097 - Beseler, Horst - Auf Dem Fluge Nach Havanna

August 27, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Nature
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DDR 1,75 M

ab 9 J.

DIE KLEINEN TROMPETERBÜCHER

Ein Tschaika hält vor einem alten Berliner Mietshaus. Besuch von weit her. Aus Moskau. Aber der Genosse Engelke ist mit seinem grünen Klempnerkasten unterwegs. Marion, Wilma, Vedder und die anderen Kinder helfen ihn suchen. Die Mühe scheint vergeblich. Dem sowjetischen Gast bleiben schließlich nur noch fünfzehn Minuten. Dann muß er zum Flughafen. Besteht noch eine Möglichkeit, den Genossen Engelke ausfindig zu machen? Glucke Hampel hat die rettende Idee… Und so gibt es doch noch ein Wiedersehen nach langen Jahren. Eine alte Freundschaft kann gefeiert werden.

DIE KLEINEN TROMPETERBÜCHER • BAND 97

Horst Beseler

Auf dem Fluge nach Havanna

DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN

Illustrationen von Gertrud Zucker

Wir hatten die Männer nicht kommen hören. Der Lärm von den nahe gelegenen Baustellen war zu stark. Durch eine Abrißlücke am Ende des Hinterhofs drangen unablässig Baggerkrach und das Dröhnen schwer beladener Kipper heran. Man mußte ziemlich laut sprechen, um sich verständigen zu können. Die Hitze machte dösig. Selbst der staubige Betongrund des Hofes fühlte sich warm an. Wir saßen hier fest, weil Marion mit ihrem verfluchten Fahrrad nicht fertig wurde. Sie hatte den vorderen Schlauch schon einmal geflickt. Beim Nachprüfen waren in der Waschschüssel Luftblasen aufgesprudelt. Nun mußte alles wieder losgerissen werden. Dabei wäre die ganze Sache längst erledigt gewesen, wenn Marion einen von uns Jungen herangelassen hätte; Glucke Hampel beispielsweise, der trotz seiner pummeligen Finger bei allem Handwerkskram

den besten Griff hatte. Aber gerade das wollte sie nicht. Offenbar legte es Marion darauf an, daß wir erst wer weiß wie spät zum Baden wegkamen. Sie wußte ja, daß wir warten würden. Wir fuhren immer zusammen los. Hampel sah finster zu Boden und schmierte mit dem Daumen Kreise in den Staub. Vedder ließ gelangweilt seine Taschenuhr am Kettchen zwischen den Knien pendeln. Allein die sanfte Wilma, die stets geduldig blieb, blickte freundlich drein. Plötzlich berührte jemand meine Schulter und fragte mit erhobener Stimme: „Ein Herr Engelke soll hier wohnen?“ Ich drehte mich auf den Fersen um. Da stand ein jüngerer Mann in feinem Sommeranzug und sehr blank geputzten Schuhen. Sich zu mir herunterbeugend, ergänzte er seine Frage bestimmt: „Vorname Rudolf!“

„Vorne, bei der Wieland.“ Ich wies mit dem Ellenbogen zur Hausdurchfahrt. Dort warteten noch zwei Leute. Einer davon ähnelte jenem, der soeben gefragt hatte. Schlips und Kragen, alles tadellos. Er mochte auch das gleiche Alter haben, um die Dreißig. Jener Dritte aber an der Durchfahrt unterschied sich von diesen beiden. Sein Haar und der buschige Schnurrbart waren fast weiß. Den Kopf hielt der Mann etwas gesenkt, das Kinn leicht gegen die linke Schulter gezogen. Irgendwie paßte das nicht zu seiner hochgewachsenen, kräftigen Gestalt. Ich maß alldem keine Bedeutung bei. Doch zwanzig Minuten später sollte ich mich dieser Beobachtung wieder erinnern, desgleichen der merkwürdig stillen Art, wie er mit der einen Hand langsam über die Knöchel der anderen rieb: Enttäuschung und mühsam niedergehaltene Erwartung verbargen sich dahinter.

Gleichgültig sagte ich: „Es ist eine Ladenwohnung.“ Vedder warnte trüge: „Achten Sie man schön auf die Töle. Das Vieh geht gleich an die Hosen!“ „Mir tut er nichts.“ Die sanfte Wilma schob mit ausgestrecktem Zeigefinger ihren Brillenbügel auf der Nase zurecht. „Ich kann ja mal mitgehn, daß Sie auch reinkommen.“ Der Mann mit dem buschigen Schnurrbart folgte ihr stumm. Wenig später brach vorn an der Straße ein wildes Gekläff von Witwe Wielands gelbem Plüschköter los. In unserer Runde auf dem Hof machte sich das alte unbehagliche Schweigen von neuem breit. Vedder war wieder schläfrig in sich zusammengesunken. Glucke Hampel verfolgte grimmig Marions absichtlich langsame Handhabungen an dem Fahrradschlauch.

