wenn die Mutter die knarrende Treppe heraufkommt, um noch einmal nach ihr zu sehen. Hören will sie, wie der Wind die Zweige der Kiefer an das Verandafenster schlägt, und wissen, wer noch so spät an die Tür klopft, auf die Stimmen lauschen, die ins Haus gekommen sind. Wenn Tina ein Kraut braucht, dann eines, das die Neugier vertreibt. Doch: „Hexen“, beharrt Tina, „gibt es nicht! Wer sagt, daß auf dem höchsten der Berge tatsächlich in der Walpurgisnacht die Hexen tanzen? Zeige sie mir!“ „Einverstanden!“

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Welch lange Zeit von unserm Streit bis zur letzten Nacht im April. Sieben Winter kommen und gehen in diesem Jahr. Die Seen frieren zu, tauen auf, Zeit genug für Tina zu beharren: Hexen gibt es nicht! Der letzte Abend im April ist kalt. Nebel und Dämmerung steigen auf über den Seen, dem alten Park, der

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das Schloß mit dem achteckigen Turm umgibt. Wir gehen unter den hohen, alten Buchen. Scharen von Buschwindröschen locken die Knospen der Bäume zum Wettstreit! Wer wird schneller und schöner sein? Wir sehen das Ufer zu unseren Füßen und herausgerissene Baumwurzeln, die ihre Verästelungen zottig und doch zart in den rötlich schimmernden Abendhimmel strecken. Tina bleibt stehen und murmelt: „Die Hexen – siehst du die Hexen?“ „Wo?“ frage ich.

DER STOTTERNDE KUCKUCK Grüntöne umweben den See vorm Haus.

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Frühling! Tina sitzt auf der Treppe. Wieviel Gesichter der See hat! Licht und Wind gehen über ihn hinweg. Die Amsel singt, und seit drei Tagen blüht der Fliederbusch. Heute schon hängen einige Dolden wie erschöpft herab, so hastig und rastlos ist der Frühling in diesem Jahr.

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Tina ist traurig und weiß nicht recht, warum, läßt die Puppe, den Murmelsack und die Freunde, spricht nicht mit uns. „Vielleicht“, sagen wir und bleiben einen Augenblick stehen, „ist der Frühling nur deshalb besonders schön, weil uns weh tut, wie schnell vergeht, was doch eben erst gekommen ist.“ Tina sieht uns an, mit schräggeneigtem Kopf wie sonst, wenn sie nachdenkt, und möchte verstehen, warum man manchmal vor lauter Glück auch ein bißchen traurig ist. Da ertönt vom gegenüberliegenden Ufer zum ersten Mal in diesem Jahr der Ruf des Kuckucks. Wir lauschen. So hat der Kuckuck noch nie gerufen! Wie zum Ausprobieren klingt das erste Kuck, und, als sei es dem Sänger nicht schön genug geraten, setzt er ein zweites Mal an,

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nimmt Anlauf, will die erste Silbe löschen. Doch gesagt ist gesagt, und nun kommen endlich die vertrauten Silben über den See: Kuck-Kuckuck, und immer wieder. So ein verrückter Kukkuck! Wir vergessen, unsre Jahre zu zählen, die Geldbörse zu schütteln, hören nur immer dieses Kuck-Kuckuck.

DIE WEIDE VORM FENSTER Die Schaukel vorm Haus war lange für Tina das Schönste. Fast bis in die Äste der alten Weide schaukelte sie. Und die Weide wuchs und wuchs und verdeckte die Sicht auf, den See. „Wir müssen sie fällen“, sagte der Nachbar. „Wir sehen nichts mehr!“ Und so wurde sie gefällt. Sie war ja alt und knarrte, wenn der Wind im Herbst kam.

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Der Blick auf den See ist nun frei. Doch wie kahl sieht alles aus, wir frösteln ohne den Schutz der alten Weide. Lustlos schwingt sich Tina auf ihrer Schaukel hin und her. Woher soll sie nun wissen, wie weit sie fliegen kann?

EISVOGEL „An der Brücke nistet ein Eisvogel“, sagt der Nachbar. „Ein Eisvogel?“ fragt Tina. Wir glauben es ihm, denn er besitzt einen Feldstecher und ein Vogelbuch und hat noch vor uns den Kranich am Feldrand entdeckt. Der Nachbar fragt uns: „Kommt ihr mit?“ Wir gehen zur kleinen hölzernen

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Brücke, die über den Graben führt, der den großen und den kleinen See miteinander verbindet. Erlen beugen sich dort über das Ufer, das mit Holzpfählen befestigt ist. Das Wasser schlägt glucksend daran. Im Geäst schillert und schimmert es grünlich, bläulich, als habe jemand einen Regenbogen wie ein Tuch zusammengedrückt. Der Eisvogel! Kaum grö23

ßer als der Star vor unserem Haus! Reglos sitzt er – mit eingezogenem Kopf. Der Nachbar strahlt und flüstert: „Wie prachtvoll sein Gefieder ist!“ Der Vogel zuckt zusammen und Tina auch. Wenn er nun wegfliegt! Er soll bleiben! Doch der Eisvogel verschwindet in einem winzigen Loch zwischen den Uferpfählen, das Tina bis dahin nicht gesehen hat. Vorher schwang er sich auf wie ein Farbblitz. Der Wasserspiegel hält sein Bild noch, bevor es nun zitternd zerrinnt.

