103 - Das Mädchen Aus Maslennikow

August 26, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Nature
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...................

Description

Hd�en aus

Maslennikow

.11'\ .

DIE KLEINEN TROMPETERBUCHER

BAND 103

BARBARA KRA U S E

Das Mädchen aus Maslennikow

DER K IN DERB UCHVERLA G B ERLIN

Illustrationen von Bettina Weise

WA L D ER DB E ER EN Mutters alte graue Schürze umgebunden, die ihr bis zu den Knöcheln reicht, läuft Walja zum Schuppen. Eine warme Mai­ sonne liegt über Maslennikow, und das Kätzchen Minka schnurrt vom Schuppen­ dach zu Walja herunter. Träge öffnet es die grünen Augen, und Walja nimmt von der Pupille nur einen schmalen Spalt wahr. Sie seufzt tief auf, nimmt sich eine Hacke und geht damit in das Gärtchen hinter dem Hof. Ungelenk liegt die große und schwere Hacke in Waljas Händen, als sie beginnt, die Erde um die jungen Kartoffelpflanzen zu lockern. Am Ende der ersten Reihe macht sie eine kleine Pause. Sie pustet auf die roten DruckstelIen in ihrer Hand. Das tut gut. Walja lacht vor sich hin. Sie stellt sich vor, 5

wie überrascht die Mutter sein wird, wenn sie müde von der Arbeit kommt. Nun aber weiter! Zehn Reihen muß sie noch schaffen. Als d ie halbe Arbeit getan ist, schmerzt Walja der Rücken. Sie richtet sich mühsam auf, wie sie es bei den Bäuerinnen oft ge­ sehen hat, und blinzelt. Viele kleine gelbe Sonnen tanzen vor ihren Augen. Sie setzt s ich auf die warme Erde. Der Wind zupft an ihren blonden Haaren. Es ist still um sie. Walja riecht die frisch gehäufelte Erde. Voll übermut greifen ihre Hände in den Boden. Sie ist glücklich. Träumend schaut sie auf die kleine weiße Wolke, die sich unmerk­ lich in blaues N ichts auflöst. Bald wird der Krieg zu Ende sein. Vielleicht heute, viel­ leicht morgen! Und dann wird Vater heim­ kommen! Sie muß oft an ihn denken. Er ist groß und stark. Und lachen kann er! Fast jeden Abend muß ihr d ie Mutter erzählen, 6

was Vater gesagt hat, als er an die Front ging. Aus dem Kinderbettchcn hat er sie gehoben und sie geküßt: " Wachse, mein Kleines, mach deiner Mutter viel Freude. Wenn ich zurückkomme, wird unser Leben schön werden." Davon träumt Walja. Wenn er den Traktor fährt, wird er sie hinaufheben, und sie wer­ den gemeinsam über die Maslennikower Felder fahren - bis zur Wolga, die sich in einen hellblauen Dunstschleier hüllt, und die Sonne wird Purzelbaum schlagen am Himmel, und die Erde wird unter ihnen duften wie heute. Walja erschrickt. Herrje, sie darf die Nach­ richten nicht verpassen. Sie läuft über den Hof zurück ins Haus. Das Radio steht in der Stube auf der An­ richte. Vater hat es gekauft, kurz bevor er an die Front ging. 7

Die bekannte Stimme des Ansagers er­ füllt den Raum. Walja fühlt: Heute klingt diese Stimme anders als

sonst.

Heute

schwingt verhaltene Freude darin. Heute ist ein besonderer Tag. Eine zitternde Auf­ regung überfällt Walja. Frieden. Ab heute ist Frieden! Walja rennt aus der Stube. Sie weiß vor Freude nicht, was sie tun soll. Sie klatscht in die Hände und läuft auf den Hof. Dort dreht sie sich im Kreis und singt und jauchzt: " Der Krieg ist aus, der Krieg ist aus, Papa kommt zurück! Papa kommt nach Haus!" Auf dem Schuppen sonnt sich noch immer die Katze. " Minka, Minko, der Krieg ist aus, verstehst du? Der Krieg ist aus." Aber Minka versteht nicht. Die Sonnenstrahlen strei­ cheln ihr glänzendes Fell, sie schnurrt und begreift nichts von Waljas Aufregung. Walja bindet sich die Schürze ab und wirft sie über den Hauklotz. Nein, soviel Zeit 9

hat sie nicht. die Schürze ordentlich weg­ zuhängen. Sie muß zur Mutter aufs Feld. Sie muß es allen sagen: Der Krieg ist aus. Alle sollen sich mit ihr freuen. In aller Eile schließt sie ab. bindet sich den Schlüssel um den Hals, läuft am Wald entlang, dann immer die Landstraße geradeaus. Es ist. als wiegen sich die rosafarbenen Apfel­ zweige im Rhythmus der frohen Kunde, die Walja auf ihren Lippen trägt. Walja rennt. als gelte es ihr Leben. End­ lich das Feld. auf dem die Frauen Un­ kraut jäten. Da ist auch das weiße Kopf­ tuch der Mutter. Ist da nicht auch Gesang? Walja muß langsamer laufen.

Ihr Herz

klopft bis in den Hals. Ja. die Frauen singen. Deutlich erkennt Walja die volle, tönende Stimme der Mutter. Lange hat Mutter nicht mehr gesungen. Und Mutter lacht. Ja,

tatsächlich.

