140 - Die ABC-Mädchen
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Band 140 Die ABC-Mädchen Katrin Pieper Für Leser von 7 Jahren an Illustrationen von Konrad Golz 5. Auflage 1985 © Der Kinderbuchverlag Berlin Inhalt: unpolitische Geschichte um Geschichten (s. Rückseite)
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Anna, Babett und Christina wohnen im . Hochhaus Nr. 3. Anna wohnt Aufgang A. Babett wohnt Aufgang B. Christina wohnt Aufgang C. Anna, Babett und Christina gehen seit September zur Schule. Jeden Morgen treffen sie sich an der Kaufhalle gleich gegenüber vom Hochhaus. Dann laufen sie die Straße bis zum Spielplatz hinunter und rechts um die Ecke, da steht die neue Schule. Die Mädchen können rechnen, schreiben und lesen, ein wenig jedenfalls. Lehrer Riebke ist zufrieden mit ihnen. Herr Riebke ist ein alter Lehrer. Er hat weißes Haar und freundliche blaue Augen. Bei ihm hat schon Annas Mutter das Schreiben und: das Lesen gelernt. Wenn Anna allzuviel in der Stunde herumzappelt, dann sagt Herr Riebke: „Anna, du zappelst noch mehr als deine Mutter.“ Dann sitzt Anna für ein Weilchen ruhiger.
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Wenn Babett schwatzt, und Babett schwatzt viel, dann hört Herr Riebke einfach mit dem Unterricht auf und sagt zu ihr: „Erzähl uns einmal, was du der Christina erzählt hast.“ Da gucken alle Kinder zu Babett hin, diese aber schweigt. „War es wichtig?“ fragt Herr Riebke. Babett nickt. „Dann erzähl es!“ fordert Herr Riebke. Babett holt tief Luft. „Ich hab Christina nur erzählt, daß ich zu Weihnachten so viel Süßigkeiten bekommen habe, daß meine alte Schultüte beinahe voll war“, sagt sie schließlich. Die Kinder lachen. Weihnachten und Einschulung sind lang her. „War es mehr oder weniger als zur Einschulung?“ fragt Herr Riebke. Babett zuckt die Achseln. „Gut“, sagt Herr Riebke, „dann wollen wir lernen, was mehr oder weniger, größer oder kleiner ist, damit Babett weiß, wieviel Süßigkeiten es nun wirklich waren.“
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Nur wenn Christina mehr den Schmetterlingen draußen zuschaut als zur Tafel sieht, wird Herrn Riebkes Stimme laut. „Dir werden kleine Flügelchen wachsen, wenn du immer träumst und alles vergißt“, sagt er. Christina guckt steif zur Tafel. Aber ein weißer Schmetterling sitzt an der Scheibe des Klassenfensters. Christina denkt, wenn du noch ein kleines bißchen wartest, dann muß es endlich klingeln, dann komm ich und guck dir zu. Aber der Schmetterling wartet nicht, nur Herr Riebke hat alles verstanden. „Komm nach vorn“, sagt er zu Christina, „und flieg nicht dem Schmetterling hinterher!“ So ist das mit Herrn Riebke. Nach Schulschluß sagt Anna: „Heute gehen wir zu Großmutter Linde.“ Zur Großmutter Linde in die Kaufhalle, dahin gehen sie gern. Das hat seine Ge-
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schichte: Großmutter Linde ist die Oma von Anna. Sie ist die Leiterin der Kaufhalle, genau gegenüber vom Hochhaus Nr. 3. Früher, als die Mädchen noch nicht zur Schule gingen, haben sie oft in der Kaufhalle geholfen. Anna beim Flaschenstand, Babett beim Gemüsestand, und Christina hat gefegt. Zu tun gab es immer und Belohnung auch, entweder Vanilleeis oder Schokoladenpuppen. Als Anna, Babett und Christina eingeschult wurden, standen Großmutter Linde und die Verkäuferinnen der Kaufhalle mit drei Schultüten an der Schule. Eine Schultüte trug den Buchstaben A, die war für Anna. Eine Schultüte trug den Buchstaben B, die war für Babett. Eine Schultüte trug den Buchstaben C, die war für Christina. Die Mädchen hatten vor Freude rote Ohren.
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Das nun ist lange vorbei. Die Schultüten stehen bunt und leer auf den Schränken. Die Mädchen aber gehen heute noch gern auf einen Schwatz zu den Frauen in die Kaufhalle oder zu Großmutter Linde fragen, ob sie etwas helfen sollen. Großmutter Linde strahlt, wenn sie die drei kleinen Mädchen kommen sieht. „Meine Besten“, sagt sie zu ihnen und streicht schnell jeder über den Kopf. Dann läuft sie eilig, eilig durch die Kaufhalle, dieses und jenes erledigen, nachschauen, ob endlich die neuen Lieferungen eingetroffen sind. „Sollen wir was helfen?“ ruft Anna. „Der Frau Hansen, ja, bei den Flaschen“, ruft die Großmutter zurück und verschwindet durch die Hoftür. Die Mädchen gehen nach hinten, in die Räume, wo die leeren Kisten für die leeren Flaschen 'und die vollen Kisten mit den
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leeren und vollen Flaschen stehen. „Au ja“, seufzt Babett, „wenn ich bloß Cola sehe, krieg ich schon einen trockenen Mund.“ Frau Hansen freut sich. „Kommt ihr helfen?“ fragt sie. Die Mädchen nicken, aber ihre Augen sind bei den vollen Brauseflaschen. Frau Hansen weiß Bescheid. Sie legt etwas Geld in ein Kästchen und gibt jedem Mädchen eine Cola. „Damit ihr mir nicht vertrocknet“, sagt sie. Mit der Brause im Bauch können die Mädchen gleich noch mal so schnell die Flaschen abnehmen und in die Kisten stellen. „Wie geht es Herrn Riebke?“ fragt Frau Hansen. 'Die Mädchen gucken sich an. Dann sagt Babett: „Er meint, wir sollen nicht soviel schwatzen und zappeln. und so.“ Frau Hansen lächelt vor sich hin. „Das hat
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er uns auch immer gesagt, damals schon, noch in der alten Schule. Manchmal ist er mit unserer Klasse in seinen Garten gefahren. Wenn die Äpfel oder Birnen oder Kirschen reif waren. Dann ging es auf Wanderschaft in Herrn Riebkes Garten.“ „Und?“ fragt Babett. „Habt ihr wenigstens was essen dürfen?“ „Aber deswegen sind wir doch hingefahren. Herr Riebke hat die Gartentür aufgemacht, und wir sind alle dreißig Mann zur gleichen Zeit durch die Gartentür durch. Er hatte immer mächtig Angst um seine Zaunpfähle.“ Frau Hansen setzt sich aufatmend auf die letzte Kiste. „Und dann kam das Schönste. Wir haben unter den Bäumen gesessen, und er hat uns vorgelesen. Hin und wieder kam auch Frau Riebke mit einem Kuchen an. Frag deine Mutter, Anna, was wir für eine feine Zeit mit Herrn Riebke hatten. Im Garten mit ihm – das waren die schönsten Schulstunden.“
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„Hat er euch wirklich nicht einmal gefragt, an welchem Baum mehr Äpfel hängen und an welchem Baum weniger?“ fragt Babett. „Ja, ja – das hat er auch. Vielleicht nicht gerade das. Und wenn schon. Ist das vielleicht schlimm? Ich denk gern daran.“ Frau Hansen steht auf, streicht den Kittel glatt. „Hat er denn noch einen Garten?“ fragt Anna.. „Ach was. Ich denk, da stehen jetzt die neuen Häuser drauf. Aber fragt ihn, vielleicht hat er einen neuen.“ Mit Schwung stellen Anna und Christina die letzte Kiste hoch, und dann gehen sie nach Hause. Abends kommt Großmutter Linde zu Anna und ihren Eltern. Annas Mutter ist die Tochter von Großmutter Linde. Sie essen zusammen Abendbrot und erzählen vom Tage.