DER ALTE APFELBAUM Im Garten gibt es einen Apfelbaum. Weil er so alt ist, kann er sich selbst

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kaum noch tragen und lehnt sich gegen den Hügel. Tinas Freund hat den hohlen Stamm des Baumes mit Beton gefüllt, um ihn zu stützen. Wieder trägt der Baum Blüten, Blüten, Blüten, gönnt sich kein Ruhejahr. Versunken steht er und setzt Früchte an. Mittags besucht ihn ein Rotkehlchen; nachmittags kommen die Amseln. Manchmal knarrt und seufzt der Baum, wie es alte Bäume tun. Heute morgen ist ein Ast abgebrochen, lange bevor der Freund den ersten Apfel dieser Ernte, einen Gravensteiner, für Tina pflücken konnte.

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SCHIRMPILZE Auf dem Weg in die Stadt, deren Namen wir nicht verraten wollen, halten wir manchmal, sobald der Sommer und die Pilzzeit beginnt. Tina springt aus dem Auto. Hinter der großen Milchviehanlage lassen die Kiefern eine Lichtung frei. Hier wachsen Schirmlinge – Parasolpilze. Parasol heißt: Sonnenschirm. Langsam pirscht sich Tina näher. Und dann sehen wir die langstieligen Schönheiten unter den Pilzen. Anmutig stehen sie und locken mit der zartbraun geschuppten Oberfläche ihres Schirmes und den weißen, wie gefältelt wirkenden Blättchen, die die Unterseite bilden. Nur die jüngsten Pilze halten die Schirme noch geschlossen. Sie sehen

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aus wie Paukenschlegel. Ganz ungraziös. Wir brechen die Pilze, bringen sie im Korb ins Auto und schließlich nach Hause in die Küche. Dort panieren wir die Schirme wie Schnitzel und braten sie. Die holzigen Stiele sind nicht eßbar. Der Nachbar steckt die Nase zur Tür herein und schnuppert. Er hat ein altes Sprichwort zur Hand: „Leicht ist es, auf Silber und Gold zu verzichten... Doch ein Pilzgericht stehenzulassen ist schwer!“ Wir bitten ihn, unser Gast zu sein!

AUF DER JUNIWIESE Bäuchlings lassen wir uns auf die Sommerwiese fallen, hören das friedliche Gesumm und Gebrumm, riechen die

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Schafgarbe, den Klee, das Gras. Am meisten lieben wir die Wiese im Juni. Die zitternden Gräser schlagen über uns zusammen. Der blaue Rittersporn hält Wache, das Johanniskraut und der Ginster leuchten gelb bis in die lichtgrüne Nacht hinein... Tina stützt die Arme auf und beobachtet einen Marienkäfer auf schwankendem HaIm. Ich schlafe ein, mich trifft ein Traum, der einmal wirklich war: Bombenflugzeuge aus Kindertagen fliegen über die Wiese und über die Windmühle, die am Wegrand stand. Wieder sehe ich die Gesichter der Piloten hinter großen Brillen ganz nah und spüre die Angst: Gleich wird die Bombe fallen! Ich rufe Tina. Sie hört mich nicht, ich bin zu weit fort...

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Etwas Unbekanntes holt mich aus diesem schrecklichen Traum. Tina hat einen Grashalm auf meiner Nase tanzen lassen: „...sechs, sieben schwarze Punkte hat der Käfer! Bestimmt ist es der vom vergangenen Jahr! Ein Punkt ist dazugewachsen. Ist das so was wie ein Jahresring für den Baum?“ Und um uns ist wieder der lichtgrüne Junitag mit Rittersporn, Ginster, Johanniskraut und hundertunddrei verschiedenen Gräsern.

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DIESE EINE ULME! Sie steht am Weg zur hölzernen Brücke. Tina landet dort, wenn sie sich den Wiesenhang im Frühling herabkullern läßt. Wenn sie die Augen öffnet, sieht Tina als erstes die Ulme, die schon weiße Blütenbüsche trägt, bevor sich die Blätter entrollen. Jeden Tag ein wenig mehr. Tina beobachtet, wie der Baum grün wird und später die geflügelten Früchte reifen. Überall in der Welt sterben Ulmen – im Fernsehen haben sie es gesagt. Der Pilz Graphium ulmi ist schuld daran. Die Ulmensplintkäfer tragen die Krankheit weiter. Und noch weiß niemand ein Mittel gegen diesen Tod. Die Wissenschaftler zerbrechen sich die Köpfe. Tina sieht oft in die große Krone der Ulme, fängt das Licht auf, das durch

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das Laubdach fällt, und den Schatten, den es spendet. Unsre alte Ulme lebt am Anfang des Weges, den wir alle Tage gehen. Deshalb holen wir sie schnell in dieses Büchlein – für alle sterbenden Ulmen der Welt Und Tina malt ein Bild dazu.