Sie versuchte vergebens, Reste zäher Gummilösung von der Klebestelle abzuschmirgeln. Endlich wurde es Hampel zuviel. „Geht doch auf diese Weise niemals weg!“ Marion fauchte: „Haut bloß alle ab, meinetwegen!“ „Machen wir auch!“ erwiderte Hampel grob und klatschte mit der flachen Hand auf den Boden. „Solln wir ewig warten, nur weil du dir nicht helfen lassen willst? Kommen sowieso schon zu spät ins Freibad. Und die besten Plätze auf’m Rasen werden weg sein, weil die Großen mit ihren Kofferheulen drauf hocken. Und das Eis an der Bude ist auch alle, wenn wir endlich antanzen. Höchstens Brause gibt’s dann noch, diese dämliche Plürre!“ Glucke Hampel hatte sich jetzt ordentlich in Wut geschrien. Seine Ohren wurden glührot. Die blonden Borsten über der

Stirn schienen sich zu sträuben. „Und weshalb das ganze Theater? Weil du tust, als ob noch einer selig werden würde von dem albernen Blumengießen am Denkmal, sozusagen!“ „Von euch aus könnt’s Wilma ja jeden Tag machen, wie?“ schimpfte Marion zurück. „Ihr kichert euch eins!“ „Solange sie’s macht, freiwillig.“ „Solange es ihr nichts ausmacht“, stimmte Vedder Hampel lässig bei. „Ausmacht…!“ äffte Marion. „Sehr bequem für euch!“ Verdrossen trottete ich zu den anderen Fahrrädern hinüber. Sie lehnten in einem Haufen am Geländer vor der Kellertreppe. Bestimmt würde Marion gleich von Kameradschaft und Disziplin reden – in diesem überheblichen Ton, der einen jedesmal fuchtig machte. Und Glucke Hampel würde ihr erneut an den Kopf schmeißen,

daß sie seit ihrer Wahl zur Gruppenratsvorsitzenden größenwahnsinnig geworden sei. Dann wären wir wieder auf dem gleichen Punkt wie heute mittag. Da hatte nach Schulschluß der Krach begonnen. Wegen dieses Pionierauftrags mit dem Blumengießen vor der Gedenktafel. Wegen einer Kleinigkeit, die nur Marion für brandwichtig hielt. Als ich mein Fahrrad aus dem Durcheinander der anderen Lenkstangen befreit hatte, kehrte Wilma allein zurück. „Ein Sowjetischer ist das, der mit dem Schnurrbart! Borissow heißt er. Aber Herr Engelke ist unterwegs, und Frau Wieland weiß nicht, wann er wiederkommt.“ „Wir auch nicht“, meinte Vedder mürrisch. Die Fingerspitzen an den Mund legend, versicherte Wilma mit großen Augen: „Und ein Auto haben sie dabei…, so lang wie ‘n Bahnhof!“

Sofort war Vedder auf den Beinen. Für Autos ließ er alles stehen und liegen. Hampel sah kurz hoch, blieb jedoch bei Marion hocken, wütend darauf bedacht, keinen Griff ihres ungeschickten Schlauchgefummels zu versäumen. Vedder und ich drückten uns durch die hohe Durchfahrt mit den altmodischen Wasserlilien an den Wänden, immer des verdammten Plüschköters gewärtig, der besonders Vedder nicht leiden konnte. Sicherheitshalber mußte Wilma wieder vorgehen. Der Baulärm hinter uns wurde schwächer, dafür schwoll das Brodeln des Verkehrs von der Straße an. Wilmas Beschreibung stimmte. Dort parkte im grellen Sonnenschein ein mächtiger schwarzer Tschaika mit sehr niedrigem Kennzeichen und kleinen Vorhängen am Rückfenster. Gewiß ein Fahrzeug von der Regierung. Vedder ächzte vor Bewunderung. Die beiden Männer mit den

blanken Schuhen standen dicht beim Wagen, um den Passanten auf dem Bürgersteig nicht im Weg zu sein. Übrigens erschien mir ihre Ähnlichkeit nun weniger stark. Der eine war ganz schön füllig und sah gemütlicher aus als sein Kollege. Der sowjetische Besucher hielt sich in der Ladenwohnung auf, deren einstmalige Schaufensterfläche von luftigen Gardinen abgeschirmt war. Auf einem Regalbrettchen drängten sich Kakteentöpfe. Durch die offene Tür konnten wir diesen Borissow mit Frau Wieland sprechen sehen. Sie war vor lauter Aufregung ganz durcheinander. Dann quirlte sie unvermittelt aus dem Raum und brachte einen großen Korbstuhl angeschleppt. „Weiß denn wirklich niemand, wo Genosse Engelke sein könnte?“ forschte ungeduldig der Schlanke von den beiden Begleitern.

„Ich hab Ihnen ja schon erzählt, daß er oft unterwegs ist“, versicherte die sanfte Wilma bedächtig. „Er macht noch immer so Klempnereien, überall in der Gegend.“ „Überall… Aber vielleicht ist er schon ganz in der Nähe? Und unterhält sich nur noch mit jemand, auf der Straße?“ fragte der Füllige, auch er mit einer gewissen Ungeduld und Spannung. „Ihr würdet Herrn Engelke sofort erkennen?“ „Was denn sonst“, murmelte Vedder uninteressiert. Ihn beschäftigte ausschließlich der prachtvolle Wagen. „Lassen Sie Ihren Herrn Borissow doch morgen wiederkommen.“ „Da ist er längst nach Havanna unterwegs.“ „Was?“ Entgeistert riß Vedder den Kopf herum. „Zu Fidel Castro, wo sie die dicken Zigarren machen?“ Die beiden Begleiter lächelten unwill-

kürlich. Dann bestätigte der Schlanke ernst: „Ja, Zigarren auch… Das Flugzeug startet in zwei Stunden.“ „Ach du lieber Gott!“ sagte Wilma traurig. „Havanna…!“ wiederholte Vedder sehr beeindruckt. Seine Stimme verlor sich in heiserem Räuspern. Plötzlich gab er mir einen verstohlenen Wink. Ohne uns weiter zu besprechen, zogen wir in verschiedener Richtung los. Wilma begleitete mich noch hundert Meter und bog dann in eine Seitenstraße. Möglicherweise hatten wir Glück. Ich drängte mich zwischen den Passanten mit ihren Einkaufstaschen und Kinderwagen und Tapetenleisten durch. Ich starrte den Leuten so dringlich ins Gesicht, als könne ich mit Zauberkraft Herrn Engelke herbeizwingen. Doch je länger ich unterwegs war, desto klarer wurde mir, daß höchstens der Zufall Erfolg bringen würde.

