135 - Dschulis Erster Winter
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Band 135 Dschulis erster Winter Sergej Iwanow Originaltitel: Джулькино детство Приключения Серого Ежа Письмо Aus dem Russischen von Liselotte Remané Für Leser von 7 Jahren an 1. Auflage 1979 Illustrationen von Ingolf Neumann
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DSHULIS ERSTER WINTER Bei seiner Geburt hatte der- Welpe den würdevollen Namen Dshulbars erhalten. Einstweilen war er jedoch noch kleiner als eine Katze, stand auf wackligen Beinen, hatte erst seit zwei Tagen offene Augen und vermochte nur Hell und Dunkel zu unterscheiden – die Dunkelheit der Hundehütte, in der er mit seiner Mutter und zwei Schwestern lebte, und ein blendend helles Loch, nämlich den Ausgang aus der Hundehütte. Aber bisher war ihm der Ausgang gleichgültig. In den ersten Wochen seines Lebens war er auch ohnedem glücklich und zufrieden. Er bekam Milch in Hülle und Fülle, konnte seinen winzigen Körper an einen weichen Fellbauch schmiegen und fühlte Mutters kitzelnde warme Zunge, wenn sie ihn zärtlich ableckte. Als er einen Monat alt war, kam der För5
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ster, um ihn abzuholen, wie er es mit der Besitzerin der Hundemutter vereinbart hatte. Er nahm ihn aus der Hundehütte, hob ihn hoch und betrachtete ihn von allen Seiten. „Gut!“ sagte er. „Sehr gut!“ „Dshulbars heißt er“, sagte die Bäuerin. „Dshulbars? Na so was!“ Der Förster lächelte belustigt. „Pummelchen würde besser passen. „Und wenn er erwachsen ist?“ beharrte die Bäuerin. „Willst du ihn sein Leben lang mit einem Kindernamen rumlaufen lassen?“ „Er soll also in seinen Namen hineinwachsen?“ Der Förster lächelte wieder. „Gut, ich hab nichts dagegen.“ „Hör mal, Förster“, fragte die Bäuerin sachlich, „nimmst du den Hund oder nicht?“ „Klar, ich nehm ihn.“ Der Förster steckte sich den Welpen unter den Schafpelz. „Dann wolln wir mal abfahren, Dshuli!“
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Dshulis Mutter umkreiste den Förster inzwischen unter lautem Gebell und sah flehend von ihm zur Bäuerin. Dshuli begriff nichts, bedauerte deshalb auch nichts. Es verlangte ihn nur nach Milch. Unter dem Schafpelz wurde ihm warm. Anfangs blendete ihn der flimmernde Dezemberschnee, aber allmählich gewöhnte er sich daran. Eifrig und aufgeregt schnupperte er neue Gerüche: nach Schafpelz, nach Neuschnee, nach Schlitten. Besonders gut gefiel ihm der scharfe, schon irgendwie bekannte Pferdegeruch. Er betrachtete die dunkelbraune Kruppe, die ungefügen Hinterbeine, den wippenden Schweif des Pferdes. Dann schaute er auf die Bäume, die merkwürdigerweise unaufhörlich rückwärts glitten. Er begriff nicht, daß er im Schlitten fuhr. Manche Bäume waren hoch, manche niedrig, die einen grün, die anderen schwarz. Der Schnee war grellweiß, hin 8
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und wieder tauchten Waldwiesen aus dem Dickicht auf. Überhaupt gab es so vieles, daß Dshuli vor Erschöpfung einschlief. Ein paar Wochen vergingen. Dshuli wuchs nicht in Tagen, sondern in Stunden. Das war Tatsache. Menschen wachsen nämlich nur im Märchen „nicht in Tagen, sondern in Stunden“, Hunde dagegen in Wirklichkeit. Nach zwei Monaten war Dshuli schon ein ziemlich großer Junghund. Er kannte im Hause des Försters jeden Winkel und im Kiefernfußboden jedes Astloch. Laufen konnte er schon recht gut, besonders mit den Vorderbeinen. Die Hinterbeine taten oft noch so, als gehörten sie ihm nicht. Sie versuchten, die Vorderbeine zu überholen und neben ihnen herzurennen, was zur Folge hatte, daß Dshuli in vollem Lauf zu Boden klatschte. Dann blieb er verblüfft liegen und horchte auf sein Herz, das ihm in allen Poren klopfte. 10
In dieser Zeit wohnte Dshuli im Haus. Nur ein paarmal am Tag ließ ihn der Förster in den Vorgarten, damit er dort einen kleinen Spaziergang machte. Dshuli war ja noch so jung – es konnte durchaus passieren, daß er sich verirrte, daß er erfror oder ihm sonst etwas Schlimmes zustieß. Der Förster lebte allein und besaß keinen Hund außer Dshuli. Der vorige Hund war im Herbst gestorben. Dshuli wollte gar zu gern hinaus. Im Haus langweilte er sich. Immer wieder schnupperte er an dem Luftzug, der an der Schwelle hereinwehte, und kratzte winselnd an der Tür. Er war tatsächlich schon so groß und kräftig, daß er nicht mehr zu der unbestimmbaren Rasse zählte, der alle neugeborenen Hunde anzugehören scheinen. Nein, jeder Kenner sah auf den ersten Blick, daß Dshuli ein Rassehund war. Er hatte dichtes kurzhaariges Fell, hochstehende 11
spitze Ohren, einen Ringelschwanz, ein auffallend freundliches Gesicht, das zu lächeln schien. Ja, er war ein reinblütiger Polarhund. Dem Förster, der wahrhaftigen Gottes etwas von Hunden verstand, gefiel das aufgeweckte Tier täglich besser. Er war kein junger Mann mehr und hatte viele Hunde kennengelernt, und Dshuli, der vielleicht der letzte Hund seines Lebens sein würde, war ungefähr der beste. „Dshuli, Dshuli!“ Der Förster streichelte ihm den festen Körper. „Du wirst mal ein tüchtiger Jagdhund.“ Dshuli legte die Ohren an, lächelte und wedelte wie besessen mit dem Schwanz. Bisher war ihm der Schwanz noch zu schwer, deshalb wurde Dshuli beim Wedeln hin und her geschleudert. Nach weiteren zwei Wochen beschloß der Förster: Nun wird es Zeit, den Hund draußen einzuquartieren. 12
Es war nicht die gewohnte Spaziergangszeit, deshalb freute und wunderte sich Dshuli, als, der Förster ihm pfiff und die Tür öffnete. Dshuli lief auf die Vortreppe und wollte wie gewöhnlich in den zum Überdruß bekannten Vorgarten springen. Aber der Förster schob ihn, wieder zu Dshulis Überraschung, in die entgegengesetzte Richtung. Entzückt sprang Dshuli in eine richtige große Schneewehe, versank kopfüber, tauchte wieder auf, schnaufte und durchfurchte in wildem Lauf die abschüssigen Schneeflächen mit der Nase. Schnell wurde ihm warm, er leckte Schnee und bog auf den festgetretenen Pfad ein, der vom Haus zum Eisloch führte. Der Pfad glich einem schmalen, seichten Graben, den schwache Gerüche durchzogen. Dshuli lief gegen die Strömung – gegen den Wind. Den Hauptgeruch, der ihm ausnehmend gut gefiel, kannte er; es 13