Mutter singt und

lacht. 11

"Mamuschka, es ist Frieden! " " Ich weiß, ich weiß, Walenka!" "Jetzt wird das Leben richtig schön, nicht wahr? "

"Ja, richtig schön. " Die nächsten Tage und Wochen verbringt Woljo in großer Aufregung. Aufregend ist es, wenn Alesjo Alexandrowo die Post ver­ teilt. Walja läuft ih r stets durch das halbe Dorf entgegen. Aber schon von weitem schüttelt Alesjo den Kopf. Vielleicht ist Va­ ter noch unterwegs, vielleicht trifft er mor­ gen ein. Jeden Tag kommt ein Zug vorbei. Jeden Tag klettert Walja auf den Mar­ geritenhügel. Von hier kann sie die Land­ straße weit überblicken. Jeden Tag steht sie dort und hält Ausschau. Lange wartet sie. Vielleicht hat der Zug Verspätung. Viel­ leicht hat Vater eine Verletzung wie Onkel Pjotr und schafft den Weg vom Bahnhof 12

nicht so schnell. Jeden Tag sitzt Walja auf dem Hügel, umwogt von weißen leuchten­ den Margeriten,

und ihre kleine Faust

umklammert einen Strauß dieser weißen Sternenblumen. Eines Tages jedoch schüttelt Alesja Alexan­ drowa nicht den Kopf. Alesja hat einen Brief in der Hand. Doch ihr freundliches Gesicht ist ernst. .. Hier, Walja, lauf zur Mutter aufs Feld. Es ist eine Nachricht. Bring sie ihr." Walja nimmt den hellgrauen Umschlag. Es sind Druckbuchstaben. Walja kann noch nicht lesen. Aber vom Vater ist der Brief nicht. Vaters Briefe sehen anders aus. Eine wichtige Nachricht? Walja hüpft den Feldweg entlang, sorgsam alle Steine meidend. Die schweren Holz­ pantinen hat sie im Flur stehenlassen. Barfuß geht es viel schneller. Die Frauen schauen neugierig auf den 13

Brief, den Walja der Mutter reicht. Sie selbst bückt sich nach den Anemonen am Wegrand - rosa Anemonen. Ein seltsam gurgelnder Laut läßt sie er­ schreckt aufblicken. Sie sieht Mutters Ge­ sicht - sieht das Entsetzen darin, den Schmerz. Walja versteht nichts und weiß doch alles. Vater! Sie springt auf und um­ armt die Mutter. "Meine liebe Mama, wein doch nicht so." Das kleine siebenjährige Mädchen streicht der Mutter über das dunkle Haar.

Sie

sucht nach Worten, die die Mutter trösten können. " Mutter, bitte, wein doch nicht so. Du hast doch noch mich." Tante Axinja sagt: " Komm Lena, ich bring dich nach Hause. Wir verstehen deinen Schmerz. Komm, Walja!" Es ist ein heißer Sommer. Die Sonne sengt erbarmungslos.

Die

Kolchosbäuerinnen 15

fangen ganz früh am Morgen an zu arbei­ ten. Da ist die Hitze nicht so groß. Waljas Mutter steht schon um vier Uhr auf. Sowie sie das Haus verlassen hat, springt auch Walja aus dem Bett. Sie denkt an die Worte, mit denen sie die Mutter getröstet hat: " Du hast ja noch mich." Noch schlagen im Garten die Nachtigallen. Walja stellt sich unter die Pumpe im Hof und wirft tüchtig den Schwengel, bis ein klarer

Wasserstrahl

hervorschießt.

Sie

plantscht und prustet vor Vergnügen. Dann schlüpft sie in das bunte Leinen­ kleidchen, ergreift den Bastkorb und läuft durch das morgendliche, scheinbar noch schlafende Dorf in den Wald. Der Tau funkelt an den Bäumen, und über­ all, wo sich zarte N ebelschleier aus den kleinen

Schonungen

schieben,

glaubt

Walja der schönen Wassilissa aus dem Märchen zu begegnen. 16

An einer lichtung macht sie halt. Der Wald­ boden ist mit duftenden roten Beeren über­ sät. Walderdbeeren. Ein naschhafter Igel trollt sich in die Schonung, als Walja er­ scheint. Walja bückt sich und beginnt die süßen Beeren zu pflücken. Nur langsam füllt sich der I(orb. Der Saum ihres Kleides wird feucht und schwer vom

Tau. Die Sonne steigt höher, und ihre warmen Strahlen lösen alle kleinen Tiere, die Käfer und Bienen, aus der nächtlichen Starre. Es ist noch nicht neun Uhr, da liegt ein kleiner Berg leuchtender Beeren auf Wal­ jas Korb. Als die Sonnenglut auf dem Land lastet, als

selbst

die

Hühner

nach

Schatten

suchen, als kein Vogel mehr sein Lied er­ tönen läßt, als die vollen Weizenähren nur noch leise wispern, läuft Walja aufs Feld. 18

Die Mutter wendet gerade das Heu, als Walja bringt

ihr

die

duftenden

Erdbeere n

.

"So gut möchten w ir es auch haben, Lena", ruft Tante Axinja. "Walja, du verwöhnst deine Mutter ja." "Komm nur, es reicht auch für zwei", lacht Waljas Mutter. Walja dreht sich um und läuft davon. Ja, sie will die Mutter verwöhnen. Mutter soll wieder lachen wie früher

.

H ERB S T FERIE N Waljas blonde

Zöpfe reichen schon bis

zur Taille. Ihre weißen Schulschürzen sind immer kürzer geworden. Bald werden es drei Jahre, daß sie in Jaroslawl wohnen, die Mutter, Walja und ihre Geschwister Lusja und Wladimir. 19

Woljo liegt in ihrem Bett. Sicherlich ist es schon spät. Ihre Augen haben sich an die Dunkelheit

gewöhnt.

Sie

unterscheidet

deutlich die Gegenstände in der kleinen Kammer. Glücklich streicheln ihre Augen den neuen Koffer, der fertig gepackt auf der Kommode steht. "Morgen .. . ", flüstert sie. Morgen hat die Mutter Urlaub, und Onkel Pawka holt sie ab - ganz in der Frühe. Sie fahren nach Maslennikow. Acht Tage. Walja. ist glücklich. Maslennikow. Sie hat Sehnsucht nach dem kleinen Dorf. Je län­ ger sie von Maslennikow fort ist, um so schöner erscheint es ihr. Ihrer Freundin Warwara hat sie erzählt, daß die Felder von Maslennikow bis an den Ural reichen. Und die Wälder seien so tief und geheim­ nisvoll wie nirgends sonst auf der Welt, und die Wiesen so bunt und die Margeriten so groß 20

und überhaupt!