In diesem Gewühl müßte einem der Gesuchte schon direkt in die Arme laufen. Die Passanten nach einem kleinen älteren Mann zu befragen, erschien mir aussichtslos und geradezu albern. Ältere Männer gab es hier zu Dutzenden. Freilich hatte Herr Engelke ein paar schwärzliche Narben an der einen Wange. Aber wer achtete im Gedränge schon auf so was? Ich ging bis zum großen Blumenstand am Warenhaus und machte dann kehrt. Die Kübel voller Nelken und Pfingstrosen auf dem nassen Pflaster erinnerten mich unversehens an den Krach mit Marion. Einige Straßenzüge entfernt lag an der Seitenmauer eines Industriegeländes jene Stelle mit der Gedenktafel. Unsere Pionierfreundschaft war in diesem Monat beauftragt, das schmale Blumenbeet unterhalb der Tafel zu pflegen. Marion und Wilma hatten bereits wiederholt Gießkannen vom Industriegelände geschleppt, was

immer bis vier Uhr erledigt sein mußte, weil man sonst nicht mehr zum Wasserhahn gelangte. Unbedingt bis vier Uhr. Spätestens heute wäre jemand anders an der Reihe gewesen. Weder Hampel noch Vedder noch ich verspürten sonderlich Lust, uns deswegen den schönen Nachmittag zu vermurksen. Keiner von uns Jungen. Diese Blumen konnte man weiß Gott ein andermal gießen. Vor unserem Hause stand der Tschaika noch immer am Bordstein. Die beiden Begleiter befanden sich in der Ladenwohnung. Ebenso Vedder und die sanfte Wilma, deren Erkundigungen offenbar gleichfalls ergebnislos geblieben waren. Ich erblickte auch Marion in ihren blankgescheuerten Niethosen. Natürlich hatte sie es vor Neugier nicht mehr auf dem Hof ausgehalten. Verblüfft bemerkte ich schließlich, daß der Plüschköter neben dem Korbstuhl saß und sich von Borissow

den Kopf kraulen ließ. Nur wenn Vedder eine unbedachte Bewegung machte, zog der Hund warnend die Lefzen über den Zähnen hoch. „Sie hätten doch wenigstens auf ‘ner Postkarte schreiben können, daß Sie kommen!“ hielt Marion Borissow ungnädig vor. „Wer soll denn ahnen…“ „Ich habe nicht gewußt, daß Rudolf Engelke noch lebt.“ Borissow sagte das sonderbar ruhig und gemessen, beinahe verwundert. Ein Ausdruck von besorgter Ungewißheit wich nicht aus seinem kräftigen Gesicht mit dem weißgrauen Schnurrbart. Wenn Borissows Blick die langsam tickende Pendeluhr an der Wand streifte, verstärkte sich dieser Zug noch. Das machte alles irgendwie rätselhaft. Ungläubig erwog Vedder: „Am Ende ist’s gar nicht der, den Sie meinen?“

„Man hat mir sein Bild gezeigt, im Zentralkomitee. Es stammt allerdings von jetzt…“ „Ähnlich sehen sich manche Leute“, nörgelte Marion. „Beweist gar nichts.“ Schlichtend versicherte der Füllige von den beiden Begleitern: „Laßt nur, da stimmt schon alles. Alter, Vorname, Lebenslauf und so weiter. Überhaupt kein Zweifel. Es handelt sich tatsächlich um den Genossen Engelke.“ Nach einer Weile wandte sich Marion merkwürdig behutsam an den sowjetischen Gast: „Haben Sie ihn lange nicht gesehen?“ Borissow sah zu dem Plüschköter hinunter, dessen Kopf er kraulte und der erstaunlicherweise stillhielt. Endlich sagte er leise: „Fünfundzwanzig Jahre.“ Wir schwiegen. Das klang ungeheuerlich: fünfundzwanzig Jahre! Wie weit lag

das zurück! Fünfundzwanzigmal Weihnachten und Hochsommer. Unsere Eltern lebten damals schon. Aber Krieg war gewesen. Damals. Auch die Gedenktafel am Industriegelände bezog sich auf damals. „Machen Sie doch kein’ Quatsch“, murmelte Vedder betroffen. Die sanfte Wilma seufzte so tief, daß es wie ein kleines Schluchzen klang. Dann schob sie sich mit dem Zeigefinger wieder den Brillenbügel hinauf und ging nach draußen. Plötzlich redeten alle durcheinander. Vielleicht würden uns doch bestimmbare Plätze einfallen, an denen sich Herr Engelke zur Zeit befinden konnte! In Frau Wielands Gärtchen am Gaswerk? Im Feierabendheim? Nein, dort war eigentlich nur im Winter Betrieb. Im Büro der Volkssolidarität? Kreisleitung der Partei? Mittlerweile wurde Marion vor Ungeduld ganz zappelig. Der Köter bleckte

wieder die Zähne, verblieb indes unter der streichelnden Hand Borissows. „Er hat doch aber das Werkzeug zum Klempnern mit!“ klagte Frau Wieland kopfschüttelnd. „Man müßte schon Straße und Hausnummer wissen, wo er gerade baut.“ Sie hatte natürlich recht. Tatsächlich bestand kaum Hoffnung, Herrn Engelke umgehend aufzutreiben. Nach und nach machte mich diese Vorstellung richtig beklommen: Ein Mensch, dessen Anblick uns sonst völlig gewohnt war, fehlte mit einemmal. Er war weg. Wie ein Vermißter. Dabei hatte er nur irgendwo zu tun und ahnte nichts von unserer Aufregung. „Wir müssen alles versuchen!“ entschied der Schlanke bündig. „Es sind ja noch siebzig Minuten Zeit. Zwanzig davon braucht man bis zum Flugplatz. Bleiben fünfzig Minuten, fast eine Stunde. Also werden wir derweilen alle genannten Stel-