SONNENAUFGANG Die Sonne ist für uns viel schöner als am Tag, wenn sie morgens hinterm See aufgeht, sich reckt, streckt und mit einem Schleier aus Grün bedeckt, den der Wald ihr reicht. Der See atmet, ist kaum zu erkennen. Die Seerosen frieren noch. Die Sonne wird sie bald wärmen. Da tritt aus dem Roggenfeld zwischen Haus und Wald eine Bache. Und

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hinter ihr marschieren sieben Frischlinge – aufgereiht wie zum Frühsport, nur ein wenig bummliger geht es zu. Sie ziehen über unseren Wäscheplatz, vorbei an Pfählen, die die Leinen tragen. Sie schlagen eine große Runde, verschwinden dann, woher sie gekommen sind. Die Sonne steht nun höher überm See, der leuchtet und fängt den Himmel auf. Am Ufer ist der Ort, an dem wir, leben.

HIMMELSSCHWIMMEN An diesem Morgen gehen wir an den Fluß. Wo er sich zum See weitet und das Schilf einen Weg läßt, ziehen wir uns aus und legen die Sachen auf das noch feuchte Gras.

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Alle Vogelstimmen sind um die Zeit wie ein einziger Laut, der sirrend fliegt. „Himmelsschwimmen“, ruft Tina, wenn sie auf dem Rücken, das Gesicht dem Himmel zugekehrt, schwimmt. Auf einmal spüren wir: Heute ist noch jemand an diesem Fleck. Mit zuckenden Schultern steht ein Junge bis zur Brust im Wasser, und wenige Schritte von ihm entfernt, zur Flußmitte hin, ruft ein Mann: „Nun komm!“ Der Junge zittert und schüttelt den Kopf. Wir halten uns zurück. Tina hat das Schwimmen vor dem Abc und dem kleinen Einmaleins gelernt. Wir haben es kaum bemerkt. Der Mann ruft wieder: „Komm schon! Ich bin doch hier!“ Da bewegt sich der Junge mit klei-

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nen, hastigen Stößen auf den Vater zu, erreicht ihn, um Atem ringend. Glücklich sieht er den Vater an.

DER GROSSE SCHRITT Plötzlich steigt Tina die schmale Leiter hoch bis auf die Plattform des hölzer-

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nen Turmes. Sie balanciert weiter, hat nur noch das schwankende Brett unter den Füßen und weit unter sich den See – mehr als drei Meter tief. Noch nie ist Tina von hier oben gesprungen. Nur jetzt nicht hinuntersehen! Doch das Wasser lockt mit tausend Lichtfünkchen, die tanzen und ihr zuzwinkern: Komm nur! Spring doch! Spring! Die Bäume am Ufer sehen von hier aus kleiner aus und sind staubbedeckt vom Lauf des Sommers. Tief unter Tina spielen und toben die Freunde. Sehen sie nicht hoch zu ihr? Tina reckt die Nase. Da fassen sich See und Himmel an die Hand und vollführen einen Wirbeltanz, daß Tina nur noch eins kann: springen! Wie ein Blitz saust sie vom Turm, taucht ins Wasser. Es schlägt über ihr

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zusammen. Tina taucht prustend wieder auf. Sie klettert die kleine Leiter auf den Steg, tropfnaß und schluckend und leuchtend vor Glück. Wir haben während der ganzen Zeit bäuchlings in der Sonne gelegen und ihr zugesehen. „Hattest du nicht doch ein wenig Angst?“ fragen wir sie. „Ich habe rübergeguckt auf den Zeltplatz und mir fröhliche Gedanken gemacht – und: Es war. doch bloß ein großer Schritt!“

DAS QUIEMCHEN Schläfrig flüstert das Schilf mittags am Seeufer neben dem hölzernen Steg. Fernab brummt leise ein Flugzeug. Plötzlich trifft uns ein hoher, angst-

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voller Tierlaut, es fiept und raschelt aus dem Schilf. Rasch entfernt sich eine Bleßhuhnfamilie. Doch ein Junges bleibt zurück. „Ein Quiemchen!“ sagt Tina. Was mag ihm fehlen? Ist es am Flügel verletzt, am Bein? Das Junge gibt diese hohen, bittenden und ängstlichen Laute von sich. „Wir wollen es mitnehmen und pflegen“, schlägt Tina vor. „Es geht nicht“, sagen wir. „Dann spüren die anderen den fremden Geruch und rühren es nicht mehr an. Bestimmt kommen sie zurück.“ Am nächsten Tag gehen wir wieder an den See – und finden fiepend unser Quiemchen. „Warum lassen es die anderen allein?“ fragt Tina.