Immer hat sie Angst gehabt, es könne etwas dazwischenkommen, Mutter könne es sich anders überlegen. Mutter hat ihr in die Hand versprechen müssen, daß sie ganz bestimmt in diesem Sommer nach Maslennikow fahren. Das Versprechen hat Walja beruhigt. Was M u tter verspricht, das hält sie. Jetzt ist es dunkel. Jetzt kann

n ichts

mehr

passieren. Morgen früh holt Onkel Pawka sie ab. Wenn es doch nur schon morgen früh wäre! Großmutter sagt immer "Vor­ freude ist die schönste Freude! " Walja hat keinem gesagt, wie sehr sie sich freut. Keinem. Wenn sie nur erst in dem großen Lastauto säßen.

In Gedanken sieht sie

schon die kleine weiße Kirche von Mas­ lennikow auftauchen. Wenn Onkel Pawka aber krank geworden ist? Nein, Onkel Pawka wird nie krank - hat er einmal gesagt. Sie glaubt ihm. Er i s t so 21

groß und stark. Er wird morgen früh hier­ sein. Auf der Straße hallen schwere Schritte. Es ist, als ob das Echo von einer Straßen­ seite auf die andere geworfen wird. Die Schritte verlangsamen sich. Unter Waljas Fenster scheinen sie sti l lzustehen. Walja richtet sich ein wenig auf. Die Haus­ tür geht. Ihr Herz beginnt zu klopfen. Sie hört die hüstelnde Stimme von Andrej Fjodorowitsch. Er ist Mutters Abteilungs­ leiter. Was will er hier? Es ist schon so spät. Er soll gehen. Er soll sofort gehen. Sie hört, wie die Mutter ihn hereinbittet. Ein Küchenstuhl scharrt. "Weißt du, Lena, die Sache ist nämlich so

er hüstelt

verlegen. Mutter muß ihm bedeutet haben, leiser zu sprechen. Walja muß sich sehr anstrengen, um zu verstehen, was er sagt. " Tamara ist ins Krankenhaus gekommen. Blinddarm. aus. 22

..

Eine

Spinnmaschine

fällt

Walja sitzt in ihrem Bett und fühlt, wie ihr kalt wird. Ganz kalt. So irgendwie von innen her. Aber Mutter hat versprochen, daß sie morgen fahren. Sie hat es ihr fest in die Hand versprochen. "Ja, Lena, ich wollte dich fragen, ob du vielleicht

deinen

verschieben

Urlaub

kannst? " Verschieben?

Verschieben

-

das

geht

doch gar nicht. In acht Tagen fängt die

Schule wieder an. Sag nein, Mama. Sag, daß es nicht geht. Sag, Onkel Pawka holt uns morgen früh ab. Sag, der Koffer ist schon gepackt. Sag nein. Du hast es mir versprochen! Da sagt die Mutter langsam und ganz deutlich: "Natürlich. Natürlich, ich komme morgen.

"

Mehr hört Walja nicht. Sie läßt sich auf ihr Kopfkissen fallen und weint. Heiße Tränen. " Natürlich" - wie kann die Mutter das 23

sagen. Gar nichts ist natürlich. Dann steht die Spinnmaschine eben eine Woche still. Was ist das schon? Walja fühlt sich von der Mutter verraten. Warum hat die Mutter nicht an ihr Ehren­ wort gedacht? Warum hat sie nicht ein bißchen an Walja gedacht? Der Betrieb, die Spinnmaschine, sie bedeuten der Mut­ ter mehr als Walja. Walja schluchzt. Weiße, sternengroße

Margeriten

schaukeln

vor

ihren Augen, und Minka schnurrt ihr aus halbgeöffneten Augen entgegen.

Walja

weint immer heftiger. Sie fühlt Mutters Hand auf ihrem Haar. Unwirsch entzieht sie sich der Hand. " Du brauchst· mich nicht zu trösten - du, du hast ja deine Spinnmaschinen!" stößt sie hervor. "Walja

" , sagt die Mutter leise. Traurig­

keit ist in ihrer Stimme, und sie geht wieder aus der Kammer. 24

D ER AU F SATZ Acht

traurige

Ferientage

sind

vorüber.

Walja will nicht verstehen, warum sie nicht nach Maslennikow fahren konnten. Sie ist der Mutter noch immer böse. Sie freut sich, daß die Sc h ule wieder beginnt. Sie freut sich

auf

Ludmila

Alexejewna

tschowa, ihre Lehrerin. jung

und

hübsch.

Sie

Kosma­

Die Lehrerin ist hat

e ine

zarte

Stimme, und doch war sie im Krieg Kom­ mandeur einer Partisanenabteilung. Walja lernt

fleißig.

Ludmila

Alexejewna

soll

sich nicht ärgern. Aber es gibt einen Tag, da will Walja nicht zur Schule gehen. .. Mama, hab ich nicht Fieber?" Verwundert sieht die Mutter von den Früh­ stücksbroten hoch, die sie gerade für die Kinder fertigmacht. Prüfend sieht sie Walja 26

an, die unruhig hin und her rutscht. Waljas Gesicht ist zwar etwas zerquält, aber ihre Wangen sehen rot und gesund aus. Vor­ sichtshalber legt die Mutter ihre Hand auf Waljas Stirn - kühl, kein Fieber. "Fühlst du dich nicht wohl?" "Tut dir etwas weh?" ,.Nein" Lusja lacht: " Mama, das ist ganz gefähr­ lich. Walja hat die Faulkrankheit." Walja findet Lusjas Lachen albern. Schwei­ gend packt sie ihre Brote ein. Dann trödelt sie länger als nötig herum. Sie wischt noch im Wohnzimmer Staub, wäscht das Kaffee­ geschirr ab. Mutter und Lusja gehen. Der kleine Zeiger

des

alten

Weckers

rückt

immer mehr in die bedrohliche Nähe der Acht. Walja hätte sich längst auf den Schul­ weg machen müssen. Als die Uhr Punkt acht ist, verläßt sie das Haus. Nein, sie 27

fühlt sich wirklich nicht wohl. Oder ist es das schlechte Gewissen, das sie so nieder­ drückt? Nicht hüpfend und beschwingt wie sonst überquert sie die Kotoroslbrü,ke. Gestern hat

Ludmila Alexejewna neue Aufsatz­

hefte verteilt. Lange hat Walja zu Hause über dem weißen Papier gesessen. Sorg­ fältig hat sie die Oberschrift geschrieben: "Wer ist mein Vorbild. Wie will ich ihm nacheifern?" Ja, sie hat gesessen und ge­ sessen und nichts zustande gebracht. Das Papier war so glatt, so neu, so unberührt, und Walja hätte gern etwas Wunder­ schönes darauf geschrieben "Wer ist mein Vorbild?"

