114 - Papageienweg

August 27, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Nature
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Band 114 Papageienweg Rosel Klein

3. Auflage 1981 Für Leser von 8 Jahren an (Steht wirklich so im Buch drin!)

Illustrationen von Angela Brunner © Der Kinderbuchverlag Berlin

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1 Noch fünfzig Sekunden, dann wird die Uhr zwölfmal schlagen. Dann ist Mitternacht. Langsam fährt der Zeiger über das Ziffer, blaff. Langsam? Viel zu schnell fährt der Zeiger. Er -rast ja förmlich, findet Ulrike. Noch niemals in ihrem Leben hat sie gesehen, wie schnell die Zeit vergeht. Und wenn sie die Uhr einfach anhalten würde? Was wäre mit der Zeit, wenn man alle Uhren auf der ganzen Welt einfach anhalten würde? Ulrike wird die Wohnzimmeruhr keinesfalls anhalten. Kommt gar nicht in Frage. Die Uhr muß schlagen, damit Ulrike endlich

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weiß, ob die Augen stehenbleiben oder nicht. Und wenn sie sich noch so sehr vor der Entscheidung fürchtet und die Zähne aufeinanderbeißen muß, daß sie mit ihrem lauten Klappern nicht die Stille vertreiben – Ulrike muß es wissen. Ein leises Klicken – die Uhr holt aus zum Schlag. Ulrike nimmt den Spiegel in die Hand und schielt. Wennschon – dennschon, denkt, sie und schielt so sehr, daß alle Möbel im Wohnzimmer, durcheinanderfallen und daß Kopf und Augen schmerzen. Die Uhr schlägt. Eins - zwei - drei - vier - fünf - sechs - sieben acht neun - zehn - elf zwölf. Ulrike schließt die Augen. Sie hält sich den Spiegel vors Gesicht, atmet einmal ganz tief und macht die Augen vorsichtig wieder auf. Rund und braun blicken ihre Spiegelaugen und schielen kein bißchen.

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So, das wäre geschafft! Ulrike hat eine neue Wahrheit gefunden und kann beruhigt schlafen.. Ganz leise schleicht sie in ihr Zimmer. Sie stellt den Wecker auf sieben Uhr und freut. sich auf den neuen Tag.

2 In den Kronen der dicken Lindenbäume lärmen die Spatzen. Im Schatten der Bäume parken Autos. Autoreifen singen' über den Asphalt. Vor dem Tor des großen Betriebes, der DEFA heißt und Filme produziert, halten rot-gelbe Omnibusse.. Viele Menschen sind auf der Straße. Sie entsteigen den Bussen, sie kommen mit Mopeds, Motorrädern und Automobilen. Und alle gehen mit wichtigen Gesichtern durch die breite Toreinfahrt und sind auf einmal nicht mehr zu erreichen für Ulrike. 8

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Die Mutter wendet sich noch einmal um, winkt und ruft: „Tschüs, Rike, lern schön.“ Dann sieht Ulrike nur noch die Rücken der Männer und Frauen und die langen Haare der Mädchen, die auf ihren hochhackigen Schuhen wie seltene Vögel davonstolzieren in ein geheimnisvolles, schillerndes Land – das Filmland. Und jeden Morgen ist Ulrike traurig, wenn sie allein weitergehen muß, Heute ist das anders. Heute kann sie gar nicht schnell genug in die Schule kommen, um den Kindern von der Uhr und den Augen zu erzählen. „Ob ihr's glaubt oder nicht,, so eine Probe ist ganz schön aufregend“, sagt Ulrike. „Beinahe hätte ich's mich nicht getraut.“ „Vielleicht war's nur ein Zufall“, sagt Marion. „Ich meine, daß sie nicht stehengeb!ieben sind. So genau kann man so was nämlich nie wissen.“

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„Ich weiß, was ich weiß“, sagt Ulrike eingeschnappt und legt ihre Deutschhefte auf den Tisch. Fräulein Schimmelpfennig stellt viele Fragen. In jeder Stunde andere:. Ulrike findet, daß Fräulein Schimmelpfennig unglaublich neugierig ist. Neugieriger als sie selbst. Der Unterschied ist nur: Kein Mensch scheint es ihr übelzunehmen. Ulrike dagegen hat schon wer weiß wie oft hören müssen: „Sei doch nicht so schrecklich neugierig, Kind!“ Und immer hat es wie ein Vorwurf geklungen. Ganz schön ungerecht, findet Ulrike. Wirklich. Und einen Grund dafür gibt's auch nicht. Außer vielleicht, daß alle Geschichten traurig enden, in denen neugierige Königinnen in verbotene Zimmer gehen. Aber was besagt das schon? Das sind Märchen, und Ulrike lebt in der Wirklich-

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keit. Fräulein Schimmelpfennig auch. Und darum kann sie jetzt nach den Berufen der Eltern fragen. „Was arbeiten die Eltern? In welchem Betrieb? Wer von euch war schon einmal dort?“ Sie will alles ganz genau wissen. Mitunter lächelt sie ein wenig und streicht sich mit beiden Händen den Pony aus der Stirn. Dieter erzählt von den vielen interessanten Dingen, die es in einer Kraftfahrzeugwerkstatt zu sehen gibt. „Am besten“, sagt Dieter, „gefallen mir die zerbeulten Autos. Und am allerbesten, daß mein Papa sie wieder ganz machen kann. Marion schwärmt von den riesigen Gewächshäusern, in denen sie den Vater manchmal besuchen darf und die nach Sonne, Erde und Feuchtigkeit duften. Seltene Pflanzen wachsen, dort, frühes Gemüse und Rosen im Winter. Sie weiß, wie

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der Vater die Pflanzen pflegt, und sie weiß, daß sie später selbst Gärtnerin werden' wird, weil schon das Zusehen solchen Spaß macht. Und was weiß Ulrike? „In der DEFA“, sagt sie. „Was ist in der DEFA?“ fragt Fräulein Schimmelpfennig ungeduldig. „Arbeiten sie.“ „Die Eltern? „Ja“, sagt Ulrike, dann schweigt sie erst einmal. „Ja und weiter?“ fragt Fräulein Schimmelpfennig. „Weiter nichts“, sagt Ulrike. „Ich war noch nicht, dort. Weil es nämlich verboten ist. Weil nämlich ein. Scheinwerfer von irgendeiner Brücke fallen kann oder weil's plötzlich brennen kann oder weil man einen elektrischen Schlag kriegen kann. Man kann auch verlorengehen, weil der

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Betrieb so groß ist, mit vielen Häusern und Straßen und Verkehrsampeln, und das finde ich gemein.“ „Daß es Verkehrsampeln gibt?“ „Nein, daß ich nicht mit rein darf, weil ich noch zu klein bin. Nur einmal hat mich meine Mutti mit in den Schneideraum geschmuggelt.“ „Also warst du doch drin.“ „Schon. Aber es zählt nicht, weil's doch geschmuggelt war.“ „Aber die Augen, Ulrike, die hast du doch bestimmt nicht zugehabt.“ „Nein, die nicht.“ „Na siehst du“, sagt Fräulein Schimmelpfennig ermunternd. „Na ja, im Schneideraum hängen viele Bilder. Von allen Filmen, die meine Mutti geschnitten hat, hängt eins drin, weil sie doch Schnittmeisterin ist. Einen Spiegel hat sie auch. Und dann sitzt sie an einem

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riesigen Schneidetisch, der ziemlich viel Krach macht. Er geht elektrisch. Er ist wie ein Kino. Man kann richtig den Film sehen, und hören, was die Leute sagen. Musik auch. Man kann den Film hundertoder zweihundertmal sehen, wenn man will. Meine Mutti kann ihn auch ändern, wenn ihr was nicht gefällt oder wenn's zu langweilig ist. Sie kann ihn auch rückwärts laufen lassen. Das ist das beste. Da ist ein Mann von ganz weit oben ins Wasser gesprungen. Das Wasser hat gespritzt und gesprudelt. Und dann ist er aus dem Wasser wieder aufgetaucht und wieder rauf zum Sprungbrett geschwebt. Zum Beispiel, wenn einer Makkaroni ißt ...“ „Danke, Ulrike“, sagt Fräulein Schimmelpfennig und verzieht den Mund ein bißchen, „vielleicht erzählst du uns lieber noch etwas von deinem Vater.“ „Kann ich nicht sagt Ulrike.