len aufsuchen. Immer noch besser, als tatenlos herumzustehn… Unser Gast kann hier warten, falls Genosse Engelke zwischendurch auftaucht… Wer kommt mit?“ Sogleich war Marion draußen am Tschaika und schlüpfte hinein. Sie sah winzig aus in dem hellen Polstergewölbe. Die beiden Begleiter wechselten noch ein paar russische Worte mit Borissow. Fast lautlos schoß der Wagen davon. Vedder kam zu spät heraus und blieb enttäuscht am Bordstein zurück. Er hätte sicher wer weiß was dafür gegeben, mitfahren zu dürfen. Ich ging langsam nach hinten auf unseren Hof. Die sanfte Wilma hockte bei Glucke Hampel und hatte bestimmt alles erzählt. Von den Baustellen trieb Dieseldunst herüber. Die Silberkugel des Fernsehturms und die weißen Blocks der neuen Hochbauten schienen in der flirrenden Hitze zu beben. Die Luft zitterte. Hampel arbeitete

mit nachdrücklichem Eifer an dem kaputten Fahrrad weiter; sogar ein Fläschchen Waschbenzin hatte er während unserer Abwesenheit besorgt. Damit ließ sich der alte Klebstoff leicht entfernen. Die Möglichkeit, Marions mangelhafte Arbeit fachmännisch berichtigen zu können, schien Hampel vollauf zu befriedigen. Doch als das Trocknen des neuen Flickens abgewartet werden mußte, platzte Glucke unvermittelt los: „Solche Geschichten wie mit Engelke und diesem Sowjetnik kommen höchstens im Film vor, sozusagen erfunden! Oder ‘s ist einfach ein Irrtum, weil jemand jemanden mit wem verwechselt. Oder sonst welche Zacken stimmen nicht daran. Fünfundzwanzig Jahre! Wenn wirklich einer nach so unheimlich langer Zeit von ‘nem andern hört, den er mal kannte, dann heißt’s doch meistens… Ach, der liegt man längst auf’m Friedhof!… Auf’m Dorotheenstädtischen, sagen wir mal. Und was findet ihr da?“

„Einen Grabstein“, antwortete Wilma andächtig. „Mit was raufgeschrieben.“ „Siehst du, ein Denkmal. Ruhe sanft. Bleibt einem bestenfalls übrig, paar Blumen hinzu…“ Mitten in einer barschen Kopfbewegung verstummte Hampel. Sein rundes Gesicht verfinsterte sich. Von Blumengießen war heute schon genug geredet worden. Wiederum befingerte er den Schlauch prüfend, pumpte dann vorsichtig Luft auf, preßte ihn schließlich in die Wasserschüssel. Das gefürchtete Blasensprudeln blieb aus. Daß sich Hampel bei seinen letzten Worten offenbar an jene Gedenktafel am Industriegelände erinnert gefunden hatte, verwirrte mich. Vielleicht hatte er sogar schon vorher daran gedacht, genau wie ich, und es nur nicht zugeben wollen?

An der Stelle, wo die Tafel hing, waren während des Krieges Widerstandskämpfer erschossen worden. Allerdings befanden sich dort keine Gräber. Nur den Platz des Andenkens und der Erinnerung bezeichnete die Tafel. Dort war einmal etwas geschehen, genau an der Stelle, wo sich jetzt das Blumenbeet befand. In der Schule hatte man uns vom Mut und der Standhaftigkeit dieser Männer erzählt. Auch gab es im Pionierzimmer zwei Fotos, Nachvergrößerungen von altersblassen und unscharfen Aufnahmen. Darauf konnte man die Männer sehen. Trotzdem blieb das wenig. Etwas fehlte: Ganz bestimmt wüßte man mehr von diesen Männern, wenn man sich richtig vorstellen könnte, wie sie gewesen waren, als sie noch lebten. Ernst oder gleichmütig oder streng oder auch fröhlich. Ich meine so – wie sie zu Hause gewesen waren, als sie noch lebten und be-

vor sie ermordet wurden. Das war nicht mehr herauszukriegen. Bis auf die Gedenktafel und das Blumenbeet sah es am Industriegelände aus wie vor jedem anderen Betrieb. Drahtzäune und Werkhallen. Vorne die Schwenktore der Einfahrt. Dahinter das Pförtnerhäuschen. Inzwischen hatte Hampel den Schlauch auf die Felge gebracht. Er mußte ziemlich würgen, um die steife Decke darüber zu zwingen. Als ich mit zugriff, grollte er gepreßt: „Sie werden Herrn Engelke überhaupt nicht schnappen. Niemals auf diese Weise! Da müßte einem schon etwas anderes einfallen…“ In diesem Augenblick kam Vedder von vorne in den Hof geprescht und schrie: „Er hat genau solche Feuerflecken wie Herr Engelke!“ Wir starrten Vedder an. Hampel stieß sich mehrmals den steifen Daumen gegen die Stirn.