war der Geruch des Försters. Ohne zu wissen, warum, bremste Dshuli plötzlich mit allen vier Pfoten und blieb wie angewurzelt stehen. Unmittelbar vor ihm gähnte ein entsetzliches schwarzes Loch. Er wußte nicht, was es war, aber er fühlte: Wenn ich dort hineinfalle, bin ich verloren! Im Widerstreit zwischen Angst und Haß wollte er knurren, brachte aber keinen Ton hervor. Als der Förster ihn unmittelbar am Eisloch stehen sah, rief er scharf: „Pfui, Dshuli, pfui!“ Dshuli fuhr zusammen und nahm vor dem schwarzen Loch Reißaus. Seitdem verband er das Wort „Pfui!“ mit furchterregender Schwärze. „Pfui!“ – und er schnappte nicht nach der leckeren Wurst. „Pfui!“ – und er ließ von der Katze ab. Aber das würde erst später geschehen, nach längerer Zeit. Jetzt drehte er dem Eisloch den Rücken und beschnupperte vergnügt den Pfad. 14
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Quer darüber zog sich eine lange Spur, die unangenehm nach gewachsten Skiern roch. Dshuli machte halt und beroch die Skispur nach beiden Seiten; es war, als ob er sie betrachtete. Nein, der Geruch mißfiel ihm. Er lief weiter. Plötzlich klopfte ihm vor fröhlichem Jagdfieber das Herz: Ein prachtvoller Geruch überquerte den Pfad. Der Geruch saß ganz unten in kleinen runden Löchern, wie Wasser in austrocknenden Pfützen. Es war eine alte Hasenfährte. Dshuli nahm sie auf. Aber unmittelbar hinter dem Haus, wo das Reich des Schneesturms begann, verschwand sie, vom Schnee verdeckt. Ebenso verhielt es sich am anderen Ende. Dshuli versuchte, die Fährte unter dem Schnee aufzuspüren, aber vergebens – er verkühlte sich nur die Nase. Daraufhin untersuchte er schnuppernd die festgetretenen kleinen Schneeflächen am Haus, 16
dann den unscheinbaren, auf einer Seite gleichsam lahmen Schuppen und die Hauswände. In der Nähe, gleich hinter der großen Waldwiese, begann der verlockende Winterwald. Niemand hinderte Dshuli, dort hineinzulaufen, aber ihn hielt etwas am Haus fest, wie eine Kette. Es war ganz gewöhnliche Angst. Dshuli wagte nicht, sich von seinem Herrn zu entfernen. Der Förster stand inzwischen auf der Treppe und beobachtete ihn zufrieden. Er stellte sich vor, wie er ihn zur Fährtensuche abrichten, zu einem erstklassigen Jagdhund erziehen würde, mit dem er viele Tage und Nächte im Wald verbringen könnte ... Und eines Tages, wenn Dshulis Kindheit vorbei war und er sich zu einem großen, erwachsenen Rüden entwickelt hatte, würde er merken, daß sein Herr ein meisterhafter Fährtensucher war, mit sicherer Hand und scharfen Augen. 17
Dshuli rannte inzwischen unablässig im Schnee umher, um sein neues Reich zu besichtigen und zu beschnuppern. Schließlich wurde er müde und wollte heim – in den Winkel, wo sein Freßnapf stand und seine Matte lag, wo die Wärme des Ofens ihn in eine unsichtbare Decke hüllte. Er trabte auf die Tür zu. Aber sie war geschlossen. Der Förster wirtschaftete hinter dem Schuppen herum und kehrte mit einer Kiste zurück. Oder war es keine richtige Kiste? Sie kam Dshuli aufregend bekannt vor. Er blieb auf der Treppe stehen und beobachtete seinen Herrn. Es war eine Hundehütte, die der vorige Hund hinterlassen hatte. Der Förster stellte sie am Schuppen auf, wo sie jahrelang gestanden hatte. Es war ein angenehmer geschützter Ort, rechts vom Haus und hinten vom Schuppen abgedeckt. Linkerhand und vorn war Wald. 18
Danach ging der Förster ins Haus und kam mit Dshulis Matte und Freßnapf zurück. Das wunderte Dshuli, weil er aber hungrig war, folgte er dem Förster auf den Fersen. Die Matte, das wußte er schon, war sein „Platz“, das heißt, sein Zuhause. Sie wurde jetzt in der Hundehütte ausgebreitet. Das Fressen schmeckte diesmal besonders gut. Böse war ihm der Förster demnach nicht. Trotz des leckeren Fressens beobachtete Dshuli ihn aus den Augenwinkeln und sah, daß er aufs Haus zuging und ihn, Dshuli, zurücklassen wollte. Er hörte auf zu fressen und rannte hinter seinem Herrn her. Aber der drehte sich um und rief scharf: „Pfui, Dshulbars!“ Pfui – das war das furchteinflößende schwarze Loch. Dshuli blieb stehen. Er begriff nicht, was sein Herr wollte. „Platz, Dshuli, Platz!“ befahl der Förster freundlicher. 19
Platz – das war die Matte. Und sie lag in der Hundehütte. Dshuli machte beleidigt kehrt. Die Hundehütte roch angenehm und vertraut nach wohliger Fellwärme und nach Polarhund – der gleichen Rasse, der Dshuli und seine Mutter angehörten. Das wußte Dshuli instinktiv. Er kroch hinein, beschnüffelte alles, kroch wieder heraus, fraß die leckere Suppe auf, lief vorsichtshalber noch einmal zur Haustür. Dahinter war es still, der Förster ließ sich nicht blicken. So kehrte Dshuli endgültig in die Hundehütte zurück. Es wurde kälter. Dshuli rollte sich zusammen, deckte den Schwanz über Pfoten und Schnauze, blinzelte auf den Schnee, der dunkler wurde, dämmerungsblau, und auf den Wald, in dem es schon Nacht war. Ihm fiel ein, daß er früher eine ähnliche Hundehütte gekannt hatte, in der sich noch jemand befunden hatte. Der Förster? Nein, 20
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der Förster konnte es nicht gewesen sein. Wer aber sonst? Dshuli schlief ein. Im Traum wußte er wieder, wer mit ihm in der Hundehütte gewohnt hatte, und sah eine große liebevolle Hündin vor sich – seine Mutter. Aber junge Hunde behalten ihre Träume nicht im Gedächtnis. Als Dshuli am nächsten Morgen erwachte, war er festüberzeugt, daß es damals, vor langer Zeit, am Beginn seines Lebens, nur der Förster gewesen sein konnte, der in der vorigen Hundehütte bei ihm gewohnt hatte. Wer denn sonst! Nach einer Woche hatte sich Dshuli schon ganz an seine neue Wohnstätte und sein neues Reich gewöhnt. Wie wir bereits wissen, stand das Försterhaus auf einer großen Waldwiese, mitten im schweigenden Hochwald. Selbstverständlich war das kein unberührtes Gebiet. Der Wind trug das Geratter ferner Züge heran, und sonntags 22
glitten Skiläufer in bunten Pullovern vorbei. Aber Dshuli hatte ein kurzes Gedächtnis, und abends – besonders abends! – glaubte er manchmal Feinde im dunklen Gebüsch zu sehen. Dann wich er langsam zur Treppe zurück, sein Nackenfell sträubte sich, und er knurrte in möglichst tiefem Baß. „Aber Dshuli!“ Der alte Förster staunte. „Witterst du etwas? Tüchtiger Hund!“ Ermutigt durch das Lob, begann Dshuli laut zu kläffen. Sofort kläffte das Echo zurück. Das ging dem Förster auf die Nerven. „Hör auf, Dshuli, krakeele nicht!“ sagte er vorwurfsvoll. Dshuli bellte noch fünfmal, dann verstummte er. Auch sein unsichtbarer Gegner verstummte. Das wunderte ihn. Es war so still ringsum, daß man nahezu hören konnte, wie die verschneiten Bäume wuchsen. Seitdem Dshuli das Licht der Welt erblickt