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„Wie bitte?“ fragt Fräulein Schimmelpfennig. „Wirklich nicht“, sagt Ulrike. Am liebsten würde sie jetzt losheulen. Die Kinder lachen, als ob Ulrike einen Witz gemacht hätte. „Aber Ulrike“, sagt Fräulein Schimmelpfennig vorwurfsvoll, „du wirst doch den Beruf deines Vaters kennen. Oder? „Mein Vater ist Außen - requi - requi - re qui - si - teur.“ „Aha. Und was macht er da?“ „Er beschafft alles.“ „Was alles?“ „Na, alles eben. Alles, was es gibt: Und was es nicht gibt, das auch. Wie ein Zauberer. Aber er ist kein Zauberer fügt Ulrike noch hinzu. Auf der letzten Bank sitzt Olaf. Er kann am meisten lachen, weil er sich am besten verstecken kann. Er ruft in die Klasse: „Da

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kann er bestimmt auch Katzen mit zwei Köpfen beschaffen. Hab ich recht?“ „Olaf!“ ruft Fräulein Schimmelpfennig. Und, Ulrike sagt, angriffslustig: „Wenn er will, haben seine Katzen sogar vier Köpfe. So.“ Die Lehrerin blickt zur Uhr. „Schon gut, Ulrike. Jetzt sag uns nur noch, wozu dein Vater alles beschafft. Und was dieses ,alles' eigentlich ist?“ „Ich weiß nicht“, sagt Ulrike leise und wünscht sich ganz weit fort – aus der Klasse, aus der Schule –, irgendwohin, wo keiner sie etwas fragen kann, was sie nicht weiß. 3 Ulrike ärgert sich. Am meisten über sich selbst. Und gerade das ist der ärgste von allen Ärgern, findet Ulrike. Dann, fällt ihr ein, daß eigentlich der Vater

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an allem schuld ist. Oder die DEFA. Oder, die Bestimmungen in der DEFA, die nicht zulassen, daß ein ganz gewöhnliches Kind einfach dort herumspaziert. Ja, wenn sie ein Filmkind wäre ...! Ulrike ist kein Filmkind. Aber hätte der. Vater alle ihre, Fragen richtig beantwortet, hätte sie sich heute in der Schule nicht blamiert. Und .das muß der Vater einsehen. Hoffentlich, denkt Ulrike, versteht er's auch. Es ist nämlich ungeheuer schwierig, einem Erwachsenen etwas zu erklären, besonders, wenn's so wichtig ist. Der Vater zieht die Stirn in Falten, neigt den Kopf ein wenig und sagt nachdenklich „So ist das also – und ich soll schuld dran sein?“ Ulrike blickt den Vater an und schweigt. „Vielleicht ein bißchen“, sagt sie vorsichtig. „Weißt du, Rike, in den nächsten Wochen hab ich leider überhaupt keine Zeit. In vier

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Wochen soll schon die erste Klappe fallen. Für meinen neuen Film, verstehst du. Erster Drehtag. Die Vorbereitungszeit ist viel zu knapp, wie immer, aber wir müssen anfangen, sonst kriegen wir ihn in diesem Jahr nicht mehr in den Kasten.“ „In welchen Kasten?“ fragt Ulrike. „Wie? In die Kamera natürlich. Abgedreht.. Meine Requisitenliste reicht von hier bis nach Buxtehude: Krüge, Täßchen, Wasserpfeifen, Sitzpolster, Tische, Schmuck, Nippes, Teppiche lauter orientalischer Krimskrams. Dazu kommen noch jede Menge Tiere: Pferde, Pfauen, Kamele, Esel, Löwen. Außerdem ein Papagei, der eine richtige Rolle spielen soll.“ „Der Papagei? Geht denn das?“ „Beim Kintopp geht alles, Rike. Oberstes Gesetz. „Und Katzen mit vier Köpfen“, fragt Ulrike, „geht das auch?“

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„Kleinigkeit. Mein letzter Drache hatte sieben Köpfe, und aus jedem konnte er Feuer speien.“ „Und der Papagei?“ „Der speit kein Feuer.“ „Weiß ich doch. Ich meine, wo du ihn herkriegst?“ „Aus dem Tierpark natürlich.“ „Hm“, sagt Ulrike, „so einfach ist, das? Da gehst du einfach hin und sagst guten Tag und daß du einen Papageien willst – und schon hast du ihn, und aus.“ Der Vater lächelt. „So ungefähr“, sagt er. „Und dann?“ „Nichts und dann. Warte bis morgen. Weiter sag ich nichts. Abgemacht?“ „Abgemacht.“ 4 Als Ulrike am nächsten Tag aus der Schule kommt, merkt sie schon im Treppenhaus,

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daß irgend etwas anders ist als sonst. Seltsame Geräusche sind im Haus. Es klopft, quietscht, klappert und hämmert – erregte Männerstimmen sind zu hören und dazwischen Schreie, so laut und schrecklich, daß Ulrike vor Angst kaum atmen kann. Zwei Frauen, mit Einkaufsnetzen stehen am Treppenabsatz und flüstern. Ulrike fühlt ihre mitleidigen Blicke, im Rücken, während sie die Stufen zur Wohnung ihrer Eltern hinaufsteigt. Hinter den Milchglasscheiben der Flurtür brennt Licht. Die Geräusche werden lauter, auch die Stimmen. Und wieder hört Ulrike einen gräßlichen Schrei. Sie beißt die Zähne zusammen und drückt auf den Klingelknopf. Einen Moment lang bleibt alles still. Dann wird die Tür geöffnet von einem „Mann, den Ulrike nicht kennt. Er hat einen Hammer in der Hand. Er lacht. Wahrscheinlich über das Gesicht, das Ulrike macht. 23

„Komm doch endlich rein und mach die Tür zu, Rike“, ruft die Mutter, „sonst wird er wieder wild*.“ „Wer wird wild? Was ist denn passiert? Warum bist du denn schon zu Hause? Und warum ... ? Und wer hat so geschrien?“ Der Mann tritt zur Seite, und nun kann Ulrike alles selbst sehen: den Vater, mit dicken Lederhandschuhen an den Händen, die Mutter, die in der Wohndiele Holz-späne zusammenfegt, die beiden Männer, die ihre Werkzeuge in den vielen Taschen ihrer Overalls verstauen, den massiv gebauten Holzständer mit der kräftigen Querstange, und darauf – gelb und blau und riesengroß – den Papagei. „Arrra“, ruft der Papagei. Dann schreit er wieder, so laut' er kann, und die Mutter hält sich die Ohren zu und sagt verzweifelt: „Wer soll denn das aushalten? Sind wir hier im Urwald, oder was?“ 24

