107 - Folgen Sie Mir Unauffällig
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Band 107 Folgen Sie mir unauffällig oder Streit um Struwwelpeter
Heide Wendland / Gottfried Herold Für Leser von 9 Jahren an 1. Auflage 1974 Illustrationen von Gisela Neumann © Der Kinderbuchverlag Berlin Inhalt: unpolitisch, so um 1855 – eine kleine Erzählung um das unerlaubte Nachdrucken des „Struwwelpeters“ von Dr. Heinrich Hoffmann
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I Der Zug steht am Bahnsteig unter dem hohen hölzernen Hallendach. Die Lokomotive hat eine große Glocke neben der langen Esse und rote Räder. Zehn Stück. Den grünlackierten dicken Dampfkessel umspannen blankgeputzte Messingringe. Aus der Esse puffen schon kleine Rauchwolken und steigen träge in den hellen Morgenhimmel. Den Zug entlang gehen zwei Männer. An der Wagentür mit der Nummer acht bleiben sie stehen. Der eine, groß und schlank, schaut offenbar vergeblich durch die Wagenfenster in das Abteil hinein. Ärgerlich dreht er sich um. Der andere, klein und stämmig, setzt seine Reisetasche ab, stützt sich mit beiden Händen auf seinen hohen Stockschirm und blickt abwartend den Bahnsteig hinab. Doch den großen Schlan5
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ken beeindruckt die Ruhe seines Gefährten keineswegs. Er verzieht das Gesicht, als habe er auf ein Pfefferkorn gebissen. Aufgeregt zieht er eine goldene Taschenuhr. Aus der hohen Esse der Lokomotive quillt der Rauch dichter, drängender. Wolken weißen Dampfes zischen aus dem kochtopfgroßen Ventil. Der Lokomotivführer sieht noch einmal nach, ob die Bremse gut geölt ist und ob jeder Wagen fest an den vorderen angehängt ist, damit er nicht in der Bahnhofshalle stehenbleibt, wenn der Zug davonrattert. „Nicht soviel Kohle unter den Kessel!“ ruft der Mann dem Heizer laut und gewichtig zu, daß es die Umstehenden gut hören können. Denn wenn die Eisenbahn auch schon zwanzig Jahre alt ist, die Strecke von Frankfurt am Main nach Mainz ist noch sehr neu. Jeden Morgen, wenn der Zug in Frankfurt abfährt, drängen sich dreimal soviel Neugierige 7
auf der Straße neben den Gleisen, als Reisende in den gelben Wagen des Zuges sitzen. Jetzt steigt der Lokomotivführer beinahe feierlich auf die Dampfmaschine. Der Herr Eisenbahndirektor tritt genau zwei Schritte vor. In seiner blauen Uniform mit den goldglänzenden Knöpfen und Schnüren ist er eine respekteinflößende Erscheinung. Gerade will er langsam und gebieterisch die Hand heben, da läuft plötzlich ein kleiner stämmiger Mann auf ihn zu, den hohen Stockschirm energisch unter den Arm geklemmt. Ein Weilchen hört sich der Herr Eisenbahndirektor an, was ihm der Mann zu sagen hat. Dann rückt er abweisend seine goldbetreßte Mütze zurecht, die ohnehin auf den Millimeter genau auf seinem Kopf sitzt. Doch der Kleine redet und redet unbeirrt weiter. Sein Freund an der Wagentür mit der Nummer acht läßt 8
indessen keinen Augenblick den Eingang zu der hohen hölzernen Bahnhofshalle unbeachtet. So vergehen fünf Minuten. So vergehen zehn Minuten! Beunruhigt streckt schon der eine und der andere der Reisenden den Kopf aus dem Fenster. Was ist geschehen? Weshalb gibt der Herr Eisenbahndirektor nicht das Zeichen zur Abfahrt? Er war doch bisher ob seiner Pünktlichkeit berühmt. Und im zweiten Wagen sitzt der Herr Bürgermeister mit seiner Frau! Da kommt aus dem Bahnhofsgebäude ein Mann mit einer Arzttasche auf den Bahnsteig gerannt. An ihm ist nichts Besonderes. Nur das blasse Gesicht unter dem grauen Reisezylinder scheint vom schnellen Laufen leicht gerötet. Der Herr Eisenbahndirektor ruft dem Manne erleichtert, aber nicht ohne Groll etwas zu. Die beiden ungleichen Gefährten von Abteil Nummer 9
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acht helfen ihm in den Wagen. Die Glocke auf der Lokomotive bimmelt: Achtung! Achtung! Der Zug fährt ab! Der Dampf aus dem Kessel jagt den Kolben im Zylinder der Maschine hin und her. Die Pleuelstange bringt die Räder in Bewegung. Der Zug ruckt ein paarmal, daß die Reisenden fast von den Bänken fallen. Vier Meilen in der Stunde fährt so eine Dampfbahn! Und im Pfälzischen haben sie eine Lokomotive gebaut, die fährt so schnell, daß der Lokomotivführer während der Fahrt keinen Zylinder tragen kann! Wäre es da verwunderlich, wenn womöglich einmal die Lokomotive explodiert oder die ganze Wagenreihe aus den Schienen kippt und einen Berg hinunterpoltert? Aber der Zug aus Frankfurt am Main kommt wie jeden Tag am Ende seiner Fahrt in Mainz an. Als er in den Bahnhof einfährt, 11
bimmelt die Glocke auf der Lokomotive: Achtung! Achtung! Treten Sie zur Seite! Jagen Sie die Hühner von den Schienen! Der Lokomotivführer drückt das Dampfventil zu. Er zieht den großen Bremshebel langsam nach hinten, bis sich die Räder nicht mehr bewegen. Die Reisenden sind froh, die abenteuerliche Fahrt gut überstanden zu haben. Steifbeinig und ausgiebig durchgerüttelt, klettern sie aus den Wagen. Auf der staubigen Straße neben dem eingezäunten Bahnsteig stehen fein herausgeputzte Damen in weiten knöchellangen Kleidern, Seidenhauben auf den Lockenfrisuren. Männer in knielangen Paletots schwenken grüßend ihre Zylinder. Bauersfrauen, schwere Kiepen auf dem gebeugten Rücken, bleiben verschnaufend ein wenig stehen. Kinder drucken ihre Gesichter neugierig zwischen die Zaunlatten. 12
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„Hierher, Männe! Hierher!“ schreit ein mageres Bürschlein, das um und um in eine viel zu große schneeweiße Schürze geschnürt ist. Räder rumpeln heran, ein Ziegenbock meckert. Männe, der eigentlich Hermann heißt, Hermann Stritzler, tritt schnaufend zu dem Weißbeschürzten. Er zerrt sich die wadenlange Lederhose hoch, weil sie ihm beim schnellen Laufen gerutscht ist. Dann packt er seinen schwarzen Ziegenbock, der vor einen kleinen Leiterwagen gespannt ist, am ledernen Kumt. „Määh!" schimpft der Ziegenbock und will sich von der Jungenhand befreien. Männe greift in die Latztasche seiner blauen Leinenschürze. Eine Handvoll getrocknete Kohlrübenschnitzel zaubert er hervor, und der Ziegenbock ist zufrieden. Hingerissen blicken die beiden Jungen zu dem Dampfzug hinüber. „Wenn man wenigstens zur Probe in einen 14
