090 - Als Flups Kleiner Wurde
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DIE
KLEINEN
TROMPETERBÜCHER
BAND
90
WALDEMAR SPENDER
Als Flups kleiner wurde
DER K I N D E R B U C H V E R L A G BERLIN
Illustrationen von Konrad Golz
Flups wollte es erst nicht glauben, so plötzlich war es gekommen. Doch als er gleich darauf in den Spiegel sah, wußte er: Ich bin kleiner geworden! Flups sieht selten in den Spiegel. Und weil er es so selten tut, merkte er bisher jedesmal um so besser, daß er wieder gewachsen war. Aber dann kam der Ruck; durch und durch war er gegangen. Seltsamerweise war er noch nicht gekommen, als Vati die schlimme Sache vom Urlaub sagte und daß Mutti sich für die Prüfungen vorbereiten müsse. So etwas kennt Flups schon von dem versprochenen Fußballspiel, das dann ausfiel, weil niemand Zeit hatte, mit ihm hinzugehen, und 5
von manchem Wochenende auch. Daß die gemeinsamen Ferien ins Wasser fallen würden, war ein ganz schöner Schlag! Am liebsten hätte er heulen mögen. Auch wegen Mutti, die in letzter Zeit so nervös ist, und wegen Vati, der nicht mehr mit den Augen blinzelt wie früher, was immer hieß: Na, Flups, wir Männer verstehen uns schon! Nein, da war der Ruck noch nicht gekommen. Der war erst später gekommen, nachdem Flups gefragt hatte: „Und du, Vati? Können wir beide nicht gemeinsam in die Ferien?" „Nein", hatte sein Vater gesagt, „ich muß . . ." Dann hatte er kurz gezögert. „Der Betrieb", hatte sein Vater gesagt, „du mußt das einsehen, eine wichtige Sache mit Dienstreisen und so." Genau da hatte es in Flups den Ruck gegeben. Flups hatte auf Mutti gesehen; sie sah müde aus und sehr traurig. Und er 6
hatte gemerkt, daß ihm nun doch die Tränen kamen. Da war er hinausgerannt in sein Zimmer und hatte sich aufs Bett geworfen. Und dann sah er sein verheultes Gesicht im Spiegel und wußte, daß er kleiner geworden war, als es in ihm den Ruck gegeben hatte. Flups trocknet sich die Tränen ab und schnaubt in sein Taschentuch. Dann geht er zurück zum Wohnzimmer. Vor der Tür zögert er, denn er hört den Vater sagen: „Er ist doch ein großer Junge; er muß das verstehen! Sind die örtlichen Ferienspiele etwa schlecht?" „Er versteht es nicht", sagt Mutti, „wie ich nicht die Sache mit der Kalmann verstehe, nein, Herbert, das nicht!" Flups merkt, daß seine Mutter weint. Und der Vater sagt: „Ist doch alles erfunden. Unser Verhältnis, die Sache, also — alles rein kollegial." Und da kommen Flups 8
wieder die Tränen. Er läuft zurück in sein Zimmer und verbuddelt sich ganz tief zwischen den Kissen. Zwischen den Kissen ist es dunkel, überhaupt ist die ganze Welt fürchterlich dunkel. Früher ist Vati immer mit Flups zusammen gegangen, die Thälmannstraße entlang und dann bis zum Ende der Rotdornallee. Dort haben sie sich getrennt. Vati ging zum Betrieb, Flups zur Schule. Sie haben morgens Späße gemacht und unterwegs gespielt: Ich-sehe-was-was-dunicht-siehst. An der Ecke haben sie sich die Hand geschüttelt und gesagt: „Bis dann, Kollege!" Früher war überhaupt alles anders. Mutti hat gesungen. Immer hat sie gesungen, aber seit sie das Fernstudium macht, singt sie nur noch ganz selten. Immer stiller wird sie. Und gestern . . .? Flups schluckt. 9