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hatte, war stets nur Winter gewesen, manchmal klarer Frost, manchmal zischender, heulender Schneesturm. Dshuli glaubte deshalb, es gäbe auf der Welt nur Schnee und Kälte. Aber Mitte Februar setzte plötzlich eine langwährende Tauwetterperiode ein. Zu dieser Zeit war Dshuli schon drei Monate alt und hatte vieles gelernt, begriffen, gesehen. An den ersten beiden Tagen näherte sich der Südwind in feuchten Wellen. Lockere Wolken zogen über Wald und Försterhaus und blieben zuweilen in den Wipfeln hoher Kiefern hängen. Der Förster fühlte sich unwohl, auch Dshuli war irgendwie bedrückt, beklommen, als würde im nächsten Augen-, blick ein Unglück geschehen. Doch das Gegenteil trat ein. Am Morgen des dritten Tages schien die Sonne plötzlich so frühlingshaft, daß es zum Staunen war. Der alte Förster trat vors Haus, schob 24
die Mütze in den Nacken und paffte heiter seine kurze Pfeife. „Na, Dshuli, jetzt haben wir's hinter uns. Der Frühling ist nicht mehr weit.“ Dshuli verstand natürlich nicht, was der Förster sagte, aber er merkte, daß nun alles besser würde. Um ihn herum ereigneten sich unglaubliche Dinge. Der Schnee, der anfangs wie verrückt in der Sonne gefunkelt hatte, wurde schwer und glanzlos, stäubte nicht mehr, sondern brach in großen Brocken knirschend unter Dshulis Pfoten ein. Es war anstrengend, darauf zu laufen. Dshuli geriet schnell ins Schwitzen. Überhaupt war es draußen fast so warm wie in der Stube, nur geräumiger, unterhaltsamer. An den folgenden beiden Tagen blieb das Wetter unverändert. Obwohl morgens der Schnee mit brüchigem gläsernem Harsch überzogen war, trommelten mittags dicke 25
Tropfen vom Dach, der Schnee wurde zusehends älter, dunkler und sackte in sich zusammen. Von den hohen Tannen fielen dicke Schneebatzen, die Fahnen von blinkendem Schneestaub hinter sich herzogen und die Zweige erleichtert hochschnellen ließen. Dieses herrliche Fest dauerte fast eine Woche. Dann gewann der Winter wieder die Oberhand, trockener Schnee verschüttete die Spuren des Tauwetters, und der Frost zwickte Dshuli heftig in Nase und Zunge. Dennoch behielt Dshuli die kleine Sonneninsel im großen Wintermeer in Erinnerung und hoffte, sie noch einmal zu sehen. Die Zeit verstrich. Mit jedem Tag nahm die Kraft der Sonne zu. Der Februar ging zu Ende. Der Wind sang ein langes Lied vom März. Der Frost hielt sich versteckt und 26
stahl sich nur noch nachts zuweilen in die Hundehütte. Aber er tat nicht mehr weh. Somit wurde Dshulis Leben leichter und lustiger. Außerdem hatte er jetzt allerlei Jagdgeschäfte zu erledigen. Am Waldrand gab es Mäuse. Hier und dort entdeckte er ihre Löcher. Mäusestraßen führten kreuz und quer über den Schnee. Man konnte sie zwar nicht sehen, wohl aber deutlich riechen. Dshuli beschnüffelte sie eifrig, ohne aber zu wissen, wie man Mäuse fängt. Ungeduldig schob er die Nase in ein Loch. Keine Maus zu entdecken. Plötzlich huschte eine Maus aus einem anderen Loch, sauste als zitterndes braunes Bällchen über den Harsch und verschwand wieder unter dem Schnee. Dshuli konnte noch nicht schnell genug reagieren. Als er zusprang, war sie längst entwischt. Da versuchte er, sich unmittelbar vor den Löchern auf die Lauer zu legen. Aber die 27
unter dem Schnee sitzenden Mäuse bemerkten seinen Schatten, war er doch im Vergleich zu ihnen geradezu ein Elefant! Nur einmal hatte er Glück. Aus einem nahe gelegenen Loch sprang unvorsichtig ein dummes Mäusekind. Dshuli machte einen Satz und packte es am Schwanz, außer sich vor Freude über sein Jagdglück. Doch ebendiese Freude machte ihm den Erfolg zunichte. Vor Eifer biß er allzu fest zu, die Maus riß sich los, verschwand im nächsten Loch, und Dshuli behielt nur die Schwanzspitze zwischen den Zähnen. Fassungslos stand er da. Dann entschloß er sich, wenigstens den Schwanz zu fressen. Aber der schmeckte so abscheulich, daß Dshuli mit der Zunge rollte, die Schnauze schwenkte und seine klägliche Beute in den Schnee spuckte. Seitdem interessierte er sich nicht mehr für Mäuse. Das ist ja auch kein Wild für einen Jagdhund! 28
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Ende März, als Dshuli unter einer Tanne stand und die Meisen anbellte, die übrigens nicht die geringste Angst vor ihm hatten, hielt ein Schlitten mit einem braunen Pferdchen vor dem Försterhaus. Dshuli fuhr auf den Schlitten und den Unbekannten los, der schon die Treppe hinaufstieg. Das hatte ihm niemand beigebracht, aber ihm war das Wissen angeboren, daß es auf der Welt Fremde gibt, vor denen man seinen Herrn beschützen muß. Gerade hatte er das Haus erreicht, als die Tür aufging und der Förster herauskam. „Oh, Petrowitsch!“ sagte er und gab dem Fremden die Hand. „Grüß, dich, Kusma!“ antwortete der Fremde freundlich. Dshuli knurrte und bellte. Ihn erfüllte ein so fürchterlicher, glühender Zorn, daß sein Gebell zum erstenmal bedrohlich klang wie das eines erwachsenen Hundes. 30
„Still, Dshuli, das ist ein Freund!“ sagte der Förster liebevoll. Aber Dshuli konnte sich nicht beruhigen. „Pfui!“ fuhr ihn der Förster an. „Kannst du nicht hören?“ Ruckartig verstummte Dshuli. „Na, ist er nicht gut?“ fragte der Förster seinen Gast. „Freilich!“ antwortet der Fremde. „Unbestreitbar.“ Er war ebenfalls Jäger. „Dshulbars heißt er!“ sagte der Förster stolz, und Dshuli wedelte mit dem Schwanz, als er seinen Namen hörte. Dann gingen der Förster und der Fremde ins Haus. Dshuli beschnupperte den Schlitten und kläffte ordnungshalber das Pferd an, das daraufhin schnaubte und mit den Vorderhufen im Schnee stampfte. Als der Fremde nach einer Weile wieder herauskam, bellte Dshuli ihn nicht mehr an, weil ihm das „Pfui!“ noch im Gedächtnis stand. Er ließ sich sogar streicheln, doch das war 31
ihm dermaßen zuwider, daß er vergaß, wie ähnlich ihn der Förster zu streicheln pflegte. Danach setzte sich der Fremde in den Schlitten und fuhr durch den Wald davon. Das war alles. Aber der Förster tat plötzlich Dinge, die Dshuli unbegreiflich und besorgniserregend fand. Wäre Dshuli ein Mensch gewesen, dann hätte er sofort erraten, daß der Förster zur Reise rüstete. Dshuli erkannte das selbstverständlich nicht, er wurde nur sehr traurig. Der Förster ging wiederholt ins Haus, kam wieder heraus, verriegelte den Schuppen und schloß die Fensterläden. Dann holte er eine große Schüssel mit Suppe und stellte sie vor Dshulis Hundehütte hin. Es war eine dicke Suppe mit viel Brot und kleingeschnittener Wurst. Dshuli fischte die Wurststücke sofort heraus. Der Förster verschwand inzwischen im 32