der Wagen klettern könnte“, schwärmt Männe. Franz, sein Freund, hat die Hände unter der weißen Schürze in die Hosentaschen geschoben. „Dann schon lieber auf die Lokomotive!“ sagt er entschieden. Doch plötzlich guckt er überrascht zum Bahnhofsausgang. „Das ist doch ... Das ist doch der Doktor Hoffmann! Dort drüben. Der mit dem bleichen Gesicht und den langen dunklen Haaren. Zwischen so einem langen Dünnen und einem kleinen Stämmigen geht er!“ Tatsächlich, jetzt hat Männe die drei Männer auch entdeckt. „He! Hallo!“ schreit er und fuchtelt mit den Armen; denn er hofft, daß der Doktor seinen Sohn Karl mit nach Mainz gebracht hat wie jedesmal in den Sommerferien. Der Ziegenbock springt erschrocken hoch und mitsamt dem Leiterwagen davon, der mit drei Packen frisch
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gebügelter Wäsche und Franzens Semmelkorb beladen ist. Männe muß sein Gefährt erst wieder einfangen. „Bloß gut, daß der Wäsche nichts passiert ist“, sagt er kleinlaut. „Ausgerechnet von Mutters bester Kundschaft. Mein Fuhrlohn wäre glatt hingewesen.“ „Was denn, und die Wecken in meinem Korb fürs Gericht? Weißt du, was geschehen wäre, wenn die jetzt auf der Straße lägen?“ Richtig wütend ist Franz. Beinahe ein ganzes Jahr schon arbeitet er beim Conditor in der Scheffelgasse. Zwei Jahre ist abgesprochen. Jeden Tag vier Stunden ohne Lohn. Dafür kann er dann beim Meister ohne Lehrgeld Zuckerbäcker lernen, wenn er aus der Schule kommt. „Und so etwas nennt sich nun Fuhrgesell“, schimpft Semmelfranz. Im gleichen Augenblick kommt Doktor Hoffmann mit seinen beiden Begleitern an den Jungen vorüber. Die
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verbeugen sich schnell und grüßen. Aber der Doktor sieht sie gar nicht, so sehr ist er in sein Gespräch mit den Männern vertieft. Und sein Sohn, der Karl, ist auch nicht mitgekommen. „Also dann zieh ich mal los mit meiner Wäsche.“ Semmelfranz nickt. Er hebt sich seinen Korb von Männes Wagen. „Bis dann am Marktplatz!“ Sehnsüchtig blicken die Jungen noch einmal zum Bahnhof zurück, bevor sie eilig, jeder in einer anderen Richtung, davongehen. II Das Gerichtsgebäude ist mindestens hundert Jahre alt. Die Sonne vermag nicht, es schöner zu machen. Da sind keine Blumen hinter den Fenstern und keine
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Gardinen. Grau und düster hockt es neben anderen vor dem prächtigen Dom, dessen Schatten am Vormittag den halben Marktplatz bedeckt. Auf der Sonnenseite haben Bauersfrauen Körbe mit Gemüse und Obst zum Verkauf aufgestellt. Über den Rand ihrer Kiepen hängt frisch geschlachtetes Geflügel. Im Schatten der Schiebekarren stehen flache Weidenschwingen voller Eier. Hinter einer Pferdekutsche her, die gemächlich über das Kopfsteinpflaster rumpelt, zerrt Männe seinen Ziegenbock zum Marktbrunnen hinüber. „Nun komm schon, Schwarzer! Gleich gibt’s was zu saufen!“ Die Wäsche ist ausgetragen. Die Kreuzer stecken im Schürzenlatz. Nur von Semmelfranz ist wieder einmal noch kein Zipfel zu sehen. Der Ziegenbock schlappt geräuschvoll das klare Brunnenwasser in sich hinein.
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Männe hockt daneben und stiert unfreundlich zum Gerichtsgebäude hinüber. Jeden Tag trägt Semmelfranz zuletzt die Wecken ins Gericht. Aber jeden Tag auch vertrödelt er dort mindestens eine kostbare Viertelstunde in einem geheimen Winkel auf einer Galerie, von der aus man in den großen Gerichtssaal sehen kann. Und ich schlage inzwischen hier Wurzeln! denkt Männe wütend. Endlich öffnet sich langsam die schwere Eichentür des unfreundlichen Hauses. Zuerst kommt ein gewaltiger Semmelkorb hervor, dann der viel weniger gewaltige dazugehörige Semmeljunge. Bäh! macht Männe und steckt dem Freund die Zunge heraus, weil der das aus der Entfernung ja nicht sehen kann. Dann pfeift er auf Daumen und Zeigefinger den vereinbarten Pfiff. Der Ziegenbock ruckt meckernd an dem eisernen Brunnengeländer, an das er gebunden ist. 19
Semmelfranz sagt einen Satz, und schon ist Männes ganzer Zorn nichts mehr wert. Semmelfranz sagt: „Der dicke Scholz ist angeklagt. Wegen Diebstahl.“ So eine Neuigkeit braucht ihre Zeit, um verdaut zu werden. Franz fügt deshalb nur noch zwei Worte hinzu: „Großherzogliches Landesgericht!“ Wenn Männe vergißt, den Mund zuzumachen, sieht es aus, als habe er Stockschnupfen. „Der Scholz aus der Strumpfwirkergasse?“ „Genau! Der Herr Druckhausbesitzer Scholz. Taufpate unserer stolzen Jungfer Dora.“ „Und was hat er ...?“ Männe wagt nur mit einer vielsagenden Handbewegung das Unfaßbare auszudrücken. Doch schon prellt ihm ein wohlgezielter Fußtritt gegen das Schienbein. „Ihr Lügner! Ihr abscheulichen Flegel!“
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Semmelfranz muß den zweiten Fußtritt einstecken und ein Hagelwetter wütender Faustschläge auf Brust und Arme dazu. „Da habt ihr eure stolze Jungfer Dora! Da!“ Wer weiß, wie das langbezopfte Mädchen noch über die beiden herfallen würde, wenn ihr nicht das weiße Umschlagtuch von den Schultern glitte. Männe bückt sich schnell. „Ich sage es trotzdem meiner Mama!“ zischelt das Mädchen zum Dank. Dora ist fast einen Kopf kleiner als Semmelfranz und auch ein bißchen jünger. Um das auszugleichen, reckt sie energisch ihr kleines Kinn hoch. „Bestimmt hat er sich wieder im Gericht herumgedrückt. Und so einer will sich eine Lehrstelle bei meinem Vater verdienen. So einer! Der nichts kann, als vor Neid meinem lieben Patenonkel die Ehre abschneiden!“ Semmelfranz steht starr und steif. Wenn es die kleine Dora will, jagt ihn der Meister 21