Vati war heute früh schon weg. Vorgestern auch. Flups geht allein zur Schule. Mutti hat ihm das Brot in die Tasche gesteckt und gefragt: „Hast du auch deine Aufgaben?" — „Ja", hat Flups gesagt, aber Mutti nicht angesehen. Da hat Mutti den Jungen in die Arme genommen und gesagt: „Ach, Flups, es wird alles gut. Wenn ich nur erst die Prüfung hinter mir habe!" - „Ach, Mutti", hat Flups gesagt, hat seine Mappe genommen und ist losgegangen. Er weiß nicht, wie das gekommen ist, mit den Eltern. Er weiß nur: Es ist nicht alles gut. Nichts ist gut. Flups sieht nicht, daß die Bäume blühen; er sieht nur die Rillen im Pflaster. Und manchmal, wenn ein Steinchen auf den Platten liegt, stößt er wütend mit dem Fuß danach. Damit ist er so beschäftigt, daß er nicht einmal merkt, wie sich Ulli zu ihm gesellt. 11
„Na, du Tüte", sagt Ulli. Ulli und Flups sind Freunde. Senkel ist auch ihr Freund, aber den sehen sie erst in der Schule. Er kommt aus der Nordsiedlung mit dem Bus. „Was hast du denn heute?" fragt Ulli. — „Nichts", sagt Flups und zählt die Rillen zwischen den Steinplatten. — „Willst du einen Frosch?" sagt Ulli und kramt in seiner Hosentasche, „es ist aber kein grüner." — „Nö", sagt Flups und zählt weiter. Dann fragt er doch: „Einen Frosch? Wo hast du ihn her?" — „Von Konarskis Puhl", sagt Ulli und bleibt stehen, ohne mit dem Kramen aufzuhören. „Er ist weg", sagt er und schaut sich suchend um. „Es war so ein mickriger, brauner." Flups sucht auch. Er sieht zurück. Flups bekommt einen gewaltigen Ruck. Er sieht, daß hinten in der Rotdornallee ein Mann mit einem Fräulein aus einem Haus 13
heraus in den Vorgarten tritt. Dann kommen sie heraus auf den Gehsteig, haken sich ein und gehen in Richtung Schwermaschinenbau. Flups kennt den Mann. Das Fräulein kennt er nicht. Aber er weiß: Es ist auf jeden Fall eine häßliche Ziege! „Hier", ruft Ulli, „sieh doch! Ist er nicht schön?" Er hat seinen Frosch gefunden und hüpft vor Freude im Kreise herum. „Dein blöder Frosch", sagt Flups. „Tust, als ob du ihn verschluckt hättest", sagt Ulli. „Nun müssen wir aber rennen!" Um zwei geht Flups wegen seiner Schularbeiten immer zu Frau Urschel. Aber jetzt ist es erst zwölf. Ulli braucht erst um eins zu Hause zu sein, und Senkel hat auch noch Zeit. „Was machen wir?" fragt Ulli. „An der Horstberger Chaussee hat es geknallt", sagt Senkel. „Eine Beiwagenmaschine mit einem Gemüseauto. Mittlerer 14
Sachschaden. Keine Verletzten." Er holt Luft. „Die Straßenbahnstrecke nach Hoppenrade wird ausgebaut. Toller Maschineneinsatz. Ganz neue Dinger für das Gleisbett. Sehenswert!" Dann, erklärend: „Mein Vater fährt nämlich Zement dafür ran. Dritte Möglichkeit: Am Lessingplatz ist das Pumpwerk nicht verschlossen worden. Wir könnten von dort aus erstmalig in die Kanalisation einsteigen. Erfordert mutige Männer", sagt er und guckt Flups an, meint aber Ulli. „Ihr könnt wählen. Solltet ihr euch für Plan drei entscheiden - Taschenlampe habe ich mit." „Wär eine dufte Sache, mit der Kanalisation", sagt Ulli. „Aber ob wir es bis eins schaffen?" - „Bis rein, ja", sagt Senkel, „ob bis dann wieder raus, ist fraglich." Dann sagt er zwingend: „Die Tür hat noch nie offengestanden!" „Ich weiß nicht." Ulli zögert. 16