„Wie Teerspritzer! Am Hals!“ versicherte Vedder atemlos. „Oder wie von ‘nem Schrotschuß!“ Die leichte Verunstaltung von Herrn Engelkes rechter Gesichtshälfte war uns seit jeher so vertraut, daß wir sie kaum mehr sonderlich beachteten. Dieses feine Netz von bläulichschwarzen Einsprengseln in der Haut, unlöschbar tief eingefressen, Ergebnis einer schlimmen Verbrennung oder Verätzung. Als Klempner mußte der Alte ja stets mit Lötlampen zu tun gehabt haben. Die flogen manchmal in die Luft, wenn man nicht sehr achtgab. Höchst sonderbar freilich, daß auch Borissow derlei Narben aufweisen sollte. Ein Mann von so weit her. Aus einem anderen Land. Aber ein Mensch aus Herrn Engelkes Vergangenheit. Wenn beider Narben schon von damals stammten? Nun rannte sogar Glucke Hampel mit

nach vorn. Borissow bemerkte uns anfangs nicht. Frau Wieland hatte ihm zur Erfrischung ein Glas kalte Milch gebracht. Der Plüschköter lag ausgestreckt unter dem Korbstuhl und schlief. Wir spähten uns fast die Augen aus dem Kopf: natürlich nichts von Feuerflecken. Vedder hatte Gespenster gesehen, so ein Quatsch. Aber dann, als Borissow nach dem Glas griff und langsam trank, erkannten wir mit einemmal die dunklen Zeichen an der linken Seite seiner Kehle. Danach winkte uns Borissow heran. Das Kinn hielt er wieder leicht angezogen; gewiß war ihm aus alter Gewohnheit daran gelegen, die häßlichen Narben zu verbergen. „Die Gören sind hier aus’m Dreh“, unterrichtete ihn Frau Wieland überflüssigerweise. Der Köter gähnte mit geschlossenen Augen und wälzte sich auf die andere Seite. Abgesehen von Wilma, die

zutraulich bis zum Korbstuhl hineinging, blieben wir in Reichweite der Tür. Vorsichtshalber. Der Plüschköter tat vielleicht bloß, als ob er schlief. Verhalten fragte Borissow: „Pioniere?“ Ich nickte. Vedder griff sich unbewußt an den Kragen, wo ihn heute selbstverständlich kein blaues Halstuch zierte. „Die deutschen Freunde sagten mir, daß ihr den Genossen Engelke schon gesucht habt. Dafür möchte ich euch danken. Es tut mir herzlich leid, daß ich hier soviel Aufregung verursachen mußte. Zumal wir vermutlich dennoch umsonst…“ Der Besucher verstummte. Er schluckte schwer und strich sich mit dem Handrücken über seinen Schnurrbart, an dem noch ein paar Milchtropfen hingen. Das war gar keine besondere Bewegung. Nur blieben Borissows Lippen noch eine Sekunde lang fest zusammengepreßt, nachdem er die Hand schon heruntergenommen hatte.

Wir verhielten uns still. Das Lärmen des Verkehrs war vorübergehend abgeebbt. Frau Wieland wischte sich in jäher Rührung die Augen und ging in den angrenzenden Raum. Hinter meinem Rücken hörte ich das gespannte Schnaufen von Glucke Hampel. Endlich sprach Borissow weiter, etwas zögernd, wie wenn er für seine verborgene Erregung um Entschuldigung bitten müsse. „Wir waren damals auseinandergekommen, der Rudolf und ich. Nach der Flucht aus dem Kerker hatten wir uns aus den Augen verloren. So eine Trennung war oft gleichbedeutend mit einem Abschied für immer. Niemand wußte, was einem in der nächsten Stunde widerfahren konnte; selbst noch in diesen Wochen kurz vor Kriegsende. Das Schlimmste war immer am wahrscheinlichsten. Man mußte immer mit dem Schlimmsten rechnen. Manche von uns sind noch in der letzten Mi-

nute umgekommen, als der Sieg über die Faschisten eigentlich schon errungen war… Von Rudolf glaubte ich das auch. All die Jahre. Bis heute morgen.“ Ich spürte hinter meinem Rücken eine schwache Bewegung, achtete aber nicht darauf. Für einen Augenblick beirrte mich die unklare Empfindung, daß in Borissows verhaltenen Worten ja gleicherweise von jenen Männern die Rede war, denen man die Gedenktafel am Industriegelände gewidmet hatte und von denen wir nur die unscharfen Fotos im Pionierzimmer kannten. Danach wünschte ich um so begieriger, daß der Besucher noch mehr erzählen würde. Ihn sahen wir. Er war wirklich da. Ihn brauchten wir uns nicht besonders vorzustellen. Also: Welches Rätsel verknüpfte sich mit den Narben? Möglicherweise gab es da abenteuerliche Hintergründe. Einzelheiten eines Buchs, das ich irgendwann

gelesen hatte, fielen mir wieder ein. Derartige Spuren in der Haut blieben auch von Pulververbrennungen zurück, von Explosionen, falls man sie überlebte. Borissow und Engelke waren damals gemeinsam geflohen. Vielleicht hatten sie sich den Weg in die Freiheit sprengen müssen? Vielleicht wäre der Sowjetische ohne den Deutschen gar nicht mit dem Leben davongekommen? Oder umgekehrt. Borissow schwieg lange. Frau Wieland lugte mehrmals aus dem Nebenraum und rang verstohlen die Hände. Die Uhr an der Wand tickte unerbittlich. „Kommen Sie doch einfach wieder vorbei, wenn Sie von Kuba nach Hause fliegen!“ empfahl ich Borissow. Vedder stieß mich zustimmend in die Seite und begann so zufrieden zu grinsen, als wäre nun die glücklichste Lösung der Schwierigkeit gefunden.