Haus, kam jedoch nach kurzer Zeit in einem fremd riechenden neuen Halbpelz wieder zum Vorschein, einen Rucksack auf dem Buckel. Dshuli empfand unbegreifliche Beklommenheit. Der Förster beugte sich zu ihm hinab, zauste ihm das Fell, streichelte ihn und sagte ein paar traurige Worte. Seine Betrübnis übertrug sich auf Dshuli, der still und gedrückt dastand. „Heute haben wir Dienstag“, sagte der Förster. „Bis Samstag bin ich bestimmt zurück. Rechne dir aus: Mittwoch, Donnerstag, Freitag – das sind drei Tage. Sei brav.“ Er seufzte. „Ich muß in die Stadt, mein Kleiner. Dienst ist Dienst.“ Er wollte noch etwas hinzufügen, aber da tauchte der Schlitten auf, den Dshuli schon kannte. Der Fremde von vorhin und noch ein zweiter Fremder saßen darin. Der Schlitten hielt, der Förster stieg ein, Dshuli blieb auf der Treppe zurück. 33
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„Treib deinen Braunen an“, bat der Förster, „sonst läuft mir der Hund nach.“ Der Fremde schnalzte mit der Zunge und schwenkte die Zügel. Das Pferdchen setzte sich sofort in Trab. Dshulis Herz krampfte sich zusammen, er raste dem Schlitten nach. „Pfui, Dshulbars!“ rief der Förster. „Platz! Bewach das Haus!“ Dann verschwand der Schlitten hinter den Bäumen. Merkwürdig, wie schnell ein Ort verödet, wenn der Mensch fort ist. Schon ließ sich eine Elster furchtlos auf der Treppe nieder, ein Schneebrocken fiel auf den erkalteten Schornstein und färbte ihn weiß. Die Tür würde nun für lange Zeit geschlossen bleiben, obgleich Dshuli immer noch hoffte, sie würde sich öffnen und der Förster würde heraustreten. Aber alles blieb still. Dämmerung kroch aus dem Wald. Im Haus kein 35
Laut, kein Licht, selbst die Fenster waren verschwunden. Niedergeschlagen und ängstlich lag Dshuli in seiner Hütte. Herauszukommen wagte er auch nicht. Der Förster war fort alles war öde und leer. Am folgenden Tag wurde es Frühling. Die Sonne schien gleichmäßig und heiß, im Wald tropfte es wie nach einem Regenguß. Natürlich freute sich Dshuli ebenso wie die ganze Natur über den Frühling, aber die Sehnsucht nach dem Förster ließ ihm keine Ruhe. Er lief ums Haus herum und kratzte an der Tür, obgleich er im voraus wußte, daß es vergebens war. Er besaß kein Erinnerungsvermögen, wie wir es haben, er konnte sich den hochgewachsenen, blauäugigen Förster, der meistens unrasiert war, nicht vorstellen. Aber er spürte, daß er etwas Wesentliches verloren hatte, daß ihm sozusagen eine Pfote abgehauen war. 36
Gegen diese Sehnsucht erwachte in ihm ein überraschendes Heilmittel – der Hunger. Bei der Abreise am Dienstag hatte ihm der Förster eine gehörige Menge zu fressen dagelassen. Aber Dshuli konnte nicht sparen. Deshalb merkte er am Donnerstagabend, daß er nichts mehr zu fressen hatte. Hungrig legte er sich schlafen. Am Freitag dachte er mehr an den Förster als ans Fressen, weil er am Haus noch ein paar Happen fand. Aber am Samstag ließ der Hunger nicht mehr mit sich spaßen. In der Nähe des Hauses war alles verzehrt, folglich lief Dshuli in den Wald. Zunächst ohne ein bestimmtes Ziel, denn er hatte noch nie gejagt und wußte nicht, daß er sich dadurch am Leben erhalten konnte. Ihm sagte nur sein angeborener Instinkt, daß er im Wald auf Jagd gehen müsse. Eine Zeitlang streifte er ziellos zwischen den Bäumen umher, beschnüffelte wie ge37
wohnt alle Fährten und betrachtete die zahllosen Vögel, bei deren Anblick ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Plötzlich merkte er, daß es nach Fressen roch, und blieb stehen. Er kannte den Geruch nicht, wußte aber, daß er Fressen bedeutete. Sein Spürsinn sagte ihm, daß er nicht Hals über Kopf losrennen durfte, sondern sich leise anschleichen mußte. Der Wind blies in seine Richtung, genau in seine Nase, so daß der Geruch wie eine Feuerflamme heranflackerte. Eine Viertelstunde lang schlich sich Dshuli an. Schließlich gelangte er an den Saum einer großen Waldwiese und sah, daß sechs Sprünge von ihm entfernt ein Fuchs hockte, der einen erbeuteten Hasen fraß. Es war ein ziemlich kleiner Fuchs, schlecht ernährt und deshalb nicht besonders kräftig. Der lange Winter hatte ihn noch mehr geschwächt. Lange Zeit hatte er an der 38
Kreuzung zweier Wildpfade auf Beute gelauert, und schließlich war es ihm gelungen, den Hasen zu erlegen. Aber er hatte nicht genügend Kraft, um ihn in den Bau zu zerren, und verzehrte ihn deshalb gleich an Ort und Stelle. Trotzdem wäre er, der ja ein erwachsenes Tier war, stärker gewesen als Dshuli. Doch Angst macht Beine. Als Dshuli mit drohendem Gebell aus dem Hinterhalt brach, stürzte der Fuchs in den Tannenwald und raste in blinder Flucht davon. Vor wem fürchten sich Füchse am meisten? Vor Hunden. Das war der Grund. Dshuli rannte ihm ein paar Schritte nach und blieb dann stehen. Im tiefen Schnee konnte er ihn sowieso nicht einholen. Deshalb kehrte er auf die Waldwiese zurück, beschnupperte den Hasen und kostete. Sein Nackenfell sträubte sich. Zum erstenmal fraß er rohes Fleisch. Dumpf knurrend, 39
riß er große Stücke ab und verschlang sie. Der Wald stand schweigend, regungslos. Es gab wohl auch kein Tier, das es wagen würde, Dshuli die Beute abzujagen! Schließlich war das Festmahl beendet. Ihn überkam plötzlich schreckliche Müdigkeit. Zärtliche, tückische Traumvorstellungen winselten ihm in die Ohren. Mit leeren Augen starrte er über die Waldwiese und machte sich dann auf den Heimweg. Seine eigene, noch frische Fährte leitete ihn, darum verirrte er sich selbstverständlich nicht. Aber das Laufen fiel ihm schwer. Trotz seiner Schlaftrunkenheit mußte er den fleischgefüllten Bauch wie einen Sack über den Schnee schleifen. Er wußte selbst nicht, was ihn zwang, so beharrlich durch den bröckelnden, nassen Schnee zu traben, unterwegs nicht einzuschlafen. Wäre er ein Wildtier gewesen, dann könnten wir mit
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Sicherheit sagen: Die Angst trieb ihn heim. Aber bei einem jungen Hund wäre das nur die halbe Wahrheit. Stärker als die Angst war Dshulis Sehnsucht nach dem Förster. Vielleicht war er inzwischen zurückgekehrt? Dshuli schlief fast vierundzwanzig Stunden. Als er am folgenden Tage erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und blendete dermaßen, daß ihm schwarz vor Augen wurde. Ringsumher brauste ungehemmt der Frühling. Der Schnee schmolz zusehends, das Getrommel der Tropfen übertönte fast das Vogelgezwitscher. Glücklich reckte sich Dshuli, daß ihm die Glieder zitterten, und gähnte so gewaltig, als wollte er seine, eigene Hundehütte verschlingen. Als er sich erhob, spürte er, was für elastische Beine, kräftige Zähne, feine Ohren und scharfe Augen er hatte, wie