„Die Großen nehmen sich auch Zeit für ihre Sachen", sagt Senkel. „Was meinst du, Flups?" „Mir egal", sagt Flups. Er hat andere Sorgen. „Aber mit den Großen — da hast du recht!" „Also los", ruft Senkel und startet in Richtung Lessingplatz. Ulli und Flups haben Mühe, ihn einzuholen. Die Tür ist tatsächlich unverschlossen! Die Jungen verstecken ihre Schulmappen unter einem Rhododendronbusch und schauen sich vorsichtig um. Kein Mensch ist zu sehen. Nur eine Katze. „Mir nach!" sagt Senkel. Das Haus ist innen gekachelt. In seiner Mitte schmatzt eine große Pumpe. Eine Eisentreppe führt hinunter. Die Schritte hallen. „Mein Frosch", sagt Ulli plötzlich und will umdrehen. Frosch, Frosch, Frosch, hallt ein Echo. — „Hast ihn doch in der Plastetüte", flüstert Flups, der selber 17
Angst hat, aber keine Ausrede weiß. — „Kommt man!" ruft Senkel, der schon unten ist. Mann, Mann, Mann, macht das Echo. „Ich warte!" drängelt Senkel. Warte, warte, warte! hallt es. Dann sind auch Flups und Ulli unten. Von allen Seiten her münden im Pumpenhaus große Röhren, aus denen schwarze Bäche zusammenfließen, die dann von der Pumpe aufgesaugt werden. In jede der Röhren ist rechts ein schmaler Gehsteig gemauert. „Wir gehen hier lang", sagt Senkel, als ob er im Pumpenhaus aufgewachsen sei, „dann kommen wir am Thälmannplatz raus." Er läßt seine Taschenlampe aufflammen und geht voraus. Der Gang ist feucht und glatt. Nur ein leises Plätschern ist zu hören und das Atmen der Jungen. „Es stinkt", sagt Flups. - „Gewaltig", sagt 18
Ulli. — „Und glitschig", sagt Senkel, „glitschig ist es au . . ." Mehr kann Senkel nicht sagen, denn Senkel und die Taschenlampe sind weg. Es ist ganz duster. Man hört etwas blubbern, und Flups läuft ein Schauer über den Rücken. Dann kommt ein Licht aus dem Bach. Es ist die Taschenlampe, gehalten von einer schwarzen Hand. Ihr folgt ein schwarzer Kopf, dann ein schwarzer Oberkörper. „So ein Mist!" sagt das schwarze Ungeheuer und fuchtelt mit der Taschenlampe. Flups und Ulli müssen lachen. „Nun faßt doch endlich an", sagt das triefende Ungeheuer. Erst da greifen sie zu und ziehen Senkel auf den schmalen Steg zurück. „Mensch", sagt Flups, „wenn das tiefer gewesen wäre!" — „Au weiah", sagt Ulli. — „Brrrr!" macht Senkel und schüttelt sich wie ein Hund, „bloß raus hier!" — „Wo lang?" 19
fragt Ulli überflüssigerweise. — „Natürlich zurück", sagt Senkel, und alle drei gehen nun ganz vorsichtig. „Guckt nur", sagt Ulli, als sie wieder oben an der Sonne sind, „mein gelber Anorak. Lauter schwarze Spritzer sind drauf!" „Jammer nicht", sagt Flups, denn seine helle Wolljacke ist auch schwarz gesprenkelt. „Aber ich", sagt Senkel bedrippt, „seht lieber mich an!" „Totalschaden", sagt Flups, und eine gewisse Bewunderung schwingt in seiner Stimme mit. „Was machen wir nun?" „Trocknen lassen", empfiehlt Ulli, „dann platzt der Dreck von selber ab." — „Quatsch", kontert Flups, „ohne Reinigung geht das nicht raus." Dann wendet er sich zu Senkel: „Was sagst 'n du zu Hause?" „Weiß nicht", sagt Senkel, „vielleicht die Wahrheit. Aber dann kommt mein Vater21