„Das hängt nicht von mir allein ab“, erwiderte der Besucher langsam. „Möglicherweise habe ich in Havanna länger zu tun. Gegebenenfalls fliege ich auch auf einer anderen Route nach Hause. Über Delhi oder Hanoi… Je nachdem, was zu erledigen ist.“ „Diplomatischer Kram und so?“ fragte ich hastig. Mir war bange, daß sich von neuem bedrückendes Schweigen einstellen würde. „Ja, Botschaftsangelegenheiten. Und so.“ Borissow nickte kurz. In den vielen Fältchen seiner Augenwinkel zuckte etwas. Er blieb jedoch völlig ernst. Die sanfte Wilma hatte währenddessen still neben Borissow gewartet. Jetzt beugte sie sich mit der tröstenden Versicherung zu ihm hinunter: „Aber Hauptsache ist doch, daß Sie wissen, daß Herr Engelke lebt!“

Borissow griff nach Wilmas Hand. In seiner Miene trat mit einemmal ein offenes Lächeln an die Stelle der verhaltenen Freundlichkeit. „Du hast recht, Kind…, was denn anders! Daß er lebt, ist wirklich die Hauptsache. Nur…, schön wäre es natürlich gewesen, wenn ich ihn hätte sehn können. Gleich heute. So plötzlich und unerwartet. Das gibt’s nicht oft im Leben. Solche Zufälle. Solche Überraschungen.“ „Überraschungen, na ja“, wiederholte Vedder unbehaglich und begann sich längs des Kakteenregals sachte zur Tür hinzuschieben. Der Plüschköter unter dem Korbstuhl war aufgewacht. Sein schiefer Blick prüfte hartnäckig unsere Schienbeine. Auch ich trat einen Schritt zurück. Ich hätte dabei gegen Glucke Hampel stoßen müssen, begegnete aber keinem Widerstand. Hampel schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Unmittelbar danach traf der Tschaika ein. Man war vergebens unterwegs gewesen. Marion schaute niedergeschlagen drein. Auch die beiden Begleiter mit den blankgeputzten Schuhen hegten wohl keine Hoffnung mehr. Jedenfalls sah ich sie gleich darauf im Gespräch mit Borissow und Frau Wieland bedauernd die Köpfe schütteln. Was getan werden konnte, war geschehen. Nun verblieben, die Anfahrtszeit zum Flughafen Schönefeld abgerechnet, noch höchstens fünfzehn Minuten. Bedrückt standen wir an der Hausdurchfahrt herum. Vedder fischte alle naselang heimlich seine Uhr aus der Tasche. Ich weiß nicht mehr, wer von uns schließlich bemerkte, daß Glucke Hampel tatsächlich verschwunden war. Marions Fahrrad stand verlassen in der Mitte des Hofs. Die leere Vordergabel ragte kläglich nach oben. Flicksachen lagen kunter-

bunt umher. Hampels eigenes Fahrrad, das mit den anderen im Haufen an der Kellertreppe gelehnt hatte, fehlte. Demnach war er allein zum Baden losgefahren. Marion nickte erbittert: Was hätte man von dem auch weiter erwarten sollen? Einfach abzuhauen, so mir nichts, dir nichts! Und noch dazu während dieser Angelegenheit! Genau der gleiche Mangel an Kameradschaft und Solidarität und Disziplin wie in der Sache mit dem Blumengießen! Niemand wagte Hampel zu verteidigen. Ich versuchte die Empfindung zu unterdrücken, mich für ihn schämen zu müssen. Zugleich verließ mich das Gefühl nicht, etwas übersehen oder verpaßt zu haben. Wenn Hampel nun doch zum Industriegelände abgerast war, weil man nach vier Uhr nicht mehr an den Wasserhahn herankam? Aber so spät konnte es eigentlich

noch nicht sein. Und überhaupt, wann hatte uns Hampel wirklich verlassen? Bereits vorhin, als Borissow von damals erzählte und ich hinter mir eine schwache Bewegung wahrnahm? Vollends merkwürdig erschien mir der Umstand, daß Glucke die Reparatur unerledigt gelassen hatte. Das paßte nicht zu ihm. Zu unserer Verwunderung wurden wir nochmals in die Ladenwohnung gerufen. Borissow hatte sich von dem fülligen Begleiter ein Päckchen aus dem Tschaika bringen lassen und verteilte Moskauer Bonbons an uns. Jeder bekam zwei Stück, richtige Klötze aus Schokolade und Waffeln. Auf dem Einwickelpapier war ein Eichhörnchen abgebildet. Es saß auf den Hinterpfoten und knabberte an einer Nuß. Frau Wieland, die sich etwas zierte, erhielt ebenfalls zwei Bonbons. Der gelbe Plüschköter eins. Schmatzend verzog er sich damit unter den Korbstuhl.

„Bei mir zu Hause ist es Sitte, daß man sich vor einer Abreise noch ein bißchen mit den Freunden zusammensetzt. So für eine Minute… Es macht nichts aus, wenn hier ein paar stehen müssen.“ Der Besucher sprach nun fast heiter. Offenbar freute er sich aufrichtig darüber, daß wir ihm Gesellschaft leisteten. Und anscheinend war er uns auch ehrlich dankbar, daß wir ihm geholfen hatten, die trübe Stimmung erster Enttäuschung zu überwinden. „Sehr schmackhaft“, äußerte Marion höflich. Wir aßen ziemlich langsam, wie wenn es irgendwie unpassend wäre, die Süßigkeit bei einer solchen Gelegenheit mit vollen Backen zu verzehren. Wir kosteten nur. Marion hielt den kleinen Finger ganz dämlich vornehm abgespreizt. Möglicherweise merkte sie es gar nicht. Vedder spähte aus den Augenwinkeln abwechselnd auf seine Uhr und dann wieder