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davon. Dessen ist er sich sicher. Er preßt den Semmelkorb an sich, als könne er es damit verhüten. Dann sagt er entschlossen: „Es ist aber wahr. Ich habe es deutlich verstanden: Der Besitzer der Bilder-druck- und Colorieranstalt Scholz hat ein Buch gestohlen. Oberlandesgerichtsrat Oldekop lügt nicht vor Gericht!“ Dora ist vor Schreck ein Weilchen ganz still. Da kann Männe seinem Freund gut beispringen. „Und wenn der Herr Oberlandesgerichtsrat vielleicht einmal jemanden beobachten läßt, tut er es, weil es seine Amtspflicht ist. Aber du? Weshalb spionierst du uns ständig nach, he?“ Semmelfranz tippt sich an die Stirn. Er scheint von dieser Art Hilfe wenig zu halten. Und richtig. Dora stampft mit dem Fuß auf. „Mein Patenonkel stiehlt aber nicht! Mein Patenonkel kann sich selber so viele Bücher drucken lassen, wie er will!“
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Ihre Augen stehen plötzlich voll Tränen. Männe guckt erschrocken. Franz preßt den Semmelkorb noch immer an sich. „Er hat das Buch dem Herrn Doktor Heinrich Hoffmann gestohlen. Oder einem der beiden Männer, mit denen der Doktor heute morgen hier ankam. Ich bin nicht so richtig dahintergekommen. Sie waren alle drei im Gerichtssaal. Klagende Partei hat sie Oldekop genannt.“ Dora kennt Doktor Hoffmann nicht. Aber Männe erzählt so anschaulich von den drei Männern am Bahnhof, als wären sie seit Jahren seine Freunde. Als Franz dann noch auf das düstere Gerichtsgebäude weist und Dora anbietet: „Du kannst ja hineingehen. Du kannst dich selbst überzeugen. Es war das Buch vom Struwwelpeter", scheint seine Stellung als Semmeljunge vorerst gerettet. Die Tochter des Conditors aus der Scheffel-
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gasse steht hilflos und klein zwischen den Jungen. „Aber das Buch, ich meine DER STRUWWELPETER, das ist doch mein Lieblingsbuch. Der Onkel hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Und er hat es bestimmt kaufen können. Es ist ganz billig. 59 Kreuzer kostet es nur. Bestimmt!“ Was Preise und Zahlen angeht, ist Dora nicht zu übertreffen. Die zaubert sie aus ihrem Gedächtnis, so sicher wie aus einem gedruckten Marktverzeichnis. Die Jungen blicken sich fragend an. Doch da piepst Dora leise wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist: „Einem Doktor Heinrich Hoffmann könnte es allerdings gehören. Sein Name steht vorn auf der ersten Seite.“ Also doch! Franz stellt den Semmelkorb auf Männes Fuhrkarren ab. Die kleine Dora tut ihm sogar ein wenig leid. Sie war immer so stolz auf ihren stadtbekannten, vermögenden Patenonkel. 25
III Die große schwere Tür des Gerichtsgebäudes scheint seit Jahren nicht geschmiert worden zu sein. Semmelfranz stemmt sie mit der Schulter auf. Männe zögert. „Mein Ziegenbock! Wenn nun Dora nicht mit ihm zurechtkommt?“ Dora zieht sich gelangweilt an ihren langen Zöpfen und reckt das kleine Kinn hoch. Was sie verspricht, hält sie! „Du bringst ihn bestimmt so leise du kannst in seinen Stall?“ „Ja doch“, sagt Dora schnippisch. „Und wenn dich meine Mutter hört?“ „Dann sage ich ihr, daß du noch etwas ungeheuer Wichtiges zu erledigen hast und daß du ihr selbst alles erzählen wirst.“ Semmelfranz drückt erneut die Tür auf. „Endlich alles klar? Oder soll ich mir in der Krämergasse eine Tüte voll Zeit kaufen?“
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„Gut, gut“, schnauft Männe. Dann schließt sich hinter den Jungen langsam die schwere Tür. Wie eine Falle! denkt Dora erschrocken. Und plötzlich ist sie nur noch ein bißchen neidisch, daß für Franz und Männe das große Wagestück schon beginnt. In der weiten Eingangshalle ist es kalt und dämmrig. Eine breite Treppe führt allmählich nach oben, teilt sich, windet sich zweigeteilt weiter. Eine Tür knarrt. Der Treppe nähern sich Schritte. „Zieh deinen Fuhrmannsfrack aus!“ flüstert Semmelfranz. Männe gehorcht. Die Schritte werden lauter. Hinein mit der blauen Latzschürze in den Korb und die restlichen Milchwecken obenauf! Schön voll sieht der Korb nun wieder aus. Franz und Männe tragen ihn gemeinsam. Sie sind noch keine fünf Stufen hinaufspaziert, kommt ihnen ein Mann entgegen. Wie alle Schreiber in allen 28
Gerichten trägt er halbe Schutzärmel aus Nessel über die Rockärmel gezogen. „Einen schönen guten Morgen wünsch ich!“ dienert Franz. Männe verbeugt sich respektvoll und so tief, daß man sein Gesicht nicht sehen kann. Der Schreiber zeigt nicht, wie geschmeichelt er ist. Mit der Miene eines Vielbeschäftigten gönnt er den Jungen nur ein herablassendes Kopfnicken. Semmelfranz nimmt jetzt zwei Stufen auf einmal. „Los, ein bißchen schneller!“ Es geht durch dunkle Gänge und eine schmale, ächzende Stiege hinauf, bevor Franz seinen Semmelkorb vor einer kleinen Tür absetzt. Männe hält den Atem an, als könne es helfen; erstaunlicherweise quietscht die Tür tatsächlich kein bißchen. Semmelfranz lacht zufrieden. „Schmieren und Salben hilft allenthalben“, flüstert er geheimnisvoll. Auf Zehenspitzen schleicht Männe
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voraus auf die Galerie des großen Verhandlungssaales. Schmale Holzbänke stehen hier in zwei Reihen hintereinander, und in jedem Eckchen hängen graubestaubte Spinnweben. Gleich einem Lochmuster rings um die Taschentüchlein der feinen Damen ist die hölzerne Brüstung der Galerie mit Durchbruchrosetten verziert. Ohne große Anstrengung kann man durch sie hinunter in den Verhandlungssaal sehen und bleibt doch von der Brüstung verborgen. Männe entdeckt sogar ein sauberes Stück Sackleinewand auf dem Fußboden, das wie zu einem Kissen gefaltet ist. Aber er kommt nicht dazu, sich darüber zu wundern. Von unten, aus dem Gerichtssaal ist Gemurmel und Gezischel zu hören. Hell scheppert eine Glocke dazwischen. Erschrocken ducken sich die Jungen hinter die Brüstung der Galerie. An dem
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schwarzen Zeugentisch im Saal, einem schmalen Bord auf zwei festen, gedrechselten Beinen, steht der Druckhausbesitzer Scholz. Sein Kopf sieht so von oben herab aus wie ein reifer Kürbis in der Sonne. Einer der Männer hinter dem Richtertisch, ein ganz weißbärtiger, blättert in einer Akte. Auf. den Zuschauerbänken im Saal sitzen eine Menge Leute. Studenten, zukünftige Rechtsgelehrte, Freunde des dicken Herrn Scholz vielleicht und solche, die einfach so aus Neugier gekommen sind. Aus einem bestimmten Grunde scheinen alle diese Leute im Augenblick vor Spannung das Atmen zu vergessen. „Sie geben also zu, Herr Scholz“, fragt der Weißbärtige, „daß Sie das Buch von Doktor Heinrich Hoffmann ohne dessen oder seiner Verleger Erlaubnis nachgedruckt haben?“ Semmelfranz steckt den Zeigefinger durch 32