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PILZBLICK Der Nachbar kommt schon frühmorgens mit gefüllten Körben aus dem Wald. Pfifferlinge! Gelb und leuchtend liegen sie und locken uns. So hat Großvater sie früher in der Brotbüchse von der Arbeit im Wald mit nach Hause gebracht wie sonst Hasenbrot. Wir wollen auch Pfifferlinge suchen gehen. „Wo gibt es welche?“ Der Nachbar weist mit ungewisser Handbewegung in die Richtung des Waldes. Im Pilzbuch haben wir gelesen: Wo Blaubeeren wachsen, soll es keine Pfifferlinge geben! Also lassen wir den Waldstreifen mit den Beeren aus, finden Täublinge, grün und gelb, violett und rot. Tina sieht uns fragend an. Wir suchen Pfifferlinge. Wieder und wieder

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bückt sie sich, doch stets ist es nur ein gelb gewordenes Birkenblatt. Es kann doch nicht alles, was gelb ist, ein Blatt sein! Zum Ausruhen, möchte Tina ein paar späte Blaubeeren naschen. Sie biegt die kleinen Büsche auseinander – gelb leuchtet es ihr entgegen: Pfifferlinge in geselliger Runde, dottergelb – mit eingerolltem Rand die jüngeren, mit wellig buchtigem, leicht zerspelltem die größeren.

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Behutsam schneiden wir jeden Pilz ab, damit die Enden im Waldboden bleiben, blasen Erde, Laub, Gras und Moos weg, bevor wir einen nach dem anderen ins Körbchen sammeln. Überall leuchtet es uns nun entgegen. Sogar wenn wir die Augen schließen, sehen wir Pilze: im struppigen Gras oder Moos. „Jetzt habe ich einen Pilzblick“, murmelt Tina.

DIE BLAUE KOMBINE Begrenzt von Wald und See und dem Wäscheplatz hinterm Haus ist der Roggen auf dem kleinen Feld reif geworden. Eine blaue Kombine schwenkt auf uns zu, um den Roggen zu ernten. Beim Wenden verfängt sich die

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Kombine in den Zweigen der alten Schlehenhecke. Der junge Mann steuert seine große Maschine vor und zurück. Vergeblich. Es kostet ihn Mühe. Wir laufen zu ihm, und mit einer Handbewegung befreien wir das moderne Gerät aus den dornigen Ästen.

EBERESCHEN Am Waldrand leuchten und klingen die Ebereschen. Tina zeigt dem Besuch aus der Stadt ihre Wege. Vor den Bäumen mit den roten Beeren bitten die Gäste: „Wir möchten ein paar Zweige pflücken!“ Die junge Frau reckt sich, um einen zu erreichen. „Wir brauchten eine Leiter!“ Da nimmt der junge Mann sie auf

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den Arm. Er ist groß und hält sie so hoch er nur kann. „Mit mir brauchst du keine Leiter“, sagt er. „Willst du aus den Beeren Wein oder Mus bereiten?“ „Am liebsten“, erwidert die Frau, als sie wieder auf dem Weg steht, „beides!“

EIN WEISSER SPATZ Wenn der Schülerbus morgens in unserem kleinen Ort hält, fliegt unterm Fliederbusch ein Schwarm Spatzen auf. „Ein weißer Spatz“, ruft Tina beim Einsteigen. „Habt ihr ihn gesehen?“ Gelächter bricht aus: „Ein weißer Spatz?“ „Vielleicht ein Albino“, sagen wir am Abend. „Hatte er rote Augen?“

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Tina zuckt mit der Schulter. „Sie sind alle so schnell weggeflogen! Und – was ist das – ein Albino?“ „Ihm fehlen die Farbstoffe in seinem Körperhaushalt – auch bei anderen Vögeln und Tierarten kommen hin und wieder Albinos vor.“ Am nächsten Morgen ist der Schwarm Spatzen wieder da: Wo ist der weiße Spatz? 43

Tina entdeckt ihn gleich. Ja, er hat rote Augen und fliegt tschilpend auf mit den anderen – ist ein richtiger. Spatz, nur eben weiß.

DIE BIRKE AUF DEM DACH „Birken“, sagt der Nachbar, „sind das Unkraut des Waldes. Das behauptet jedenfalls unser Förster“, fügt er spöttisch hinzu. „Er denkt nur an die Nützlichkeit des Waldes und zieht Bäume, die schnell wachsen: Kiefern.“ Das Birkenwäldchen entdeckten wir im milden September. Die rissige Rinde der Bäume leuchtete vor dem blauen Morgenhimmel. Einige Blätter waren schon gelb. Der strenge Kiefernwald ist einen Schritt zurückgetreten. Von diesem Birkenwäldchen muß

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ein Samenkorn bis zu unserem Haus geflogen sein und sich dort in der Dachrinne eingenistet haben. Ein winziges Bäumchen wuchs heran. Wovon lebt es? Vom Moos, das in der Dachrinne wächst, von den drei Regentröpfchen?