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Die Mutter vom Krankenhaus und von den Kindern, die sie gesund pflegt. Der Vater von seinem Betrieb und den Autos, die er repariert. . Paulchen, Annas Bruder, vom Kindergarten und einer neuen hübschen Kindergärtnerin, die ihm gleich sehr gefallen hat. Die Großmutter von der Kaufhalle und Frau Hansens Geburtstag, der morgen ist und den sie feiern wollen. „Sie hat euch eingeladen“, sagt sie zu Anna. „Am besten, ihr kommt gleich, wenn wir schließen. Dann sitzen wir hinten noch ein Stündchen.“ Anna freut sich, Annas Mutter guckt nachdenklich. „Aber wirklich nur ein Stündchen“, sagt sie. Großmutter Linde lächelt. „Weiß ich doch. Aber Frau Hansen hat sonst niemanden. Wir sind ihre Familie. Wenn wir nicht mit ihr feiern, wer sollte es sonst tun?“
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Anna und ihre Mutter nicken. „Ich werde bei Christinas und Babetts Mutter anrufen“, sagt die Großmutter, „sonst dürfen die beiden Mädchen vielleicht nicht, und Frau Hansen freut sich doch schon.“ „Brauchst du nicht“, sagt Annas Mutter, „mach ich schon.“ Die Großmutter zieht den Mantel an und setzt den Hut auf und macht sich auf den Heimweg. Anna und ihre Mutter winken aus dem Küchenfenster. „Sie hat es immer eilig“, sagt Anna leise zur Mutter, „siehst du, wie sie läuft? So läuft sie auch durch die Kaufhalle.“ „So ist sie eben, war sie immer“, sagt Annas Mutter und lächelt jetzt wie die Großmutter vorhin. Abends im Bett, als die Mutter sich noch ein Weilchen zu ihr setzt, sagt Anna: „Was wird mit dem Geburtstagsgeschenk, so schnell, bis morgen?“
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„Bis zum Frühstück muß uns was einfallen“, sagt Annas Mutter. Anna nickt zufrieden und kuschelt sich im Bett zurecht. Die Mutter hatte „uns“ gesagt, dann würde es bestimmt etwas werden. Beim Frühstück in der Küche morgens früh um sieben Uhr ist auch gleich die Rede davon. „Blumen“, sagen Vater und Paulchen. Die Mutter und Anna verdrehen die Augen. Blumen! Aber was noch? Der Vater guckt Anna eine Weile angestrengt an. „Morgens fällt mir nichts ein“, sagt er dann, „frag deine Mutter.“ „Man könnte ihr Luftballons schenken“, sagt Paulchen, „einen ganzen Haufen bunter Luftballons, damit könnte sie auch fliegen.“ Anna zeigt ihm einen Vogel. „Wir sind doch nicht im Kindergarten.“
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Paulchen schnieft, gekränkt, und die Mutter gibt ihm ein Taschentuch. Das mag er schon gar nicht. Naseputzen! Er nimmt seine Schrippe und geht auf den Balkon. Da sagt die Mutter: „Drei Geschichten.“ Anna, Paulchen vom Balkon und Vater hinter der Kaffeekanne gucken sie an. „Was heißt das: Geschichten?“ fragt der Vater. Die Mutter guckt ein wenig verlegen in der Runde herum. „Ich dachte“, erklärt sie, „Anna, Babett und Christina denken sich für Frau Hansen eine Geschichte aus. Das haben wir doch oft an Geburtstagen gemacht. Alle hatten wir Spaß daran, warum soll es Frau Hansen nicht gefallen, wenn man ihr zu ihrem Geburtstag Geschichten erzählt, die nur für sie ausgedacht sind und nur ihr gehören.“ Stille in der Küche.