sein Guckloch. „Das ist Oberlandesgerichtsrat Oldekop, der den Vorsitz führt. Zwei Wecken zum Frühstück, sonnabends nur eine.“ Männe nickt. Im Saal breitet Druckhausbesitzer Scholz mit großmütiger Geste die Arme aus, als sei so seine Anständigkeit besser zu sehen. „Ich gebe es zu.“ Überrascht blickt der weißbärtige Oldekop von der Akte hoch, dem dicken Herrn Scholz in die Augen. „Das Gesetz stellt den unerlaubten Nachdruck von Kunstwerken unter Strafe, Herr Scholz!“ „Ich weiß es“, antwortet Scholz lächelnd, als koste ihn das nicht mehr als einen Kreuzer. Der Oberlandesgerichtsrat lehnt sich in den dunklen, handgeschnitzten Vorsitzerstuhl zurück. Der Gerichtsschreiber kritzelt die Antwort auf sein Papier, staubt feinen Sand auf die feuchten Schriftzeilen, legt das Blatt vorsichtig beiseite und nimmt 33
ein neues. Scholz darf zu seinem Platz in der ersten Reihe im Saal zurückgehen. In den Zuschauerreihen schwillt erregtes Gemurmel an. „Ich denke, er hat das Buch geklaut?“ fragt Männe. „Hat er ja auch!“ behauptet Semmelfranz. „Mußt du eben besser aufpassen! Sieh mal! In der ersten Reihe, eins, zwei, drei – vierter von links! Das ist Doktor Hoffmann.“ Viel mehr als ein Stück Stirn und ein Stück Nase kann Männe allerdings nicht von ihm erkennen. Den Rest des Gesichtes verdecken des Doktors dichte dunkle Haare und die weißen Spitzen seines hohen breiten Kragens. Einer seiner beiden Begleiter, der lange Dünne, steht gerade auf. Er überreicht den Herren am Richtertisch eine ganze Anzahl beschriebener Bogen, die er Gutachten nennt. Die Richter und Beisitzer lesen in den Blättern. 34
Sonst geschieht nichts. „Also sperr die Ohren auf!“ flüstert Franz. „Ich muß jetzt weg. Dora wird schon auf mich warten. Wir müssen noch einen ganzen Trog Pflaumen für die Meisterin auskernen.“ Männe nickt. Ein Pusterohr müßte man ha-ben, denkt er. Und eine Tüte voll getrockneter Erbsen. Dann könnte man dem reichen Scholz für jede Seite des gestohlenen Buches zehn Schuß an den Kürbiskopf ballern. „Du darfst dich nicht von der Stelle rühren, solange die Verhandlung andauert, hörst du? Und wenn Schluß ist, kommst du gleich in die Backstube. Aber laß dich ja nicht erwischen; sonst bin ich Semmeljunge gewesen, und meine Lehrstelle ist futsch.“ Semmelfranz rüttelt nachdrücklich an Männes Schulter. Dann schleicht er auf allen Vieren zur Tür. „Also nicht erwischen lassen!“ Bald darauf schiebt eine Hand eine 35
dunkelblaue Latzschürze durch einen Türspalt auf die Galerie. Männe gewahrt nichts davon. Er drückt seine Stirn gegen die Durchbruchmuster der hölzernen Brüstung und staunt hinunter in den Saal. Dort springt jetzt Herr Scholz von seiner Bank auf, daß nicht nur die Zuhörer, sondern auch die Richter erschrecken. „Was soll mir eigentlich mit diesen lächerlichen Schriftstücken bewiesen werden, Hoher Gerichtshof?“ ruft er ungeduldig, ohne gefragt zu sein. Das Gesicht des weißbärtigen Oldekop wird rot vor Ärger. „Wenn Sie die Verhandlung stören, bin ich gezwungen, Sie zu bestrafen, Herr Scholz!“ „Mich? Bestrafen? – Sie wissen doch schon jetzt genau, daß Sie das nicht können! Was habe ich denn getan? Ich habe ein Kinderbuch nachgedruckt und in Schweden und Holland verkauft, das heute den Titel:
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DER STRUWWELPETER trägt. Als es mir auf das Schreibpult geriet, hieß es noch: ‚Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder von 3-6 Jahren’. Und der Dichterling selber war es, der mich geradezu aufforderte, seine Verse und Zeichnungen nachzudrucken.“ Doktor Heinrich Hoffmann sitzt nur wenige Plätze von Scholz entfernt. Ruhig steht er auf. „Dieser Dichterling bin ich. Aber ich habe Sie, Herr Scholz, bis heute noch nie gesehen, geschweige denn um eine Gefälligkeit gebeten.“ „Was Sie nicht sagen? Sie sind das?“ Scholz mustert den Doktor spöttisch und reibt sich dabei die dicken Hände. Plötzlich schreit er los. „Ich habe aber die Verse und Bilder eines Herrn nachgedruckt, der sich Reimerich Kinderlieb nannte!" Kurze, wirkungsvolle Pause. „Weil ich nämlich auch – kinderlieb bin!" 37
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Der Oberlandesgerichtsrat kann nicht noch lauter schreien. Aber er hat die kleine silberne Glocke, die vor ihm auf dem Tisch steht. Mit dieser läutet er, berät sich mit den beiden Richtern zu seiner Rechten und Linken, läutet noch einmal und gibt bekannt: „Wegen ungebührlichen Verhaltens vor Gericht bestraft das Großherzogliche Oberlandesgericht zu Mainz den Beklagten Scholz mit einer Geldstrafe von einhundert Gulden!“ „Bravo!“ ruft Männe. Ein paar Sekunden ist es ganz still im Saal. Dann flammt Gelächter in den Zuhörerreihen auf. Es überfällt den ganzen Saal, und niemand weiß, woher dieses Bravo eigentlich kam. Oldekop schwingt seine kleine Glocke. „Ich bitte um Ruhe, oder ich muß den Saal räumen lassen!“
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IV In den heißen Sommertagen weicht die Hitze kaum aus der niedrigen Backstube. „Wenn wir uns nicht beeilen, haben wir heute abend Backpflaumen im Trog!“ Dora lächelt nicht einmal über den Scherz des Altgesellen. Trotz der vielen Pflaumen in dem hölzernen Trog denkt sie nur an diese dumme Geschichte mit dem Struwwelpeterbuch. „Es wird nicht, mehr lange dauern, bis Männe kommt“, sagt sie. „Dann werdet ihr sehen, daß alles ein Irrtum ist. Niemand wird meinen Herrn Taufpaten bestrafen. Und überhaupt ist er einer der hochangesehensten Herren unserer Stadt. Zweihundert Menschen arbeiten in seinem Druckhaus!“ „Die schon dick sind“ – ein Griff – ein Schnitt – die nächste Pflaume –‚ „die können eben alles!“ Ein Griff – ein Schnitt –