HINTER DER HÖLZERNEN BRÜCKE Gleich hinter der hölzernen Brücke liegen links und rechts die beiden Seen, schimmernd vor Helligkeit. Dort ist unser Paradies! Der Hain und der schmale Acker, der Jahr um Jahr immer wieder Steine wachsen läßt, gehörten ebenso dazu wie unsere Gärten, in denen die Rehe die Rosen abfressen. Und die alte Apfelplantage! Im Frühjahr muß man einfach anhalten, nur ei-

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nen Augenblick, um sich an der Blütenpracht zu erfreuen. Und im Herbst dürfen wir uns eine Schürze voll Äpfel pflücken. Durch unseren kleinen Ort windet sich die Chaussee, mit Bäumen bewachsen, die dann weiter durch die Landschaft führt. An der Wegbiegung ein Verkehrsschild: Achtung, kurvenreiche Strecke! Dahinter liegt schon der nächste Ort – ist Anfang oder Ende der Welt – beides, je nachdem, was du erwartest. Hier wohnt Tinas Freundin.

SEPTEMBERTAG Seit Tagen schimpft der Nachbar: „Frißt den Köder vom Haken und verschwindet wieder! Was der für Kraft hat! Muß ein mächtiger Herr sein!“

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Ein großer Fisch? Am Ende ein Hecht? Der Nachbar schweigt und zieht am Morgen wieder los. Wir sehen ihm hinterdrein. Es ist die Zeit der gläsernen Tage im September, die vor Licht zu klingen scheinen. Am dritten Tag hat es der Nachbar geschafft. Im Gras am Ufer liegt ein Hecht, so groß und schwer, daß die Küchenwaage nicht ausreichen wird, sein Gewicht zu nennen. Auf seinen spitzen Kopf und den schmalen, kräftigen Leib segeln bunte Blätter herab und bedecken ihn fast, als er endlich am Ufer liegt. Ruhig zieht der Nachbar an der Pfeife und macht sogleich die Angel erneut zurecht, um es noch einmal zu versuchen. Tina hat große Lust bekommen, auch zu angeln.

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„Nicht bloß stippen“, sagt sie, „daß höchstens mal ‘ne kleine Rotfeder zupft. Ich möchte einen großen Fisch fangen – einen Hecht.“

TAGPFAUENAUGE Als die Morgen kühler werden und braunkappige Maronen zwischen Gras und Spinnweb wachsen, fliegt ein Tagpfauenauge in Tinas Zimmer. 48

„Er hat sich verflattert“, ruft sie und ist glücklich; als er auch am dritten Tag noch an ihrer Gardine hängt, ab und an durch das Zimmer gaukelt. „Endlich habe ich auch ein Tier!“ Tina bettelt: „Warum kann ich mir keinen Schmetterling zähmen? Bestimmt bleibt er freiwillig im Zimmer!“ Daß ein Tagpfauenauge den Winter nicht überlebt, gilt für Tinas Falter nicht. Doch je kürzer die Tage werden, desto länger schläft der Falter. Von Tag zu Tag wird er blasser wie die Sonne im November. Er kann nicht mehr fliegen. Eines Tages fällt er wie ein Ascheflöckchen von der Gardine. Tina ist traurig. Sie öffnet das Fenster. Vielleicht hilft die frische Luft ihrem Tier!

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Doch der Wind hebt das Flöckchen auf. Nun muß es vergehen, verwehen ... Im nächsten Sommer kommt ein Tagpfauenauge aus den hohen Brennnesseln geflattert, läst sich neben Tina nieder, klappt die Flügel hoch. Der blaue Augenfleck leuchtet auf. Tina weiß nun, daß man nicht besitzen muß, was man liebt.

SPÄTER NOVEMBERNACHMITTAG Plötzlich bewegen sich Hunderte von Bleßhühnern auf dem See in einer Richtung auf das diesseitige Ufer zu. Sie schwimmen stumm. Das Wasser rauscht von ihren kräftigen Bewegungen. Dunkelgrün breitet sich das Nachmittagslicht aus – hat die Farbe von

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feuchtem Moos an alten Baumstämmen. Tina ist still geworden.