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geschmeidig sein Körper war. Er fühlte sich erwachsen. Da er tags zuvor einen Fuchs besiegt und rohes Fleisch gefressen hatte, war er jetzt ein Kämpfer und Jäger! Ein Jäger muß im Wald auf Jagd gehen. Aber Dshuli hatte Wichtigeres vor, zumal er satt war. Er lief ums Haus herum, betrachtete noch einmal die geschlossenen Fensterläden und die schweigende Tür. Nein, der Förster war nicht da. Es kam Dshuli schon sehr lange vor, seitdem der Förster abgefahren war und ihm noch aus dem Schlitten zugerufen hatte: „Platz!“ Dshuli lief auf die Straße, spähte dorthin, wo der Schlitten verschwunden war. Nein, alles leer, nichts zu sehen als Sonnen- und Schattenflecke, wie überall. Er bekam Lust, die Straße hinunterzulaufen, aber das nachdrückliche „Platz“ des Försters hielt ihn zurück. Doch wo war der Förster? Etwa hinter der 42
nächsten Kurve? Zögernd setzte sich Dshuli in Bewegung. Er hatte große Angst. Und ohne sein gestriges Erlebnis hätte er sich niemals vom Haus entfernt. Aber jetzt fühlte er sich sicherer. Zudem trugen ihn seine Beine leicht und federnd, Sprung für Sprung, und er wollte den Förster doch unbedingt finden. War ihm etwas passiert? Hatte ihn ein Unglück mit scharfen Fuchszähnen gepackt? Dshuli lief immer schneller, selbstbewußter, geschmeidiger. Er lief, um seinem Herrn beizustehen, ungeachtet aller Gefahr, er lief, ohne irgendwelche Fährten zu beriechen. In dicken weißen Spritzern flog der Schnee unter seinen Pfoten weg. Nach einer Weile gab es keine Bäume mehr, die rechts und links der Straße zurückzugleiten schienen - der Wald war zu Ende. Dshuli blieb stehen. Noch nie hatte er so viel mit einem Blick überschaut. 43
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Er stand auf einem Hügel. Zu seinen Füßen lag eine langgestreckte Holzbrücke, zu der die Straße hinabführte. Auf der anderen Seite schlängelte sie sich wie ein schwarzes Band zur gegenüberliegenden Anhöhe hinauf, wo ein paar verstreute Häuser standen. Unter der Brücke führte ein zweites schwarzes Band vorbei – der Fluß. Er war zwar noch vereist, aber die Eisdecke hatte schon frühlingshafte Risse. Angesichts der ungewohnten Weiträumigkeit schwand Dshulis Entschlossenheit. Er hatte das Gefühl, von überall gesehen zu werden, und das war ihm unbehaglich. Dennoch lief er zur Brücke hinunter. Er mußte doch den Förster suchen! Unterwegs entdeckte er etwas Erstaunliches. An mehreren Stellen kam lebendiger schwarzer Erdboden unter dem Schnee hervor. Er duftete eigenartig und fremd, aber angenehm. 45
Bald hatte Dshuli die Brücke erreicht. Mißtrauisch betrat er die nassen, dunklen Bohlen. An den Pfoten hatte er das Gefühl, auf die Dielenbretter oder die Treppe des Försterhauses zu treten. Deshalb glaubte er, der Förster müsse in der Nähe sein, und lief ermutigt die Anhöhe hinauf, ins Dorf hinein. Der Wind, der ihm entgegenblies, brachte zahlreiche Gerüche mit – nach Rauch, Viehhof, Hund. Dennoch war alles still. Nur manchmal flogen einzelne Laute wie Vögel an ihm vorbei. Fast alle waren ihm unbekannt. Eine Weile stand er unentschlossen am Dorfeingang. Ein paarmal sah er Fremde über die Straße gehen. Hier gab es offenbar viele Fremde. Aber keiner kümmerte sich um ihn. So stand er ziemlich lange, bis ihm urplötzlich Essengeruch in die Nase stieg. Er schnupperte ausgiebig. Dabei kam ihm zu Bewußtsein, daß er gewaltigen Hunger 46
hatte. In nächster Nähe gab es zu fressen – der Geruch verstärkte sich mit jedem Schritt. Es duftete wohlbekannt nach Hafergrütze, die er wiederholt vom Förster erhalten hatte. Demnach war der Förster hier! Dshuli war schon an drei Zäunen vorbeigelaufen, trotzdem hatte er den Geruch noch vor sich. Am vierten Zaun witterte er: Hier ist es! Er zwängte sich durch eine Zaunlücke – wahrscheinlich war das ein Katzenschlupfloch - und stand auf einem fremden Hof. Ganz langsam, eine Pfote vor die andere setzend, schlich er auf das Haus zu. Es roch nach Wohnstatt, nach Vorjahrsheu, nach Hund - all das kam Dshuli bekannt vor. Nicht nur, weil es beim Försterhaus ähnliche Gerüche gab, sondern noch aus anderen Gründen. Am Haus stand eine Hundehütte, die der seinen ähnelte, daneben ein Napf mit
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warmer Hafergrütze, die er gewittert hatte. Er sah sich vorsichtig um. Nein, niemand war in der Nähe, auch kein Hund. Da lief er kurzerhand auf den Napf zu. Ihm war sonnenklar: Der Förster ist hier! Aber trotz seines Heißhungers erwischte er vom süßen Brei nur ein paar Happen. Die Tür sprang auf, eine Frau trat auf die Schwelle und schalt: „Mach, daß du fortkommst! Aber flink! Alma, faß ihn!“ Im selben Augenblick stürzte eine graue Hündin aus dem Haus, die Dshuli riesengroß vorkam. Mit einem Satz war sie bei ihm, warf ihn zu Boden, und wollte ihn an der Kehle packen. Aber im letzten Augenblick hielt sie inne. Erstens merkte sie, daß sie nur einen Welpen vor sich hatte, und zweitens witterte sie noch etwas. Der Welpe kam ihr bekannt vor. Dshuli nützte ihr Zögern, um aufzuspringen und pfeilschnell zur Zaunlücke zu rasen. 48
Unentschlossen sah sie zu ihrer Herrin auf. „Was hast du denn?“ rief die Bäuerin. „Aber Alma!“ Alma ließ die Herrin nicht aus den Augen und wedelte mit dem Schwanz. Da ging der Bäuerin ein Licht auf. „Ach, du lieber Gott!“ Sie klatschte in die Hände. „Alma, das war ja Dshulbars, unser kleiner Hund! Du bist ein kluges Tier!“ Auf diese Worte schien Alma nur gewartet zu haben. In Windeseile rannte sie ihrem Sohn nach – denn es war ja ihr Sohn Dshulbars! Aufgeregt und glücklich klopfte ihr das Herz. Es dauerte eine ganze Weile, bis es ihr gelang, mit der Schnauze die Gartenpforte zu öffnen, denn für das Loch im Zaun war sie zu groß. Und als sie auf die Straße sprang, war Dshuli schon weit weg.
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Unter lautem mütterlichem Gebell lief sie hinter ihm her, aber sie vermochte ihn nicht einzuholen. Dshuli, Dshuli, bleib stehen! Er jedoch rannte die Anhöhe hinab, flitzte über die Brücke, sauste blitzschnell den jenseitigen Hügel hinauf bis zum Waldrand und lief dann auf der Straße weiter, wo wiederum zur Rechten und Linken die Bäume an ihm vorbeiglitten. Seine Mutter rannte hinter ihm her. Je weiter sie sich allerdings von ihrem Hof entfernte, um so unsicherer wurde sie, ob es auch wirklich ihr Sohn war. Und als Dshuli die Treppe zum Försterhaus hinaufsprang und ihr in Verteidigung seines Heimes unbeirrt entgegenbellte, blieb sie stehen. Nein, es war wohl doch nicht ihr Sohn. Sie ließ den Kopf sinken, wandte sich ab und lief davon. Da stieg auch in Dshuli eine Erinnerung 50
auf. Er sprang auf die Straße, lief der fremden Hündin aber nicht nach, folgte ihr nur so lange mit den Blicken, bis sie hinter den Bäumen verschwand. In diesem Augenblick ging Dshulis Kindheit zu Ende. Und als der Förster am nächsten Tage heimkehrte, wurde er von einem erwachsenen Rüden empfangen – dem Jagdhund Dshulbars.