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Der Vater steht von seinem Stuhl auf. „Ich weiß ja nicht ...“, sagt er, „eine Flasche Schnaps wäre mir lieber. Aber von solchen Dingen verstehe ich nicht viel.“ Er nimmt seine Aktentasche und seine Lederjacke und gibt allen einen Kuß. „Da bin ich gespannt“, sagt er und greift sich Paulchen. „Komm, Maxe, dich bring ich heute lieber in den Kindergarten, sonst wird das hier nichts.“ Er guckt noch einmal zu den beiden am Tisch. „Ist das richtig?“ fragt er. Annas Mutter nickt und lächelt ihm zu. „Ist das wirklich ein Geschenk?“ fragt Anna da plötzlich. „Wenn man ein Buch schenkt“, antwortet Annas Mutter, „schenkt man da nicht auch eine Geschichte? Bloß es hat ein Schriftsteller sie erzählt. Es ist etwas ganz Eigenes, es ist nur eures, wenn ihr Frau Hansen eure Geschichten erzählt. Und ihr habt sie allein für sie erdacht.“
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Nachdenklich ziehen sich beide die Mäntel an. Die Zeit drängt, die Straßenbahn wartet nicht, und an der Kaufhalle stehen Babett und Christina. Auf dem Schulweg überlegen sich die Mädchen das wunderliche Geburtstagsgeschenk. „Nein“, sagt Babett, „zum Geburtstag schenkt man fertige Bücher. Die kann man auf den Nachttisch legen und lesen, wann man will.“ „Oder man schenkt Strümpfe oder Kölnischwasser“, fügt Christina hinzu, „woher sollen wir denn wissen, was Frau Hansen überhaupt gefällt?“ Anna schweigt und wünscht sich die Mutter herbei. Aber dann fällt ihr ein: „Wenn wir nun ein Buch kaufen – was für eines müßte es sein?“ „Ein Witzbuch“, sagt Babett, „mit Frau Hansen ist es immer lustig.“
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„Ein dickes Buch bestimmt“, sagt Christina, „weil Frau Hansen doch allein lebt, dann kann sie immer viel lesen und langweilt sich nicht.“ „Oder ein Koch-und-Back-Buch“, sagt Anna, „sie bäckt und kocht doch so gern und läßt sich von meiner Oma immer Rezepte sagen.“ „Ein Schimpfbuch“, sagt Babett, „wenn Frau Hansen beim Schimpfen ist, dann sagt sie immer, es fehlen ihr die Worte. Dann könnte sie nachgucken.“ „Ein Singebuch“, sagt Christina, „einmal hat sie mir vier Lieder auf einmal vorgesungen, und dann hat sie sich geärgert, weil sie alle anderen vergessen. hatte.“ „Ein Wanderbuch“, sagt Anna, „sie geht so gern spazieren, und weil sie Angst hat, sich zu verlaufen, geht sie immer, den gleichen Weg.“ . „Nein“, sagt Babett, „da können wir ihr ja einen ganzen Buchladen kaufen.“
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Schweigend gehen die Mädchen in den Klassenraum, schweigend hocken sie in der kleinen und in der großen Pause herum. Was machen wir nur? denkt Anna. Was schenken wir nur? Wenn uns nur etwas einfallen würde. Der Schulvormittag ist so schnell vorbei wie noch nie. Heute gehen die Mädchen nicht in den Hort, heute dürfen sie gleich nach Hause. So ist es abgesprochen, und darauf hatten sie sich gefreut. Statt dessen hocken sie auf den Kanten der Blumenrabatten und gucken den Stiefmütterchen ins Gesicht. Langsam wird die Schule still und leer. Die Fenster vom Lehrerzimmer sind geöffnet, und die Stimmen der Lehrer sind zu hören. Aus dem Schultor kommt Herr Riebke. „Das ist mal eine Überraschung“, sagt er, „ihr bleibt noch hier?“ Aber die Mädchen lachen nicht wie sonst,
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sie hocken wie traurige Spatzen und gucken Herrn Riebke an. Da setzt er sich zu ihnen, denn sein Lehrerherz sagt ihm, wie ernst es hier zugeht. „Also“, sagt er, „dann laßt mich mal hören.“ Anna erzählt alles, und Babett redet dazwischen, nur Christina schweigt. Dann ist alles gesagt, und noch einmal gesagt, dann sitzen sie alle vier – auch Herr Riebke – und schweigen wieder. Plötzlich aber beginnt er zu lächeln, lächelt Anna an. „Daran erkenn ich deine Mutter wieder“, sagt Herr Riebke, „damals schon hatte sie die wunderlichsten und schönsten Einfälle. Das ist wohl so geblieben.“ Annas Gesicht rötet sich vor Stolz auf die Mutter, vor Verlegenheit auch. „Aber wir haben keine Geschichte für Frau Hansen“, sagt Babett, „weil man keine Geschichte für jemanden machen
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kann. Weil man gar nicht weiß, ob sie ihm gefällt.“ „Aber man kann doch jemandem eine Geschichte erzählen“, wendet Herr Riebke. ein. „Ja, aber wenn sie ihm nun nicht gefällt?“ beharrt Babett. „Schon, schon“, Herr Riebke nickt, „das gibt’s, das kann wohl immer geschehen. Ist es aber nicht ebenso wichtig, daß dir diese Geschichte gefällt, dir so gefällt, daß du sie erzählen möchtest, einem anderen schenken willst? Ich habe immer gedacht, das ist das allerwichtigste. Sie muß dir selbst Freude bereiten. Dann verschenkt sich die Geschichte von ganz allein und wird ein Geschenk.“ Herr Riebke steht auf, und die Mädchen bringen ihn bis zur Straßenbahnhaltestelle. Dann gehen sie langsam und schweigend nach Hause. Am Aufgang A wartet Paulchen.
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„Wieso bist du nicht im Kindergarten?“ schreit Anna schon von weitem. Jetzt noch Paulchen! Der hat ihr gerade gefehlt. Aber Paulchen will sich nicht zanken, Paulchen hat ein schlechtes und ein gutes Gewissen. Strahlend holt er zehn unaufgeblasene Luftballons aus der Hosentasche. „Für Frau Hansen“, sagt er „zum Geburtstag einen Luftballonstrauß. Ich blas sie ganz allein auf.“ „Weiß Mama das?“ fragt Anna streng. Paulchen guckt in den Sand und scharrt darin mit dem linken Schuh. „Wenn du nichts sagst?“ fragt er. Anna dreht ihn um die eigene Achse und schiebt ihn die Treppe hoch. „Geh nach oben“, sagt sie, „geh bloß nach oben und blas nicht so doll. Dir wird sonst übel.“ Paulchen hopst die Stufen hoch, und die Mädchen gucken den Leuten zu, die eilig in die Kaufhalle gehen und mit vollen