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die nächste Pflaume. Semmelfranz redet im gleichen Takt, in dem sich seine Hände bewegen. „Mit der neuen Eisenbahn fahren – und Bücher stehlen. – Alles. – Ohne Strafe.“ Dora wirft ihr Messer in die Pflaumen. „Jetzt habe ich aber genug von dir! Jetzt geh ich und erzähle alles meiner Mutter!“ Der Altgeselle fischt das Messer wieder aus den Pflaumen heraus. „Das wäre auch unklug. Wo doch noch gar nichts bewiesen ist. „Es ist aber bewiesen“, behauptet Franz trotzig. „Sie sagt es ja selbst: In ihrem Struwwelpeterbuch steht der Name des Doktors.“ „Was?“ staunt der Altgesell, und er sieht besorgt aus und auch ein bißchen ungläubig, beinahe wie ein richtiger Beisitzer. bei Gericht Dora kommt plötzlich der Gedanke, ihm das Buch zu zeigen. Leise,
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sehr leise holt sie es herzu, damit die Mutter vorn in der Wohnstube nichts davon merkt. Der Altgesell betrachtet es sich genau. „Das ist also der Struwwelpeter! Hm. Hier steht es auch: Doktor Heinrich Hoffmann. Aber ...“ Franz und Dora sehen ihn begierig an. Er hat mir schon manchmal beigestanden, denkt der Semmeljunge. Er wird herausfinden, wie alles zusammenhängt! hofft Dora. Er kennt doch meinen lieben Patenonkel schon viel, viel länger als der dumme Franz. Da geht die Tür auf. Ein leichter Wind fächelt herein. Hinter ihm her poltert Männe. „Es war doch Diebstahl!“ keucht er. „Aber sozusagen ein geistiger. Ein indi ...‚ ein inde ...“ Manne hat das schwierige Wort den ganzen Weg vom Gericht bis hierher vor sich hin gesagt. Indirekt. Mit
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einemmal ist es aus seinem Kopf verschwunden. „Eben mehr kein so richtiger, mehr ein uneigentlicher“, sagt er. „Und der Name des Doktors hier in dem Buche, he?!“ Franz tut, als sei Männe nicht einen Tag lang sein Freund gewesen. Männe guckt auf den aufgeschlagenen Struwwelpeter. „Bist du blöd“, sagt er. „Das ist ganz einfach der Name dessen, der sich die Bilder und die Verse ausgedacht hat.“ Dora kichert hinter der vorgehaltenen Hand. Aber es wirkt albern und krampfhaft. Der Altgesell findet sich in diesem Durcheinander nicht zurecht: „Ich denke, dieser Heinrich Hoffmann ist einer, der kranke Leute gesund macht?“ „Macht er ja auch!“ verteidigt sich Franz. „Macht er wirklich !“ beteuert Männe. Aber den Struwwelpeter hat er auch gemacht Nur so nebenbei. Und deshalb dachte der Herr Scholz – also deshalb hat er das Buch 44
in seiner Colorieranstalt nachgedruckt und dann in Schweden und Holland verkauft. Und das nennt man geistigen Diebstahl!“ Männe fühlt sich ungeheuer wichtig, wie ihn Dora und Franz so beeindruckt anstaunen. Da sagt der Altgesell mitten in das Schweigen hinein: „Wie ich es auch bedenke. Wenn das hiesige Gericht den reichen Herrn Druckhausbesitzer dafür bestraft, bezahle ich Franz und Männe ein Billett für die Dampfbahn. Bis Frankfurt und wieder zurück!“ „Für die Dampfbahn? Und das gilt?“ Franz reißt es von seinem Stuhl hoch. „Es gilt!“ Der Altgesell hält seine Hand hin. Ihr wißt eben noch nicht, was die Reichen alles für ihre Gulden kaufen können, denkt er dabei. Doch Männe schlägt herzhaft durch. „Morgen geht der Prozeß im Gericht weiter.“ 45
Dora holt kurzerhand ein Messer und einen Schemel für Männe herbei. Soll er wenigstens beim Pflaumenauskernen helfen, wenn er schon so dumm ist, zu glauben, daß er eine solche Wette gewinnen kann. Ihr reicher Patenonkel ist nun einmal kein Dieb. Da können sie es drehen und wenden, wie sie wollen. Genau bei der sechsten Pflaume schneidet sich Männe in den Daumen. Dora wickelt ihm einen Streifen Leinen über den blutenden Schnitt. „Taugst du überhaupt zu etwas?“ „Ich bin Fuhrgesell“, versucht sich Männe zu entschuldigen. „Aber wenn ihr wollt, erzähl ich euch, wie es dem Doktor eingefallen ist, den Struwwelpeter zu schreiben. Er hat es vor Gericht genau berichten müssen.“ „Wird nicht gerade aufregend gewesen sein“, sagt Dora schnippisch. 46
„Mich würde es schon interessieren“, meint der Altgesell. Und weil Franz gar nichts dazu sagt – er träumt sich nämlich schon in den ersten Wagen der Dampfbahn, gleich hinter der mächtigen Lokomotive –‚zieht Männe die Beine hoch auf den Schemel, stützt die Knie unter das Kinn und beginnt: „Es geschah vor acht Jahren in Frankfurt am Main. In den Tagen vor Weihnachten, sagte der Doktor. Es war dunkel in den Gassen, und der Schnee knirschte unter den Füßen. Vor der Poststelle füllte der Laternenaufseher Rüböl in die Laterne, die an dem großen schmiedeeisernen Posthorn hing. Das Licht, das durch die Stubenfenster auf die Straße drang, schimmerte wie große Hüpfekästchen auf dem festgetretenen Schnee. Aber der Doktor sah die Hüpfekästchen nicht. Er ging mit langen Schritten mittendurch. Mit der rechten
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Hand hielt er sich den hochgeschlagenen Mantelkragen zu, in der linken trug er seine Arzttasche.“ „Du bist ihm wohl hinterhergeschlichen, daß du alles so genau weißt?“ Männe guckt Dora verständnislos an. „Vor acht Jahren war ich doch erst... „Er spinnt gern ein bißchen“, erklärt es Semmelfranz. Aber damit kommt er bei Männe nicht an. „Im Winter ist es immer so, in Frankfurt bestimmt auch wie bei uns in Mainz. Zuerst wird die Laterne an der Poststelle angezündet. Und der Schnee knirscht am Abend, weil es da heftiger gefriert. Und als im vergangenen Winter ein Doktor zu meiner Mutter kommen mußte..." Der Altgesell steckt Männe kurzerhand eine Pflaume in den Mund. „Wir glauben dir ja! – Dieser Doktor Hoffmann trug also an jenem Abend seine Arzttasche bei sich.“ 49
Männe nickt, kaut und schluckt die Pflaume hinunter. „Er war zu einem kranken Jungen gerufen worden. Der hatte hohes Fieber. Doch als der Doktor zu ihm ins Zimmer trat, brüllte der Kleine ganz fürchterlich. Er stampfte mit den Füßen und schlug mit den Armen um sich. ‚Warte nur ab, mein Lieber!‘ hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt, wenn er mittags keine Kohlsuppe essen wollte. ‚Wenn du nicht ißt, hole ich den Onkel Doktor. Der bringt dich ins Hospital oder gibt dir schrecklich viel ganz bittere Medizin!‘ Und nun fürchtete sich der Junge vor dem Arzt. Doch Doktor Hoffmann ließ ihn brüllen. Er setzte sich gemächlich auf den Bettrand und zog sein schwarz eingebundenes Notizbuch aus der Tasche. Er schlug eine leere Seite auf und begann hineinzuzeichnen, als kümmere ihn das kranke Kind überhaupt nicht. Das machte er immer so. Und 50