dahinter, daß ich von ihm den Tip mit dem offenen Pumpenhaus habe. Er hat so beiläufig zu Mutter gesagt, daß das Schloß nicht funktioniert." „Eine richtige Ausrede fehlt", sagt Ulli. „Wir könnten ja erzählen, daß wir in den Gully gefallen . . ." „Fehlte gerade noch!" Flups schüttelt den Kopf. „Gleich alle drei hintereinander, was?" „Au wacke", sagt Senkel, „was mache ich bloß? Meine Mutter hat doch mit Eva und Hans-Dieter genug zu tun, neben der Arbeit. Ich weiß ja nicht mal, ob die im Bus mich mitnehmen!" „Die haben kein Verständnis", sagt Ulli. „Meine werden gleich anfangen: Junge, hättest du dich nicht vorsehen können? Oder hast du dich wieder verleiten lassen, von den anderen? Da kann ich dreimal nein sagen — sie glauben mir's nicht." 23
„Meine Eltern schimpfen", sagt Senkel. „Aber viel schlimmer ist, wenn sie danach stundenlang nicht mit mir reden und nur so vorwurfsvoll gucken. Sogar die Kleinen streichen sie heraus, die sich viel öfter dreckig machen. Ach, unsere gute kleine Eva, sagen sie, ja, die ist ein liebes Kind!" Senkel guckt Flups an. „Und was sagen deine?" „Meine", sagt Flups, „meine, na ja", er stockt, „meine sind ganz in Ordnung." Dabei weiß er, daß er sich selbst etwas vormacht und den anderen auch. Ihm sitzt etwas im Halse, und er muß schlucken. „Der Frosch!" ruft er plötzlich. „Ulli - wo hast du den Frosch?" — „Hier", sagt Ulli verwundert und zieht die Tüte aus der Hosentasche. „Wir sagen einfach, Senkel wollte den Frosch fangen und ist in Konarskis Puhl gefallen, gleich vorne, wo er so moddrig ist." 24
— „Und als ihr mir rausgeholfen habt", ergänzt Senkel, „habt ihr euch selber vollgespritzt. Das geht." „Gib ihm den Frosch als Beweisstück", sagt Flups zu Ulli. — „Senkel fängt schon an zu trocknen. Wenn er den Frosch vorzeigt, nehmen sie ihn auch im Bus mit." „Aber morgen wieder mitbringen!" sagt Ulli, als er die Tüte hingibt. Dann trennen sich die drei. Nach ein paar Schritten dreht sich Flups um und ruft Senkel nach: „Kannst du nicht versuchen, das Zeug alleine zu waschen, ehe deine Mutter kommt?" „Donnerwetter", ruft Senkel zurück, „darauf wäre ich nicht gekommen." Er sieht noch recht schwarz, aber schon wieder etwas fröhlicher aus. Frau Urschel ist schon alt. Sie wohnt in dem Haus, wo auch Flups wohnt. Früher war sie 25
einmal Lehrerin. Seit Mutti studiert und noch weniger Zeit hat als früher, geht Flups zu ihr, um die Schularbeiten zu machen. Frau Urschel ist lieb wie eine Oma. Aber sie kann auch streng sein und läßt sich nicht bemogeln. Wenn Flups einen Fehler gemacht hat, kommt es selten vor, daß er ihr entgeht. Ist er aber fertig und hat keinen gemacht, geht sie zum Büfett und holt eine Dose mit Bonbons herunter. Flups mag diese Bonbons nicht. Er nimmt sich aber trotzdem immer einen heraus, um Frau Urschel nicht zu beleidigen. Den gibt er nachher immer Müllers Pinki, einem kleinen Hund, der ganz wild darauf ist. „Was hast denn du gemacht", staunt Frau Urschel, als Flups in der Tür steht. „Deine schöne Jacke!" „Konarskis Puhl", schwindelt Flups. „Wir haben Senkel rausziehen müssen. Aber den Frosch hat er." 26
