102 - Klicks Klamm Und Das Wundersame Apothekerkraut

August 27, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Nature, Wellness
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Band 102 Klicks Klamm und das Wundersame Apothekerkraut Harry Gerlach Inhalt: unpolitisch; wie der Junge Klicks Klamm seiner Freundin Marlis hilft, wieder gesund zu werden

Für Leser von 7 Jahren an 1. Auflage 1973 Illustrationen von Bettina Weise © Der Kinderbuchverlag Berlin

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Hinter dem hohen Berg, wo die Wettertannen ihre zerzausten Äste in den Wolkenhimmel strecken, wohnt Klicks Klamm im ersten Haus des Dorfes Schwarzbrot. Zehn Häuser zählt das Dorf, dazu noch Scheunen, Garagen und Ställe, in denen aber nur noch Hühner und Kaninchen wohnen. Kühe und Schweine sind in die großen Ställe hinter dem Dorf umgezogen. Jeden Morgen, wenn sich die Sonne kaum den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, trat Klicks vor die Haustür, steckte vier Finger in den Mund und pfiff, daß die Hunde aus ihren Hütten rasselten, und kläfften. Dann lief Marlis, die mit Klicks in eine Klasse ging, geschwind auf die Straße, und beide stiefelten los: um den Himbeerberg herum, an der Trompetereiche vorbei durch den langen Wiesengrund nach Siebental in ihre Schule. Seit drei Tagen aber war der Schulweg gar

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nicht mehr lustig. Klicks trottete alleine zur Schule, denn Marlis lag krank zu Hause. Seine Mutter mußte ihn morgens ständig zur Eile antreiben. Als Klicks nach Hause kam, hockte sein schwarzer Kater Murr auf dem Gartenzaun. Klicks rannte an ihm vorbei ins Haus und nahm noch im Gehen seine Schultasche ab. Hastig schlang er seine Suppe hinunter, so daß ihn die Mutter ermahnte: "Langsamer!" Er aber rutschte, kaum daß er den Teller leer gelöffelt hatte, vom Stuhl, rief dem Kater zu: "Komm, Murr! Wir haben was zu tun!" Seine Mutter schüttelte verwundert den Kopf. Klicks rannte auf die Straße und weiter bis zum letzten Haus, wo Marlis wohnte, Murr immer ihm hinterher. Dort klopfte er an die Haustür. Aber niemand öffnete.

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"Sicherlich hört sie mich nicht!" murmelte der Junge und meinte damit Marlis‘ Großmutter. Ihre Eltern waren vor ein paar Tagen verreist. Und weil ihre Eltern nicht zu Hause waren, mußte er, Klicks, etwas tun, damit Marlis ganz schnell wieder gesund wurde. Viel hatte sie schon versäumt in diesen drei Tagen. Klicks kletterte über den Gartenzaun und schob eine Bank vor das Fenster, hinter dem Marlis ihr Bett hatte. Dann stieg er hinauf. Murr hatte aus seinen grauen Katzenaugen aufmerksam zugesehen, und mit zwei Sprüngen hockte er auf Klicks Schulter und lugte mit ihm zugleich in die Stube hinein. Klicks klopfte ans Fenster. Marlis drehte langsam den Kopf, hob die Hand und ließ sie matt wieder fallen. "Maunz!" sagte Murr, und Klicks bestätigte: "Du hast recht. Es sieht böse aus! – Was

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machen wir nun? – Den Doktor holen?" "Maunz!" knurrte Murr. "Du meinst, wir sollten ihn anrufen? – Das verstehst du doch nicht recht! Erstens gibt der Doktor meistens eine Spritze, und das pikt! Und zweitens, vielleicht schickt er Marlis ins Krankenhaus, dann kommt sie so schnell nicht wieder zur Schule!" Klicks merkte, daß das Fenster nicht verschlossen war, er drückte es auf und flüsterte Marlis zu: "Ich helfe dir!" "Was willst du machen?" "Ich gehe zur Muhmelies!" Doch Marlis schüttelte heftig den Kopf. "Das ist eine Hexe!" "Hm!" Klicks glaubte nicht recht daran. "Aber zum Schäfer geh ich! Der weiß bestimmt Rat!" Marlis war's zufrieden, und Klicks hüpfte von der Bank. "Komm, Murr! Wir suchen den Schäfer!"

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Und als Murr sich streckte und dehnte und ein Gesicht zog, als habe er nicht ganz verstanden, erklärte Klicks: "So ein Schäfer weiß über viele Krankheiten Bescheid. Den müssen wir fragen!" Der Schäfer weidete seine Herde irgendwo hinter dem Hexenwald, wo das gute Berggras wächst. Dort hatte er seine fahrbare Hütte und viele kluge Bücher über Krankheiten der Tiere. Zuerst rannten Klicks und Murr um die Wette. Vor dem Hexenwald aber wurde Klicks langsamer und blieb schließlich stehen. Unheimliche Geschichten fielen ihm ein, die dort passiert sein sollten. Murr wartete auf Klicks, denn er kannte die Hexengeschichten nicht; vielleicht hatte er keine Großmutter gehabt, die sie ihm hätte erzählen können. "Miau!" Murr drängte, er wollte weiter. Klicks sagte: "Ja, ja!" Aber er ging keinen Schritt.

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"Miau, miau!" Es war zu hören, daß der Kater ungeduldig wurde. Klicks zögerte immer noch. "Vielleicht sollten wir gar nicht weitergehen! Es kann sein, der Schäfer weidet seine Herde heute woanders", bedachte Klicks. "Miau!" Murr war sichtlich anderer Meinung als Klicks. "Weißt du bestimmt, daß der Schäfer dort hütet?" Murr sprang dreimal in die Luft und fauchte. "Dummheit!" knurrte Klicks. "Na schön, du sollst sehen, daß ich keine Angst habe. Aber erst schneide ich mir einen Stock ab!" Nachdem Klicks die Haselgerte prüfend durch die Luft geschlagen hatte, drangen sie in den Hexenwald ein Sie folgten einem schmalen Pfad, der sich zwischen den Fichten dahinschlängelte. Plötzlich