Ulrike steht und staunt und blickt auf der bunten Papagei. „Vorsicht, Ulrike! Er beißt wie Hölle und Teufel. Einen Finger beißt er glatt ab.“ „Hat er schon? Ich meine, einen Finger abgebissen?“ fragt Ulrike beeindruckt. „Bis jetzt noch nicht“, sagt die Mutter, „aber wir haben ihn ja auch erst eine Stunde, nicht wahr?“ Die beiden Männer verabschieden sich. „Also dann - und noch viel Vergnügen mit dem Tierchen.“ „Tschüs, bis später“, sagt der Vater. „Wer war'n das?“ fragt Ulrike. „Kollegen von der Bühne.“ „Vom Theater?“ „Aber nein. Baubühne. Es heißt so. Sie machen die Bauten im Atelier; wenn gedreht wird, verstehst du?“ „Natürlich.“ Ulrike geht ein wenig näher an den Vogel

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heran. „Siehst du toll aus, Papagei! Du bist ja fast so groß wie ich! Bist du auch zahm? Bleibst du für immer und immer? Sag doch mal was.“ Der Papagei glättet seine Federn. Er legt sie dicht an den Körper, so daß er ganz dünn aussieht. Mit geöffnetem Schnabel droht er gegen Ulrike; sein Körper wippt dabei nach vorn; die runden Augen blicken böse. Und wieder stößt er einen durchdringenden Schrei aus und beginnt, sich wie toll zu gebärden. Er tanzt auf seiner Stange hin und her, kreischt und schimpft und hat blitzschnell den Inhalt seiner beiden Futternäpfe auf dem Fußboden verteilt. Möhrenstücke, Nüsse, Sonnenblumenkerne – der Teppich ist damit übersät. Vielleicht frißt er lieber Menschenfleisch, denkt Ulrike schaudernd. Der Papagei legt den Kopf schräg. Der Blick seiner Knopfaugen folgt Ulrike. Ängstlich tritt sie einen Schritt zurück.

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„Er sieht wirklich aus, als ob er mich fressen will“, flüstert sie, „was hat er bloß vor? Irgend etwas will er doch!“ Er beäugt die Kette an seinem Fuß. Ein Glied nach dem anderen prüft er mit seinem dicken Schnabel. Und einen Augenblick später hat er eines der Stahlglieder aufgebogen, so leicht und mühelos, als hätte er sein Leben lang nichts anderes, getan. Der Vater, die Mutter und Ulrike, stehen stumm und sehen zu und blicken sich beklommen an. Die Kette klirrt zu Boden. „Arrra“, ruft der Papagei. Wie ein Adler sitzt er, auf seiner Stange, die bunten Flügel weit ausgebreitet. Noch einmal ruft er: „Arrra, arrra.“ Es klingt, als würde er sagen: Der Sieger bin ich hier, Leute. Steht nur und gafft – aber hütet euch. Ich bin gefährlich! „So. Und weiter?“

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„Tja, also.“ „HM.“ „Eines steht jedenfalls fest“, sagt die Mutter, „hier kann er nicht bleiben.“ „Mutti ...“, bettelt Ulrike. „Da wäre noch etwas, was feststeht“, sagt der Vater. „In vier Wochen wollen wir drehen. Bis dahin muß er zahm sein. Handzahm und friedlich, verstehst du?“ „So. Muß er das. Bist du eigentlich Außenrequisiteur oder Raubtierbändiger?“ „Es ist doch gar kein Raubtier, Mutti.“ „Das weiß ich allein. Aber es benimmt sich so. „Es ist ein Ara“, sagt der Vater, „und so heißt er auch.“ „Und was weiter?“ „Sieh mal, es kann nur besser werden mit ihm. Schlimmer bestimmt' nicht. Das ist doch logisch, verstehst du?“ „Verstehst du, verstehst du. Alles soll man

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verstehen. Du hast keine Zeit. Ich habe keine Zeit. Das versteht jeder.“ „Streitet; euch nicht“, sagt Ulrike. Sie hat das Futter zusammengenommen und sich die Lederhandschuhe angezogen. „Falls er nämlich beißen will sagt sie, „praktisch, nicht? So, Ara, nun kannst du fressen. Halt, nicht mich, das Futter meine ich. Gib den Handschuh her, na los! Vielleicht hat ihn nur die Kette geärgert? Könnte doch sein. Er schreit auch gar nicht mehr. Und dann – und dann wollte ich noch sagen, daß ich mich um ihn kümmern könnte. Ihr hättet nicht ein bißchen. Arbeit mit ihm. Ehrenwort. Nun sagt doch was. Bitte.“ „Arrra ruft der Papagei. Er reckt sich, schlägt mit den Flügeln und kreischt; die Wohnung ist erfüllt mit Urwaldgeschrei. Er schreit immer lauter, und die Nachbarn klopfen mit dem Besenstiel an die Wand; und die Mieter eine Etage höher klopfen

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auf den Fußboden; die Deckenlampe wackelt; und zu allem Überfluß klingelt's an der Flurtür.

5 Ein Mann. stürmt zur Tür herein. Auf der Nase hat er. eine Sonnenbrille, auf dem Kopf eine Ledermütze, um den Hals einen Seidenschal. Er ist klein und beleibt, dafür lebhaft und quirlig. „Hallo, Proppino“, sagt er. Guten Tag, Frau Propp. Und du bist sicherlich die Ulrike.“ „Ja.“ „Na fein. Ich heiße Adam und mache die Regie,“ „Und ich mache Kaffee“, sagt die Mutter. „Gute Idee. Das ist ja wirklich ein Prachtvogel, Proppino. Zahm ist er doch, wie? Komm mal her, Ara. Wir werden zusammen-

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arbeiten, mein Freund. Es ist ganz einfach, wenn du immer tust, was ich dir sage, wie jeder vernünftige Schauspieler.“ „Vorsicht!“ ruft Ulrike. Aber der Regisseur ist schon dicht an Ara herangetreten. Langsam, um den Vogel nicht zu erschrecken, hält er ihm den Arm vor die Brust. „Na komm, Ara“, sagt er mit ruhiger Stimme. Ara denkt nicht im Traum daran, auf den Arm zu klettern. Statt dessen kreischt er und beißt ein Loch in die Ledermütze. Kein Zureden hilft. Ara behält die Mütze als Beute. Er schwenkt sie hin und her und breitet drohend seine Flügel. „Gib die Mütze her, Ara. Meine letzte hat schon der Hund gefressen. Das war vor einer Woche. Sag mal, Proppino, wieso ist er nicht zahm? Hattest du nicht ausdrücklich darum gebeten?“ „Er ist so zahm, wie die Vögel im Tierpark eben sind, verstehst du?“ 32

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„Hm.“ Der Regisseur streicht sich den Bart. „Sieht schwierig aus, wie? Was meinst du, Proppino? „Wird alles werden. Wir haben ja noch Zeit.“ 6 Die Zeit vergeht. Man kann sie. nicht anhalten wie eine x-beliebige Uhr. Sie geht immer weiter auf ihren Zeitbeinen. Ulrike denkt: Zusammen mit der Zeit werde ich's schon hinkriegen, daß er zahm wird, der Papagei. Denn beim Kintopp geht alles. Hat der Vater gesagt. Oberstes Gesetz. Ob's woanders nicht so ist? Wer weiß. Komisch finde ich bloß, daß ich dem Vater helfe und daß es trotzdem keine Arbeit ist. Kann ja gar keine sein, weil's doch Spaß macht. Oder? Kann Spaß Arbeit sein? Und Arbeit Spaß? Weiß ich nicht. Muß ich mal fragen. 34