auf den gefährlichen Plüschköter unterm Korbstuhl. Erneut mußte ich an Glucke Hampel denken, der keine Bonbons abbekommen hatte. Allein würde ihm das Baden sicher nicht gefallen. „Vielleicht erzählen Sie uns noch ein bißchen“, bat die sanfte Wilma Borissow freundlich. „Von damals.“ Borissow verneinte mit einer leisen Kopfbewegung. „Dafür bleibt nicht mehr genug Zeit. Und Einzelheiten sind jetzt auch nicht so wichtig. Mir fehlen da doch manche Worte zum Übersetzen, die man sonst nicht braucht. Oder ganz selten. Unser Genosse Engelke könnte das alles viel besser als ich erzählen. Ihr werdet ihn sowieso schon danach gefragt haben.“ Gefragt? Die Bonbonklötze wurden mir langsam in der Hand weich. Gefragt haben? Was hätte man von jemand erfragen sollen, der einem tagtäglich begegnete? Daß Herr Engelke seit vielen Jahrzehn-

ten Genosse war? Daß er im Faschismus gegen die Nazis gekämpft hatte? Wußten wir ja. Aber warum hatten wir uns damit begnügt und nicht mehr wissen wollen? Wahrscheinlich, weil Herrn Engelkes bescheidene Art zu genaueren Erkundigungen nicht sonderlich einlud. So konnte man es wohl erklären. Zumindest teilweise. Sehr befriedigend war das nicht. Eigentlich gar nicht. Ein unerwarteter Laut riß mich aus der Grübelei. Nahezu verstört vor Überraschung, wies die sanfte Wilma mit ihrem angebissenen Bonbon auf die Straße. Ich fuhr herum und sah einen Kradfahrer von der Verkehrspolizei unmittelbar hinter dem Tschaika stoppen. Und sah Herrn Engelke! Und sah, wie er mit seinem grünen Klempnerkasten vom Rücksitz des Motorrads stieg. Und wie er, die Augenbrauen verwundert hochgezogen, steifbeinig über den Bürgersteig auf uns zukam.

Frau Wieland stürzte in flattrigem Eifer hinaus, um den schweren Kasten abzunehmen. Es gab einen Aufenthalt. In der Ladenwohnung standen unterdessen alle. Borissow bot nun einen ähnlichen Anblick wie vor zwei Stunden. Er schien uns vergessen zu haben. Er hatte sichtlich Mühe, gefaßt zu bleiben. Seine Hände preßten einander. Aber sein breites, gefurchtes Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart wurde allmählich ganz jung vom Leuchten einer übermächtigen Freude. Herr Engelke verhielt in der Tür. Er starrte den Besucher an. Plötzlich hob er die Arme und lief Borissow stolpernd entgegen. Der gelbe Plüschköter sprang winselnd an ihm hoch. „Wir gehen mal ein bißchen beiseite“, sagte der Füllige von den beiden Begleitern leise, wobei er Marion und Wilma um die Schultern faßte.

Frau Wieland hatte den Klempnerkasten mitten auf dem Bürgersteig niedergesetzt und bildete nun, mit fröhlichen Augen in ihr Taschentuch schluchzend, ein Verkehrshindernis für die Passanten. Wir mußten sie zur Seite führen. Den Kasten stellte der Schlanke unterm Schaufenster ab. Danach versammelten wir uns wieder am Tschaika, vermieden es diesmal jedoch, zur Ladenwohnung zurückzublicken. „Wie haben Sie ihn bloß aufgetrieben?“ fragte Marion fast ungehalten. „Da kam so ‘ne Art Notruf durch“, sagte der Verkehrspolizist und fuhr sich mit zwei Fingern in den Kragen. „Unser Posten hinten an der U-Bahn hat den Kollegen hier in der Gegend per Sprechfunk gemeldet, daß sie auf einen kleinen älteren Mann achten sollten. Der müsse sofort nach Hause. Äußerste Eile. Jemand mit ein paar dunklen Narben rechts im Gesicht…“

„Sieht man ja nur, wenn man ihn von der richtigen Seite sieht!“ fiel Vedder ein. „Eben… Freundchen! Deshalb war die andere Angabe im Signalement für die Fahndung auch wesentlich besser: ein grüner Klempnerkasten. Weiß überhaupt noch nicht, was eigentlich los ist. Jemand gestorben?“ „Gottbehüte!“ lachte der Schlanke von den Begleitern. „Wiedersehen nach fünfundzwanzig Jahren. Zwei alte Genossen, verstehen Sie!“ Der Verkehrspolizist rückte seinen Sturzhelm aus der Stirn. „Donnerwetter!“ Unwillkürlich blickte ich zum Schaufenster hinüber, wo der grüne Klempnerkasten stand, bestoßen und ölfleckig von jahrelangem Gebrauch. Unansehnlich. Die Passanten gingen achtlos daran vorüber. Doch gerade der Kasten hatte sich heute als rettendes Kennzeichen erwiesen. Dieser Kasten! In einer Anwandlung von

Schreck und Scham wurde mir klar, warum wir so lange unterlassen hatten, Herrn Engelke eingehender über damals auszufragen. Über seine Erlebnisse in der Vergangenheit. Er war uns zu alltäglich vorgekommen. Zu alltäglich, jawohl. Nicht so wie ein Held und Kämpfer, als den Borissow ihn zweifellos kannte: Überhaupt nicht wie jemand, der hochgefährliche Unternehmen durchgefochten hatte. Solche Abenteuer wie die Flucht aus dem Kerker. – Reparaturen an Wasserleitungen und Badeboilern, was war das schon? Wie sollten wir uns da eine Verbindung vorstellen zwischen Engelkes heutigem Dasein und jenem damals? Nun jedoch, angesichts dieses schlichten Werkzeugkastens, aus dem Rohrzangengriffe ragten, begann ich zu verstehen, daß es für Herrn Engelke stets das gleiche Leben gewesen war: Immer hatte er hel-

fen wollen. Im Kampf gegen die Faschisten damals ebenso wie heute, da er schon Invalide und Rentner war und trotzdem überall mit seinem Werkzeug einsprang. Deshalb wohl auch nahm er nichts für seine Reparaturen. Lediglich einen Spendenbeitrag ließ er von den Leuten überweisen, wo er gerade baute. An die Volkssolidarität oder für Vietnam. „Aber jemand muß doch eine Meldung aufgegeben haben!“ meinte kopfschüttelnd der Schlanke. „Diesen Hinweis auf den grünen Kasten!“ „Keine Ahnung.“ Der Verkehrspolizist zuckte die Achseln. „Ist ja jetzt auch ganz gleich. Ich hab hier nur Taxi spielen müssen…“ Alsdann tippte er kurz an den Sturzhelm und brummte mit einem kühnen Schlenker davon.