es dauerte keine drei Minuten, da war die Neugier des Kleinen geweckt. Schniefend blinzelte er durch Bäche von Tränen hindurch in das Notizbuch. Der Doktor hatte einen kleinen Buben hingezeichnet. ‚Sieh ihn dir nur an‘, sagte er und rückte das Büchlein so, daß der kranke Junge es besser sehen konnte. ‚Dieser Struwwelpeter hier läßt sich die Haare nicht kämmen und die Nägel nicht schneiden. Sie wachsen länger und immer länger.‘ Der Junge vergaß, daß er sich vor dem Mann fürchtete. Staunend schaute er zu, wie der Bleistift Haare und Nägel länger und länger wachsen ließ. Zuletzt war von der ganzen Figur nichts weiter zu sehen als Haarsträhnen und Fingernägel, lang wie Peitschenschnüre. Da klappte Doktor Hoffmann das Buch zu. Er erzählte noch, wie leicht diese garstigen Schmutzpeter
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krank würden. Dabei legte er dem Kleinen vorsichtig seine warme Hand auf den Leib, fühlte, wie es mit dem Puls stand, und prüfte die Temperatur. Der Junge guckte ganz verwundert, als der gefürchtete Arzt plötzlich aufstand und mit der Mutter zur Tür hinausging. Bestimmt..." Männe hält verlegen inne. So unauffällig wie möglich schiebt er die Hände unter den Po. „Bestimmt hat er von da an auch immer seine Fingernägel verschnitten und den Schmutz darunter weggescheuert. Der Doktor aber kam auf seinem Nachhauseweg bei einem Buchhändler vorbei. In der Auslage brannte noch die Öllampe. Hinter der Fensterscheibe glitzerte ein kleiner, hübsch angeputzter Weihnachtsbaum, unter dem viele bunte Bücher zur Ansicht ausgebreitet lagen. Da dachte Doktor Hoffmann an seinen kleinen Jungen. Bim – bam – baum! machte die Laden53
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klingel. ‚Ah, der Herr Doktor! Immer noch fleißig, so spät am Abend.‘ Der Buchhändler rieb sich die Hände; es war schon kühl in seinem Laden. ‚Ein Buch für das Söhnchen, für die Weihnachtsbescherung? Ein gutes Buch natürlich! Vielleicht dieses hier: Die rührende Liebe zu den Kindern und die erstaunliche Wohltätigkeit des Königs Eduard des Sechsten?‘ ‚Ich bin ein einfacher Arzt, und mein Sohn gerät hoffentlich nach mir.‘ Doktor Hoffmann schob das gepriesene Buch zur Seite.“ Männe spielt die ganze Szene vor, daß die anderen glauben, sie sind in einer Buchhandlung und nicht in der sommerlich heißen Backstube. Männe blättert ein Buch auf, das es gar nicht gibt, legt es wieder aus der Hand, greift sich ein neues – wie er es so oft schon beim Buchhändler in der Universitätsstraße beobachtet hat. 55
„‚Oder sind dem Herrn Doktor die Bilder dieser preiswerten Räubergeschichten zu gruselig?’ ‚Vor allem sind sie mir zu nutzlos!’ Doktor Hoffmann war damals sehr unzufrieden. ‚Aber gewiß’, stimmte der Buchhändler sofort zu. ‚Deshalb rate ich Ihnen... hier! Diese Schrift erzählt nur von den lieben Kindern. Immer brav. Immer herzig zu ihren Eltern’. Da zog Doktor Hoffmann sein Notizbuch hervor. Er legte das Blatt mit dem Struwwelpetermännlein, das er kurz zuvor dem kleinen Schreihals gezeichnet hatte, neben so ein schön gedrucktes, sauber gebürstetes und gebügeltes Herzenskind. ‚Bitte schön! So sehen sie in Wirklichkeit aus! Die reine Unwahrheit ist es, was in Ihren Büchern gedruckt steht.’ Der Buchhändler hüstelte, weil er nicht gleich wußte, was er antworten sollte. Da sagte der
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Doktor plötzlich: ‚Wissen Sie was, geben Sie mir ein Schreibheft!’ ‚Wie bitte? Habe ich recht verstanden? Ein leeres Schreibheft?’ ‚Ganz richtig! Ein leeres Schreibheft, das ist es, was ich brauche für meinen Carl. Und da werde ich dem Jungen selbst ein Bilderbuch herstellen! Keine Angst! Ich habe genügend Schreihals-Geschichten in meinem Notizbuch.’ Noch am gleichen Abend begann der Doktor zu zeichnen und zu reimen. Keine seiner wenigen freien Stunden ließ er aus.“ Männe wartet vergebens auf Beifall. Statt dessen steht mit einem Mal Doras Mutter in der Backstube. „Bringst du mir Wäsche?“ fragte sie erstaunt. „N...ein“, stotterte Männe. Semmelfranz zieht erschrocken den Kopf zwischen die Schultern. „Sie sollten ihm trotzdem eine Tüte voll zerbrochener Zuckerbrezeln verehren, Frau 57
Meisterin.“ Der Altgesell drückt ächzend seinen Rücken gerade. „Er hat uns mächtig beim Pflaumenauskernen geholfen. Sehen Sie nur, wir sind gerade fertig.“ V In der Nacht hat Semmelfranz von der Dampfbahn geträumt. Und nun, während er im Gerichtsgebäude mit seinem Semmel-korb am Arm die geschwungene Treppe hinabläuft, hat er die seltsamsten Gedanken. Heizer auf der großen Lokomotive, wenn man das lernen könnte! So ein Heizer muß nicht jahrelang frühmorgens Wecken breittragen. Dabei ist Franz heute eine gute Viertelstunde schneller gewesen als sonst. Das hat gerade ausgereicht, um auf der Galerie ein wichtiges Stück der heutigen Verhandlung gegen den Druckhausbesitzer Scholz zu erlauschen. Hoch lebe 58
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die Dampfbahn! Ein sehr wichtiges Stück des Prozesses war es. Franz stemmt zufrieden die schwere Tür auf. Die Helle des Sommertages blendet ihn. Er blinzelt zum Marktbrunnen hinüber, ob Männe schon wartet. „Halt!“ sagt da eine Stimme, und jemand hält Franz hinterrücks am Korb fest. Franz erschrickt. Dabei ist es nur Dora, und Franz hätte sich denken können, daß sie nicht lockerläßt. „Ich will, daß du mich auf die Galerie führst! Sofort!“ „Das geht nicht.“ „Bei Männe ist es auch gegangen,“ „Aber mit dir ist es für mich doppelt schlimm, wenn es der Meister oder die Meisterin erfährt.“ „Gestern hast du zu mir gesagt, ich solle hineingehen und mich selbst überzeugen. Also.“