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blieb Klicks stehen und lauschte. Ein Summen und Brummen war zu hören. "Was ist das?" fragte er. Murr schlug mit dem Schwanz ein Rad: "Maunz! Das sind viele tausend Fliegen, Mücken und Käfer!" "Aha!" Klicks holte tief. Luft. "Weiter!" Auf einmal hallte ein schmetterndes Schimpfen durch den Wald. Der Junge erstarrte. "Maunz! Komm nur, das ist der Häher Paßauf." "Soso! Dann weiter!" antwortete Klicks. Sie waren nur ein Stückchen gelaufen, da hämmerte es und klopfte es. "Horch!" Klicks stand wie angewurzelt. "Maunz! Das ist der Specht Grünrock!" "Ach so! Der Specht!" rief Klicks. Von ihm hatte er schon gehört. Nach einer Weile lichtete sich der Wald, sie traten hinaus auf eine kleine Wiese. Aus hohem, scharfem

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Gras hörten sie es leise plätschern und gluckern. "Eine Quelle!" Klicks war froh, denn er hatte brennenden Durst. Er bog die Binsen und Seggen auseinander und erschrak, weil ein großer dicker Frosch mit mächtigen Sätzen flüchtete. Solch einen dicken Frosch hatte er noch nie gesehen. Die Quelle sprudelte ihr Wasser aus einem Rohr. Klicks fiel ein, daß manche Quellen kranke Menschen gesund machen können, und er rief: "Quelle, Quelle! Kannst du auch Kranke heilen?" Die Quelle sprudelte heftiger und murmelte: "Kann nicht helfen, kann nicht heilen, muß von Stein zu Stein nur eilen!" "Schade!" Klicks beugte sich nieder und trank in langen Zügen, und auch Murr schleckte das Wasser, als ob es süße Milch wäre. "Weiter geht‘s!" Und sie machten

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sich wieder auf den Weg, hinein in den Wald. Nach einer Weile lagen zwischen den Bäumen immer mehr und immer größere Steine, schwarz und manchmal glänzend. Klicks wurde es unbehaglich, denn er wußte, daß er jetzt bald am Hexenstein vorbeikommen würde. Und richtig, da war er auch schon, ein hoher zerklüfteter Felsen, an seinem Fuß häufte sich Geröll. Hier konnte kein Baum wurzeln, und die Sonne prallte auf die Felswand. Die Hitze, die der Stein ausstrahlte, ließ die Luft flimmern. Der Junge schritt vorsichtig weiter, der Kater eilte voraus. Der Hexenstein! Klicks gruselte es. Die Leute erzählten sich, daß hier eine Hexe hause. Manchmal zeige sie sich, aber nur selten in menschlicher Gestalt. Als Schlange oder Eule wollte sie schon mancher gesehen haben. Murr schien es hier zu gefallen, plötzlich

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aber machte er einen Buckel, fauchte und benahm sich recht sonderbar. Neugierig lief Klicks hinzu. "Was ist, Murr?" Der Kater antwortete nicht und fauchte nur stärker. Auf einmal sah Klicks, was den Kater so aufregte und erschreckt hatte. Abseits des Weges ringelte sich zwischen zwei Felsbrocken eine Schlange. "Nun haben wir den Salat!" knurrte Klicks und war überzeugt, daß das die Hexe vom Hexenstein war. Krampfhaft überlegte er. Seine Großmutter hatte ihm ein Sprüchlein gesagt, das jede Hexe zwingen sollte, unter Heulen und Zähneklappern aus ihrer Verkleidung zu schlüpfen. Wie hieß es nur? Da fiel's ihm wieder ein: Eins, zwei, drei, du Hexentier, komm heraus und zeig dich mir! Die Schlange kümmerte sich überhaupt nicht um seinen Spruch. Sollte das gar

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keine Hexe, sondern eine ganz gewöhnliche Schlange sein? Er sah genauer hin. Das war doch eine Kreuzotter mit dem Zickzackband auf dem Rücken! Sie schlängelte sich unter ein Felsstück und war verschwunden. Klicks atmete erleichtert auf, auch Murr schien zufrieden. Eine Kreuzotter hat Giftzähne, und kommt man ihr zu nahe oder tritt sie gar, dann beißt sie, und man muß schleunigst zum Arzt. Klicks hätte die Schlange gerne gefragt, ob sie nicht Marlis helfen könne, denn er wußte von seinem Vater, daß aus Schlangengift Arzneimittel hergestellt werden. Bestimmt war das keine Medizin gegen Bauchschmerzen. Die beiden tippelten weiter, wieder in den dichten dunklen Wald hinein. Schließlich rief der Junge dem Kater zu: "Warte, Murr! Ich muß mich erst ein wenig ausruhen. Mir tun die Beine weh!" Und Klicks hockte sich auf die großen Wurzeln einer mächtigen

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Eiche, während Murr ins knorrige Geäst kletterte, um nachzusehen, wie weit sie es noch bis zum Schäfer hatten. Plötzlich sauste etwas wie ein roter Blitz an Klicks vorbei und hinauf auf den Baum. "Hallo" rief der Junge. "Wer bist du? Wohin so eilig?" Das Tier blieb verschwunden. "Na, so etwas!" Klicks wunderte sich. "Seit wann kann ein Fuchs so klettern?" Da kicherte es, und hinter dem Stamm lugte das Tierchen mit kleinen schwarzen Augen neugierig zu Klicks. "Ich bin das Eichhörnchen Wisch, ein Fuchs ist viel größer, und klettern kann er auch nicht!" "Guten Tag, Wisch! Was machst du dort?" "Hier habe ich meinen Kobel, in dem ich wohne. Und wer bist du?" "Ich heiße Klicks Klamm und will zum

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Schäfer!" Und der Junge erzählte dem Eichhörnchen von Marlis. Wisch kicherte wieder. "Weißt du, daß du unter der uralten Gespenstereiche sitzt?" "Ach, das ist die Gespenstereiche? Gibt es hier wirklich Gespenster?" "Natürlich!" behauptete das Eichhörnchen. "Jede Nacht, wenn es zwölf Uhr schlägt, tritt ein Geist aus dem Baum." Klicks sprang eilig und erschrocken auf. "Was? Hier?" "Ja, genau dort! Wenn du einen Wunsch hast, mußt du es den Geist wissen lassen, er wird ihn dir erfüllen!" "Flunkerst du auch nicht?" "I bewahre!" versicherte das Eichhörnchen. "Wo ich doch hier wohne!" "Und was macht der Geist? He! Warum rennst du fort?" rief der Junge, denn Wisch sauste mit einem Male um den Stamm und verschwand.