Wenige Minuten später brach Borissow auf. Herr Engelke sollte ihn bis zum Flugplatz begleiten. Sie stiegen in den Tschaika. Schließlich kam noch Frau Wieland mit einem frisch gewaschenen Kittel angelaufen. Den mußte Herr Engelke überstreifen, damit sein fleckiges Arbeitszeug nicht die Polster verunreinige. Während der Wagen anfuhr, sahen wir Borissow wieder lächeln. Und wir gewahrten, wie er grüßend die geballte Faust hob – jene kraftvolle und zuversichtliche Geste vollführend, die auch auf manchen Bildern Ernst Thälmanns überliefert ist. Angerührt von einer unerwarteten Feierlichkeit, gaben wir Borissow und Herrn Engelke den Gruß auf die gleiche Weise zurück. Wir standen in einer Reihe am Bordstein. Die sanfte Wilma verharrte reglos mit erhobener Faust, bis der Tschaika unseren Blicken entschwunden war. Danach mußte sie wieder ihren Bril-

lenbügel hochschieben. Als wir uns umdrehten, wartete Glucke Hampel mit seinem Fahrrad an der Hausdurchfahrt. Allem Anschein nach hatte er schon eine ganze Weile dort gestanden. Jedenfalls empfing er uns mit einem breiten Schmunzeln sichtlicher Zufriedenheit. Es bedurfte keiner Bestätigung, daß er alles mit angesehen hatte. Und daß er alles wußte. Und daß er noch mehr als wir wußte. Denn niemand außer Glucke Hampel konnte den rettenden Notruf bei der Verkehrspolizei aufgegeben haben. Dennoch fürchtete ich jetzt, daß Marion am Ende losschimpfen und ihm irgendwelche Einzelgängerei vorwerfen und rechthaberisch erklären würde, daß die Notrufmeldung bei der Verkehrspolizei erst im Kollektiv hätte beraten werden müssen. Statt dessen sagte sie ungewöhnlich weich und anerkennend: „Na weißte…, richtig doll!“

Vedder wollte seiner Befriedigung mit ein paar ausgelassenen Luftsprüngen Ausdruck geben. Im selben Augenblick stürmte der Plüschköter, der bislang neben dem Klempnerkasten Wache gesessen hatte, kläffend auf uns zu. Erschrocken galoppierten wir durch die hallende Durchfahrt in den Hof. Nachdem Wilma den Hund hinter uns abgefangen hatte, verschnauften wir erleichtert bei Marions Rad, das noch immer kopfstand. Hampel machte sich sofort daran, die unterbrochene Reparatur zu Ende zu führen. Wiederum überschwemmte uns das Lärmen der Bagger und Kipper von den großen Bauplätzen. Im dritten Stock wurde ein Fenster zugeschlagen. Dann waren nur noch die Achsmuttern anzuziehen. Glucke Hampel ließ den Schraubenschlüssel sinken und erklärte stockend: „Werd euch mal sagen, was richtig doll ist. Nämlich: Wie die alle zu-

sammengehören – Herr Engelke und der Sowjetnik und die ebenso, wo er da unten hin will mit dem Düsenbrummer von Schönefeld. In Havanna. Zusammengehören, so ganz einfach und selbstverständlich, als wär’s gar nichts Besonderes. Sozusagen von – innen. Als ob einer von uns zu ‘nem anderen in die Querstraße will und von dem zu noch ‘nem Kumpel, wieder ‘n paar Häuserblocks weiter. Alle sind in einer Klasse, bloß wohnen tun sie in lauter verschiedenen Ecken!“ „Was für Klasse?“ fragte verwundert Wilma, die den Plüschköter bei Frau Wieland abgeliefert hatte und sich nun verspätet auf dem Hof einfand. Auch Vedder blickte plötzlich begriffsstutzig drein, obwohl er soeben noch genickt hatte. „Drei a oder sechs b? Oder achte Klasse? Wenn einer auf der anderen Seite der Erdkugel…“ „Na, eben dieselbe Klasse!“ fiel ihm

Marion ungeduldig ins Wort, wobei sie die Arme schwenkte und die mächtige Weite eines Regenbogens anzudeuten schien. „Was gibt’s denn da noch zu fragen?“ Hampel stand auf und kippte das Fahrrad mit einem geschickten Ruck in die richtige Lage. Die prallen Reifen federten. Wir sahen einander an, als ob der eine vom andern das Zeichen zum Aufbruch erwartete. Und wieder schwiegen wir, genauso wie vor zwei Stunden nach der hartnäckigen Streiterei wegen des Blumengießens an der Gedenktafel beim Industriegelände. Oder doch nicht genauso. Der Groll war verflogen. Insgeheim mochte es uns allen nun wohl auch sonderbar vorgekommen sein, daß es überhaupt einen Krach gegeben hatte. Sich die Hände an der Hose abwischend, fragte Glucke Hampel langsam: „Schon viere durch?“

„Jedenfalls…“, meinte Vedder beiläufig. Sogleich besann er sich, zerrte die Uhr aus der Tasche und verkündete eifrig: „Erst zwanzig nach drei!“

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