GRAUIGELS ABENTEUER Grauigel lebte unbemerkt, still und friedlich in seinem Waldwinkel, wie es sich für ein Kleintier schickt. Sein Reich bestand aus einer nicht sehr umfangreichen, aber behaglichen Insel mit Pilzen, Beeren und einem Dutzend bemooster, appetitlich duftender Baumstümpfe, die ihm wie große Hügel vorkamen. Die Kronen der hoch in 51
den Himmel ragenden Espen und Birken nahm er nicht wahr, denn er hatte schlechte Augen, wie alle Igel, und pflegte gewöhnlich erst in der Abenddämmerung auf Jagd zu gehen. Aber ihr Laub war ihm wohlvertraut durch das leise melodische Rauschen, das ihm wie Glockengeläut in den Ohren klang. Grauigels Reich war in Wirklichkeit keine Insel, es wurde nur an zwei Seiten durch einen Bach vom übrigen Wald geschieden. Die beiden anderen Seiten stießen an eine Wiese. Den Bach überquerte Grauigel nicht, wenngleich es ihn wenig Mühe gekostet hätte, ihn zu durchschwimmen. Er wagte sich auch nicht auf die Wiese, die er allzu weiträumig und zugig fand. Dagegen war ihm die Insel genau bekannt. Hier hatte er alles untersucht, beschnuppert, abgehorcht. Seine kleine Höhle, die er mit Gras und trockenem Laub gepolstert
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hatte, war sehr hübsch. Die Pilze gediehen prächtig, die Beeren reiften, und am Wiesenrand gab es Mäuse. Nur selten huschte ein unheimlicher Fuchs vorbei. Auch gewaltige Elche glitten zuweilen hoch über Grauigel hinweg. Ihre schweren Hufe zerstampften erbarmungslos das Gras und hinterließen im Boden tiefe Spuren. Dann duckte sich Grauigel, rollte sich zusammen und blieb lange Zeit unbeweglich liegen. Er entsann sich nicht, wie er auf seine Insel gelangt war. Eines Tages, als er ein erwachsenes Tier wurde, erwachte er sozusagen aus dem Schlaf, und ihm wurde bewußt, daß er auf der vertrauten Insel lebte, inmitten von Grasbüscheln, langbeinigen Pilzen, bemoosten Baumstümpfen und freundlichem Rauschen in der Höhe. In ungestörter Ruhe verbrachte er den Frühling und fast den ganzen Sommer.
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Aber Mitte August ereignete sich ein Unglück oder Wunder – was es eigentlich war, begriff er nicht ganz. Jedenfalls vernahm er eines Morgens, als er gerade von einer ertragreichen Mäusejagd zurückgekehrt war und sich zum Schlafen hingelegt hatte, in nächster Nähe auf der Wiese fauchende Töne. Gleichzeitig drang ein widerwärtig scharfer, waldfremder Gestank von allen Seiten auf ihn ein. Reisig knackte, die Schritte und Stimmen großer, ihm unbekannter Wesen näherten sich. Zwei Pilzsammler waren mit dem Auto gekommen, weil sie erfahren hatten, daß hier, in der Einsamkeit, die berühmten Rotkappen wuchsen. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie gingen durch den Wald, bogen mit Stöcken das Gras auseinander und unterhielten sich halblaut. Grauigel hockte in seiner Höhle und hörte entsetzt, wie in seiner 55
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Umgebung die langen Gräser schwankten und umknickten. Plötzlich entdeckte die Frau unter Wurzelgeflecht seine Höhle. „Oh, schau mal, was ist das?“ rief sie. Der Mann bückte sich und schob vorsichtig die Hand in das dunkle Loch. „Der beißt gar noch!“ Lächelnd fuhr er zurück. „Au, er sticht! Das ist ein Igel!“ „Nimm ihn mit!“ meinte die Frau. „Wo sollen wir jetzt mit ihm hin?“ widersprach der Mann. „Er würde uns nur die Pilze zerdrücken. Wir holen ihn auf dem Rückweg.“ „Und wenn er wegläuft?“ „Woher weiß er, daß wir ihn mitnehmen wollen?“ Sie lachten, rissen auf Grauigels Insel sämtliche Pilze aus, sprangen dann über den Bach und verschwanden im Hochwald. Grauigel beruhigte sich allmählich. Manch-
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mal glaubte er, noch im Windesrauschen die Schritte der ungebetenen Gäste zu hören, auch den abscheulichen Gestank, der ihn an den Zwischenfall erinnerte und ihn am Einschlafen hinderte, nahm er noch eine Weile wahr. Der Gedanke an Flucht kam ihm nicht, glaubte er doch, die Gefahr wäre vorbei. Überdies lag er ja in seiner Höhle, war daheim, auf seiner Insel. Wohin sollte er fliehen? Auch drehte sich nach kurzer Zeit der Wind, und der Gestank verschwand. Da vergaß Grauigel das Erlebnis und schlief fest ein. Dabei hatte sein Abenteuer erst begonnen. Gegen Abend erschienen die beiden Pilzsammler wieder auf seiner Insel. Natürlich nicht seinetwegen Sie hatten ihn vermutlich inzwischen vergessen, aber als sie zu ihrem Auto zurückkehrten, fiel ihnen ihr lustiges Morgenerlebnis wieder ein. Der Igel war so verschlafen, daß er nicht 58
gleich merkte, was ihm geschah. Er rollte sich nur zusammen, sträubte die Stacheln und erstarrte, fast besinnungslos vor Angst, während er rücksichtslos aus seiner Höhle geholt wurde. Bei jeder Berührung bekam er eine Gänsehaut und stieß die Stacheln gegen den Stock, der ihn aus der Höhle schob. Aber das tat dem Stock nicht weh. Dem war es gleichgültig, ob er mit Menschenhänden oder Igelstacheln in Berührung kam. Anschließend wurde Grauigel in etwas Enges, Finsteres gesteckt, fast so, als wäre er verschlungen worden, gestorben und befände sich im Bauch eines Ungeheuers. Lange Zeit konnte er vor Angst weder sehen noch hören, noch fühlen. Aber allmählich wurde er ruhiger und versuchte, mit seinem ziemlich beschränkten Verstand herauszufinden, was ihm zugestoßen war. Sehen konnte er in seiner lichtlosen Enge 59
nichts. Ihm klang ein gleichmäßiges, eher jammervolles als böses Geheul oder Geschrei ans Ohr. Gleichzeitig wurde er gerüttelt, hochgeschleudert, auf seltsame Weise vorwärts gedrückt. Fortwährend schien ihm der Boden unter den Füßen wegzurutschen. Auch das, was ihm seine treueste, aufmerksamste Helferin, die Nase, sagte, konnte er nicht recht begreifen. Erstens war er von dem widerwärtigen waldfremden Gestank umgeben. Zweitens roch er die Ungeheuer, die am Morgen die langen Gräser geknickt hatten. Drittens – und das war wohl am merkwürdigsten – roch es gleichzeitig nach allen erdenklichen Pilzarten. Das konnte natürlich nicht stimmen. Verschiedenartige Pilze wachsen stets einzeln, wenigstens ein paar Igelschritte entfernt. Dieser Geruch verblüffte den Igel ebensosehr, wie wir uns wundern würden, 60