„Warum kommst du nicht mehr in den Hort?“ fragen die Kinder. „Verrat ich nicht. Es ist jemand zu Hause.“ „Der auf dich aufpaßt?“ „So ungefähr.“ Immer wenn Ulrike den Wohnungsschlüssel in die Flurtür steckt, stößt Ara einen wilden Schrei aus. Nur einen einzigen, dann ist er still. Für ein Weilchen jedenfalls. Das macht er seit genau fünf Tagen. „Bestimmt ist's eine Art Begrüßung. Stimmt's. Ara? Oder paßt du auf, daß keiner was stiehlt? Na ja, Hauptsache, du fühlst dich ein bißchen wohl hier. Tust du doch, ja?“ Ulrike merkt, daß Ara ihr zuhört. Er beugt sich weit nach vorn und bewegt lauschend den Kopf. Natürlich weiß Ulrike, daß er nicht verstehen kann, was sie sagt. Aber vielleicht, denkt sie, hat er Spaß an einer

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Stimme. Vielleicht braucht er einfach Unterhaltung. Schließlich ist's ein Papagei. „Morgen, wenn ich weggehe, mach ich dir das Radio an. Dann bist du nicht so alleine. Macht keinen Spaß, allein zu sein. Hab ich recht? Wenn du nicht immer so giftig wärst, könntest du auf meiner Schulter sitzen, wenn ich Schularbeiten mache. Ich hab mal einen Mann gesehen, drüben im Park, der ging mit seinem Papagei spazieren. Er war zwar nicht so groß wie du, aber immerhin war's ein richtiger Papagei. Und die Leute haben gestaunt.“ „Arrra“, ruft Ara. „Weiter kannst du wohl nichts, wie? Warum bringen sie euch im Tierpark nicht das Sprechen bei? Versteh ich nicht. Na komm. Komm doch mal her. Dann eben nicht. Lernst du's später. Ich hab mal gelesen, daß ein Dompteur feurige Augen braucht. Und mit den Augen muß er immerzu so 36

schrecklich rollen, wenn er die Tiere dressiert. Er kann sie nämlich in seinen Bann schlagen. So. stand’s da. Und es bedeutet, daß die Tiere ihm dann gehorchen müssen. Und 'ihn .nicht beißen können. Bloß wegen der Augen. Toll, was? Aber solche Augen hab ich nicht. Leider. Auch mit Futterhäppchen soll’s gehen, weil die Tiere alle so gefräßig sind. Sie laufen immer nur dem Futter nach und dem Menschen überhaupt nicht. Wer’s glaubt. Ich finde, du bist nicht sehr gefräßig, eher mäklig. Aber probieren kann man's ja mal. Wenn du mich fragst, ich esse am liebsten „Bananen. Oder harte Äpfel. Warte mal, Ara, ich hol dir was.“ Ulrike kommt mit Bananenstücken aus der Küche zurück. Sie zieht einen der dicken Lederhandschuhe an. Sicher ist sicher, denkt sie. Ara tänzelt auf seiner Stange, der große Handschuh scheint ihn zu erschrecken. Das Bananenstück fällt zu Boden. 37

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„Hm“, sagt Ulrike, „so kommen wir nie weiter. Muß, es eben ohne Handschuh gehen. Nur bitte, Ara, beiß mir keinen Finger ab. So viele hab ich nämlich nicht.“ Ulrike faßt das Bananenstück am äußersten Ende. Sie hat Angst. Sie versucht, die ruhige Stimme des Regisseurs nachzuahmen und seine vorsichtigen Bewegungen. „Na komm, Ara. Komm.“ Ara tänzelt. Mit runden Augen beäugt er den Leckerbissen. Langsam, ganz langsam kommt er näher. Und nach einer Weile nimmt er mit dem Schnabel das Bananenstück aus Ulrikes Hand. Er umfaßt es mit dem Fuß, betrachtet es noch einmal von allen Seiten – und frißt es auf. „Arrra,“, ruft er. Ulrike freut sich wie über ein gewonnenes Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Sie wagt sich noch näher an den Vogel heran. „Wie

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wär's mit einem Stück Apfel zur Abwechslung?“ Ara nimmt diesmal den Bissen, ohne zu zögern. Wieder faßt er ihn mit dem Fuß, wieder betrachtet er ihn genau, bevor er ihn frißt. Dann nickt er mit dem Kopf und blickt Ulrike an. „Genug erst mal“, sagt sie, „oder bist du etwa doch gefräßig?“ Die Flurglocke schrillt. Im gleichen Augenblick schreit Ara so laut, daß Ulrike vor Schreck zusammenzuckt. Ein eleganter Mann und ein schwarzhaariges Mädchen stehen vor der Tür. Der Mann fragt höflich, ob hier der Papagei zu besichtigen sei. „Wir sollen uns mit ihm anfreunden. Befehl vom Regisseur“, sagt; er und lächelt. „Darfst du uns einlassen?“ „Natürlich“, sagt Ulrike, „ich kenn Sie ja.“ „Da staun ich aber.“

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„Doch. Ganz bestimmt. Woher bloß? Ach, ich weiß: Sie spielen immer. die Bösen im Fernsehen und manchmal auch im Kino, stimmt’s?“ Der elegante Mann seufzt. „Schon richtig. Aber diesmal bin ich ein Guter, mein Fräulein.“ Er wendet sich an seine Begleiterin: „Siehst du, Margitta, da hörst du's. Laß dich niemals festlegen. Nicht auf Gut und nicht auf Böse. Auf gar nichts. Achte darauf, mein Engel.“ „Ja, Werner“, sagt das Mädchen sanft. Ulrike hat das Gefühl, daß, sie etwas falsch gemacht hat. Sie sagt eifrig: „Da ist er. Er heißt Ara.“ „Ara“, sagt der elegante Mann, „ein schöner Name. Ara. Ist er zahm?“ „Nur ein bißchen. Man muß sich sehr vorsichtig bewegen. Weiler nämlich leicht erschrickt, und dann beißt er.“ „Ah ja. Das ist vernünftig.“

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„Laß es mich versuchen, Werner“, sagt das Mädchen Margitta. „Ich hab doch den Wellensittich. Meinen Koko. Ich hab keine Angst.“ Ulrike muß Fräulein Margitta immerzu an,sehen. Alles an ihr gefällt Ulrike – die schwarzen langen Haare, die Schuhe, das Flickenlederröckchen, der Duft, der von ihr ausgeht. So schön, denkt Ulrike – so schön müßte man sein. Ohne zu zögern, tritt das Mädchen Margitta an Ara heran. Sie hebt den Arm, ein wenig nur- und dann, so scheint es, bricht die Hölle los. Ara, der Oberteufel, ist offenbar anderer Meinung als Ulrike. Was Margitta betrifft. Sie hat ihm nichts getan. Sie hat ihn durch keine Bewegung erschreckt – und, dennoch benimmt sich Ara, als ob er sie auf der Stelle fressen wolle. Er sträubt das Gefieder, schlagt mit den Flügeln, kreischt

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und hackte so heftig nach dem Mädchen, daß er fast die Balance verliert. Margitta flüchtet in die schützenden Arme ihres Kollegen. Und Ara? Er fliegt. Er streift mit den Schwingen an den Wänden entlang und dicht über den Köpfen hinweg. Er wird unsicher, weiß nicht, wo er sich niederlassen soll. Die Lampe! Dort wird er Halt finden. Er krallt seine Füße um das Pendel. Die Lampe schwingt hin und her, hin und her sie reißt – ein Kurzschluß pufft. Nachtschwarze Finsternis. Die Glasschalen zersplittern auf dem Fußboden. Die Glühbirnen knallen. Irgendwo zwischen den Scherben muß Ara sein. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Ulrike erwacht aus ihrer Erstarrung. Sie öffnet die Wohnzimmertür, damit Tageslicht in die Diele fallen kann.