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Taschen wieder herauskommen. Da sagt Christina: „Wenn das stimmt, was Herr Riebke sagt, dann wüßte ich eine Geschichte, die ich erzählen könnte.“ „Na, also“, schreit Anna und springt von einem Fuß auf den anderen. „Ich hatte gleich eine, aber ich hab mich nicht getraut.“ „Ich hab keine“, sagt Babett, „ich weiß auch keine. Mir fällt so was nicht ein.“ „Wir könnten eine für dich erfinden“, schlägt Christina vor, „und die kannst du vorlesen oder auswendig lernen. Ich weiß noch eine.“ Babett guckt sie an und bekommt langsam eine dicke rote Nase. Da wissen Anna und Christina, gleich wird sie zu weinen anfangen. „Du kannst auch Blumen schenken und den Geburtstagsglückwunsch sagen“, fügt Anna schnell hinzu und hofft, sie würde das Schlimmste verhüten, „zwei Geschichten sind sowieso genug.“
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Babett aber guckt und schluckt und dreht sich um und läuft davon. Ehe die Mädchen etwas tun können, ist Babett hinter der Haustür verschwunden. Anna klingelt unten, doch niemand öffnet, kein Summton ertönt, da gehen die beiden auch nach Hause. „Bis heute abend“, sagt Christina, und Anna nickt. Beiden ist das Herz schwer. Vor der Wohnungstür oben wartet ungeduldig Paulchen und läßt die halbaufgeblasenen Luftballons immer wieder davonknattern. „Ich habe keine Strippe“, „sagt er, und Anna weiß, daß es nun keine Ruhe geben wird, bis alle aufgeblasen sind. Wenn nur die Mutter käme, seufzt Anna und blickt so sehnlich zur Wohnungstür. Als es endlich klingelt und Anna zur Tür stürzt, steht der Vater davor. „Warum du, warum nicht die Mutter?“ ruft
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Anna ungeduldig. Der Vater hängt die Jacke auf und stellt die Tasche weg. „Soll ich vielleicht wieder gehen?“ fragt er. „Mutter kann heute nicht pünktlich sein. Ihr ist etwas dazwischengekommen, sie wünscht dir viel Spaß, und du sollst nicht so spät nach Hause kommen.“ Anna nickt. „Es ist nur wegen des Geburtstages“, sagt sie dann, und der Vater nickt. Da sieht er Paulchen mit den Luftballons in der, Hand. „Hast du ihn abgeholt“ fragt er Anna. Anna bekommt plötzlich einen schrecklichen Husten, sie kann nicht antworten. Statt dessen sagt Paulchen leise: „Wir haben uns heute gegenseitig abgeholt.“ Annas Husten ist vorbei, und der Vater guckt auf seine stillen Kinder. „So, gegenseitig“, sagt er und holt das Brot aus dem Kasten, „die Mutter wird dir was, Maxe.“
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Als Anna und Paulchen „Maxe“ hören, wird ihnen leichter ums Herz. „Dann geh ich mich mal umziehen“, sagt Anna. „Hast du denn nun ein Geschenk für Frau Hansen?“ ruft der Vater hinterher. „Hat sie“, sagt Paulchen, „hat sie mir erzählt, kann ich dir auch erzählen.“ Der Vater stellt eine Flasche Bier und eine Flasche Milch zum Abendbrot aufs Tablett. „Am besten gleich aus der Flasche“, sagt er zu Paulchen, „dann haben wir weniger Abwasch.“ Als Anna mit Paulchens Luftballonstrauß zur Kaufhalle kommt, stehen Christina und Babett da. Die Mädchen lächeln sich zu – alles ist gut. Sie haben sich fein gemacht. Christina hat ihr glänzendes blaues Kleid angezogen, Babett ihren neuen weißen Pullover mit der roten Kante an den Ärmeln. Anna trägt
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ihr hellgrünes Kleid, das sie so mag, weil es einen weiten Glockenrock hat. Kaffeeduft empfängt sie, und ein wunderbarer Käsekuchen glänzt auf dem fein gedeckten Kaffeetisch. Frau Hansen kommt ihnen entgegen und freut sich, bewundert ihre feinen Gratulanten und hat keine Vase für den Luftballonstrauß von Paulchen. Da hängt ihn Anna einfach über die Tür, und so schweben die Ballons, getragen von der Wärme des Zimmers, feierlich auf und nieder. Auf dem Geburtstagstisch sehen sie Geschenke für Frau Hansen, eine braungelb karierte Wolldecke und eine Flasche Wein. Großmutter Linde hält eine kleine Geburtstagsrede, und die hört Frau Hansen gern, das kann man ihr ansehen. Die Gläser klingen, und dann wird Kaffee und Kakao eingegossen und der Käsekuchen angeschnitten. Frau Hansen strahlt alle an und mag vor Freude gar nicht vom
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eigenen Kuchen kosten. Dann steht Anna auf und sagt: „Die Luftballons haben wir dir schon geschenkt, die sind von Paulchen. Aber wir schenken dir drei Geschichten. Sie sind nur für dich ausgedacht, und wenn du willst, kannst du sie behalten. Wir schreiben sie dir auf, später, wenn sie dir gefallen haben. Christina fängt an.“ Das ist Christinas Geschichte: Es war einmal ein Mädchen, das hatte wohl in der Schule rechnen, schreiben und lesen gelernt, aber es vergaß alles so schnell wieder. Wenn draußen ein Schmetterling flatterte, der freundlich zu ihr hinsah, mit den Flügeln klappte und sie nach draußen locken wollte, hatte sie, längst das Wort vergessen, das ihr der Lehrer zu schreiben aufgegeben hatte. „Du mußt besser aufpassen“, sagte der Lehrer.
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„Du darfst nicht immer an andere Dinge denken“, sagten die Eltern. Sie versprachen ihr auch das blaue Kleid, welches das Mädchen sich so sehr wünschte. „Aber du mußt dich wirklich bessern“, sagte der Vater noch einmal, und das Mädchen versprach es. Wenn nun der Schmetterling angeflogen kam und sich ans Fenster setzte, dann sah es nur einen winzigen Augenblick hin und behielt das Wort des Lehrers fest im Kopf. Wenn es ein Gedicht auswendig lernte, sah es nicht zu den Vögeln in den Bäumen. Wenn die Rechenaufgaben auch noch so schwer waren, blieb es auf seinem Stuhl sitzen und lief nicht nach einem Bonbon im Zimmer umher, machte keine Schiffchen aus Papier, auf denen es in die weite Welt hinausfuhr. Das Mädchen wollte sich bessern, und es besserte sich. Der Lehrer in der Schule merkte es bald und schrieb ihm ein Lob in das Haus-
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aufgabenheft. Das Mädchen hüpfte den ganzen Heimweg, sang dem blauen Kleid selbsterfundene Lieder. Das Mädchen freute sich. Nachmittags, als die Eltern von der Arbeit kamen, zeigte das Mädchen sein Heft mit dem Lob darin. Die Eltern waren zufrieden und streichelten es. Dann gingen sie ihrer Wege, und keiner sprach mehr von dem blauen Kleid. Die Mutter hantierte in der Küche und machte sich an den großen Berg Wäsche, den Abwasch und das Abendbrot. Der Vater ging an seinen Schreibtisch zu seinen Büchern. Der Bruder ging in sein Zimmer zu seiner Gitarre und den bunten Bildern an der Wand. Das Mädchen blieb allein im Zimmer, hielt das Heft in der Hand und mochte es nicht glauben. Es legte still das Lob in die Mappe zurück,