„Und eure Mütter haben die Sorgen", sagt Frau Urschel. „Gib mal die Jacke her; ich weiche sie im Bad ein." Dann verschwindet sie kopfschüttelnd mit der Jacke. Als sie wiederkommt, schüttelt sie noch immer den Kopf. Dann guckt sie Flups vorwurfsvoll an. „Kannst du mir erklären, warum die kleinen Teiche jetzt so stinken und so fürchterlich schwarz sind?" Flups wird rot. „Es ist anders, Frau Urschel", sagt er und erzählt ihr alles. — „Ach, du liebe Güte", sagt Frau Urschel, „wie könnt ihr denn!" — „Schimpfen Sie nur", bittet Flups, „aber sagen Sie Mutti nichts!" — „Wird wohl auch besser sein", murmelt Frau Urschel. „Nun fang aber an." Flups setzt sich an den Tisch und holt seine Hefte heraus. Er bemüht sich, recht sauber zu schreiben. Als er beim Rechnen angelangt ist, sagt Frau Urschel: „übrigens, deine Mutter hat mich gebeten, dich heute 27
bis fünf hierzubehalten. Sie kann vorher nicht." — „Ja", sagt Flups. „Dein Vater war doch immer um vier zu Hause?" — „Ja", sagt Flups, „war er." — „Hm", sagt Frau Urschel und beugt sich über ihre Strickarbeit. Flups will weiterrechnen, aber die Zahlen fangen an, sich zu bewegen. „Ich gehe jetzt auf Dienstreise", sagt die Zwei, „das muß der Junge doch verstehen." - „Das versteht er nicht", sagt die Eins, „wie ich die Sache mit der Sieben nicht verstehe!" — „Es ist alles ganz kollegial", sagt die Zwei und läßt eine häßliche Sieben bei sich einhaken." „Junge", sagt Frau Urschel besorgt, „träumst du?" „Nein", sagt Flups und setzt sich wieder gerade hin. Er schreibt seine Zahlen und weiß, daß es heute nicht ohne Fehler abgehen wird. 28
In jeder dritten Woche hat Onkel Konrad Frühschicht. Dann geht Flups mittwochnachmittags seinen Onkel besuchen. Aber der Mittwoch will und will diesmal nicht kommen. Onkel Konrad ist der beste erwachsene Freund von Flups. Er kann mit den Ohren wackeln, versteht etwas von Mechanik und Elektrotechnik, und außerdem hat er ein Luftgewehr. „Eigentlich", hat er einmal zu Flups gesagt, „wollte ich Erfinder werden. Aber dann habe ich es nur zum Chemiemeister gebracht." Trotzdem kann Onkel Konrad alles: basteln, malen und sogar Trompete blasen. Onkel Konrad lebt allein. Seine Frau ist ihm gestorben, als Flups noch ganz klein war. Flups kennt nur das Bild von Tante Lucie, das über der Kommode hängt. Es zeigt eine junge, hübsche Frau mit einem 30
freundlichen Lächeln. Nur ihr Hut sieht komisch aus, aber das macht nichts, denn Onkel Konrads Frau kann ja nichts dafür, daß sie schon lebte, als es andere Hüte gab. Flups hat lange gewartet. Aber dann ist es doch Mittwoch. Und er geht zu Onkel Konrad, der zwei Querstraßen weiter wohnt. „Guten Tag, Oskar", sagt Onkel Konrad. Immer wenn Flups kommt, hat er sich einen neuen Namen ausgedacht. „Wie geht es dir, Oskar?" „Na, man so", sagt Flups und tut sehr erwachsen. „Dann war also nur die Sache mit dem Kanalisationsfrosch?" „Woher weißt du das?" Flups ist erstaunt. „Ach", sagt der Onkel, „ich habe vorgestern eine alte Lehrerin getroffen. Sonst keine Vorfälle?" Flups möchte nein sagen, sagt aber nichts. 31