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Das Mädchen Margitta weint fassungslos. „Nun beruhige dich doch, mein Engel. Ist ja alles halb so schlimm.“ „Ich ...“, schluchzt das Mädchen, „ich spiele diese Rolle nicht. Ich bin doch nicht lebensmüde. Das nächste Mal soll ich mich vielleicht mit einem Krokodil anfreunden! Nein, nein, nein. Ich will nicht.“ „Arrra“, sagt Ara. Er hockt inmitten der Scherben, ruhig, friedlich und unverletzt.

7 Der elegante Mann und das schwarzhaarige Mädchen sind weggegangen. Sie haben sich vielmals entschuldigt. Das Anfreunden wollten sie lieber auf morgen verschieben. Morgen ganz bestimmt, denn in vierzehn Tagen ist Drehbeginn. Ulrike hat die Scherben zur Seite geschoben und sich auf den Fußboden gesetzt.

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Sie sagt lockend: „Na komm. Na komm mal her!“ Ara hält den Kopf schräg und antwortet unerwartet in ihrem Tonfall: „Na komm. Na komm mal her.“ Ulrike rührt sich nicht. Leise spricht sie auf Ara ein. Und er lauscht auf die Stimme, die er kennt, und die Stimme scheint ihm zu gefallen. Neugierig klettert er auf Ulrikes Fuß, geht vorsichtig auf ihrem Bein entlang, hüpft auf ihr Handgelenk.. So. Da sitzt er erst mal. Und da bleibt er auch. Ulrike wundert sich. „Kannst du .mich plötzlich richtig leiden? So-mir-nichts-dir-nichtsauf-einmal? Oder weißt du, daß du von hier unten gar nicht Iosfliegen kannst? Ist ja auch egal, nicht wahr? Hauptsache, du sitzt auf meinem Arm, aber beiß mich nicht, hörst du? Ich beiß dich auch nicht.“ Ara läßt' sich von Ulrike aufheben. Er läßt sich von ihr durch die Diele. tragen, hin und

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her und rundherum. Er nickt mit dem Kopf, bewegt die Flügel, als ob er fliegen wolle. „Wahrscheinlich geht's dir zu langsam. Hab ich recht?“ Ara kreischt vor Begeisterung, als. Ulrike ihn im Laufschritt durch die Wohnung trägt. Schließlich bringt• sie ihn zurück zu seiner Stange. „Allez – hepp“, sagt Ulrike. „Na komm“, „ruft Ara. Von diesem Tage an verstehen sich Ulrike und Ara, wie Freunde sich verstehen. Und wenn Ulrike auf dem Teppich liegt, um ein bißchen fernzusehen, sitzt Ara ganz dicht an ihrer Seite. Dann schließt er die. Augen, steckt den Kopf in die Federn und hockt da. wie ein Huhn und fühlt sich wohl. Und wenn er eine Katze wäre, würde er ganz bestimmt schnurren. Und wenn Ulrike Schularbeiten macht, sitzt Ara auf ihrer Schulter. Und wenn sie nicht

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aufpaßt, hüpft er auf den Tisch, um voller Interesse an den Schulbüchern zu arbeiten. Da aber Schulbücher soviel Interesse nicht vertragen, ist das Mathebuch kurzerhand daran zugrunde gegangen. Leider. Und Ulrike seufzt und sagt: „Freundschaft verlangt eben Opfer, nicht wahr?“

8 Ara kann Margitta nicht leiden. Er kann auch Fräulein Wiebke nicht leiden. Und Ulrikes Mutter nicht besonders. Eigentlich kann er Frauen überhaupt nicht leiden. Und Männern gegenüber, ist er mißtrauisch. Bleibt nur Ulrike. Kein Wunder, daß der Regisseur Adam langsam nervös wird, daß Ulrikes Vater nervös wird, daß Fräulein Wiebke nervös wird und daß der Produktionsleiter Eggebrecht ganz besonders nervös wird. Wer

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soll sich um den Vogel kümmern, wenn gedreht wird? Auf wen hört er? Wer kann mit ihm umgehen? Nur Ulrike. „Hm“, sagt der Produktionsleiter Eggebrecht und zieht die Stirn in tiefe Falten, „Hm“, sagt der erste Aufnahmeleiter. Und der zweite Aufnahmeleiter ebenfalls. „Hm“, sagen auch der Kameramann und der Regisseur. Und Fräulein Wiebke sagt: „Ich spreche mit der Schule. Wir drehen ohnehin den Film in zweiter Schicht. Irgendwie , wird's schon gehen. Einverstanden?“ Die Männer nicken schweigend. Ganz wohl ist ihnen dabei nicht. Doch was in aller Welt sollen sie tun? Sie verlassen sich auf. Fräulein Wiebke. Fräulein Wiebke ist immer in der Nähe des Regisseurs zu finden, weil sie seine Assistentin ist. Wer Fräulein Wiebke ansieht,

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bekommt sofort ein schlechtes Gewissen. Das liegt an ihrem vorwurfsvollen Gesicht. Es sieht immer aus, als wollte sie gerade sagen: Kollege, du trinkst zu starken Kaffee, und an deiner Jacke fehlt ein Knopf. Oder: Nur ich bin fleißig. Alle anderen sind faul, trinken Bier und sollten sich schämen. Solche Sätze stehen in Fräulein Wiebkes Gesicht geschrieben. Und daher kommt es wohl, daß die Mitarbeiter des Drehstabes am liebsten einen großen Bogen um Fräulein Wiebke machen. Aber tüchtig ist sie. Soviel steht fest. Sie erreicht alles, sieht alles, nichts entgeht ihrer Wachsamkeit. Und nur, wenn Regisseur Adam einen Wutanfall bekommt, weil irgend etwas nicht klappt, rollen zwei Tränen aus Fräulein Wiebkes blauen Augen und über ihre blassen Wangen.

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„Wer soll in dem Palast dort wohnen?“ fragt Ulrike flüsternd. „Der reiche Kaufmann Machmud“, sagt Fräulein Wiebke ebenso leise. Ulrike steht im Atelier und staunt: Wüste, so weit sie blicken kann, lehmfarben, trocken und steinig. Und mitten in der Wüste steht, der Palast. Eine weiße Mauer begrenzt den blühenden Garten, der ihn umgibt. In der Mauer ist ein großes, metallenes Tor, das glänzt wie lauter Gold. Wenn das Tor geöffnet wird, kann Ulrike in den Garten sehen: In kupfernen Gefäßen wachsen Palmen und bunte Blumen; und in der Mitte steht ein riesiges Becken aus blauschimmerndem Mosaik, bis zum, Rand mit klarem Wasser gefüllt. Teppiche und flache Sitzpolster liegen in seiner Nähe. „Dem reichen Kaufmann Machmud gehört das ganze Wasser, und er verkauft es nur

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für sehr viel Geld“, sagt Fräulein Wiebke. „Er ist geizig und böse. Aber dort drüben, die kleine Hütte, die gehört dem armen Hassan. Du kannst' ruhig hineingehen, aber fasse nichts an. Die Bambusstange in der Hütte ist für Ara. Setz ihn auf die. Stange und sieh zu, daß er dort bleibt, bis er gebraucht wird. Das ist etwa in zwanzig Minuten. Wirst du das schaffen?“ „Natürlich.“ Ulrike findet, daß alles hier ganz ungeheuer echt und wirklich aussieht und gar nicht so, wie sie sich eine Filmdekoration vorgestellt hat. Alles wackelt und' ist aus Pappe, hat Ulrike gedacht. Und nun wackelt nichts, und sogar die Steine auf dem Boden sind echt. Irgendwoher von der Ostsee sind sie, und mein Vater hat sie besorgt, denkt Ulrike voller Stolz. Nur nach oben, wo Himmel und Sonne sein