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setzte sich ans Fenster, wartete auf den Schmetterling, suchte in den Bäumen nach den Vögeln und im Schreibtisch nach Bonbons. Es kam kein Schmetterling, es sang kein Vogel, es fand sich kein Bonbon. Das Mädchen lief zur Mutter in die Küche und stellte sich zwischen den Abwaschtisch und die Waschmaschine. Es guckte böse zur Mutter hinauf und fragte: „Wo ist das blaue Kleid? Warum spricht keiner von euch über mein blaues Kleid?“ Die Mutter ließ für einen Moment die Hände mit dem Seifenschaum ins Wasser sinken und guckte erstaunt. „Woher sollte ich wissen, daß du heute mit dem Lob kommst? Ich habe nichts vergessen.“ „Der Laden ist noch auf, und das Kleid ist noch da. Wir könnten es jetzt kaufen“, drängte das Mädchen. Die Mutter seufzte müde. „Und die ganze Arbeit? Alles bleibt liegen. Morgen ist
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auch noch ein Tag. Könnten wir es denn nicht morgen erledigen?“ „Ich habe mich auch gleich am selben Tag angestrengt“, rief das Mädchen wütend. Dann drehte es sich auf dem Absatz um, verließ die Küche, verließ die Wohnung, lief die Treppe hinunter. Vor der Haustür blieb es stehen und begann zu weinen. Die Mutter hörte die Wohnungstür zuschlagen und bekam einen Schreck. Sie zog sich einen Mantel über, steckte sich das Portemonnaie in die Tasche und nahm den Anorak des Mädchens. Dann lief sie die Treppe hinunter. „Entschuldige“, sagte die Mutter und trocknete die Tränen des Mädchens, „es war doch nicht böse gemeint. Es ist nur manchmal alles ein bißchen viel.“ Sie zog dem Mädchen den Anorak über und nahm es an die Hand. So liefen sie die Straße hinunter zum Laden mit dem blauen Kleid. Das Herz des Mädchens klopfte vor
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Freude, und die Mutter und die Verkäuferin bewunderten, es sehr, wie es dastand in dem glänzenden blauen Kleid. Da sah das Mädchen den Schmetterling am Fenster und hörte den Vogel im Baum singen, und die Mutter sagte: „Vielleicht kaufen wir auch noch gleich nebenan eine Tüte Bonbons?“ Die Freude in dem Mädchen war größer als es selbst. Es nahm die Mutter an die Hand und spürte plötzlich trotz des langen Weges noch die Feuchtigkeit vom Abwasch. Es legte seine Wange an die Hand der Mutter und roch ganz von weitem Seifengeruch.“ Es dachte an den Geschirrberg und die ratternde Waschmaschine. Da lief es los. Die Mutter stand und rief: „Wohin nun?“ „Abwaschen, Wäsche waschen, Abendbrot machen, Fernsehgucken, Karten spielen“, rief das Mädchen.
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Da verstand die Mutter, lachte und lief der Tochter hinterher. „Das war meine Geschichte“, sagt Christina und guckt steif auf ihre Tasse mit dem Kakao darin. „Nein, so was aber auch“, sagt Frau Hansen, „das geht einem ja richtig ans Herz.“ Sie schiebt ihren Stuhl zurück, putzt sich die Nase und gibt Christina einen Kuß. Auch die anderen Frauen am Geburtstagstisch müssen sich die Nase putzen. Da sagt Babett: „Jetzt kommt mein Geburtstagsgeschenk.“ Anna und Christina gucken sich an. Hier ist Babetts Geschichte: Es war einmal ein Lebkuchenbäcker, der suchte eine Frau. Seine erste war ihm davongelaufen, weil sie nicht so früh aufstehen mochte.
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Die zweite war ihm davongelaufen, weil sie nicht ständig Lebkuchengewürz riechen mochte. Die dritte war ihm davongelaufen, weil sie keinen geschwätzigen Mann mochte. Der Bäcker buk für sein Leben gern und schwatzte für sein Leben gern. Er buk und schwatzte, buk und schwatzte, und am liebsten roch er Lebkuchengewürz. Weil der Lebkuchenbäcker aber nicht allein leben mochte, stellte er einen Lebkuchenmann in sein Schaufenster und hängte ihm einen Zettel um den Hals. Darauf stand: Lebkuchenbäcker sucht Bäckermeisterin. Bedingungen: Früh aufstehen, gern schwatzen, gern Lebkuchen riechen. Am ersten Tag war der ganze Laden voller Frauen, die den Bäckermeister heiraten wollten. Er führte eine jede in seine Back-
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stube und prüfte sie genau. Doch es stellte sich heraus, daß keine den Zettel im Fenster richtig gelesen hatte. Keine wollte gern früh aus den Federn. Keine mochte immer Lebkuchen riechen. Und am allerwenigsten wollten die Frauen einen schwatzhaften Mann. Am zweiten Tag war der ganze Laden voller Männer, die dem Bäckermeister helfen wollten. Auch gut, dachte der Bäckermeister, wenn sie mir helfen, hab ich mehr Zeit, mir eine Frau zu suchen. Er ließ die Männer in die Backstube und hieß sie den Teig zurechtmachen und Lebkuchen zu backen. Der Teig wurde bereitet, die Lebkuchen geformt und gebacken – aber als der Bäckermeister die vollen Bleche in den Laden tragen wollte, waren keine Lebkuchen darauf und alle Männer fort. „Da bin ich also Dieben aufgesessen sagte der Bäckermeister und prüfte trau-
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rig seine wenigen Mehl- und Zuckersäcke. Am dritten Tag kam eine Frau, die lachte nur, als sie den Zettel las, und trat fröhlich in den Laden. „Bäckermeister“, sagte sie, „dich nehm ich zum Mann. Alles, was du verlangst, kann ich erfüllen, wenn du mir nur einen Wunsch erfüllst.“ Der Bäckermeister sah ihre schönen langen Haare, ihre lustigen Augen. „Und was ist das für ein Wunsch?“ fragte er. „Du mußt zweimal in der Woche mit mir zum Tanze gehen.“ Sie wiegte sich in den Hüften und summte eine Melodie dazu und schaute ihn an. Da fühlte der Bäckermeister sein Herz klopfen und sagte: „Ja.“ Zwei Tage später gingen sie zum Tanz. Die ganze Nacht bis in die Früh tanzte der Bäckermeister mit dem schönen Mädchen, und am nächsten Morgen blieb der Laden zu.