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wenn man uns einen einzigen Teller mit Kohlsuppe, Grießbrei, Kartoffeln, Frikadellen, Fleischtaschen, Kompott, Marmelade und Senfbrot vorsetzen würde. Fassungslos sträubte Grauigel die Stacheln und wartete ab. Tatsächlich hörte das Gerüttel nach einer Weile auf, wandelte sich in leichtes Geschaukel. Grauigel fühlte, daß er getragen wurde. Es war eine ähnliche Empfindung wie damals, als er einmal den Bach durchschwommen hatte. Nur mit dem Unterschied, daß ihm jetzt kein Wasser den Bauch kühlte. Dann hatten Gerüttel, Geschaukel, Enge, Finsternis plötzlich ein Ende, und als Grauigel sich entschloß, Umschau zu halten, traute er seinen Augen nicht. Er befand sich in einer Gegend mit riesengroßen Baumstümpfen. Einige waren mit rotem Moos bewachsen, andere schimmerten 62
trübe. Der Boden unter seinen Füßen glänzte wie eine Wasserlache, obgleich er staubtrocken war. Zwischen den Baumstümpfen entdeckte Grauigel eine Höhle. Mit Windeseile schlüpfte er hinein. Ihr habt vermutlich schon gemerkt, daß unser Reisender in eine Stadtwohnung geraten war. Dort lebte die Frau, die ihn im Wald gefunden hatte. Aber an diesem Abend mochte sie sich nicht mehr um ihn kümmern. Sie war müde und wollte so schnell wie möglich schlafen gehen. Grauigel hockte inzwischen in seiner neuen harten Höhle und wartete ab. Plötzlich knackte es, der Tag ging ruckartig zu Ende, und es wurde Nacht. Da Grauigel schon längst Hunger hatte, ging er sofort auf Jagd. Über den Erdboden läuft ein Igel vollkommen lautlos, trappelt er aber über den Parkettfußboden, dann gibt es ein lautes Geräusch. Das erschreckte unseren 63
Igel zuerst, aber dann kümmerte es ihn nicht mehr, weil sein Hunger gar zu groß war. Der neue Wald erwies sich ebenfalls als Insel. Die Grenzen waren hart, hoch und unübersteigbar. Noch schlimmer war, daß es nirgendwo etwas Freßbares gab. Nicht einmal den Geruch danach. Auch andere bekannte Gerüche- ließen sich nicht entdecken, überall roch es nur nach Ungeheuer. Plötzlich funkelte wieder die Sonne. Grauigel befand sich gerade mitten auf der glänzenden Fläche. Das Ungeheuer schrie ihm mit furchteinflößender Stimme etwas zu. Angstvoll rannte er in seine Höhle zurück. „Mach nicht solchen Krach!“ rief die Frau. „Hast du dich tagsüber nicht satt getrampelt? Gib Ruhe! Für mich ist jetzt Schlafenszeit.“ 64
Sie löschte das Licht. Als sie jedoch nach einer Minute die Igelkrallen wieder über den Fußboden kratzen hörte, knipste sie es noch einmal an. „So eine Gemeinheit!“ Der Igel verschwand erneut unter der Anrichte. Vergebens versuchte die Frau einzuschlafen. Aber nun wartete sie geradezu auf sein Getrappel. Nach fünf Minuten fing es tatsächlich wieder an. Der zerkratzt mir gar noch die Möbel! dachte die Frau, ging ans Telefon und rief ihren Bruder an – den Mann, mit dem sie zum Pilzesammeln gefahren war. „Ich bin’s“, sagte sie. „Was soll ich mit dem Igel anfangen? Er trabt dauernd in der Stube herum, läßt mich nicht schlafen. Bestimmt zerkratzt er mir die Möbel!“ „Das weiß ich nicht“, antwortete der Mann. „Setz ihn ins Treppenhaus, vielleicht nimmt jemand ihn mit.“ 65
Wie herzlos Männer sind! dachte die Frau, holte aber sogleich Handfeger und Müllschaufel aus der Küche, fegte den Igel unter der Anrichte hervor, schob ihn auf die Müllschaufel, trug ihn ins Treppenhaus, setzte ihn dort aus, schloß die Tür und ging zu Bett. Mutterseelenallein blieb Grauigel auf den kalten Steinfliesen zurück. Er fror, hatte Hunger, wußte aber nicht, wohin er gehen, was er machen sollte. Der Treppenabsatz war kahl und leer, roch fremd. Nirgendwo etwas zu fressen. Über ihm wimmerte es unheimlich – das war das Wasser in den Leitungsröhren. Hilflos lief er auf dem Treppenabsatz herum, merkte in seiner Angst nicht, wo es abwärts ging, und fiel die Treppe hinunter, alle acht Stufen. Das tat sehr weh. Deshalb lief er auf dem nächsten Treppenabsatz lieber nicht mehr herum, duckte sich nur noch in eine Ecke. 66
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Schreck, Kälte und Hunger lähmten ihn dermaßen, daß er unbeweglich liegenblieb und wartete, ohne zu wissen worauf. Ein Hund, eine Katze oder auch ein Fuchs hätten sich vermutlich zu helfen gewußt, wenn sie in seine Lage gekommen wären. Aber der Igel ist ein menschenscheues, ziemlich beschränktes Tier. Im Wald, in vertrauter Umgebung, kann er sich eingutes, geborgenes Dasein schaffen. Hier dagegen war ihm alles fremd, kalt, unzugänglich. Deshalb blieb ihm durch die, Schuld zweier Menschen nun wohl nur noch der Tod. Dem wäre er auch rettungslos preisgegeben gewesen, wenn sich im oberen Stockwerk nicht eine Tür geöffnet hätte und jemand mit schnellen Schritten die Treppe heruntergekommen wäre. Grauigel war in diesem Augenblick fest überzeugt, daß alle Gefahren der Welt nur ihn bedrohten. 68
Deshalb versuchte er, seine Stacheln zu sträuben. Doch selbst dazu hatte er keine Kraft mehr. Er konnte sich nur noch in die Ecke drücken. Aber vor dem Menschen, der die Treppe herunterkam, konnte man sich nicht verstecken, weil er ein freundlicher, hilfsbereiter Mann war. Als er Grauigel entdeckte, wunderte er sich sehr. Jeder würde sich wundern, wenn er auf dem Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk einen Waldigel fände. Denn das Haus stand mitten in der Großstadt. Hier gab es nur Straßen, Menschen, Lärm, Laternen, Autoschlangen, in welche Richtung man auch ging. „Wem gehörst du denn?“ erkundigte sich der Gute Mensch. Grauigel schwieg, die Nase an die Wand gepreßt. „Warum wurdest du in die Ecke gestellt?“ 69
fragte der Gute Mensch. „Hast du eine Untat begangen?“ Er überlegte. „Nein, mein Junge, da stimmt was nicht. Ich fürchte, man hat dich ganz einfach ausgesetzt.“ Mißbilligend schüttelte er den Kopf. „Schade, daß ich deine ehemaligen Freunde nicht kenne. Mit denen würde ich ein Wörtchen reden.“ Er machte ein sehr ernstes Gesicht. Dann seufzte er und meinte: „Na, die kann ich jetzt sowieso nicht ausfindig machen. Laß uns lieber überlegen, was mit dir geschehen soll. Eines ist mir klar: Im Stich lassen darf ich dich nicht.“ Er nahm die Mütze ab und setzte Grauigel hinein. Grauigel rollte sich in der Mütze zusammen und erwärmte sich allmählich. Der Mann hatte die Absicht gehabt, vor dem Schlafengehen einen Abendspaziergang zu machen. Aber nun saß plötzlich ein Igel in seiner Mütze. Deshalb kehrte der Mann nicht in seine Wohnung zurück, 70
sondern stieg weiter die Treppe hinunter, allerdings langsamer als zuvor, weil er nachdachte. Wo fühlt sich ein Igel am wohlsten? überlegte er. Im Wald! Natürlich würde es Spaß machen, ihn in unserer Wohnung zu behalten. Aber ein Igel ist ein lebendiges Wesen und kein Spielzeug! Nein, er gehört in den Wald. Doch wie soll er hingelangen? Nun verhielt es sich so, daß der Gute Mensch am nächsten Morgen eine längere Dienstreise antreten mußte – für zwei bis drei Monate. Es wäre für den Igel zu gefährlich, wenn er inzwischen in der Wohnung bleiben und dann erst in den Wald zurückkehren würde. Denn in zwei Monaten würde schon der erste Frost einsetzen, und dann würde Grauigel vielleicht keine Zeit mehr haben, sich im Wald auf den Winter einzurichten. 71