„Also doch", sagt der Onkel, „erzähl mal, Oskar!" „Ach, Onkel Konrad, als ich kleiner geworden bin, damals . . ." „Was?" sagt der Onkel. „Das hast du mir ja noch gar nicht gesagt!" „Es ist wegen Vati und Mutti", erzählt Flups. „Sie haben sich gezankt, und da bin ich plötzlich kleiner geworden. Ich hab's genau gemerkt, kannst es glauben." „Nö", sagt Onkel Konrad, „du wächst doch!" „Nicht mehr", sagt Flups. „Ich wachse zurück. Ich weiß nicht, warum, aber es stimmt." „Junge", sagt der Onkel, „das kann doch nicht wahr sein. Nein, das hätte ich doch merken müssen!" „Es stimmt", sagt Flups und muß schlucken. „Komm her, Junge", sagt Onkel Konrad und setzt Flups aufs Knie. „Was ist los?" 32
Und da erzählt Flups alles. Von den Ferien, die ausfallen sollen, von den Dienstreisen, von Mutti, die geweint hat, und von Fräulein Kalmann, die so fürchterlich häßlich sein muß. „Deine Mutter ist meine Schwester", sagt Onkel Konrad, „das weißt du ja. Sie war die jüngste von uns fünf Kindern. Immer habe ich ihren Wagen schieben müssen. Immer wollte sie mit und immer dabeisein, wenn wir Größeren was spielen wollten. Wenn es gerade interessant wurde, bläkte irgendwo deine Mutter. Ich hab sie manchmal verwünscht. Und am liebsten hätte ich sie festgebunden, wie man eine Ziege festmacht. Aber jetzt bewundere ich sie. Sie nimmt alles sehr ernst. Sie ist zielstrebiger als ich. Und daß sie nun auch noch studiert! Du hast eine großartige Mutter", sagt Onkel Konrad. „Ja", sagt Flups, weil Onkel Konrad recht 33
hat. Und er ist schon wieder ein wenig traurig, weil der Onkel nicht von seinem Vater spricht. „Du hast überhaupt prima Eltern", fährt Onkel Konrad fort. „Dein Vater ist auch so. Immer racksen. Alles für die anderen. Keine Zeit gönnt er sich. Nie hat er sich gedrückt, wenn es was Neues durchzusetzen galt." Flups atmet auf. „Aber was du mir da erzählst", sagt Onkel Konrad, „ich weiß nicht." Und dann sagt er noch einmal: „Ich weiß nicht." „Ich auch nicht", sagt Flups. Onkel Konrad denkt lange nach. „Man muß einen geraden Weg gehen", sagt er. „Junge, Oskar, merk dir das!" „Was soll ich da schon machen?" sagt der kleine Flups, denn er weiß nicht weiter. Onkel Konrad guckt Flups genau an. „Ich verstehe dich", sagt er. „Aber versuche, jetzt tapfer zu sein, wenn ich dir sage, daß 35
wir unseren Nachmittag abbrechen müssen. Den Zaubertrick mit dem Geldstück und der Flasche zeige ich dir das nächste Mal." „Och", sagt Flups, „warum?" „Ich muß zu Heinemann", sagt Onkel Konrad und erhebt sich von seinem Stuhl, „komm!" Sie gehen beide aus dem Haus. Vorn, am Tor, sagt Onkel Konrad noch einmal: „Man muß einen geraden Weg gehen." Dann gibt er Flups die Hand. „Tschö, Oskar. Bis zum nächsten Mal!" sagt er und geht nach links. Flups muß nach rechts. Als er an der Ecke ist, schaut er sich noch einmal um und bemerkt, daß Onkel Konrad nicht in die Sandgasse einbiegt, wo „Heinemanns Bierstuben" sind, sondern nach links in die Akazienallee hineingeht. Sofort meint Flups, er müsse noch kürzer werden, weil ihn auch Onkel Konrad angeschwindelt 36