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Das ging so eine Zeit lang. Der Bäckermeister ging des Nachts zum Tanz und schlief sich über Tag aus. Die Leute wunderten sich sehr. Sie pochten an seine Tür, riefen vor seinem Fenster, aber es rührte sich nichts. Mit der Zeit vergaßen die Leute den Bäckermeister, nur die Kinder schlichen manchmal um den Laden und versuchten, hinter die verschlossenen Türen zu gucken. Da begab es sich, daß eine Bäckermeisterin in die Stadt zog. Sie war jung, sie war blond, hatte drei Kinder und keinen Mann. Der war ihr davongelaufen, weil er keine Frau wollte, die früh aufsteht und immer nur Brot bäckt. In der Carolinengasse machte die Bäckermeisterin ihren Laden auf und verkaufte den Leuten das schönste Brot, das sich denken läßt. Große und kleine, eckige und runde, salzige und gepfefferte, süße und knusprige Brote gab es zu kaufen. Die
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Leute waren es zufrieden. Für die Kinder aber gab es kleine Brötchen, die nannte sie Schusterjungen. Da vergaßen auch die Kinder den Lebkuchenbäcker. Im Tanzsaal erzählten die Leute dem Lebkuchenbäcker von der Bäckermeisterin in der Carolinengasse. Er ließ das Tanzen Tanzen sein und schickte das Mädchen fort. Er stand früh auf, putzte seine Backstube und begann Lebkuchen zu backen. Doch später im Laden stand er allein. Kein Käufer kam. Einen ganzen lieben langen Tag saß der Bäckermeister, guckte auf seine stummen Lebkuchen. Dann ging er zum Brotladen in die Carolinengasse. Er sah den kleinen Laden, die blonde Bäkkermeisterin und ihre blonden vergnügten Kinder. Er ging hinein in den Laden, kaufte zwei Brote und machte mit der Bäckermeisterin ein Schwätzchen. Am nächsten Morgen kostete er von jedem Brot. Jedes fand sein Wohlgefallen.
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Da putzte der Bäckermeister sein Haus von oben bis unten, zog seinen schönsten Anzug an, holte sein weißestes Hemd aus dem Schrank, pflückte einen großen bunten Blumenstrauß und guckte auf den Kalender, um zu wissen, welcher Tag heute sei. Dann ging er zur Bäckermeisterin und bat sie um ihre Hand. Drei Tage Bedenkzeit bat sich die Bäckermeisterin aus. Am ersten Tag beriet sie sich mit ihren Kindern. Am zweiten Tag ging sie den Laden des Bäckermeisters angucken und seine Lebkuchen probieren. Am dritten Tag zog sie sich und die Kinder fein an und ging den Bäckermeister heiraten. Von nun an kauften die Leute Brot und Lebkuchen in einem Laden. Von nun an konnte der Bäckermeister schon in der Frühe backen und schwatzen. Von nun an konnte die Frau mit ihrem Mann schon in der Früh Brote backen, große und kleine, eckige und runde, süße und knusprige.
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Von nun an lagen im Schaufenster Lebkuchenmänner und Schusterjungen. „Das war mein Geschenk“, sagt Babett und lacht Anna zu. Frau Hansen aber nimmt drei Gläschen und gießt den feinen selbstgemachten Eierlikör hinein. „Auf solche Dichter muß man anstoßen“, sagt sie. „Ich habe ihn heute besonders gut gemacht. Er schmeckt sogar dem Kater Balduin von meiner Nachbarin, und der schleckt bestimmt nicht alles.“ Christina, Babett und Frau Hansen trinken langsam und mit Genuß. Die anderen gucken neidisch zu. Großmutter Linde sagt: „Und wir?“ „Später“, sagt Anna, „jetzt kommt mein Geburtstagsgeschenk.“ Das ist Annas Geschichte: Es war einmal eine alte Frau, die wohnte
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allein in der Stadt. Ihr Mann war tot, und die Kinder waren längst groß und weggezogen. Sie wäre einsam gewesen, hätte sie nicht im Park den kleinen Jungen kennengelernt. Sie wußte nicht, wie er hieß und wo er wohnte, sie wußte nur, daß er ein Zappelphilipp war, der wunderliche Geschichten zu erzählen wußte. Kaum saß er, stand er schon wieder. Stand er ein Weilchen, hüpfte er auf einem Bein. Hatte er lange genug gehüpft, setzte er sich hin, um schnell wieder aufzustehen. Aber sie hatte ihn gern. Er wartete jeden Tag auf der Parkbank auf sie, und kam er einmal nicht, dann fehlte er ihr sehr. Der Junge erzählte von seinen Büchern, seinem Hund, seinen Fischen, die die sonderbarsten Namen trugen. Er erzählte Geschichten, die man kaum glauben wollte, aber gern hörte. Er sah ihr an, wenn sie ihre schlechten Rheumatage hatte, und brachte sogar einmal Tabletten mit, von
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denen sogar sein Vater gesund geworden war. Die alte Frau nahm sie und brachte dafür am nächsten Tag Kekse und Kaffee in der Thermoskanne mit in den Park. „Mit dir ist es so gemütlich“, sagte der Junge. Ihr wurde ganz warm vor Freude. Einmal beklagte sich der Junge, daß er alleine sei und daß er sich so sehr einen Bruder wünschte. „Es kann auch eine Schwester sein“, sagte er, „nur irgend jemand müßte noch dasein.“ „Hast du einmal mit deinen Eltern darüber gesprochen?“ fragte die alte Frau ihn. Der Junge nickte. „Aber sie hören nicht auf mich. Sie lachen und sagen, ein Zappelphilipp ist genug.“ Der Junge und die alte Frau schwiegen, und er malte mit einem Stöckchen Figuren in den Sand. „Ich kann nichts für die Zappelei“, sagte der Junge plötzlich. „Es zappelt in mir. Aber bis ich erwachsen bin, ist das weg.“
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„Ganz bestimmt“, sagte die alte Frau. „Wie viele Kinder hattest du?“ fragte der Junge die alte Frau. „Vier“, sagte die alte Frau, „eines ist gestorben, im Krieg.“ Der Junge guckte sie aufmerksam an, denn ihre Stimme hatte ein wenig gezittert. „Denkst du noch heute daran?“ fragte er. Sie nickte, und nach einem Weilchen sagte sie: „Das vergißt sich nie. Große Trauer und große Freude, die vergißt man nie.“ „Wann hattest du die letzte große Freude?“ fragte der Junge. „Als mein Enkelkind geboren wurde.“ „Siehst du es manchmal?“ fragte der Junge. Die alte Frau blickte weg und schwieg, und da wußte der Junge, warum sie so einsam war. „Solange ich nicht zur Schule muß“, sagte der Junge, „können wir uns immer treffen.