KIEFERN, DIE BERGAN DAS HOHE UFER TRUG Heute sind wir den Weg hinter dem Taubenschlag und der alten Ulme am Ufer entlanggegangen. Im Sommer

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meiden wir ihn. Ein Zeltplatzwart errichtet Schilder gegen Hunde und Einheimische und Radios. Die Radios spielen trotzdem, und die Hunde bellen auch ... Tina sieht höchstens vom Sprungturm hinüber auf den Zeltplatz. Wir wissen, wenn nur noch selbstgezimmerte Tische, unter denen Fliegenpilze in die Höhe schießen, zurückbleiben und sich das Schilf rötlich färbt, gehört uns der Platz am See, zu dem sich der Weg hier weitet. Erst recht, wenn der See zufriert, das Schilf im Frost singt und wir mit wenigen Schritten von Ufer zu Ufer gelangen, wozu wir im Sommer – schwimmend – viel länger brauchen. Aber immer auf dieses Ufer zu, das bergan die hohen Kiefern trägt, an deren Stämmen sich die Sonne im Untergehen rötlich widerspiegelt. Wir erreichen den Platz und er-

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schrecken: Übereinander und ineinander gestürzt, im Fallen noch aneinandergelehnt, finden wir die riesigen Kiefern. Wie eine Ruine ragt das hohe, nun leere Ufer gegen den Novemberhimmel, verschwunden der bislang vertraute Ort. ... dabei wußten wir, daß eines Tages die Bäume gefällt werden! Täglich brauchen wir Bleistifte, Bücher, Papier – die kleine Geige, Farben und vieles andere mehr! Und als die Motorsägen vom Wald her eines Tages aufheulten, dachten wir nicht, daß sie unsere Bäume fällen würden. Wir klettern traurig über die Stämme und helfen Tina, denn die Bäume sind gewaltig. Kühl weht es vom See herüber.

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GRÜNLINGE Bevor das Jahr vergeht, streifen wir noch einmal durch den Turmbusch. Wir sehen uns kaum im Nebel. In die Schlehenhecke ist Frost gefallen. Sollen wir die Beeren ernten und Saft daraus bereiten wie Großmutter in den Jahren nach dem großen Krieg? Wie oft hat sie unser Fieber damit beschwichtigt! Tina hüpft weiter. Auf einmal bleibt sie stehen. Vor ihren Füßen wölbt sich winzig der Nadelboden. Ein Hügelchen und noch eines. Behutsam entfernt Tina die Nadelschicht und sieht zartgrüne Pilze in den kalten Sand gedrückt. Haben sie sich versteckt und frieren sie? „Grünlinge“, flüstern wir und tragen heim, was wir finden.

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Abends am Tisch unter der Lampe fragt Tina: „Habt ihr schon mal Rosenblätter gekaut?“ Wir erinnern uns nicht. „So schmecken die Grünlinge!“ behauptet Tina.

GROSSMUTTERS ZIEGE Manchmal – abends – erzählen wir Tina vom Krieg und vom Hunger – wie es war, als es nicht satt zu essen gab. Was Großmutter für Einfälle hatte, um uns Kinder durchzubringen: Schmalzersatz aus Mehl, Wasser, Thymian, vorausgesetzt, wir hatten ein klein wenig Mehl. Der Thymian wuchs wild am Weg bei den Weiden. Die Zweige der Kiefer schlagen ans Fenster. Tina hört zu. Großmutter glaubte zwar nicht an den lieben Gott,

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aber wer weiß ... Eines Tages nach dem Ende des schrecklichen Krieges ging Großmutter, um ein paar Tröpfchen Milch zu ergattern. Viele Tiere waren umgekommen, und man verschloß die Ohren vor Großmutters Bitte. Da lief ihr eine Ziege hinterher. Großmutter drehte sich um, wieder und wieder. Sie wollte es nicht recht glauben: Das Tier folgte ihr. Als Großmutter mit der Ziege auf den Hof kam, sagte sie: „De hett uns lew Herrgott schickt!“ Und vergaß vor Schreck und Dankbarkeit, daß mit uns hochdeutsch gesprochen wurde: Die hat unser lieber Herrgott geschickt! Die Ziege stand struppig weiß und ein wenig stinkend im Stall. Keiner konnte sie melken. Großmutter ging zur Nachbarin: „Wie stellt man es an, daß die Ziege

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Milch gibt?“ Großmutter sah sich die notwendigen Handgriffe ab. Wir nannten die Ziege Lisa. Sie bekam das erste Salz, das wieder ins Haus kam. Großvater mähte Gras am Walkmüllerwegrand und machte Heu für den Winter. Und Großmutter band sich stets eine besondere Schürze um, wenn sie in den Stall ging. Zischend und schäumend schoß die Milch unter Großmutters Händen in den Eimer. 57

Zweimal in der Woche „butterte“ Großmutter. In einer Kanne wurde die Sahne so lange geschüttelt, bis sie zu Butter geworden war. Großmutter teilte gut ein, damit es wenigstens jeden Tag für einen Happen Butter reichte. Doch trotz des Hungers schmeckte sie scheußlich, ein wenig scharfbitter, so, wie unsere reinliche Lisa bisweilen roch. Oft bettelt Tina: ,,Erzähl von früher!“

DE ZEPPELIN KÜMMT! An jenem Tag kochte Großmutter Arftensupp, Erbsensuppe. Großvater aß sie besonders gern, wenn er aus dem Wald kam. Großmutter rückte die eisernen Ringe für den gußeisernen Kochtopf auf dem Herd über den Flammen zu-