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Murr sprang herunter. "Ach du!" sagte Klicks ärgerlich. "Jetzt hast du das Eichhörnchen verjagt." Der Junge erzählte dem Kater von Wisch, doch der zuckte mißtrauisch mit dem Schwanz. "Wenn dieser Wisch nur nicht gelogen hat! Ein windiger Geselle ist dieses Eichhörnchen." Klicks schlug mit seiner Gerte auf den Boden. "Gelogen oder nicht, weiter geht‘s!" Murr sprang voraus, und bald erblickten sie zwischen den Stämmen die große Hutung, doch kein Schaf blökte, kein Hund bellte, kein Schäfer pfiff. Einzig der Schäferkarren und der Pferch lagen verlassen vor ihnen. Klicks rüttelte an der Tür des Karrens, aber sie war verschlossen. Da legten sich der Junge und der Kater in den Schatten, und

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nach wenigen Minuten schliefen beide. Es war ja auch ein weiter und aufregender Weg gewesen. Auf der Waldwiese, gleich neben der Quelle, blühte eine Blume, eine wunderschöne Blume, sie sah aus wie ein roter Stern mit feinen goldenen Staubblättern. Warum hatte er sie vorhin nicht gepflückt? Sie duftete wie Nelken und Rosen und Jasmin. Klicks streckte die Hand nach ihr aus, da neigte sich die Blume ihm zu; er wollte sie brechen, schon hatte er sie in der Hand, und im selben Augenblick stand er vor Marlis Bett. Das Mädchen griff nach der Blume und roch daran. Ihre Wangen röteten sich. Sie schlug das Deckbett zurück, sprang heraus und rief: "Das ist ja die Wunderblume! Du hast sie gefunden! Jetzt bin ich wieder wau, wau! Wau-wauwau!"

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Nanu, dachte Klicks, warum bellt Marlis auf einmal? Sollte die Wunderblume die Menschen verzaubern? "Wau-wau-wau!" Marlis bellte noch immer. Da fauchte der Kater, und Klicks erwachte. Murr saß auf dem Dach des Schäferkarrens, und Strupp, des Schäfers Hund, kläffte giftig zu ihm hinauf. "Ich hab ja Besuch!" rief der Schäfer. "Heda, Strupp, zurück!" Der Schäfer legte seinen breitkrempigen Hut und den Umhang ab setzte sich auf die kleine Treppe an seinem Karren und stopfte sich eine Pfeife. "Hast du dich verlaufen, Klicks Klamm?" Der Junge schüttelte den Kopf und erzählte von Marlis und ihrer Krankheit und daß er jetzt allein zur Schule gehen müsse. "Kannst du die Marlis nicht gesund machen?" fragte Klicks und sah den Schäfer bittend an.

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Der Mann hatte aufmerksam zugehört, nun hob er bedauernd die Schultern. "Hm! Du bist den weiten Weg umsonst gegangen. Die kleine Marlis kann ich nicht heilen. Ja, wenn es ein Schaf wäre oder ein Hund!" Klicks ließ traurig den Kopf hängen. "Wer kann dann helfen?" Der Schäfer lachte. "Ganz einfach! Der Arzt natürlich!" "Der Doktor?" Klicks krauste die Stirn. "Na freilich! Aber warte, vielleicht hat die Muhmelies ein Mittelchen. Sie sammelt ja alle Heilkräuter. Etwas wird schon dabei sein, das Marlis wieder auf die Beine hilft." "Die Muhmelies?" Klicks dehnte die Frage, doch wahrscheinlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zu ihr zu gehen! "Auf Wiedersehen, Schäfer Bertram...! "Halt, halt!" rief der Schäfer. "Wohin willst du? Siehst du nicht, daß die Sonne schon untergeht?"

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Der feuerrote Sonnenball war bereits zur Hälfte hinter den Bäumen verschwunden. "Bleib hier! Oder hast du keine Lust, einmal in einer richtigen Schäferhütte zu schlafen?" Klicks drehte unschlüssig am Knopf seiner Jacke. Der Mann lachte. "Keine Sorge! Ich schicke Strupp ins Dorf zu meiner Frau, damit deine Mutter Bescheid bekommt." Und er riß einen Zettel aus seinem Notizbuch und schrieb: Klicks schläft heute bei mir in der Schäferhütte! Schäfer Bertram. Dann rief er Strupp, der am Halsband eine Hülse trug. Dahinein schob der Schäfer den Zettel, Klicks Augen wurden immer größer. "Du staunst, doch Strupp kann das!" Bertram gab dem Hund einen Klaps. "So lauf! Mach schnell!" Strupp jagte davon. Schäfer Bertram zündete ein Feuer an, briet

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und brutzelte, und dann gab es Abendbrot, auch für Murr und für den Hund Bello. Während der Schäfer noch einmal zu den Schafen ging, beriet sich Klicks mit Murr: "Was hältst du davon, ob wir doch vielleicht den Geist um Hilfe bitten?" Murr schien nichts von Geistern wissen zu wollen, er leckte sich interesselos das Fell. Der Junge starrte in die Glut des Feuers. Die Schafe blökten immer seltener. Die Bäume am Wald verloren langsam alle Farbe. "Komm, Klicks! Der Tau fällt, und es wird kühl." Schäfer Bertram bereitete das Lager für den Jungen. In der Hütte zog er seine Stiefel aus und schloß die Tür. "Gute Nacht, Klicks Klamm!" "Gute Nacht, Schäfer Bertram!"