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Später könntest du mich von der Schule abholen.“ Die alte Frau lächelte, und dann fütterten sie mit den restlichen Keksen die Schwäne im Park. „Die haben immer Hunger“, der Junge lachte, „es sind die verfressensten Schwäne, die ich kenne.“ Eines Tages blieb der Junge weg. Ein, zwei Tage wartete die alte Frau trotz des regnerischen Wetters im Park auf der Bank. Er kam nicht. Dann ging sie auch nicht mehr in den Park. Sie blieb zu Hause und stellte das Radio oder das Fernsehen an – aber die Einsamkeit war stärker. Da hielt sie es nicht länger aus. Sie ging ihn suchen. Beim Bäcker erzählte sie von dem Jungen, seinen Büchern und seinem Hund, doch niemand kannte ihn. Beim Fleischer erzählte sie von seinen Fischen mit den sonderbaren Namen,
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doch niemand wußte von ihm. In der Kaufhalle erzählte sie der Frau an der Kasse von dem Zappelphilipp mit seinen wunderlichen Geschichten. Die lachte und sagte, daß sie den gut kenne. Das sei Paulchen Schulz, und der wohne im Hochhaus Nr. 3. So schnell sie nur konnte, lief die alte Frau dorthin und Stand schließlich schweratmend vor der Tür. Auf ihr Klingeln wurde rasch geöffnet. Der Junge stand im Türrahmen mit einem Baby im Arm. Er freute sich sehr, als er sie sah. „Komm rein“, sagte er, „komm schnell rein.“ Er zeigte ihr gleich das kleine Kind. „Sie haben doch auf mich gehört“, flüsterte er, „es ist ein sehr hübsches, aber sehr kleines Mädchen.“ Die alte Frau beugte sich über das Kind. „Das ist es wirklich“, sagte sie, „es wird noch wachsen.“
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„Setz dich“, sagte der Junge, „wir werden gleich Kaffee trinken.“ Er schob ihr einen Stuhl zu und gab ihr vorsichtig das Kind in den Arm. „Ob du es wohl einmal hältst? Ich hol die Mama.“ Er lief aus dem Zimmer, und sie hörte ihn in der Küche zur Mutter sagen: „Jetzt ist die Oma zu uns gekommen. Jetzt haben wir auch eine.“ Die alte Frau saß still im Zimmer mit dem kleinen Kind im Arm und war sehr froh. Als Annas Geschichte zu Ende ist, herrscht Stille im Raum, und dann platzt einer von Paulchens Ballons. „Das war Paulchens Geburtstagsgeschenk sagt Großmutter Linde, und alle lachen los. Frau Hansen gibt jedem der Mädchen einen Kuß, drückt sie und streichelt sie, läuft um den Tisch herum und sagt: „Das war der wunderbarste Geburtstag, den ich
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bis jetzt hatte. Schreibt mir nur meine Geschenke auf. Dann kann ich sie lesen, wenn ich will. Am besten abends im Bett oder sonntags beim Frühstück. Und ich stelle mir vor, daß ihr sie mir immer wieder erzählt. Wunderbar!“ Und dann gibt es wieder Kuchen und für alle ein Gläschen Eierlikör. Es war ein glücklicher Geburtstag. Am nächsten Tag kam Herr Riebke in die Klasse und sagte: „Am ersten Juni ist Kindertag, am zwölften Juni ist Lehrertag. Wir wollen einen guten Feiertag haben. Was wollen wir machen?“ Die Arme der Kinder flogen in die Höhe, und gleichzeitig begannen sie alle durcheinander zu schreien: „Ausflug.“ „Kinderfest.“ „Lampionfest.“ „Eierlaufen.“
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„Vorlesestunde.“ „In den Zirkus gehen.“ „Selber Zirkus machen.“ „Theater spielen und Brause trinken.“ „In den Park gehen und spielen.“ „Kuchen und Eis essen.“ „Indianer spielen.“ Herr Riebke hob beide Hände und sagte: „Viel zuviel. Wir müssen uns was heraussuchen.“ Da meldete sich Anna. „Was würden Sie sich denn zum Lehrertag wünschen?“ fragte sie Herrn Riebke. Der Lehrer saß nachdenklich an seinem Tisch. „Ich würde mir einen Kinder-Lehrer-Tag wünschen.“ „Ja, ja, ja, ja, ja“, schrien die Kinder. „Bis morgen sagt mir jeder von euch, was er am liebsten an diesem Tag täte. Dann machen wir ein Festtagsprogramm.“ Am nächsten Morgen lagen bei Herrn
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Riebke auf dem Schreibtisch vierundzwanzig weiße Zettel. Herr Riebke las den Kindern alles vor. Das dauerte sehr lange, weil die Kinder vor Freude immer losbrüllten. „In Ordnung“, sagte Herr Riebke, „da ist für uns alle was dabei. Ich sag euch rechtzeitig Bescheid, wann und wo wir feiern, das übernehme ich. Bis dahin wird gelernt. Und daß ihr mir keine Faxen macht“, sagte Herr Riebke. Die Kinder machten keine Faxen. Sie waren die bravsten Kinder der Welt. Sogar die Eltern wunderten sich darüber. „Du bist eine langweilige Ziege“, sagte Paulchen zu Anna. Anna gab ihm nur einen ganz kleinen Tritt, und auch nur unter dem Tisch. Aber Paulchen schrie so laut, daß der Vater vor Schreck sein Bierglas umstieß. „Also das geht zu weit, Anna“, sagte er und knipste den Fernseher aus. Anna guckte giftig zu Paulchen.
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„Da. soll mal einer versuchen, artig zu bleiben, wenn man so einen Bruder hat.“ Eine Woche später sagte Herr Riebke: „Morgen ist es soweit. Unser KinderLehrer-Tag kann starten.“ Die Kinder brüllten wieder so los, daß Herr Riebke schnell die Fenster schloß. Dann las er ihnen das Programm. vor. Darin stand alles, was die Kinder vorgeschlagen hatten. „Nur Zirkus und Theater“, sagte Herr Riebke, „das haben wir nicht, das machen wir ein andermal.“ „Aber vorlesen, wie Sie es früher in Ihrem Garten gemacht haben, das machen wir doch?“ erkundigte sich Anna. Herr Riebke schob vor Überraschung seine Brille auf die Stirn und strich sich über seine weißen Haare. „Dunnerlüchting“, sagte er, „woher weißt du denn das?“ „Von Frau Hansen“, sagte Anna. „Ja“, rief Babett, „sie hat uns auch
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erzählt, wie schön das war“ damals, in Ihrem Garten, und Ihre Frau hat sogar Kuchen gebracht.“ „Das wollen wir auch haben“, sagt Christina, „haben Sie noch einen Garten?“ Still war es in. der Klasse. Vierundzwanzig Kinder guckten Herrn Riebke an. „Ach bitte“, sagte Anna leise, „wir reißen auch nicht die Zaunpfähle um, wenn wir in den Garten gehen.“ Herrn Riebkes Augen wurden noch blauer als sonst, als er seine Kinder anschaute. „Natürlich habe ich einen Garten. Glaubt ihr, meine Frau kauft Petersilie und Radieschen im Gemüseladen?“ Die Kinder freuten sich. Das war mal was, Klassenfest der 1a in Herrn Riebkes Garten! Da sagte Herr Riebke listig: „Allerdings, meine Frau müßten wir schon fragen. Ihr gehört der Garten.“ „Und wenn sie nein sagt?“ fragte Babett.