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sollten, darf man nicht blicken; denn statt der Sonne scheinen Scheinwerferaugen auf die Wüste hinab. Ein Hupsignal brummt durchs Atelier. Über den Eingangstüren leuchten die roten Warnlampen auf. „Ruhe! Es ist abgeläutet“, ruft der Aufnahmeleiter ungeduldig. Das Schwatzen, Laufen, Hämmern hört auf: Der Oberbeleuchter hebt den Arm die Scheinwerfer gehen an. Der Kameramann verschwindet unter einem schwarzen Tuch. Der Mikroassistent pustet ins Mikrophon, hält es an einer langen Stange über die Szene. „Ton ab“, sagt der Regisseur in die Stille. Und eine Lautsprecherstimme antwortet: „Läuft.“ „Kamera ab.“ „Läuft.“ „Klappe.“

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Ein Bühnenarbeiter tritt mit einer schwarzen Tafel vor die Kamera, sagt: „Hassan, einhundertzwanzig, das erstemal.“ Er schlägt die Klappe zusammen, daß es knallt, dann tritt er leise zurück. Und der Regisseur sagt auffordernd zu Werner und Margitta, die im Film Hassan und Fatima heißen: „Bitte!“ Er verfolgt aufmerksam das Spiel der beiden Schauspieler. „Danke. Aus. Das kriegen wir besser. Margitta, sprich leiser, geheimnisvoller. Halte den Schleier mit der rechten Hand. Und du, Werner, kannst nach ihrem ersten Satz ein wenig lächeln, nicht zuviel, nur mit den Augen, verstehst du? Wir drehen gleich noch mal. Kamera?“ „Läuft.“ „Ton?« „Läuft.“ „Klappe!“

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„Hassan, einhundertzwanzig, das zweitemal.“ „Bitte!“ Beim sechstenmal endlich sagt der Regisseur Adam: „Aus. Gestorben. Habt ihr fein gemacht. Die zweite und sechste werden kopiert. Umbau. Wiebke, was kommt jetzt?“ „Einstellung fünfundachtzig, Garten Machmud. Wir brauchen den Papageien. Margitta, Sie können zum Abschminken in die Maske. Und schlafen Sie heute nacht auf dem Rücken. Sie neigen zu Schlaffalten. Bis morgen dann.“ „Dumme Kuh“, sagt die schöne Fatima leise im Hinausgehen. „Kamerastandpunkt im Garten, links vom Tor.“ „Beeilt euch mit dem Licht, Herrschaften. Bis zur Pause müssen wir noch drei Einstellungen reinkriegen!“ „Requisite! Sind die Pfauen da?“

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„Sind.“ „Aufnahmeleitung! Habt ihr Drygalla aus seiner Garderobe geholt?“ Ein dicker Mann in prächtigen Gewändern und einem Turban auf dem Kopf sagt: „Schon da. Einen herrlichen guten Tag allerseits. Das ist meine Frau. Stört doch wohl nicht, wie? Ich kann nur spielen, wenn sie dabei ist. So ist das.“ Fräulein Wiebke, lächelt. „Geht in Ordnung, Herr Drygalla.“ „Danke, Wiebke, haben Sie meinen Text?“ „Aber Herr Drygalla! Sie brauchen nur zu sagen: Scher dich weg.“ „Richtig. Ja. Scher dich weg. Scher dich weg! Schätzchen, geben Sie mir einen Schluck Kaffee. Scher dich weg! Scher dich weg! Doch. Ja. Aus dem Text kann man was machen.“ „Wo ist denn der Hassan wieder, verflucht noch mal!“ ruft der Regisseur. „Weckt ihn

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doch endlich auf. Liegt einfach auf dem Boden und pennt!“ „Er ist völlig erschöpft, Kollege Adam. Er hat jeden Abend Vorstellung bis um elf, und immer die Hauptrolle. Es ist zuviel für ihn.“ „Vorträge kann ich mir alleine halten. Besorgt ihm gefälligst einen Schlafsack. Ruhe jetzt. Ruhe für eine Probe! Hassan, Machmud, Ulrike und Papagei in die Dekoration! Kommt, Freunde, bewegt euch!“ Ulrike ist ungeheuer aufgeregt. Sie gibt sich die größte Mühe, zu begreifen, was der Regisseur ihr erklärt, doch vergebens. Sie hat das Gefühl, ihr Kopf ist verschlossen, vernagelt, verstopft von tausend Stimmen und Geräuschen. Und dann die vielen Leute im Atelier! Und alle wimmeln durcheinander und sprechen diese seltsame Sprache. Ich glaube, ich versteh nicht mehr Deutsch, denkt Ulrike. Da soll

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die „Maske“ kommen und der „Deko“, die „Garderobe“, die „Bühne“ und der „Mikro“. Jemand will immerzu irgendeine „Meterzahl“ wissen, und wenn der Kameramann sagt: „Kamera legt ein“, murren alle. Mindestens fünfzig Menschen sitzen, stehen, laufen herum, rücken die Kamera hin und her, machen Licht an oder aus, drücken auf Stoppuhren, vollführen schrecklichen Lärm, reden, streiten, lachen und sind dann plötzlich wieder ganz leise – und Ulrike denkt verwirrt: Wieso soll das, denn Arbeit sein? Also hör noch einmal genau zu, Ulrike“, sagt der Regisseur. „In dieser Szene geschieht folgendes: Der Papagei kommt aus Richtung der Hütte. Er fliegt über das Tor. Dann landet er auf dem Rand des Wasserbeckens, und zwar an dieser Stelle hier. Er läuft ein wenig hin und her und trinkt dann von dem Wasser. Durch das

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Gitter im Tor blickt Hassan in den Garten hinein. Er hat großen Durst und beneidet seinen Freund. Dann muß der Papagei sagen: ‚Wasser, Hassan! Wasser!’ Da er das nicht- selbst kann, wird seine Stimme später auf den Film gesprochen. Von einem Bauchredner wahrscheinlich Müssen wir ausprobieren. Weiter: Der geizige Kaufmann, in seinem Haus, hört den Papagei. Er kommt wütend heraus, droht dem Vogel und ruft: ‚Scher dich weg!’ Das ist alles, und es dauert nicht länger als eine Minute. Hast du das verstanden?“ „Ja“, sagt Ulrike kleinlaut. „Aber wie soll ich denn das machen?“ „Ganz einfach: Fräulein Wiebke verscheucht Ara; von seiner Stange. Du stehst am Wasserbecken und rufst ihn. Wenn er kommt und die Kamera nach unten schwenkt, duckst du dich schnell hinter das Becken, so daß dich keiner sieht. Klar?“ 61

Ulrike nickt und beißt die Zähne zusammen, denn sie hat Angst. Angst um Ara, Angst, daß sie etwas falsch macht, Angst vor den vielen Augen, die sie anblicken. Sie geht hinter das Wasserbecken. Ein. Mann von der Bühne zeichnet ein Kreidekreuz auf den Fußboden. An dieser Stelle muß Ulrike stehen. Die Probe beginnt. Fräulein Wiebke sagt vorwurfsvoll: „Ausgerechnet ich soll immer der Buh-Mann sein. Na, is' doch wahr.“ Sie blickt noch einmal grimmig in die Runde, dann geht sie dicht an Ara heran, bewegt beide Arme schnell auf und nieder und macht: „Ksch-ksch, ksch-ksch!“ Ara scheint sich über dieses seltsame Gebaren zu wundern. Er senkt lauschend den Kopf, breitet seine Flügel aus – aber er fliegt nicht. „Ksch-ksch!“ machen nun auch die Umstehenden, einer nach dem anderen.