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recht. Sie rührte mit der Holzkelle in der Suppe, wendete die Rippchen hin und her, als könnte das Stück Fleisch größer davon werden. Mit einem Stoffrest gelang es ihr manchmal: Wenn sie ihn günstig legte, konnte am Ende doch noch etwas zum Anziehen für uns daraus werden. Nun hob Großmutter den Kopf. Vom Hausflur her kam die Stimme der Nachbarin: „De Zeppelin!“ Großmutter nahm den Ruf auf: „De Zeppelin kümmt!“ Der Zeppelin kommt! Wir waren zur Stelle, liefen hinter der Großmutter und der Nachbarin her, liefen auf dem Walkmüllerweg bis zur Mühle an der alten Weide. Wir sahen, wie sich Großmutters Haarnadeln aus dem dünner werdenden Haar lösten und wie sie mit der Holzkelle in der Hand winkte. An dem sehr blauen Himmel zog wie

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eine große, weiße Zigarre der Zeppelin – das Luftschiff – seine Bahn. Flog, schwebte, viel zu schnell vorbei. Wo hatte es seine Flügel? Und wo saßen die Passagiere? Und war unseren Augen schon entrückt Großmutter ließ die Arme sinken, hob sie noch einmal, um das Haarknötchen festzustecken. Dann sah sie sich um nach uns, als schämte sie sich, daß sie sich so hatte hinreißen lassen vom Anblick des ersten Luftschiffes, das von weit her kam und weithin zog. Tina lächelt, so oft sie die Geschichte hört, sie wieder und wieder von uns fordert. „Ich habe einen richtigen Kosmonauten gesehen“, sagt sie dann und wiederholt die Frage: ,‚Aber sind die Erbsen nicht angebrannt?“

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GROSSVATERSUHR Tina kann sich noch erinnern, daß der Großvater morgens vor die große Uhr im Wohnzimmer trat, seine kleine vernickelte Uhr aus der Westentasche zog und die Zeit darauf mit der großen Uhr verglich. Befriedigt nickte er, wenn beide übereinstimmten. Er steckte seine Uhr wieder weg. Nun konnte er die Wohnung verlassen, die Treppe herabsteigen. Nein, niemand durfte ihm helfen – und er spazierte durch die kleine Stadt, um Menschen, Bäume, den Morgen zu grüßen. Auf einer Bank im Rosenwall haben wir ihn zum letzten Mal gesehen – mit einem dicken Mantel bekleidet – mitten im warmen Monat August. Es war sein sechsundneunzigstes Jahr.

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Tina hat ihn schwarzer Opa genannt, weil er immer einen dunklen Mantel trug.

WEIHNACHTSABEND IM WALD Mit dem Großvater holten wir als Kinder früher zum Weihnachtsabend das Bäumchen heim. Längst hatte er es ausgesucht: eine duftende Douglasie mit biegsamen Nadeln. Sie stand eingeengt, bedrängt von den anderen. Es war Zeit für sie, der Platz wurde gebraucht! Großvater hatte einen Blick dafür, welche Bäume gefällt werden mußten, und zeichnete sie, indem er mit dem Reißeisen die Rinde ritzte. Länger als ein halbes Jahrhundert arbeitete er im Wald, dem Busch. Er liebte Buchenholz. „Bökenholz“,

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sagte er, „hält schön warm!“ Im Korbsessel neben dem Ofen sitzend, las er an Winterabenden ein Märchen vor: „Es war einmal Q“ Und er nahm uns mit in den Wald am Morgen vor dem Fest, sah noch einmal prüfend das Bäumchen an, dann uns, bevor er es mit Bedacht – wie er alles tat – barg. Mittags entzündeten die Waldarbeiter ein kleines Feuer auf der Lichtung. Sie legten Kartoffeln in die Glut und nahmen sie heraus, sobald die Schalen barsten. Wir hielten sie in Händen und bliesen sie mit der Frostluft um die Wette kühl, um sie zu schälen und zu essen. Unser Weihnachtsabend begann mit gerösteten duftenden Kartoffeln.

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LICHTER Vom Feiern und Freuen war Tina ganz müde. Sie hat den Nachmittag verschlafen. Nun gehen wir am ersten Abend im neuen Jahr unseren liebsten Weg: zur Brücke. Wir können zusehen, wie die Sterne wachsen. Drei Wildgänse fliegen mit kräftigem, fast singendem Flügeischlag in den hellen Horizont. Zwei Lichter leuchten vom nahen Dorf herüber. Die Sterne haben es schwer, gegen sie anzukommen. „Das sollen die Straßenlaternen sein?“ fragt Tina ungläubig. Noch nie hat sie das Dorf im Dunkeln gesehen. So nah erscheint es auf einmal. Dabei sind wir durch den See, die Felder, den Turmbusch von ihm entfernt Im Dorf steigt eine übriggebliebene Rakete auf – grün und lautlos.