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Lange Zeit konnte Klicks nicht einschlafen. Es roch seltsam in der Hütte, nach Holz und nach Tabak, nach getrockneten Kräutern und nach Brot und Schweiß und nach Schafen. Die Bank war hart. Als Kopfkissen hatte ihm der Schäfer eine Jacke untergeschoben. Die rauhe Decke juckte auf seinen nackten Beinen. Sollte er wirklich zu dem Geisterbaum gehen? Was mochte das für ein Geist sein? Aus Märchenfilmen kannte er ein paar Geister. Doch das war im Fernsehen, wo man in der Stube saß. Aber mitten in der Nacht einem Geist zu begegnen, das war eine andere Geschichte. Klicks' Gewissen pochte und rumorte und gab keine Ruhe. Schließlich ging es um Marlis. Er mußte seine Angst zerkauen. Doch wie sollte er wissen, wann Mitternacht war? Der Schäfer atmete regelmäßig: "Nchchpitschipüh-nchch-pitschipüh!" Klicks hörte

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eine Uhr ticken. Vorsichtig streifte er die Decke zurück und setzte sich. Dann stellte er sich auf. Die Dielenbretter knarrten leise. Er hielt den Atem an. Über dem Kopf des Schäfers leuchtete die Uhr. Ein Schritt und noch ein halber, dann hob er sie geräuschlos vom Nagel. "Rrrrrch!" schnaufte Schäfer Bertram. Klicks verharrte, erschreckt auf einem Bein stehend. Der Schäfer schlief weiter, Klicks tastete sich zu seiner Schlafbank zurück und legte sich. Viertel nach zehn, erkannte er. Hoffentlich schlafe ich jetzt nicht ein, dachte Klicks und gähnte. Er hörte auf den Schlafatem des Schäfers, auf das Bohren des Holzwurms, auf das Ticken der Uhr. Langsam kam der Schlaf, kroch an seinen Beinen hinauf, öffnete ihm die Hand, und die Uhr glitt auf die Decke. Schließlich drückte er ihm die Augen zu.

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Mit einem Male schrak er zusammen. Jetzt habe ich die Zeit verschlafen, dachte er und fühlte nach der Uhr. Halb zwölf! Höchste Zeit! Er lauschte noch einmal, richtete sich auf, griff nach seinen Schuhen und klinkte an der Tür. Die quietschte schrecklich. Klicks zog den Kopf ein und wagte nicht, Luft zu holen. Strupp steckte die Nase herein und winselte leise. "Pst, Strupp!" flüsterte Klicks, kraulte den Hund hinter den Ohren und griff nach den Leinen. Er lockte ihn und Bello zum Pferch, hakte die Leinen in die Ösen der Halsbänder und hängte die Handschlaufen über einen Pfahl. "Ruhig, keinen Laut!" Er hockte sich hin, zog seine Schuhe an und holte Murr vom Dach des Karrens. Die Tür blieb halb offen stehen. Murr und Klicks rannten dem Walde zu. Der Mond wunderte sich, aber leuchtete

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ihnen trotzdem. Im Wald jedoch war es stockfinster. Gut, daß Murr mit seinen Katzenaugen dabei war. Ein schauerlicher Ruf schallte aus dem Gezweig: "Kiwitt-kiwitt!" Klicks wurzelte fest, die Haare standen ihm zu Berge. "Maunz!" sagte Murr. "Keine Angst, das ist ein Käuzchen! Klicks fiel ein, daß er seinen Stock in der Hütte vergessen hatte, aber es war zu spät, um umzukehren. Zaghaft schritt er weiter. "Schuhu, schuhu!" Klicks versteckte sich hinter einem Baum. "Maunz!" fauchte Murr ärgerlich. "So ruft die Nachteule!" Klicks war froh, daß es nur ein Vogel war, und ging weiter. Die Zweige kratzten ihm ins Gesicht. Als sie eine kleine Anhöhe hinaufliefen und zwischen Hecken hindurchschlüpften, hielt ihn plötzlich jemand am Rücken fest.

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"Laß los, laß los! schrie Klicks entsetzt. Aber der Jemand riß an seiner Jacke, und Klicks dachte schon, der Geist habe ihn beim Wickel. Klicks bettelte: "Laß los – laß doch bitte los!" Murr kam zurück. "Maunz! Das ist ein Dornbusch, der dich hält." Klicks trocknete sich mit dem Ärmel den Angstschweiß ab, zog die Jacke aus und löste sie aus dem Gestrüpp. Außer Atem erreichte er die Eiche. Er preßte die Hände auf sein Herz und flüsterte: "Murr, bist du da?" "Miau!" "Das ist gut!" Klicks hockte sich auf einen Stein. Aufgeregt lauschte er auf jedes kleinste Geräusch. Im trockenen Laub raschelte es. Murr spitzte die Ohren und duckte sich zum Sprung. Wieder raschelte es. Murr schnellte vorwärts. Das Mäuschen

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schrie unter des Katers spitzen Krallen, dann war alles still. ,,Laß das!" Klicks war ärgerlich. "Gleich kommt der Geist, und du fängst Mäuse." Murr erwiderte nichts, sondern schnurrte behaglich. Die Maus war eine richtige fette Sommermaus gewesen, und er hatte seit dem Abend nichts mehr gefressen. Auf einmal hörte Klicks einen verwehten Glockenton, noch einen und noch einen. Jetzt mußte der Geist kommen. Er zitterte und starrte auf die Stelle, an der der Geist aus dem Baume treten sollte. Klicks wunderte sich. Hatte der Geist die Zeit verschlafen? Vielleicht mußte man ihn rufen? Doch wie er sich auch anstrengte, er konnte keinen Ton über die Lippen bringen. Schließlich würgte er ein paar zerquetschte, zaghafte Laute hervor: "He... Gei... ! Herr Geist!"

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Aus dem Walde hallte es schaurig zurück, doch Klicks hatte Mut gefaßt und rief jetzt laut: "Geist, Geist, komm!" "Fauler Zauber!" knurrte Murr und ließ die Mäuseknochen knacken. "Dieses Eichhörnchen hat gelogen, Miau!" "Scheint mir auch so!" sagte Klicks und atmete tief ein und aus. "Trotzdem werden wir noch ein bißchen warten!" Er streckte sich im Laub aus und gähnte. Es dauerte nicht lange, und Murr strich hinzu und legte sich über seine nackten Beine. Schön warm war das. Klicks starrte in die Waldnachtschwärze über sich. Noch einmal gähnte er tief und herzhaft. In die Schäferhütte war inzwischen die Nachtkälte gekrochen. Sie schlüpfte Schäfer Bertram unter die Decke und kühlte ihm den Rücken. Als er sich auf die andere Seite legte, faßte sie ihn an den Knien. Der Mann wälzte sich unwillig herum. Sie kroch