Sie könnte

schreiben oder über

über ihren Vater Ludmila Alexejew­

na. Während Walja durch die Straßen bum­ melt, beginnt sie zu träumen. Sie ist Parti­ sanin im Hinterland des Feindes. Unter 28

Lebensgefahr kundschaftet sie die Steilun­ gen der Faschisten aus. Sie funkt wichtige Meldungen zu den

Genossen hinüber.

Oder sie kämpft mit dem Vater an der Front.

Klug und geschickt ist sie.

Und

mutig. Jawohl, mutig! Ja, Walja hat Vorbilder. Aber wie soll sie die zweite Frage beantworten, wie soll sie ihnen nacheifern? Walja ist verzweifelt. Sie hat Mut, sie hat Kraft. Sie möchte auch ihr Leben einsetzen, die Revolution ver­ teidigen, Faschisten besiegen. Aber ist all das nicht schon getan? Was bleibt noch für sie? Walja geht durch die Straßen. Schauen nicht alle Leute verwundert auf sie, die mit ihren Schulsachen unterm Arm die Schule schwänzt? Wirft ihr die Frau mit der dunk­ len Schürze nicht einen bösen Blick zu?

Hinter ihrem mächtigen Rock lugt ein Junge hervor und streckt Walja die Zunge heraus. 29

Walja schneidet ihm eine Grimasse. Der scheint keinen Kummer zu haben, denkt sie, der muß sich nicht den Kopf zerbrechen, wie er ein Held werden kann. Walja steht vor der steinernen, fünfkupp­ ligen recken

Kathedrale. sich

der

Spitze Sonne

Glockentürme entgegen.

Die

Mauer ist mit bunten glasierten Kacheln geschmückt. Walja ist schon oft hier vor­ übergelaufen. Heute morgen sieht sie zum erstenmal die bunte Pracht. Eine kleine eichene Tür steht offen. Walja schlüpft hindurch. Sie will den vorwurfs­ vollen Blicken entfliehen. Es muß noch eine Zeit vergehen, bis Ludm ila Kosmatschowa die Hefte e ingesammelt hat. Hier wird sie warten. Kühl ist es. Walja hört ihre eige­ nen zögernden Schritte. Von prunkvollen Wandbildern schauen fremde Augen sie an. Aber es sind fröhliche Augen. Und Jener Alte, mit dem langen weißen Bart, 30

zwinkert er ihr nicht begütigend zu? Zag­ haft setzt sich Walja in eine lange Bank­ reihe. Für einen Moment vergißt sie sogar ihren Kummer. Es muß ein fröhlicher Maler gewesen sein, der diese Bilder geschaffen hat. Bis an die Decke reichen sie. Walja sitzt und schaut, verrenkt sich fast den Hals. Und plötzlich ist sie wieder da, ihre Ver­ zweiflung. Jetzt kommt sogar ein Funken Trotz hinzu: In unserer Zeit kann man kein Held mehr

we r den -

was

sollte sie also

schreiben? Ich bin zu spät geboren worden - leider. Aus dem Glockenturm schlägt es dreimal. Erschrocken fährt Walja hoch. Nun muß sie aber laufen. Sie erreicht die Schule zur dritten Stunde und setzt sich mit klopfendem Herzen auf ihren Platz. "Warum kommst d u jetzt erst?" flüstert Warwara, Waljas Nachbarin. "Mir war nicht gut." 32

"Gib

den

A ufsatz

nachher

noch

ab!"

"Ich hab keinen geschrieben." Warwara reißt erschrocken die Augen auf. Die Zeichenlehrerin ermahnt die beiden tu schelnden Mädchen. Warwara hat Mit· leid. " Ich habe meinen Aufsatz vorgeschrieben. Hier, nimm, kannst abschreiben. Mußt ihn nur ein bißehen verändern!" Warwara hält Walja ein loses Blatt hin. Entschieden schiebt Walja es zurück. " Nein, dann kriege ich eben eine Fünf!" Ludmila Kosmatschowa starrt zuerst etwas ratlos auf die Oberschrift in Waljas Auf­ satzheft, der nur unbeschriebene Seiten folgen. Dann ruft sie Walja zu sich. Walja ist elend zumute. " Nein, L udmila Alexejewna,

Sie

sollen

nicht schlecht von mir denken, aber Und nun bricht der Kl:mmer aus Walja, die 3

Das Mädchen

33

Angst, zu spät geboren zu sein, um Großes, Heldenhaftes zu vollbringen. "Meine kleine Walja, was bist du noch für

ein

dummes

Mädchen."

Ludmila

Kosmatschowa zieht Walja zu sich heran . Die Nachmittagssonne huscht über

die

schwarze Tafel. Durch das geöffnete Fen­ ster dringt das stimmbrüchige Piepen jun­ ger Enten. " Freu dich, daß du heute lebst und glück­ lich sein darfst. Dafür ist dein Vater ge­ storben. Wir müssen aufpassen, daß der Friede und das Glück erhalten bleiben. Das ist gar nicht so leicht, un d manchmal muß man auch dafür Opfer bringen, viel­ leicht sogar

sein Leben

wagen.