Das waren die Gedanken des Guten Menschen, während er die Treppe hinab und gemächlich durch die schon abendlich stille Straße schlenderte. Plötzlich wurden seine Schritte fester, offenbar hatte er einen Entschluß gefaßt. Er entfernte sich immer weiter von seinem Haus, und als er unterwegs eine Telefonzelle fand, warf er eine Münze ein und drehte eine Nummer. „Mama“, sagte er, „ich muß dir was sagen. Weißt du, ich hatte hier ein Erlebnis, deshalb komme ich erst spät nach Hause. Nein, mach dir keine Sorgen. Ich muß einen Freund heimbringen. Er soll allein gehen? Nein, allein findet er nicht hin. Die Geschichte ist zu lang, um sie am Telefon zu erzählen.“ Er lächelte. „Ich bin so schnell wie möglich wieder da. Gute Nacht.“ Dann ging er mit schnellen Schritten weiter. Als er den Trolleybus um die Ecke biegen sah, begann er zu laufen, denn mit ihm 72
würde er in fünfzehn Minuten am Bahnhof sein. Dort angelangt, kaufte er sich eine Fahrkarte und setzte sich in die abendlich leere Vorortbahn. Sie wurde ungehindert von lautem Geratter durchhüpft wie von einer großen Eichhörnchenschar. Aber das bemerkten weder der Gute Mensch noch Grauigel. Letzterer war in der Mütze warm geworden und eingeschlafen, und der Mensch schaute gedankenversunken aus dem dunklen Fenster wie in einen Brunnenschacht. Nach längerer Zeit stand er auf und sagte zum schlafenden Igel: „Jetzt steigen wir aus. Diese Gegend kenne ich.“ Grauigel schlief weiter. Aber dann merkte er, daß er plötzlich im Gras lag, auf trockenem Laub. Hier roch es nach Pilzen und verlockend frischem Wasser. Erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, wie durstig er war. Vor73
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sichtig rollte er sich auf – ja, der Gute Mensch stand noch bei ihm. Da kroch Grauigel still und leise unter ein Grasbüschel, wo nächtliche Dunkelheit herrschte, und trabte von dort aus flink auf die Wasserlache zu. Den Guten Menschen und die beiden bösen Ungeheuer sah er niemals wieder. Nacht für Nacht war er damit beschäftigt, sich vorsichtig auf der neuen Insel einzuleben, einzugewöhnen. Auch. ein verborgenes Plätzchen fand er, wo er sich eine Höhle bauen konnte. Und als er im Frühjahr aus dem Winterschlaf erwachte, hatte er die Stadt, die Menschen und sein Dasein auf der ersten Insel ganz und gar vergessen. Denn auf der zweiten Insel waren ihm nun der Wald und alle Igelpfade wohlvertraut, und er glaubte, daß er seit jeher hier lebte – zwischen Grasbüscheln, langbeinigen Pilze,
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bemoosten Baumstümpfen und unter dem freundlichen Blätterrauschen in der Höhe.
DER BRIEF Vom Ende des Frühlings bis zur Sommermitte waren wir nicht draußen in der Dat-. sche gewesen. Und als wir wieder hinkamen, schlugen wir die Hände über dem Kopf zusammen. Ohne unsere Pflege war alles verwildert. Über dem Erdbeerbeet wiegten sich hohe Grasrispen. Die Tomaten und Gurken waren von Unkraut überwuchert und kaum noch zu erkennen. Auch unser Haus hatte sich uns irgendwie entfremdet. Aus den Ritzen im Terrassenfußboden ragten blasse Triebe, an der Wand führte eine Ameisenstraße vom Fußboden bis zur Decke, in den leeren Zimmern gab es Mäuse. 76
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Aber die größte Überraschung erwartete uns am Briefkasten, wo sich Wespen ein Nest gebaut hatten. An der einen Seite stützte es sich gegen die Wand des Briefkastens und an der anderen gegen einen Brief, der offensichtlich schon lange auf uns wartete. Wir überlegten, was zu tun war. „Den Brief müssen wir rausnehmen“, sagte Wowka. „Wenn du das tust, zerstörst du das Nest“, widersprach Tanja. Wowka hatte recht, und Tanja hätte auch recht. Übrigens wußte ich genau, daß der Brief an mich gerichtet war. Denn Wowka und Tanja erhielten einstweilen noch keine Post. „Wenn's noch Bienen wären!“ meinte Wowka. „Aber es sind bloß Wespen. Wespen bringen den Menschen keinen Nutzen.“
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„Auf den Nutzen kommt's nicht an!“ sagte Tanja ärgerlich. „Man darf doch nicht alles zerstören, was keinen Nutzen bringt! Wer hat dir so was beigebracht?“ Wir kamen also zu keinem Entschluß. Tage und Wochen vergingen, der Brief lag nach wie vor im Briefkasten, über dem stets ein Wölkchen schwebte, bestehend aus ein und aus fliegenden Wespen. Ende Juli, verschlechterte sich das Wetter, und es regnete Tag für Tag. Sicher war unser Brief bis zum letzten Buchstaben aufgeweicht. „Der Brief gehört natürlich nicht mir“, sagte Wowka. „Aber es wäre doch schade um ihn, wenn er etwas Wichtiges enthielte. Bestimmt sind sämtliche Wörter schon zerflossen.“ Ende August verschwanden die Wespen plötzlich. Vielleicht waren sie alle gleichzeitig aufgestiegen wie eine Dampfwolke 80
aus einem Lokomotivschornstein, vielleicht waren sie auch nacheinander davongeflogen, in langer Kette, oder auf andere Art. Das weiß ich nicht, denn wir hatten es nicht gesehen. Eines Tages stellten wir nur fest, daß das Nest leer war. „Nun sind sie weg“, sagte Tanja. „Ohne sich zu verabschieden.“ Wowka rannte zum Briefkasten und holte das Nest heraus. Es ähnelte einem Knäuel aus schlechtem grauem Papier. „Mach es nicht kaputt!“ rief Tanja von der Terrasse. Wowka zuckte die Schultern. „Warum sollte ich!“ Der Brief war fast unversehrt geblieben. Gerichtet war er nicht an mich, nicht an Wowka und nicht an Tanja, sondern an uns alle zusammen. Er stammte von einem Bekannten, der uns schrieb, er sei im Frühsommer dagewesen, um uns zu besuchen, 81
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habe uns aber nicht angetroffen und habe eine Dose mit Kirschkompott unter die Treppe gestellt. Wir guckten unter die Treppe. Tatsächlich, die Dose stand noch da. Aber sie war verrostet, und das Kompott war verdorben. „Schade!“ rief Wowka enttäuscht. „Mein Lieblingskompott!“ Ehrlich gesagt, esse ich Kirschen auch am liebsten. Das ist die ganze Geschichte. Und wovon handelt sie? Von dem Streich, den uns die Wespen spielten? Oder davon, daß man wegen ein paar Wespen kein Kompott einzubüßen braucht? Oder davon, daß man wegen Kirschkompott kein Wespennest zerstören darf?
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INHALT
5 Dshulis erster Winter 51 Grauigels Abenteuer 76 Der Brief
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