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ihm abermals in den Rücken, so daß er erschauerte. Er wurde hellwach und merkte: Die Tür stand offen. Bertram faßte nach Klicks. Der Junge, war verschwunden! "Donnerschlag!" fluchte der Schäfer und pfiff den Hunden. Am Pferch bellten sie, aber kamen nicht. Bertram fuhr in seine Stiefel und stapfte hinüber. Nun sah er, warum sie nicht gekommen waren. Er nahm Bello von der Leine und rief ihm zu: "Paß gut auf!" Strupp aber mußte an der Decke riechen, unter der Klicks geschlafen hatte, und der Schäfer befahl: "Such, Strupp, such!" Strupp bellte kurz auf, senkte die Nase und zog im Eilmarsch hinüber in den Wald. "So was!" murmelte der Mann. "Was will der Junge im Wald – mitten in der Nacht?" Murr hörte den Mann und den Hund kommen und, kletterte auf die Eiche. Klicks aber

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merkte nichts. Im Traum hörte er ganz deutlich die Turmuhr schlagen. Er zählte bis zwölf. Da trat mit schwerem Schritt der Geist, ein Riese, aus dem Baum, mit langem grünem Blätterbart und knorrig wie die Eiche selbst. Klicks wollte ausreißen, konnte aber kein Glied bewegen, und der Geist kam näher und näher. Er tippte ihm mit seiner feuchten, kalten Hand ins Gesicht. Klicks schrie auf. Da nahm ihn der Geist mit seinen starken Armen vom Waldboden auf und rief: "Klicks, Junge, was suchst du hier im Wald?" "Du sollst Marlis helfen!" schrie der Junge. Der Geist lachte wie Schäfer Bertram und sagte: "Du mußt den Doktor holen! Das habe ich dir schon gestern gesagt!" Klicks rieb sich verwundert die Augen und merkte, daß er wirklich getragen wurde.

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"Schäfer Bertram? Bist du das?" "Ja, natürlich! Wer soll es denn sonst sein?" Bertram wunderte sich. "Und wo ist der Geist, der mir mit seiner kalten Hand ins Gesicht gefaßt hat?" "Ein Geist? Glaubst du an Gespenster, Klicks? Das war doch Strupp mit seiner Nase! Ein Geist! Haha-haha!" der Schäfer lachte so sehr, daß er den Jungen auf die Erde setzte. Klicks erinnerte sich an den Kater und rief ihn. Murr fauchte nur und blieb auf dem Baum, denn Strupp schnüffelte verdächtig umher. Der Sonnabendmorgen dämmerte bereits, als Schäfer Bertram und Klicks aus dem Wald auf die Hutung hinaustraten. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen, und Bertram meinte, es würde einen heißen Tag geben. Klicks hörte kaum auf das, was der Schäfer sagte; ihm bohrte wie ein

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Wurm der Gedanke im Kopf, daß er noch immer keine Hilfe für Marlis hatte schaffen können. "Du machst ja schöne Geschichten!" sagte jemand, und Klicks erkannte seinen Vater. "Ich komme von der Schicht nach Hause und muß deinetwegen gleich wieder weg." Klicks starrte auf seine Schuhspitzen und erwiderte leise: "Ich wollte nur, daß Marlis gesund wird." "Soso!" sagte der Vater nur, nachdem Klicks ihm alles erzählt hatte. "Das ist etwas anderes!" Er lächelte und strich seinem Jungen über den Kopf. "Jetzt wollen wir aber schnell nach Hause!" Klicks bedankte sich bei Schäfer Bertram und faßte nach der großen, warmen Hand des Vaters. Nachdem sie Murr geholt hatten und im Auto saßen, sagte Klicks: "Murr hat auch

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gesprochen und das Eichhörnchen und die Quelle im Hexenwald." "Nanu?" Der Vater wunderte sich. "Gesprochen haben sie?" "Ja, richtig gesprochen!" Und Klicks erzählte. "Aha!" Bedächtig erklärte der Vater: "Das ist so: Tiere und Bäume und Steine können manchmal erzählen, aber nur ... was die Menschen für sie denken!" "Dann ... dann habe ich eigentlich alles selbst gesagt?" "Natürlich!" "Und Vati ...‚ gibt es Hexen und Geister?" "Aber nein, Klicks. Das sind..." der Vater suchte nach einem treffenden Wort, "OGestalten, die sich die Menschen ausgedacht haben, weil sie manche Dinge nicht natürlich erklären konnten." "Komisch! Dann habe ich mich vor mir selbst gefürchtet?"

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"Sieh mal an, was ich für einen klugen Sohn habe!" "Und die Muhmelies ist auch keine Hexe?" "Aber nein! Sie ist eine liebe und kluge alte Frau!" "Und ihre Katzen sind ganz gewöhnliche Katzen?" "Genau wie Murr!" Klicks streichelte seinen Kater. Heute würde er nicht zur Schule gehen und gleich die Muhmelies aufsuchen, die Lehrerin würde schon verstehen, warum er nicht zur Schule kommen konnte. – Der Vater war mit seinen Gedanken bereits zu Hause – ein Arzt mußte geholt werden für die kleine Marlis. Klicks hatte sich sofort auf den Weg gemacht, nun schob er sich durch ein letztes Himbeergestrüpp und stand dann vor dem

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kleinen Haus der Muhmelies hoch am Hang. Er erinnerte sich, daß die alte Frau eine Stube im Dorf bekommen sollte, aber sie wollte nicht. Wo sollte sie ihre Kräuter sammeln und trocknen? "Sie ist eben eine richtige Waldhexe!" hatten manche gesagt, aber das wußte Klicks nun besser. Er klopfte und hörte gleich darauf schlurfende Schritte. Dann wurde ein Riegel zurückgestoßen und die Tür geöffnet. Eine alte Frau mit schlohweißem Haar nickte ihm zu. Ihr zahnloser Mund lächelte. Sie streckte ihm die Hand hin, die knochendürr und von hundert kleinen Falten und Runzeln überzogen war. "Na, mein Junge?" fragte sie. "Welcher Wind hat dich zu mir heraufgeweht?" "Guten Tag !" antwortete Klicks. "Da ist auch noch Murr." "Ah, fein! Guten Tag, Murr!" sagte die Alte und winkte dem Kater zu, der mit schräg-

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geneigtem Kopf die Begrüßung beobachtete. "Kommt nur herein, ihr beiden! Es passiert nicht alle Tage, daß ich Gäste habe." Klicks und der Kater schlüpften ins Haus, und der Junge erzählte von Marlis. Die Kräuterfrau wiegte den Kopf hin und her. "Tja, wollen mal sehen, was sich machen läßt." Sie gab Klicks ein Glas Himbeersaft und Murr ein Schälchen Ziegenmilch. Dann humpelte sie zur Kommode, setzte sich eine altertümliche Brille auf die Nase und holte ein dickes, zerlesenes Buch heraus. Sie blätterte, las und murmelte vor sich hin. Dann winkte sie Klicks und ging voraus in einen anderen Raum. Er riß die Augen auf und schnupperte den würzigen Duft, und auch Murr hob den Kopf, denn ihm fuhr Baldriangeruch in die Nase. Auf Horden und Gestellen lagen, fein