Nein,

Walja, du bist nicht zu spät geboren." Walja hört zu. Sie schmiegt ein wenig den Kopf an Ludmila Kosmatschowas Arm. Eine Zentnerlast ist von ihrer Seele gefallen. Ludmila Alexejewna schimpft nicht mit ihr. 3"

35

Walja findet das Leben wieder angenehm. Sie kann sich wieder über das harte "Pix, Pix" der Bleßhühner freuen. "Meinst du nicht, daß deine Mutter ein Vorbild für dich sein könnte?" Da richtet Walja sich steil auf. Mutter hat ihr Versprechen nicht gehalten. Die Mutter ein Vorbild? Sie schüttelt energisch den Kopf. "Weißt du, Walja, ich bin gestern zum Hafen gegangen, und da komme ich am Textilkombinat vorbei. Du weißt, die Bilder der Aktivisten sind vor dem Eingangstor aufgestellt. Und da stand das Bild deiner Mutter. Ich habe mich gefreut und gedacht: Sieh an, Waljas Mutter! Du solltest einmal darüber nachdenken, warum deine Mutter zu den Besten gehört." Walja macht ein sehr angestrengtes Ge­ sicht. Sie möchte Ludmila Kosmatschowa nicht enttäuschen. Gewiß, sie will darüber 36

nachdenken. Aber sie muß auch darüber nachdenken, was ein Ehrenwort gilt Dar­ .

über muß sie unbedi n gt nachdenken, denn nun können sie frühestens in den Mai­ ferien nach Maslennikow fahren. Walja verläßt die Schule. Neugierig ist sie. Ist das Bild der Mutter wirklich vor dem Eingangstor ausgestellt? Sie schlendert am Ufer der Kotorosl entlang. Es ist weißer, warmer Sand. Sie zieht die Schuhe aus un d läuft barfuß. Das erinnert ein wenig an Maslen nikow. Ein Fischerkahn tuckert vor­ bei. Mutter hat ihr nicht erzählt, daß sie aus­ gezeichnet worden ist. Vielleicht hat sich die Lehrerin geirrt? Walja rennt. Dann steht sie vor dem Textilkombinat. Barfüßig, Schuhe und Schulsachen in der Hand, steht sie vor dem Bild. Mutter. Tat­ sächlich. Sie muß einige Schritte zurück38

gehen, um das Gesicht richtig zu erkennen, so groß ist das Bild. Ernst blickt Mutter und ein wenig traurig. Viele Leute gehen hier vorbei. Alle können der Mutter ins Gesicht schauen und kön­ nen ihren N amen lesen. Ja, und dort der Alte mit dem Schnauzbart bleibt tatsächlich stehen und sieht sich aufmerksam Mutters Gesicht an. .. Das ist meine Mutter." Walja muß es ihm sagen. Denn irgendwie ist sie stolz auf die Mutter. Der Schnauzbärtige wiegt wohl­ gefällig den Kopf. Seine Äuglein mustern noch einmal das Bild und dann Walja . .. Also die Jelena Fjodorowna Tereschkowa ist deine Mutter. Spinnerin ist sie. Das ist gut. Das ist gut, Töchterchen . Und fleißig ist sie, deine Mutter. Das ist noch besser. Da werd ich mir im Winter bestimmt die Joppe kaufen können, wenn Väterchen Frost kommt. Auf der Wolga istes kalt. Und 39

die Joppe wird warm sein. Und ich werde an Jelena Tereschkowa denken, die den Faden gesponnen hat, daß es auch noch für meine 'Joppe reicht. Ja, ich werde an Jelena Tereschkowa denken und ihr dank­ bar sein." Der Alte tut so, als müsse er sich den Namen fest einprägen. Er hebt ein wenig die Hand zum Gruß, nickt Walja zu und schreitet bedächtig weiter. Dann bleibt er nochmals stehen, schaut sich zu Walja um und nickt noch einmal. Walja blickt ihm lange nach. Wie der Alte von ihrer Mutter gesprochen hat! Dabei kennt er sie gar nicht. Ja, wenn er sich tatsächlich die Joppe kaufen kann, nur weil die Mutter so fleißig ist, dann ist es viel­ leicht doch gut, daß sie nicht nach Maslen­ nikow gefahren sind? Aber das Verspre­ chen

-

das

ihr

die

Mutter

gegeben

hatte? Was der Alte da von der Joppe gesagt 41

hat, gefällt ihr. Walja zieht ihre Schuhe an und setzt sich unter die große Platane vor dem Werktor. Spinnerin. Vielleicht sollte sie auch

Spinnerin werden.

Und ihre

Hände müßten ebenso geschickt werden wie Mutters. Die Maschinen müßten ihr gehorchen. Sie würde Stoffe herstellen in bunten, l us tige n Farben. Viele Stoffe. mit denen sie die Kinder der ganzen Welt anziehen könnte. Alle Kinder der ganzen Welt

Das wäre was! In Waljas Augen

tritt ein blankes Leuchten. Sie wird Spin­ nenn.

DIE S P IN N MA SCHINE "Mädchen. sei doch nicht so aufgeregt. Setz dich hin und trink in Ruhe deinen Tee. Du hast noch viel Zeit." "Ach, Mutter, ich kann nicht. Alles bleibt mir 42

im Halse stecken. Meine erste große Reise! Heute werde ich in Moskau sein.

"

Walja springt schon wieder auf, wirbelt die Mutter durch die Küche und trällert dabei: " Moskau, Moskau, Moskau." Sie singt es in allen Tonlagen. Sie jubelt es, sie trällert es, sie seufzt es. Dann lacht sie - lacht über sich, lacht ihre Freude heraus. Sie läuft ans Fenster und reißt es zum zehntenmal auf, hält Ausschau nach dem Bus der sie vor dem Haus abholen soll. ,

Walja schaut in den Himmel. Doch statt der grauen Wolkendecke, an der der Wind heftig zieht und zerrt, sieht sie den Roten Platz,

sieht sich selbst vor dem Kreml.

Heute noch wird sie davor stehen - heute noch. Der Spasski-Turm - der Glocken­ turm mit dem roten Stern "Walja, iß dein Brot auf." "Ich kann

n icht .