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„Es ist ja gar nicht mehr nötig!“ „Nein?!“ Dora hat es natürlich falsch verstanden. Sie klatscht vor Freude in die Hände und dreht sich wie ein Kreisel. „Nein!“ wiederholt Franz. „Weil nämlich dein Herr Pate sechstausend Gulden an Doktor Hoffmann und seine beiden Freunde zahlen soll. Damit der Schaden wiedergutgemacht wird, den er mit seinem Diebstahl angerichtet hat.“ „Sechstausend Gulden?“ Die Freude ist. wie weggeblasen. Dora liebt die klimpernden Münzen in der Ladenkasse und die Zahlen, die man größer und größer wachsen lassen kann. Sie kann sich schon ausrechnen, wie ungeheuer viel Geld sechstausend Gulden sind. „Aber das Buch, der Struwwelpeter, kostete doch nur 59 Kreuzer. Einen Kreuzer weniger als einen einzigen Gulden!“ Wer weiß, was Franz sich da wieder ausgedacht hat. Wie abscheulich 61
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er sein kann. Dora stampft mit dem Fuß auf. „Ich will sofort auf die Galerie! Oder du bist Semmeljunge bei uns gewesen.“ „Folgen Sie mir unauffällig!“ sagt Franz gewichtig und nimmt Doras Hand. „Bitte. Wir können ja nachsehen, ob hinten die Tür zur Henkerstiege offen ist.“ Zufrieden sieht er, daß Dora blaß wird und angstvoll nach seinem Semmelkorb greift. Als sie dann oben auf der dämmerigen Galerie hockt, ist ihr immer noch, als hätte man sie wie ein Kaninchen am Genick gepackt und aus dem vertrauten Stall hinausgeworfen. Das alte Holz knackt bei jeder unbedachten Bewegung. Semmelfranz zieht unfreundlich seine Hand aus der ihren. „Ich muß weg. Zu Mittag komme ich dich holen.“ Am liebsten möchte Dora wieder mit hinaus. In die Sonne. Auf den lauten, fröhlichen Marktplatz. Aber unter ihr im Saal sitzt dieser Doktor Hoffmann, der 63
eigentlich ein Arzt ist und sich den STRUWWEL-PETER ausgedacht hat. Und nur ein paar Plätze weiter sitzt ihr Herr Taufpate. Wie sorgfältig er gekleidet ist! Sieht so ein Dieb aus? Dora duckt sich ganz klein zusammen, als sei sie völlig unauffindbar. Verwirrt lauscht sie auf die ungewohnten Stimmen und Geräusche im Gerichtssaal, bis sie langsam Sinn und Zweck herausfindet. Zur Mittagszeit ist das große kühle Treppenhaus voller Geräusche. Ernste Männer und buntbemützte Studenten stehen in Gruppen zusammen und haben offenbar so Wichtiges zu bereden wie die Mädchen in der Schulpause. Männe guckt Franz erschrocken an: Was bedeutet das? Franz zuckt die Schultern. Als sei es ganz selbstverständlich, marschiert er Männe voran, die breite, geschwungene Treppe hinauf. Niemand hält sie an. Im oberen Gang ist mit Kreide ein Bild auf die Tür 64
eines Aktenschrankes gemalt: ein hoher Galgen, daran ein Strick, und an den Strick geknüpft der Struwwelpeter. Semmelfranz schluckt seine Aufregung hinunter wie einen viel zu großen Bissen trockenes Brot. Vorsichtig öffnet er die Tür zur Galerie. Halb unter einer der Bänke versteckt, schläft Dora auf der ausgebreiteten Sackleinewand wie zu Hause auf ihrem dicken Federpolster. Der Saal unten ist leer. Seine Türen stehen weit offen, und alle Feierlichkeit und Strenge scheint hinausgeweht. „He! Schlag dir den Kopf nicht ein!“ Franz und Männe setzen Dora auf wie eine Puppe. „Hier ist doch keine Herberge. Hier kann, man doch nicht schlafen!“ Dora klappt gehorsam die Augen auf. Der Anblick der Jungen macht sie mit einem Schlag munter. „Was ist das für einer, ein Ver-le-ger?" fragt sie. „Ein Verleger ist..." Männe hätte Dora 65
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gern ein bißchen imponiert, aber er hat den Mund zu voll genommen. „Ein Verleger ist einer, der einen Verlag hat“, weiß Franz von seinem Vater, der im Arbeiter-Bildungsverein die Broschüren verwaltet. „Aha! Und was ist ein Verlag?“ So ein Mädchen kostet vielleicht Geduld! Männe beugt sich über die Galerie. Wie groß der Gerichtssaal ist. Franz legt wütend die Sackleinewand zusammen. „Wenn ein Verleger einen Verlag hat, dann läßt er für sein Geld in den Druckhäusern Bücher drucken. Zuerst kauft er den Schriftstellern ihre handgeschriebenen Werke ab. Dann sieht er nach, ob sich kein Fehler in die vielen Tintenzeilen eingeschlichen hat. Sind alle Bogen sauber korrigiert, werden sie in einem Druckhaus gedruckt. Und wenn dann aus dem Handgeschriebenen richtige Bücher geworden sind verkauft sie 67
der Verleger an die Buchhändler, und alle Leute können sie lesen. Wenn sie genügend Kreuzer dafür übrig haben.“ „Stimmt aufs Haar!“ sagt Dora. „Und die beiden Freunde von eurem Doktor Hoffmann, die sind solche Verleger.“ Die Jungen blicken sich überrascht an. Zufrieden wickelt Dora das Ende ihres Zopfes um den Zeigefinger. „Einmal, am Mittwoch nach dem Weihnachtsfest, haben sie sich mit dem Doktor in einer großen Gaststätte getroffen. Es war achtzehnhundertvierundvierzig. Weil sie sich immer mittwochs dort trafen. Eine richtige Gesellschaft war es. Zwanzig oder noch mehr Herren. Bestimmt alle so vornehm wie mein Patenonkel. Sogar richtige Künstler waren dabei. Auch ganz berühmte. Maler, Bildhauer und Schriftsteller. Sie aßen köstlichen Hasen braten, tranken gekühlten Wein und rauchten ganz teure Zigarren.“ 68
Semmelfranz kann es eigentlich nicht ausstehn, wenn Dora die reichen Leute immer so mit Worten herausputzt. Diesmal merkt er es nicht. „An jenem Mittwoch nach Weihnachten hat der Doktor Hoffmann den Herren sein Buch gezeigt, das er sich für seinen Sohn ausgedacht hat. Heimlich vom Weihnachts-tisch gemopst hatte es der Doktor dem kleinen Carl. Ja! Sperrt nur eure Augen auf! Die feinen Herren, die um die lange Tafel saßen, haben sich das Büchlein angesehn und sehr über die bunten Bilder. gelacht. Und ein Dichter hat die Verse laut deklamiert. Es war ein großer Spaß, hat der Verleger den Herren Richtern erzählt. Und der berühmte Dichter habe damals schon gesagt: Der Struwwelpeter sei das entzückendste Kinderbuch, das er je gesehen habe, und das allererste, das uns Kinder so zeige, wie wir wirklich sind." 69