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säuberlich geordnet, Blätter, Blüten und Wurzeln verschiedener Kräuter; an den Wänden und unter der niedrigen Decke hingen getrocknete und gebündelte Pflanzen. Suchend tappte die Muhmelies umher, faßte in diese und jene Horde hinein, prüfte mit Fingern und Nase den Zustand der Pflanzen, brabbelte vor sich hin, schüttelte den Kopf und schlurfte weiter. "Was ist das alles?" fragte Klicks. "Das hier ist Bienenkraut oder Demut, manche sagen auch Thymian", erklärte sie. "Er ist gut gegen Husten. Das sind die Wurzeln von Beinwell, hilft bei Beinbrüchen und Magengeschwüren." Klicks deutete auf ein Gestell. "Huflattich, haben wir in der Schule gesammelt!" "Ganz recht!" Die Alte legte ihm ihre hagere Hand auf den Kopf. "Auch Huflattich bekämpft den schlimmen Husten!" Sie tappte weiter.

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"Und hier sind Brennesselblätter. Wer blasen- oder nierenkrank ist, sollte davon einen Aufguß trinken." Klicks deutete auf eine Horde, in der einige wenige Stengel einer Pflanze lagen, an deren Zweigspitzen sich je zwei schmale Blätter spreizten. "Das kenne ich nicht!" "Das ist die Mistel. Ich kann sie nur schwer bekommen, denn sie ist ein Schmarotzer und wächst auf hohen Bäumen. Wenn irgendwo Holz geschlagen wird, muß ich aufpassen, hochsteigen kann ich nicht mehr." ,‚Und wozu nützt sie?" erkundigte er sich. "In vielen Medizinen ist sie versteckt, gegen Arterienverkalkung und zu hohen Blutdruck wird sie verordnet." Klicks staunte. Zu jedem Kraut wußte sie etwas zu sagen. Bestimmt war unter den vielen Pflanzen auch eine gegen Marlis' Krankheit.

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"Da staunst du!" sagte die Frau. "Heute gibt es nur noch wenige Kräutersammler, viele Heilpflanzen werden deshalb in Gärtnereien gezogen." Abschätzend fuhr sie mit den Fingern in eine Stiege mit getrockneten Blättern. "Das ist schon gut!" murmelte sie, holte aus einer Lade einen weißen Leinwandbeutel und füllte ihn. "Tollkirsche! – Gegen Asthma. Auch der Augenarzt braucht sie. Sehr giftig! Sehr giftig, mein Söhnchen!" Sie hängte den Beutel an den Nagel, schüttelte dabei den Kopf und sagte: "Nein, so geht es wohl doch nicht!" Nach den Worten des Jungen konnte Marlis Blinddarmentzündung haben, und deshalb mußte ein Arzt kommen. Ich kann doch dem Jungen nicht einfach etwas mitgeben, dachte sie. Sie faßte Klicks um: "Das Kraut, das Marlis hilft, hab ich nicht."

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"Du hast es nicht?" Tränen kamen vor Enttäuschung. "Du hast es nicht, wie heißt es denn?" "Es heißt..." die Alte wandte dem Jungen den Rücken zu, "es heißt... ja, es heißt das Wundersame Apothekerkraut." Warum guckt sie mich so seltsam an? dachte Klicks und wiederholte: "Das Wundersame Apothekerkraut! Und wo bekomme ich es her?" "Es bleibt nur ein Weg: Du rufst den Doktor an. Der wird Marlis das Wundersame Apothekerkraut bringen." "Nein, nein! Nicht den Arzt! Marlis möchte nicht, daß der Arzt kommt." "Na gut! Dann mußt du selbst in die Apotheke nach Dreibrunn. Nimmst du mir einen Beutel Huflattich mit?" "Das ist ja weiter als bis nach Siebental!" sagte Klicks ein bißchen erschrocken. "Aber ich gehe gern. Gib nur her!"

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"Eile mit Weile! Erst muß ich den Beutel füllen und dem Apotheker ein Zettelchen hineinlegen, damit er weiß, was mit den Blüten ist. Geh und hole mir derweilen Wasser von der Quelle, ich mache inzwischen alles fertig!" Klicks lief Wasser holen, die Alte kramte währenddessen Papier und Bleistift aus der Lade und schrieb. Noch war sie nicht ganz fertig, da kam der Junge mit dem Wasser zurück. Sie deckte schnell die Hand über den Brief, steckte ihn zu den Blüten und verschnürte den Beutel sorgfältig. Außen hängte sie ein Schildchen an: Huflattichblüten. "So, mein Söhnchen! Jetzt kannst du dich auf den Weg machen: Du gehst schnurstracks in die Apotheke und gibst dem Apotheker den Beutel. Er soll ihn öffnen und den Zettel lesen. Dann verlangst du das Wundersame Apothekerkraut. Und verlier

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den Beutel nicht, und laß ihn nicht naß werden!" "Ja, ja!" sagte Klicks und prägte sich alles gut ein. "Und tu, was der Apotheker dir sagt!" riet die Frau. "Wird gemacht!" rief Klicks, bedankte sich, rief Murr und lief davon. Nach kurzer Zeit hatten die beiden den Himbeerberg hinter sich gelassen. Ein Wegweiser meldete: Dreibrunn 8 km. Klicks holte tief Luft, bis dahin mußten sie marschieren. "Vielleicht kehrst du lieber um!" sagte Klicks zu Murr. "Du hast so kleine Pfoten!" Murr wollte nicht nach Hause, und schließlich stimmte Klicks zu. "Na gut! Dafür hast du ja auch vier Beine und ich nur zwei!" Klicks schwang sich den Beutel auf den Rücken und schritt kräftig aus.