Pack es mir ein. Ich werde

im Bus essen. Die Fahrt ist so lang. Da 43

habe ich bestimmt mehr Ruhe. Da kommt er. Der Bus kommt!" Kein Wunder - bei Waljas Aufregung wird auch die Mutter nervös. Die eingewickelten Brote legt sie in den Schrank, und in Waljas Tasche will sie den trockenen Brotkanten stecken. "Aber Mutter, du bist auch ganz durch­ einander. Na,

macht nichts! Hast jetzt

acht Tage Ruhe vor mir. Tschüß, Mutter, bleib schön gesund." Boris kommt ihr entgegen. Er nimmt ihr den Koffer ab. Nun sitzt sie neben ihm. Sie kennt ihn gut. Er ist ein Freund ihres Bru ders. Boris redet unaufhörlich. Er war am Wochenende angeln. Unwahrscheinliches Pech gehabt - dabei wunderbare Bisse. Hört Walja eigentlich zu? Nein. Es ist so wohltuend und beglückend, endlich im Bus 45

zu sitzen, der sie nach Moskau bringen wird. Sie und ihre ganze Brigade. Eine Auszeichnung. Die anderen Mädchen wor­ ten an der alten Wolgabrücke. Was sagt Boris eben? "Ihr könnt überhaupt von Glück reden, daß ich schon da bin. Mutter hatte fest ver­ sprochen, mich zu wecken, wenn sie von der Schicht kommt. Aber ich sagte mir gestern abend: ,Boris, stell lieber den Wecker! Sicher ist sicher!' Und was war heute früh? Mutter kommt eine Stunde später von der Schicht. Gerade als ich aus dem Haus stür­ zen wollte. Eine der neuen Spinnmaschinen ist ausgefallen. Hallo! Da sind ja auch die anderen! Donnerwetter, heute lohnt sich die Fahrt!" Er lacht laut heraus bei dem Anblick der vielen aufgeregten Mädchen. Was sagte er? Die neue Spinnmaschine? Eine

der

kaputt? 46

neuen

Spinnmaschinen

ist

Ein trostloses Grau hat der Himmel. Tanja fällt Walja um den Hals - die kleine zier­ liche Tanja, das Küken der Brigade: .. Ach, Walja, es ist so schrecklich schön. Nun fahren wir endlich. Was machst du denn für ein komisches Gesicht? Rück ein biß­ chen!" Die neue Spinnmaschine. Hat sie vielleicht nicht richtig verstanden. Vielleicht hat sich Boris geirrt. Er ist Kraftfahrer. Was versteht er von Spinnmaschinen? "Boris, eine der neuen Spinnmaschinen? Der ganz neuen?" .. Was ist? Ach so. Ja, eine der ganz neuen. Mist, nicht wahr? Schluderarbeit - oder die Frauen haben keine Ahnung!

So,

Mädchen, habt ihr alles verstaut? Genosse Reiseleiter, alles ist in Ordnung. Alle da. Kann ich fahren?" I na prüft noch einmal gewissenhaft die Teilnehmerliste. Dann nickt sie. 47

Ich muß aussteigen, denkt Walja. Ich muß aussteigen. Ich will aber nicht. Ich möchte nach Moskau. Warum mußte Boris davon erzählen? Konnte ihm nichts anderes ein­ fallen? Hätte er nicht weiter von seinem abgerissenen Barsch erzählen können wie und warum sich seine Angel in den Weidenbüschen verhedderte? Oder hätte er nicht bis Moskau damit warten kön­ nen? N iemand hat zugehört, als er ihr von der kaputten Spinnmaschine erzählt hat. N ie­ mand. Aber das zählt nicht. Sie weiß es ja. Sie weiß auch, daß nur sie und Tanja auf dem Lehrgang waren, um die Maschine reparieren zu können. N ur sie und Tanja. Die neuen Spinnmaschinen sind ihnen als Jugendobjekt übergeben worden. Es war ein schwieriger Lehrgang, die neuen Spinn­ maschinen sind kompliziert. Dafür schaffen sie auch das Zehnfache der alten. Nur sie 4 Da, Mädchen

49

und Tanja. Und Tanja sitzt neben ihr. Auf­ geregt. Glücklich. Nichts ahnend. Sie müßte aussteigen. Wenn die Maschine nun acht Tage stillsteht? Der Bus rollt leise durch die Straßen. Das Werk taucht auf. Verlassen liegt das Tor. Man kann bis auf den Hof schauen. Men­ schenleer. Im feuchten Nebeldunst stehen die großen Platanen davor. Die runden Früchte wippen sacht auf und nieder. Der Bus fährt weiter. Jetzt fährt er schnell. Hier hätte sie aussteigen müssen. Aber reglos hat sie aus dem Fenster gestarrt. Moska u. Der Kreml. Der Rote Platz. Das Warenhaus Gum. Die Räder bewegen sich unaufhalt­ sam fort. Walja will aufatmen. Nun ist es entschieden. Das Werk verschwindet im Regengrau.

Eine

sanfte

Biegung

der

Straße. Abgeerntete Felder auf der rechten Seite, saftiges Grün der Zuckerrüben auf der linken. Ja, nun ist es entschieden. 50

Aber etwas nagt und bohrt in Walja. Es zerstört ihre Freude. Die Spinnmaschine steht still. Ratlos stehen die Frauen davor. I hre Erfahrungen reichen nicht aus. Kom­ pliziert

ist sie

-

die

Große,

die

Ge­

waltige. "Soris, halt an!" - Hat sie es gerufen? Der Autobus steht. Muß sie es doch laut ge­ rufen haben. Alle schauen verwundert auf. "Ich

muß aussteigen.

Eine der neuen

Spinnmaschinen ist kaputt. " Tanja zerrt sie am Arm "Wer sagt denn das? Das ist doch Unsinn.

Die neuen

Spinnmaschinen können gar nicht kaputt­ gehen. Du sollst mit nach Moskau kom­ men. Du hast mir versprochen, wir sehen uns alles gemeinsam an. Ohne dich macht es keinen Spaß. Walja, komm mit. Laß doch die Spinnmaschine. Die Frauen wer­ den auch ohne dich zurechtkommen." Walja ist ausgestiegen. Erst als sie allein 4"

51

auf der Landstraße steht und den feinen N ieseiregen auf ihrer Haut spürt, weiß sie, daß sie sich entschieden hat. Der Bus nach Moskau ist fort.