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„Ksch-ksch!“ Und alle beginnen mit den Armen zu wedeln, so, als ob sie in einen riesigen Mückenschwarm geraten seien. Ara wird böse. Er hackt wütend nach allen Seiten. Er schreit und kreischt, und schließlich fliegt er auf. „Ara, komm her!“ ruft Ulrike. „Komm her, Ara. Komm!“ Ara fliegt über' das glänzende Tor in den Garten. Er landet nicht bei Ulrike. Er kreist über dem Wasserbecken, Runde um Runde. Ulrike ruft. Ara schreit. Und dann fliegt er aus dem Lichtkreis der Scheinwerfer hinaus. Keiner kann ihn mehr sehen, nur seinen Flügelschlag kann jeder hören. Im, Atelier ist es still. „Bleibt alle auf eurem Platz“, sagt der Regisseur. „Macht das Arbeitslicht an und die Scheinwerfer aus, aber nicht. alle zugleich. Paßt auf, daß keiner die Türen öffnet.“

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„Ara, Ara!“ ruft Ulrike angstvoll. Nach einer Zeit, die ihr so lang erscheint wie eine Ewigkeit, kehrt Ara von seinem Wüstenflug zurück. Er. zieht noch einen Kreis über dem Wasserbecken, dann gleitet er herab und landet sicher auf Ulrikes' ausgestrecktem Arm. Doch ehe sie Zeit findet, sich, richtig zu freuen, werden die Scheinwerfer schon wieder angemacht für einen neuen Versuch. Wieder fliegt Ara durch die Wüste. Diesmal landet er hinter den Wanden des künstlichen Horizontes, zwischen dicken Kabelschlangen, und Ulrike muß ihn suchen. Sie muß ihn trösten und ihm gut zureden, denn er ist ganz verängstigt. Ein Versuch nach dem anderen mißlingt. Es ist zum Verzweifeln. Zwar landet Ara mehrmals auf dem Wasserbecken, doch er trinkt nicht, und er bewegt auch den Schnabel nicht.

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„Warum muß er denn unbedingt den Schnabel bewegen? Versteh ich nicht.“ „Er wird doch später sprechen, nicht wahr? Wir können ihn aber nur synchronisieren, wenn er den Schnabel auf und zu macht.“ Ulrike denkt angestrengt nach, Sie sagt: „Man muß Sonnenblumenkerne auf den Beckenrand legen! Er findet sie ganz bestimmt. Er hat ziemlich lange damit zu tun. Es sieht genau so aus, als ob er spricht. Und er ist auch ganz gierig nach Salz. Vielleicht trinkt er, wenn er Salz gefressen hat?“ „Du bist ein Goldkind, Ulrike“, sagt der Regisseur. „Im Atelier gibt's für jede gute Idee einen Groschen; und der erste Groschen in diesem Film, der ist für dich.“ Der Aufnahmeleiter holt Salz aus der Kantine. Ulrike holt Sonnenblumenkerne aus ihrer Garderobe. Als endlich alles so klappt, wie es im Dreh-

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buch steht, und Regisseur Adam sagen kann: „Aus. Gestorben. Das war ganz große Klasse!“ – ist Ulrike sehr glücklich, aber so“ müde wie nach fünf Stunden Schule. „Später, im Kino“, sagt Fräulein Wiebke, „ist das alles in fünfzig Sekunden vorbei.“ „Ganz schön viel Arbeit“, sagt Ulrike nachdenklich. Ein Hupton brummt durchs Atelier. „Pause!“

9 Jeden Morgen geht Ulrike zur Schule. „Macht's Spaß?“ fragen die Kinder. „Großen Spaß“, sagt Ulrike. „Aber wir hängen drei Tage.“ „Woran hängt ihr denn?“ fragen die Kinder verwundert. „Na, weil doch alles nicht so schnell geht.

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Da sind wir eben drei Tage zurück. Im Plan. Versteht ihr?“ „Ich finde, du gibst ganz schön an“, sagt Marion. „Geb ich überhaupt nicht. Du spinnst ja!“ „Vielleicht spinnst du auch und merkst es gar nicht.“ „Dumme Kuh“, sagt Ulrike voller Überzeugung. „Sieh mal an. So was Feines lernst du wohl auch beim Film?“ „Ja, lern ich auch. Und noch viel mehr. Damit du's weißt.“ „Na, dann muß es ja Spaß machen“, sagt Marion, giftig. Macht's auch, bäh!“ Jeden Mittag fährt Ulrike in die DEFA. Pünktlich um zwölf Uhr hupt ein großer heller Wolga vor der Haustur und holt Ara und Ulrike ab. Ulrike nimmt Ara das Tuch ab, das sie ihm

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im Freien umbindet, damit er nicht davonfliegt. Und wenn Ara an seinem Lieblingsplatz sitzt, auf der Lehne dicht am Fenster, geht die Fahrt los. Und immer wenn der Fahrer an einer Straßenkreuzung halten muß und Fußgänger dicht am Auto vorüberkommen, bleiben ein paar von ihnen stehen, deuten mit den Fingern auf Ara und sagen: „Sieh mal! Sieh doch mal! Ein Papagei fährt Auto!“ Dann winken sie und lachen. Und Ulrike winkt zurück und freut sich und „fühlt sich“, und Ara kreischt vor Vergnügen. Die Aufgaben für Ara und Ulrike sind in den letzten Wochen immer schwieriger geworden. Warum? Der Autor hat sich die Geschichte nun mal so ausgedacht, und so wird sie auch gemacht. Schwierig hin, schwierig her – beim Film geht alles. Man könnte natürlich auch sagen: Mit Nachdenken geht

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alles. Oder: Man muß sich eben etwas einfallen lassen. Es ist kein großer Unterschied. Welchen Trick könnte man sich zum Beispiel einfallen lassen, damit Ara den geizigen Kaufmann Machmud angreift? Damit er auf ihn zufliegt und so wild mit den Flügeln schlägt, daß der geizige Kaufmann vor lauter Angst zurückweichen muß? Wie könnte man zum Beispiel Ara dazu bringen, ganz allein in den Gerichtssaal zu fliegen, um mit dem Kadi zu „sprechen“? Und was könnte man sich einfallen lassen, damit Ara in letzter Sekunde einem großen schwarzen Hund entkommen kann, der ihn fressen will? Oder daß er Hassan, seinem Herrn, den Weg zeigt, indem er vor ihm herfliegt, aber immer wieder zu ihm zurückkehrt? Schwierig, schwierig. Aber Ara kann all das und noch viel mehr.

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Mit Ulrikes Einfüllen, versteht sich. Und mit den Einfällen des Regisseurs und Fräulein Wiebkes. Manchmal hat auch Herr Drygalla eine Idee, oder der weißhaarige Oberbeleuchter, oder der Architekt, oder „der Mann mit der Klappe“. Ulrike hat schon ein ganzes Säckchen mit Ideengroschen. Nicht weil sie klüger ist als die anderen, sondern weil sie Ara am besten kennt. Darum. Von seinen Flügen durch das Atelier, das man die „große Mittelhalle nennt, kommt Ara immer wieder zu Ulrike zurück. Sie füttert ihn, sie spricht mit ihm, krault ihm den Nacken; und abends, zu Hause, duscht sie ihn mit warmem Wasser. Dafür ist Ara anhänglich und zärtlich. Und wenn jemand zu dicht an Ulrike herankommt, spreizt er seine Flügel und öffnet drohend den Schnabel. Es sieht so aus, als würde er Ulrike bewachen.