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Die Sonne stach unbarmherzig. Schweißtropfen rannen Klicks von der Stirn, und er blies die Tropfen von der Nasenspitze. Die Zunge klebte ihm im Mund. Argwöhnisch musterte er die schwarze Wolkenwand, die näher und näher rückte. In der Ferne brammelte leiser Donner. Er erinnerte sich, daß man bei Gewitter niemals unter frei stehenden und hohen Bäumen Schutz suchen sollte. Schon zuckte der erste Blitz, und nach einem Weilchen grollte der Donner. Gleichzeitig fegte ein Windstoß den Straßenstaub vor sich her und den beiden Wanderern ins Gesicht. "Da haben wir‘s!" knurrte Klicks, aber er dachte nicht ans Umkehren, sondern rannte los. Gerade als wieder ein Donnerschlag durch den Wald hallte und die ersten Regentropfen große schwarze Tupfen auf die staubige Straße malten, erreichte er eine kleine Schutzhütte. Klicks stieß die

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windschiefe Tür auf, als der Regen losprasselte. Er hockte sich auf eine Bank und verschnaufte. Murr verkroch sich darunter. Draußen tobte das Unwetter, polterte schwer, rollte dumpf und krachte manchmal knisternd und hell. Im Straßengraben schäumte schmutzigbraunes Wasser. Nach einer halben Stunde ließ der Regen nach, hörte schließlich ganz auf. Klicks musterte den Himmel, atmete die frische Luft tief ein und rief den Kater: "Komm, Murr! Wir müssen weiter!" Murr zeigte keine rechte Lust. Er strich langsam bis zur Tür, machte einen Buckel, gähnte und drehte wieder um. "Was ist los?"rief Klicks. "Bist du wasserscheu? Es regnet keinen Tropfen mehr!" Der Kater wollte nicht, die Straße war ihm zu naß. Da hob der Junge den Kater hoch und legte ihn sich wie einen Kragen um den Hals. Murr schnurrte behaglich, aber Klicks

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sagte unwirsch: "Siehst du, erst wolltest du unbedingt mit, und jetzt kann ich dich schleppen. Prost Mahlzeit!" Und er nahm den Beutel der Muhmelies und marschierte weiter. "Nie wieder nehme ich dich mit!" versicherte Klicks, doch Murr ließ sich dadurch nicht stören. Der lange Weg durch den Wald war zu Ende. Vor ihnen glänzten im Sonnenschein die regennassen Dächer der Stadt. Klicks hatte Lust, ein Lied zu singen. Doch Murr war so schwer, und der Faulpelz wollte nicht auf eigenen Beinen marschieren. Kurz vor den ersten Häusern führte die Straße über eine Brücke. Drei Jungen in Klicks Alter standen hier, einer hatte einen schwarzweißen Verkehrsstab. Als Klicks sie fast erreicht hatte, hob der Junge den Stab und rief: "Halt! Volkspolizei! Den Personalausweis, bitte!"

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"Du spinnst wohl?" fragte Klicks, erbost über den neuen Aufenthalt, und tippte auf seine Stirn. "Verhaften Sie den Mann!" befahl der Junge den beiden anderen. Klicks wurde rot vor Zorn, als sie auf ihn zutraten, und er überlegte, ob er sich nicht mit ein paar Faustschlägen den Weg freikämpfen sollte. Doch der Beutel der Muhmelies konnte zerreißen oder ins Wasser fallen, deshalb antwortete er schnell: "Ich bin vom Roten Kreuz, muß dringend in die Apotheke, das hinbringen". Klicks zeigte ihnen das Schildchen mit der Aufschrift "Huflattich", "und wichtige Medizin muß ich holen!" "Warum sagen Sie das nicht gleich?" erwiderte der Junge ernsthaft und gab den beiden einen Wink, von Klicks abzulassen. "Genosse Wachtmeister, bringen Sie den

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Kollegen zur Apotheke!" Er legte zum Gruß die Hand an sein Pionierkäppi. Klicks war dieser Ausgang sehr recht, denn so brauchte er sich nicht durchzufragen, und auch Murr konnte seine Krallen wieder einziehen. Nicht so recht war es dem "Wachtmeister", alle Leute drehten sich nach ihnen um und lachten über den, Kater. "Spielt ihr oft Volkspolizei?" fragte Klicks. "Oft. Aber heute ist nichts los!" Sie bogen auf den Marktplatz ein. "Dort ist die Apotheke!" sagte der Junge. "Mach‘s gut!" Er rannte davon, und Klicks stieg eine Minute später die Stufen hinauf. Die Tür war verschlossen. Was nun? Da entdeckte er an der Seite ein Emailleschild mit der Aufschrift: Nachtglocke. Darunter glänzte ein Klingelknopf. Muß ich nun warten, bis es Nacht ist? überlegte Klicks. Ach was!

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Ich probier's! Und er drückte vier-, fünfmal auf den Knopf. Drinnen läutete es Sturm. Ein Fenster wurde aufgerissen, und ein alter, weißhaariger Mann mit goldumrandeter Brille schaute heraus. "Was gibt‘s denn? Was willst du? Die Apotheke ist geschlossen !" "Ich bringe das hier von der Muhmelies!" rief Klicks. Der Alte murmelte etwas, das "Verrückt, verrückt!" oder auch "Ich komme gleich!" heißen konnte, schloß das Fenster und öffnete kurz darauf die Tür. "Katzen dürfen hier nicht herein! Laß sie mal schön draußen!" sagte der Alte. "Das ist keine Katze, das ist ein Kater!" antwortete Klicks und drängte sich, Murr noch immer auf den Schultern, an dem Mann vorbei in die Apotheke. "Aha! Ein Kater!" schmunzelte der Apotheker.