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Wenn Doras Flüsterstimme verstummt, ist es plötzlich, als könne man die Stille des großen leeren Saales hören. Franz und Männe bemerken es nicht. „Na, und weiter?“ fragen sie gleichzeitig. „Die beiden Verleger kauften Doktor Hoffmann das selbstgemachte Buch ab und ließen es drucken. Eintausendfünfhundert Struwwelpeter! Und auf jedem stand als Name Reimerich Kinderlieb. Keiner sollte wissen, daß sich der Doktor das Buch ausgedacht hatte. Es war ihm peinlich. Seine Kranken sollten nicht denken, daß seine Medizin und seine Ratschläge deshalb weniger taugten.“ „Auf deinem Buch steht aber doch der Name des Doktors drauf!“ „Meines ist ja auch ganz neu. Als das Buch zum fünften Male wieder gedruckt wurde, hat es der Doktor gestattet, daß sein richtiger Name auf die Titelseite kam. Die
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Erwachsenen sagen, seine lustigen Geschichten sind so nützlich wie seine Medizin.“ „Verstehe ich. Aber“ – Franz müht sich, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen – „die sechstausend Gulden? Muß die nun dein Patenonkel herausrücken?“ „Ich glaube nicht.“ Dora schüttelt den Kopf. „Mein Herr Pate hat gesagt, der Doktor Hoffmann ist ein Mediziner und kein Künstler. Und deshalb sind seine Bilder und Verse keine Kunstwerke. Und deswegen kann das Druckhaus Scholz so viele Struwwelpeterbücher drucken lassen, wie es will, und bestiehlt doch die beiden Verleger sowenig wie den Doktor. Und deswegen ist jetzt eine lange Pause zum Beraten für die Herren Richter und zum Mittagessen auch.“ Semmelfranz stößt die Sackleinewand mit dem Fuß weit unter die Bank. „Da kannst du ja jubeln! Deswegen! 72
Doch Dora jubelt nicht. Während sie zwischen Franz und Männe die Henkerstiege hinunterklettert, fragt sie: „Ist, der Herr Doktor Hoffmann reich?“ Semmelfranz bleibt stehen, damit er besser überlegen kann. „Sein Sohn, der Carl, trägt jeden Tag einen frischgebügelten Kragen mit Spitzen drumherum, wenn er in den Ferien hier ist.“ „Mir hat der Carl aber erzählt, daß meist die armen Leute krank sind“, versichert Männe. „Und daß sein Vater sie trotzdem gesund macht.“ „Dann ist der Doktor bestimmt auch gut und freundlich.“ Ach, es ist schwierig, sehr schwierig! Fast wünscht Dora ihrem Herrn Taufpaten, daß er wenigstens ein bißchen Geld an den Doktor und seine beiden Verlegerfreunde zahlen muß. „Was wird nun?“ fragt Franz, der als letzter durch die Hintertür ins Freie getreten
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ist. Männes Magen knurrt vorlaut. Es ist Mittagszeit. „Bei uns gibt es heute Kartoffelfladen. Und bei euch?“ „Vielleicht könnte ich meine Mama bitten, daß wir ihm eine schöne bunte Zuckertorte schicken“, sagt Dora. Die Jungen sehen sie verständnislos an. „Wem?“ „Herrn Doktor Hoffmann natürlich.“ VI Es ist Nachmittag geworden. Beim Gastwirt in der Fleischergasse fuhrt der Postkutscher die Pferde aus dem Stall. In einer Viertelstunde fährt die Personen- und Packereipost nach Frankfurt ab Franz und Manne bleiben neben dem Kutscher stehen und begutachten, wie er die Pferde einschirrt. Vergangenes Jahr in den Sommerferien sind Franz und Manne für
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ihre Sparkreuzer vier Dörfer weit mit der Postkutsche gefahren. Aber welcher Junge fährt noch mit der Postkutsche, wenn es eine Dampfbahn gibt, die auf Schienen, zischend und pfeifend, bis in die nächste Stadt rattert? Also bummeln die beiden Freunde wieder einmal zum Bahnhof hin, wo alles nach frischem Holz riecht. „Stell dir vor: bis Frankfurt und wieder zurück!“ Männe hat sich das mindestens schon dreimal vorgestellt. „Neulich soll die Lokomotive mitten im Wald vor Entkräftung stehengeblieben sein. Die Reisenden mußten aussteigen und die lange, Dampfbahn bis zum nächsten Bahnhof schieben!“ „Weibergeschwätz!“ behauptet Semmelfranz. „So eine Lokomotive Ist doch kein Ziegenbock vor einem Wäschewagen!“ „Besser einen Ziegenbock im Stall als eine Wette, die nichts einbringt.“ 76
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Darauf antwortet Semmelfranz nicht. Und Männe schweigt triumphierend. So kommen sie stumm vor den Zaun, der sie von der Dampfbahn trennt. Mit einer riesigen Kanne füllt der Maschinist gerade Wasser in den Bauch des Lokomotivkessels. Vier Kannen, fünf, sechs... „Euer Altgesell hat eben recht“, lenkt Männe ein. „Wer so schon reich ist, darf alles. Auch Bücher nachdrucken, die ihm nicht gehören.“ „Ganz ehrlich: Ich hab bis gestern gar nicht gewußt, daß es verboten ist. Aber begreifen kann ich es! So ein Kunstwerk, das ist – das ist wie eine Torte, die mein Meister gebacken hat. Ich kann sie auch nicht einfach für mich nehmen, sie in der Stadt verkaufen und mir für das Geld eine Fahrkarte für die Dampfbahn lösen!“ Manne lacht „Dein Meister wurde dich schön durchprügeln.“
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„Und wie! Aber der reiche Herr Scholz..." „Du! Vielleicht muß er schwören vor Gericht?“ „Wozu? Der streitet doch nichts ab! Bitte schön, er hat das Buch ohne Erlaubnis gedruckt und in Schweden und Holland verkauft. Bitte schön, er ist ein Stückchen reicher geworden davon. Wundert mich, daß sich der Herr Doktor Hoffmann nicht noch bei ihm bedanken muß dafür.“ Franz dreht der Dampfbahn den Rücken zu. „Vielleicht hat der feine Herr Druckhausbesitzer den Prozeß inzwischen schon gewonnen.“ Männe fällt der Struwwelpeter am Galgen ein. Er seufzt und runzelt die Stirn. Am Gasthof bläst der Postkutscher mit seinem Horn die Reisenden herbei. Dem Herrn Doktor wird es hart ankommen, wenn er erfolglos nach Frankfurt zurückfahren muß. Da wird ihm nicht einmal die, Fahrt mit der Dampf bahn eine Freude sein. 79
„Na, ihr beiden!“ sagt eine wohlbekannte Stimme hinter ihnen. Und wie sie sich umdrehen, steht da der Altgesell. „Ich gratuliere!“ Er lacht. „Ihr habt gewonnen! – Ja, ja, der feine Herr Scholz muß nun doch bezahlen. Fünfhundertvierzig Gulden Entschädigung an Doktor Hoffmann und seine beiden Verleger Rütten und Loening, und fünfhundert Gulden Geldbuße an den Staat. Bloß die Fahrkarten für euch Gauner nach Frankfurt und zurück, die wird er mir wohl nicht ersetzen!“
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