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„Dann hole ich euch“, sagte Herr Riebke, „dann wollen wir mal sehen, ob sie sich noch traut.“ Am Nachmittag gingen Anna, Babett und Christina zu Frau Hansen in die Kaufhalle und erzählten ihr, daß Herr Riebke einen neuen Garten hat und die ganze 1a darin den Kinder-Lehrer-Tag feiern würde. „Da bin ich dabei, da nehme ich Urlaub“, sagte Frau Hansen. „Das laß ich mir nicht entgehen.“ „Sie können ruhig dreißig Eis mitbringen“, sagte Babett und guckte harmlos. „Es wird bestimmt warm.“ „Mal sehen“, sagte Frau Hansen und lächelte, „mal sehen, was sich machen läßt.“ Drei Tage später begann das Fest. Um zehn Uhr traf sich die 1a mit Herrn Riebke vor der Schule. Die Kinder hatten in ihren Taschen Brause, Kuchen, Lampi-
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ons. Anna und Babett trugen in der großen Campingtasche Frau Hansens Eis, wohlverpackt zwischen kleinen Kühlkanistern. Christina hatte die Löffel dazu. Aber Frau Hansen fehlte. Die Mädchen guckten und warteten. Dann gingen sie schließlich mit den anderen mit. Ein bunter Zug, voran Herr Riebke, ging durch die Straßen bis zu den alten Häusern der Stadt, hinter denen die Gartenkolonien begannen. Je näher die Gärten kamen, um so unruhiger wurden die Kinder. Herr Riebke blieb ruhig. „Kinder“, sagte er immer wieder, „ich bin ein alter Mann, der braucht seine Zeit.“ „Welche Nummer, Herr Riebke?“ rief Anna und rannte wie ein junger Hund vor und wieder zurück, „welche Nummer?“ Doch mit einemmal blieb sie stehen und guckte blinzelnd geradeaus. Hinten am Ende des grünen Weges stand die Mutter, stand Frau Hansen, stand Frau Riebke und
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ein kleiner brauner Hund. Die Kinder blieben alle stehen, nur Herr Riebke nicht. Er ging, lächelnd und vergnügt, sein weißes Haar flirrte im Sonnenlicht. „Mama“, schrie Anna, und dann liefen alle Kinder zugleich los, hin zu den Frauen, die schnell zur Seite sprangen, um nicht umgerannt zu werden, weil alle fünfundzwanzig Kinder zugleich durch das Gartentor wollten. „Paßt mir auf die Zaunpfähle auf rief Herr Riebke noch. Annas Mutter und Frau Hansen lachten laut auf. „Wie bei uns“, rief Frau Hansen, „wie damals, alle zur gleichen Zeit, weißt du noch?“ Die Kinder liefen in den Garten, prüften die Bäume und die Nachbargärten, packten ihre Taschen aus, schmückten die Bäume mit Lampions, stellten Kuchen und Brausen und alles, was sie mitgebracht hatten, auf den Tisch, den Frau Riebke gedeckt hatte. In der Mitte stand ein
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großer brauner Rosinenkuchen. Den hatte sie gebacken, und daneben lag ein altes Buch. In der Laube lagen Säcke zum Sackhüpfen und Löffel zum Eierlaufen, Stangen und Seile zum Wettklettern, unter einem Tuch verborgen Pfänder für die Spiele – es konnte ein wunderbarer Tag werden. Anna stellte sich neben ihre Mutter, die noch immer am Gartentor stand und zusah. „Ist das wie damals bei euch?“ fragte sie. „Schöner, viel schöner“, sagte die Mutter. „Ihr habt mehr zum Spielen, mehr Lustigkeiten, ihr habt den kleinen braunen Hund, der Kuchen ist größer, das Eis schmeckt besser, außerdem bist du da.“ Anna nahm schnell die Hand der Mutter und legte für einen Moment ihre Wange dagegen. Dann lief sie zu den Kindern an den Tisch. Frau Riebke schnitt den Kuchen auf, Frau Hansen verteilte die
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Brause, und Annas Mutter schenkte jedem Kind ein Geheimnis in rotem Papier. Das durfte erst abends zu Hause aufgemacht werden. Es wurde gegessen und getrunken, und der kleine braune Hund rannte um den Tisch und bekam von jedem ein Stückchen. Nun begannen die Spiele, das Rätselraten, das Wettlaufen, das Sackhüpfen. Mittags waren alle müde. Da legten Frau Riebke und Herr Riebke Decken ins Gras, und alle ruhten ein Stündchen aus. Endlich, am Nachmittag, nahm Herr Riebke das alte Buch. Er setzte sich mit den Kindern unter den alten Kirschbaum und las ihnen Märchen vor, soviel sie nur wollten und solange sie wollten. Als es dämmerte und die Lampions angezündet waren, machten sich alle auf den Heimweg. „Eigentlich war es ja nur ein Kindertag“,
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sagte Anna zu Herrn Riebke, „für den Lehrertag ist gar nichts dabeigewesen.“ „Das siehst du falsch“, sagte Herr Riebke. „Ein guter Tag für die Kinder ist allemal ein guter Tag für die Lehrer.“ Anna lief zu ihrer Mutter, faßte sie an der Hand, merkte erst jetzt, wie müde die Beine und die Augen waren. „Aber ein Geschenk zum Lehrertag, das brauchen wir noch“, sagt Anna abends im Bett zur Mutter. Die nickt. „Das wird euch noch einfallen.“ Auf dem Nachttisch liegt das „Geheimnis des Gartenfestes: ein kleiner bräunlich und rosa schimmernder Hühnergott. Anna betrachtet das Steinchen mit dem winzigen Loch unter dem Schein der Nachttischlampe. „Er bringt Glück“, sagt die Mutter. „Morgen zieh ich eine Schnur durch, dann trag ich das Glück mit mir herum.“
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Die Mutter lächelt und deckt ihr Kind zu. Leise geht sie aus dem Zimmer. Anna träumt den Traum von dem kleinen schimmernden Hühnergott.
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