Der Regen hat seine

Spuren auf dem grauglänzenden Asphalt schon ausgelöscht. Und doch ist sie nicht unglücklich. Seltsam. Nein, sie ist gar kein bißchen traurig. Sie nimmt ihren Koffer und geht die Landstraße zurück. In ihren Ohren klingen Tanjas zornige Worte:

"Vergnüg dich

gut mit

deiner Spinnmaschine! " Walja muß lachen. " Meine

Spinnmaschine

"

Die

Worte

kommen ihr bekannt vor. Hat sie das nicht selbst einmal gerufen? Vor Jahren? Als die Mutter nicht mit ihr nach Maslennikow gefahren war? Walja setzt den Koffer ab. Auf die Dauer ist der Regen unangenehm. Sie zieht das bunte Kopftuch aus dem Koffer und bindet es um. 53

Und erst jetzt - in diesem Augenblick, wo der dünne Regen durch die Kleider dringt, begreift sie, warum die Mutter damals ihr Versprechen brach. Ja, jetzt begreift sie es richtig. Es gibt ein größeres Versprechen, und sie selbst hat auch ein solches Versprechen abgegeben, als sie Komsomolzin wurde. Das durfte sie nicht brechen. Kalt fegt der Wind über die Felder. Die wenigen Bäume, die die Land­ straße säumen, halten ihn nicht auf. Der Wind dreht sich um Walja, als wolle er mit ihr tanzen. Trotz Regen und Wind ist sie vergnügt. In der nächsten halben Stunde wird sie ihre Feuerprobe maschine.

bestehen Und

Walja

vor

der

Spinn­

frohlockt.

Die

Große, die Gewaltige wird sich nicht acht Tage ausruhen können. Walja wird ihr auf die Schliche kommen! 54

D ER ER STE SPR UNG Nicht eine Woche Moskau - dafür eine Woche Jaroslawl. Acht freie Tage. Jetzt kann sie lesen. Wenn sie Lust hat, kann sie vom Morgen bis zum Abend lesen. Eine gelbe Septembersonne wetteifert mit dem Gelb der Birken. Walja liegt unter ihnen, am Rande einer Wiese. Weitab von der Stadt. Was sie am liebsten liest? Es sind noch immer Geschichten über die Revolution und über den Vaterländischen Krieg. Es sind Geschichten von einfachen Menschen, die zu Helden wurden. Nun hat sie das Buch ausgelesen. Sie wirft sich ins Gras und starrt in den blauen Himmel.

Ein silberglänzendes

Flugzeug

zieht vor ihr auf. Ihre Augen folgen seiner Bahn. Plötzlich löst sich aus dem silbernen Vogel ein dunkler Punkt. Gebannt starrt Walja darauf. Nach Sekunden stülpt sich 55

ein riesengroßer, weißer Pilz heraus. Ein Mensch schwebt zur Erde. Den Kopf zurückgeworfen, träumt Walja. Sie träumt, mit einer ebensolchen JAK auf­ zusteigen - mühelos - in das unendliche, klare Blau des Himmels. Höher, immer höher, unter sich die Erde, die prächtige, bunte Erde. Und dann aus dem Flugzeug springen? Ihr graut bei dem Gedanken. Aus lichter Höhe in das N ichts springen? Und aus der Angst und der N eugier, ob sie stark genug ist ihre Angst zu bezwin­ ,

gen, wird der Wunsch geboren, selbst in den Schnüren eines Fallschirms zu hängen, den Sprung zu wagen aus tausend Meter Höhe. Wo ist das Flugzeug hergekommen? Die N eugier treibt sie hoch. liegt nicht unweit von hier ein Flugplatz? Sie läuft über die Wiese. Fallschirmspringerin. Jawohl, heute 56

noch wird sie sich anmelden. Mutter wird staunen. Der 21. Mai 1959 ist ein besonderer Tag i n Waljas Leben. An diesem schönen Mai­ morgen wird für Valentina Tereschkowa im Fliegerklub das Startbuch begonnen. Während des zweiten Weltkrieges sind aus diesem Fliegerklub einhundert Helden der Sowjetunion hervorgegangen. Es ist sehr früh am Morgen. Die Mutter wollte es s i ch nicht nehmen lassen, bei Waljas erstem Sprung dabeizusein. Die beiden

gehen durch

das morgendliche

Jaroslawl, das frisch und sauber aus der Kühle der N acht gestiegen ist. Beide kön­ nen es nicht verhehlen, daß sie aufgeregt sind. Sie sprechen von ganz alltäglichen Dingen. Von Lusja, von dem neuen Kino. Aber in der M u tter bohrt ständig die Frage: Wird alles gut gehen? 58

Auf dem Flugplatz kommen ihnen der Flie­ ger Kondratjew und der Fluglehrer Pjatnu­ nin entgegen. Beide umarmen Walja und schütteln Jelena Fjodorowna die Hand. Wie vor jedem Flug mit einem Neuling, sind auch die beiden Männer aufgeregt. Die nötigen Vorbereitungen werden ge­ troffen. Walja überprüft noch einmal ihre Fallschirmausrüstung. Alles

ist in Ord­

nung. Nur ihr Herz klopft so. Sie will sich bezwingen und ruhig erscheinen. Sie lacht und scherzt mit Pjatnunin und Kondratjew. Doch durch ihr Lachen zittert die Auf­ regung. Die beiden Männer kennen das. Sie haben das schon oft erlebt. Als sie das Flugzeug erreichen, drückt ihr Pjatnunin fest die Hand. "Mut, Walja!" Hastig klettert sie ins Flugzeug.