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Klicks gab ihm den Beutel und sagte: "Ein Zettel steckt drin, den sollen Sie zuerst lesen !" "Soso! Ja, dann wollen wir mal." Er zerschnitt den Bindfaden, roch an dem Beutel und nickte zufrieden. "Prima Ware! Ja, die Muhmelies versteht‘s!" Er holte den Zettel heraus, und während er las, blickte er über die Brille hinweg ab und zu nach dem Jungen. "Ist das alles?" fragte er. "Nein!" Klicks Wangen glühten. Jetzt mußte es sich entscheiden. "Ich möchte für Marlis das Wundersame Apothekerkraut haben, damit sie schnell gesund wird." "Hm,!" Der Mann legte den Finger an die Nase. "Setz dich solange, das dauert ein Weilchen!" Der Apotheker wies auf einen Stuhl, und Klicks setzte sich; kaum hatte der Alte den Raum verlassen, sprang er wieder auf. Zum

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ersten Mal in einer Apotheke! Wie das roch! So wie bei der Muhmelies und doch wieder ganz anders. Ob der Apotheker auch Pflanzen trocknete? Vorsichtig öffnete er die Tür, hinter der der alte Mann verschwunden war. Er konnte nicht hineinsehen, doch hörte er den Apotheker sprechen, aber nur den Apotheker. Da wußte Klicks: Er telefonierte! Der Junge hörte genauer hin. "Hören Sie, Doktor, wenn die Muhmelies meint, daß ein Arzt gerufen werden muß, ist das wirklich dringend. Das Mädchen ist vielleicht in Lebensgefahr! Wahrscheinlich Appendizitis...! Nach Schwarzbrot, ja! Sie müssen sowieso hin... Der Junge wollte das Wundersame Apothekerkraut... Natürlich... Ist gut!" Klicks zog die Tür leise wieder zu. Er hatte genug gehört; deshalb hatte ihn die Muhmelies so sonderbar angeschaut, deshalb der Alte mit den Augen gezwinkert.

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Lebensgefahr, das hieß, Marlis konnte sterben, wenn nicht rechtzeitig Hilfe kam. Die Glocke schellte, und der Apotheker kam herein und brummte: "Wer will denn schon wieder etwas?" Er öffnete die Tür und stellte sich erstaunt. "Sie, Herr Doktor?" "Ja, ich!" erwiderte der Arzt und verwandte auf Klicks keinen Blick. "Ich brauche schnell etwas vom Wundersamen Apothekerkraut. Ich bin nach Schwarzbrot gerufen worden." "Hm!" Der Apotheker räusperte sich. "Hoffentlich reicht es." "Könnten Sie nicht den Jungen mitnehmen, Doktor?" "Natürlich!" sagte der Doktor erfreut und reichte dem Jungen die Hand. "So brauche ich nicht alleine zu fahren!" Der Apotheker brachte eine Schachtel und gab sie dem Doktor.

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Klicks durfte sich vorn neben den Arzt setzen und die Schachtel halten. Murr machte sich‘s im Rückfenster bequem. Wie sich herausstellte, war der Arzt von einem Mann angerufen worden, bereits vor einigen Stunden, doch er war zu Krankenbesuchen unterwegs gewesen und konnte deshalb erst jetzt fahren. Klicks erzählte dem Doktor von seinen Erlebnissen und von Marlis. "Du bist ein kluger und mutiger Junge, Klicks! Alle Achtung! Ja, weißt du, früher, als es noch wenige Ärzte gab, sind die Leute oft zum Schäfer oder zu Kräuterfrauen gegangen. Sie kannten die heilkräftigen Pflanzen und Quellen. Und viele Menschen sind auch von ihnen geheilt worden. Manche glaubten an Geister und Hexen, an Zauberer und den Teufel. Sie haben mit Hokuspokus die Krankheiten austreiben wollen, so wie du die Hexe aus

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der Schlange. Das konnte nicht gut ausgehen, und nur wenige sind von selbst gesund geworden. So war das früher und so ist es in manchen Ländern der Erde immer noch." Der Arzt erklärte das alles dem Jungen ernsthaft und sagte dann: "Heute gibt es Ärzte und Krankenhäuser!" "... und das Wundersame Apothekerkraut!" sagte Klicks schnell, klopfte auf seinen Karton und blickte dem Doktor ins Gesicht. Der Arzt wurde verlegen, als hätte Klicks ihn beim Lügen ertappt. Als er nicht antwortete und nur herumdruckste, sagte Klicks leise: "Gelt! In der Schachtel ist gar nichts drin. Es gibt gar kein Wundersames Apothekerkraut?" Der Arzt nahm den Fuß vom Gaspedal und verringerte die Geschwindigkeit des Wagens, damit er besser zu Klicks sprechen

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konnte. "Es gibt viele wundersame Kräuter, mein Junge, aber jede Krankheit will ihr Kraut haben. Ein Kraut für alle Krankheiten, das gibt es nicht. Und kein Kraut und keine Medizin und kein Doktor kann Marlis von heute auf morgen gesund machen." Der Arzt faßte nach der Hand des Jungen. Klicks zog sie zurück und rieb sich damit in den Augen. "Fahr nur schnell, Doktor! So schnell du kannst." "Ist was, Klicks?" fragte der Arzt besorgt. "Mir ist wahrscheinlich etwas ins Auge geflogen!" sagte Klicks tapfer. "Fahr nur schneller!" Der Doktor gab Gas. Der Wegweiser flog vorbei. Die Trompetereiche. Jetzt noch um den Himbeerberg herum... Schwarzbrot war erreicht. Klicks' Vater

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wartete besorgt vor dem Haus, in dem Marlis wohnte. Die Großmutter lamentierte. Es dauerte nicht lange, und der Doktor kam eilig wieder heraus. "Klicks, wo kann ich telefonieren?" fragt er. Klicks führte ihn zur Poststelle und wartete draußen. Durch das offene Fenster konnte Klicks hören, wie der Arzt einen Krankenwagen anforderte und das Krankenhaus anrief. "Ja, Schwester! Das Kind muß operiert werden, sagen Sie dem diensthabenden Arzt, er möchte alles vorbereiten lassen!" Als er aus dem Haus trat und den Jungen stehen sah, drückte er ihn an sich. "Klicks, du hast Marlis sehr geholfen", sagte er ernst. Sie hat eine Blinddarmentzündung." Wenig später hörte Klicks .das eilig "Tü-ta,

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tü-ta, tü-ta!" des Krankenwagens, die Bremsen quietschten, das Fahrzeug stoppte. Zwei Männer sprangen heraus, öffneten die hintere Tür und zogen eine Trage aus dem Wagen. Sie eilten ins Haus. Kurz danach brausten sie mit Marlis davon. Macht die Straße frei, blinkte das Blaulicht auf dem Krankenwagen. Drei lange Wochen mußte Marlis im Krankenhaus zubringen, und es hätte nicht so lange gedauert, wenn der Arzt eher gerufen worden wäreO Jeden Ferientag besuchte Klicks die kleine Marlis und erklärte ihr alles, was sie in der Schule versäumt hatte. Und wenn sie genug gelernt hatten, dann lachten sie und lachten. Und worüber? Über – na? ...das Wundersame Apothekerkraut.

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