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Ein Hund bellt, gehört er dem alten Kruse? Dann wird es still, daß wir die Stille „hören“ können. Auf der Brücke kehren wir um und gehen den Weg zurück ins Haus.

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VOM WACHSEN Lange sind wir durch den Wald gegangen. Tina hat immer wieder die Bäume bestaunt. Wie sie gewachsen sind! Und Tina? Sie reckt sich und fragt: „Bin ich auch gewachsen?“ Sie stellt sich an den Stamm einer Kiefer. „Wenn ich einmal groß bin“, sagt sie, „muß ich nicht wie die Kiefer am Waldrand bleiben. Ich kann gehen, wohin ich will!“

BESUCH Auf Besuch freut sich Tina stets wie auf einen Feiertag. Die Gäste erzählen von der großen Stadt, oder sie sprechen von früher oder später – und darüber, wie es sein wird, wenn sie einmal nicht mehr an

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diesem Ort leben, weil sie fortgehen müssen. Einmal beugt sich einer der Gäste über einen herabhängenden Apfelbaumzweig, der über und über mit Apfelblüten bedeckt ist. „Ich muß noch einmal daran riechen“, sagt er. „Es gibt für mich nichts Schöneres als eine Apfelbaumblüte und einen blühenden Apfelbaum!“ Er sieht Tina an und lächelt. Abends fährt er wieder nach Hause – in seine Stadt. Tina weiß, nun hat sie einen Freund mehr!

DER ALTE FUCHS Vielleicht ist es eine Erfindung der Märchenerzähler, daß der Fuchs immer der listenreichste ist!

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Wir haben gesehen, daß er auch sterben muß und sich einen stillen Ort dafür sucht: weit hinter dem großen Platz am See, wo Wald und Feld ineinander übergehen. Es gibt dort nur einen schmalen Weg, hier leuchten im Spätsommer weithin, die roten Früchte der Ebereschen. Um diese Zeit ist Tina einem Fuchs begegnet und hat uns schnell gerufen. Wir wollten zuerst nicht glauben, daß es wirklich einer ist. Grau und mit müdem Lauf ist er aus dem Unterholz des Waldes gekommen und quer über das abgeerntete Kornfeld getrottet bis hin zur Wiese am See. Dort verschwand er. Sooft wir auch später nach ihm Ausschau hielten, wir sind ihm nie wieder begegnet.

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HASENBROT Ich erzähle Tina aus meiner Kindheit... Großvater nahm stets den Rucksack vom Rücken, sobald er die Küche betrat. Ich hängte mich an ihn. „Hast du mir Hasenbrot mitgebracht?“ Ich durfte dann den Rucksack aufschnüren, die Brotbüchse herausnehmen, in der sich immer etwas fand: meistens ein Stück Brot. Und wenn es auch das war, was Großvater morgens als Frühstück mitgenommen hatte. Ein Rest davon jedenfalls. Es war für mich durch den Waldtag wie verzaubert. Die Hasen hätten es für mich versteckt, hatte Großvater früher erzählt. Im Sommer jedoch fand sich in der Büchse jeden Tag eine andere duftende Herrlichkeit: Walderdbeeren, wenig später rote Himbeeren, dann

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leuchtete es dunkelblau – Blaubeeren. Und schließlich duftete es würzig: gelbe Pfifferlinge. Später waren es Steinpilze und braunkappige Maronen. Das alles kannte ich, lange bevor Großvater mit mir in den Wald fuhr, seinem Busch, sieben Kilometer hinter der Stadt. Wo die Mücken mich in Schwärmen überfielen und ich froh war, wenn es wieder heimwärts ging. Als wir mit Tina an einem der folgenden Tage schimpfen, weil sie ihr Frühstücksbrot nicht aufgegessen hat, sagt sie: „Ich habe eben Hasenbrot mitgebracht.“ Tina ist fortgegangen. Der Sandweg mit der Schlehenhecke und den wilden Kirschen ist eine Asphaltstraße geworden, damit für die

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Rinderaufzuchtanlage das Futter besser herangefahren werden kann. An den Gobenowsee und an den Klenzsee kommen jeden Sommer mehr Urlauber, sie suchen Erholung und erfreuen sich an Wald und See. Ob sie unsere Pilzstellen gefunden haben? Haben sie entdeckt, daß man im Trünnsee Hechte fangen kann und der stille Petschsee der schönste von allen ist? Tina lebt jetzt in der Stadt. Doch sie hat die Stille mitgenommen und den Duft der Apfelblüten und den der Kiefern im Wald – den Mond sowieso. Sind wir leise genug, um uns an alles zu erinnern? Manche werden sagen: So was kann man doch nicht mitnehmen. Mit dem Mond ist es schon eine andere Sache. Der scheint ja überall!

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Die Erinnerung ist die Menschenwurzel, doch wächst sie nicht so sichtbar wie bei den Bäumen. Wohin wir auch gehen, glücklich werden wir nur, wenn wir diese unsere Wurzel mitnehmen!

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