Ihr ist

feierlich zumute. Der erste Spru ng! Heute sind alle ein wenig zu nett zu ihr. Könnten sie nicht so sein wie sonst? In 5'

59

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Mutters Augen sieht sie die Angst. Ist es nicht Leichtsinn, sich einfach aus dem Flug­ zeug zu stürzen - scheinen ihre Augen zu fragen. Walja wird springen, wie viele, viele an­ dere vor ihr gesprungen sind - mit dem gleichen bangen Klopfen in der Brust, mit dem gleichen Willen, es sich nicht an­ merken zu lassen. Sie setzt sich zurecht, vor sich Kondratjews breiten Rücken. Er läßt den Motor an. Sie winkt noch einmal der Mutter und den Sportkameraden. Leicht zieht die JAK 12 zu den klaren weißen Wolken hoch. Sie hat es geschafft. Ihr sind Flügel gewachsen - über die Erde hinaus. Walja schaut aus dem Fenster. Sie muß sich vergewissern, daß ihr die Höhe keine Angst macht.

Noch immer steigen sie.

Jaroslawl unter ihnen in seiner altertüm­ lichen

Schönheit.

Die Wolga

und

die 61

Kotorosl flattern wie dunkle Bänder durch das frühsommerliche Land.

Die weißen

Schiffe, die Menschen - alles bleibt, immer kleiner werdend, weit unter ihnen zurück. Jetzt muß es bald soweit sein! Und plötzlich ist sie da - die Angst. Walja starrt aus dem Fenster - hoch, sehr hoch sind sie. Und sie soll hineinspringen in dieses Nichts, diese Tiefe? Haltlos sprin­ gen? Nein! Sie möchte sich verstecken in den äußersten Winkel des Flugzeuges verkriechen. Sie möchte die Zeit anhalten. Ist

sie

tollkühn

gewesen,

springen

zu

wollen? Nur gut, daß niemand ihre Ge­ danken hört. Jetzt aber Schluß damit! Ihren Mut und ihre Kraft wird sie messen an diesem Sprung. Sie wird sich selbst über­ winden - ihre dumme Angst. Sie wird einfach denken: Partisanenauftrag! Sie hört Kondratjews Stimme: "Na, Walja - es ist bald soweit. Wie fühlst du dich?" 62

Walja würgt an einer Antwort. Ihr

Schweigen

beunruhigt

Kondratjew.

Dann hört er ein halb klägliches und doch spitzbübisches "Schlecht, ganz schlecht! " Aber dann lacht sie schon wieder. "Achtung,

ich

öffne

die

Tür!

Spring,

Wa I·Ja.I" Sie springt. Die Angst fällt ab. Jetzt ist sie konzentriert. Die Kühle des Morgens und der Höhe umfängt sie. Alles liegt jetzt bei ihr.

Alles

hängt

von

ihrem

schnellen

Reaktionsvermögen ab, von ihrer eigenen Geschicklichkeit. Sie fällt, als möchte sie das Land mit ihren Armen umfassen. Es klickt. Der Fallschirm löst sich. Es ruckt noch einmal. Kräftig und sicher hängt sie in den Fängen der weißen Seide. Sie steuert ihr Schweben, und sie weiß, sie wird wieder und wieder springen. Deutlich erkennt sie den weißen Kreis. Dort muß sie landen Der Sprung ist geglückt. 64

Die Mutter und die Sportkameraden eilen auf sie zu. Pjatnunin überreicht ihre einen großen Strauß weißer Margeriten. Weiß er, daß es Waljas lieblingsblumen sind? "Famos, Walja, Prachtmädel '" Walja lacht auf. Sie steckt ihr Gesicht in den weißen Strauß. Sie ist gesprungen.

D ER KO S MONAU T DI E KO S MONA UTIN Der 12. April 1961 hat begonnen wie jeder andere Tag. Es war sehr früh am Morgen, als Walja leise die Tür zur Küche öffnete. Im Textil­ kombinat leitete sie seit einiger Zeit einen Zirkel für Fallschirmsportier. An manchen Tagen

wurde

vor

Arbeitsbeginn

schon

trai n iert. 65

Walja bewegt sich so leise wie möglich in der Küche, um die Mutter nicht aufzu­ wecken. Behutsam läßt sie das Wasser in den

Kessel laufen.

Wie jeden

Morgen

erschrickt sie bei dem lauten Knacks, den der Kocher von sich gibt, wenn sie ihn einschaltet. Besorgt schaut sie zur Tür des Wohnzimmers, in dem die Mutter schläft. Dann

schaltet sie das Radio an.

Der

zweite laute Knacks! Kein Wunder! Es ist das alte Radio, das der Vater einst gekauft und an dem sie die Meldung über das Ende des Krieges gehört hat. Manchmal ist es stumm, dann muß man ihm einen leichten Schlag versetzen, und es besinnt sich wieder. Sie gießt sich Tee ins Glas. Dann erstarrt sie in ihrer Bewegung. Sie stürzt an den Apparat und dreht den Ton laut - kein Gedanke mehr, daß die Mutter erwachen könnte. Der erste Mensch im All! 67

Der Kommunist Juri Gagarin, einer

von

uns ist im All! An diesem Tage geht ein Brief ab ins Sternenstädtchen. Waljas Bewerbung. Sie wird Kosmonautin.

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5,80 M Best.- Nr. 629042 9 Für Leser von 9 Jahren an Ehe die Schüler der Klassen 4 a und 4 b begreifen,

daß

Klassenegoismus,

ein

Wettbewerb

sondern

schaftlicher Wettkampf

zum

ein

kein

freund­

N utzen aller

ist, muß von ihnen so manches durch­ gestanden werden. Veilchenaugen erblü­ hen, wenn Fäuste statt Argumente über­ zeugen sollen. Der Großvater muß sogar seinen

Sonntagsschnaps

einsetzen,

um

seinem Enkel Unangenehmes durch den Lehrer Zwiemann fernzuhalten. D ER K IND ERB UCHV ERLAG B ERLI N

Gerda Rottschalk D ER PAN Z ERKOMMAN DANT Illustrationen von Konrad Golz

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Unteroffizier übernimmt das

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etwa 5,60 M Best.-Nr.6292272 Für Leser von 8 Jahren an Der Tag sitzt vor dem Zelt und lacht. Genug geschlafen, aufgewacht! Werner lindemann präsentiert Gedichte rund um das Ferienzelt und erzählt in ihnen von zahlreichen heiteren Begebenheiten, die das Ferienlager fü r den Leser bereit­ hält.

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