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„Was soll werden, Ara, wenn wir hier fertig sind, du und ich? Ich geb dich nicht mehr her. Die haben im Tierpark so viele Papageien! Findest du auch, wie? Ich muß mit dem Vater sprechen. Ich seh ihn fast überhaupt nicht mehr. Nie ist er im Atelier. Immer irgendwo draußen. Warum kann so ein Film nicht, doppelt so lang sein? Siehst du, weißt du wieder nicht. Dreh nicht den Kopf auf den Rücken wie eine Eule. Gib mir lieber einen Rat. Papageie sollen doch so weise sein. Bist du auch nicht. Na. ja. Weißt du, ich kenne, schon so viele Leute hier. Und wenn ich mit Fräulein Wiebke durchs Gelände gehe, in die Kantine zum Beispiel, treff ich immer jemanden. Dann sag ich: ‚Bis nachher’ oder ‚Wie geht’s?’ Und der Jemand nickt dann und sagt es auch, und dann ...“ Ulrike überlegt. „Was ist eigentlich so Besonderes daran, wenn Leute sagen: Wie

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geht's oder so was? Hab ich doch schon hundertmal gesagt. War weiter nichts. Eines weiß ich aber: noch nie hat's mir solchen Spaß gemacht. Verstehst du das, Ara? Ach was. Versteh ich selber nicht.“

10 Noch fünf Minuten, dann wird die Uhr. zwölfmal schlagen. Dann ist Mittag. Langsam fährt der Zeiger über das Zifferblatt. Um zwölf, Uhr wird der Wolga vor der Haustür hupen, und Ulrike wird zu, dem Fahrer sagen: Wie geht's? Um zwölf Uhr wird sie mit Ara zum Atelier fahren. Um zwölf Uhr werden die. Scheinwerfer eingeschaltet. Um zwölf Uhr beginnt der Drehtag. Und wenn er zu Ende ist, wird es heißen: abgedreht. 75

„Abgedreht“, sagt Fräulein Wiebke. „Die Endfertigung wird drei Monate dauern. In drei Monaten kannst du den Film fix und fertig sehen. Mit Musik und allem. Wir laden dich dazu ein. Mach doch nicht so’n Gesicht, Ulrike.“ „Ich mach gar kein Gesicht. Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen, Ulrike.“ „Abgedreht“, sagt der Vater am Abend.“ In vier Wochen fängt mein neuer Film an. Die Vorbereitungszeit ist viel zu kurz, wie immer, aber S“ „Kann ich ihn behalten?“ sagt Ulrike leise. „Bitte, Papa.“ „Sieh mal, Rike ...“ „Ich weiß schon, es geht nicht. Warum?“ „Es geht wirklich nicht. Ara gehört dem Tierpark. Er ist nur ausgeliehen. Ich muß ihn zurückbringen. Im nächsten Monat läuft der Vertrag mit dem Tierpark ab. Es

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hilft alles nichts. Was soll ich dir noch sagen, Rike? Du weißt doch alles selbst. Versteh es doch bitte und hör. auf zu weinen, hm?“ „Ich weine ja gar nicht“, sagt Ulrike und holt sich das größte Taschentuch, das sie in der Schublade finden kann. Und was nun? Kein Atelier mehr. Keine Scheinwerfer. Kein Wie geht's? Kein Auto. Kein Fräulein Wiebke. Keine Ideengroschen. Nichts. Weniger als nichts, denkt Ulrike trübsinnig. Gar nichts. Überhaupt nichts. Ein leeres Loch. Ein schwarzes, kaltes, tiefes, leeres Loch. Und die Kinder aus der Klasse stehen um das Loch herum und lächeln so seltsam und denken, ich bin eingebildet. Wer soll das aushalten? Am besten, Ara, wir gehen irgendwohin in die Welt. Mit 'nem Leierkasten rumziehen vielleicht. Oder im Zirkus auftreten. Sowieso haben schon

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alle gesagt, daß wir das bald könnten. Wie findest du das? Auch bloß Quatsch, wie? Sie würden uns mit Polizeihunden suche?, weil. ich minderjährig bin. Und nur wenn's regnen würde, könnten sie uns nicht finden. Na ja, es regnet ja sowieso nicht. Weißt du was? Ich werde krank. Gleich morgen. Bauchschmerzen oder Ohrenschmerzen oder Kopfschmerzen. Oder wir haben einen Wasserrohrbruch, und der Klempner kommt. Fräulein Schimmelpfennig ist auch schon mal zu Hause geblieben, weil der Klempner kommen sollte. Er kam dann aber doch nicht. Und morgen soll ich erzählen. Wie's so war und so. Aber ich hab Angst. Was soll man da auch erzählen? Na komm“, sagt Ara. „Na komm mal her.“ „Also gut. Bin ich eben morgen noch nicht krank“, sagt Ulrike. „Bleibt mir ja immer

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noch. Aber du kommst mit. Sollen sie wenigstens über dich staunen.“ Und das tun sie auch; die Kinder alle und Fräulein Schimmelpfennig. „Aus Südamerika kommt er“, sagt Ulrike. „Ungefähr zwanzig Jahre soll er alt sein.“ „Und er hat dich nie gebissen?“ fragt Marion. „Nein. Du kannst ihn ruhig anfassen, wenn du willst. Kindern tut er nichts.“ „Bestimmt nicht?“ „Wenn ich's dir doch sage.“ „Ich glaube, ich habe trotzdem Angst“, sagt Marion. „Aber heute nachmittag komm ich zu dir. Du hast ja jetzt wieder Zeit. Und dann probier ich's mal, ja?“ „Ja“, sagt Ulrike. Fräulein Schimmelpfennig stellt viele Fragen. So viele, daß Ulrike die ganze lange Deutschstunde braucht, um darauf zu antworten. Und die große Pause noch dazu.

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„An die letzte Klappe waren Blumen gebunden. Und der Klappenmann hat toi, toi, toi gesagt ... Und als abgeläutet wurde, waren alle gleich ganz leise. Und Fräulein Wiebke hat einen Schnaps getrunken. Und Ara hat gekreischt. Und Herr Adam hat gesagt, wenn man jetzt noch mal von vorne anfangen könnte, dann würde es ein richtig guter Film. Und der Tonmeister hat Schlagermusik ins Atelier gespielt. Und als ich dazu gepfiffen habe – einfach bloß so, und Ara auch –, sind alle über mich hergefallen und haben geschimpft und gesagt, daß man im Atelier nicht pfeifen darf. Weil der Film dann ausgepfiffen werden könnte, vom Publikum. Abergläubisch sind sie fast gar nicht mehr, haben sie gesagt. Nur noch ein ganz kleines bißchen. Und wenn ich groß bin und mir einen Beruf aussuchen kann, dannS“

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„Dann?“ fragt Fräulein Schimmelpfennig, weil Ulrike nicht weiterspricht. „Dann gehe ich in den Tierpark. Papageie sollen nämlich über hundert Jahre alt werden.“ Vier Wochen noch darf Ara bei Ulrike blei-ben. Dann muß er in den Tierpark zurück. Aber es bleibt Ulrikes Ara. Sie darf ihn immer besuchen. Im Winter ist er mit vielen Papageien zusammen im Vogelhaus. Im Sommer sitzt er auf einer Stange am Papageienweg. Und manchmal sehen die Besucher ein Mädchen, das dicht „an den großen bunten Vogel herantritt und ihn von der Kette löst. Und sie sehen, wie der Vogel frei umher-fliegt und nach einer Weile sicher auf dem Arm des Mädchens landet. Und jedesmal machen die Besucher des Tierparks Augen, so groß wie Teetassen, und wundern sich. 83

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