hat. Aber nichts passiert. Kein Ruck kommt, obwohl Onkel Konrad nicht zu Heinemann geht! Alle Erwachsenen lügen, denkt Flups. Vati lügt. Mutti schweigt, wo es nötig wäre, zu reden; das ist genauso. Onkel Konrad lügt auch. Daß Onkel Konrad schwindelt, ist besonders gemein. „Deine Leistungen, Peter, machen mir große Sorgen", sagt Lehrer Lingke und schüttelt bedenklich den Kopf. Es ist Unterrichtsschluß. Weil Flups weiß, daß Ulli und Senkel draußen warten, möchte er Herrn Lingke am liebsten entwischen, Überhaupt: Was könnte er Herrn Lingke sagen? Daß der Vater nur ganz selten zu Hause ist? Daß Mutti über ihren Prüfungsarbeiten sitzt und kaum Zeit für Flups hat? Soll er die Sache von dem Ruck erzählen oder daß alle Erwachsenen schwindeln? Soll er erzählen, daß die Ferien hin sind? 37
„Ich war bei deiner Mutter", sagt Lehrer Lingke, „und ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist." Er streichelt Flups über den Kopf. „Mit den Schularbeiten geht es ja prima, im Gegensatz zu deinem Freund Senkel. Aber hier, in der Schule?" Flups druckst. „Versuch doch, im Unterricht besser aufzupassen und mitzumachen", sagt Herr Lingke. „Will ich ja", sagt Flups, weil er es wirklich will. Doch wie soll er dem Lehrer erklären, daß die Buchstaben und Zahlen immer öfter zu tanzen anfangen und er dann nicht an die Schule, sondern nur an zu Hause denken kann. Sogar einen Brief hat er heimlich begonnen: „Liebe Mutti, lieber Vati — warum vertragt Ihr Euch nicht?" Er hätte noch viel mehr schreiben wollen. Aber weil er nicht die richtigen Worte fand, hat er den Brief wieder zerrissen. Flups senkt den Kopf. 38
„Na ja", sagt Herr Lingke, „verliere man nicht den Mut!" Irgendwie sieht auch er ratlos aus, als er Flups gehen läßt. „Was wollte er denn?" fragt Senkel. „Ach, nichts", sagt Flups, „es war nur wegen dem Aufpassen. Und dann hat er auch gesagt, daß es mit deinen Schularbeiten nicht klappt." Senkel guckt betroffen. „Das sagt er so einfach", sagt Senkel. „Nimm mal Ulli, der hat's gut. Er hat seine Mutti zu Hause. Und du hast wenigstens Frau Urschel. Wenn aber meine Mutti mit den Kleinen kommt und die dann rumbrüllen — da mach mal was!" „Sehe ich ein", sagt Flups verständnisvoll, obwohl er sofort mit Senkel tauschen würde, nur, weil sich dessen Eltern gut verstehen. „Was machen wir jetzt?" fragt Ulli. Senkel räuspert sich. „Lagebericht: Am Marktplatz arbeitet ein UB zwo." — „Is'n das?" fragt 39
Flups. — „Universalbagger", sagt Senkel. „Gewaltiger Eimer dran; macht ganz schöne Kuten! Zweitens: Die Arbeiten am Neubau in der Herzfelder Straße sind unterbrochen worden. Prima Gerüste. Keine Bewachung." „Dritte Möglichkeit", sagt Flups: „Das hintere Ende der Thälmannstraße wird geteert. Viel Maschinen, Teerofen, Dampfwalze und so. „Teer?" sagt Senkel. „Also Teer lieber nicht! Wenn ich da an die Kanalisation und meinen Anzug denke!" Ulli und Flups nicken einsichtig. Mit dem Anzug hat es nämlich noch ein Nachspiel gegeben. Senkel wollte ihn gründlich reinigen und hatte ihn gekocht. „Jetzt paßt er gerade noch meinem kleinen Bruder", hatte er damals erzählt. „Dafür waren die Vorwürfe um so größer." „Ich bin für den Neubau", sagt Ulli. „Am 40
Bagger müssen wir ja sowieso vorbei." — „Einverstanden", sagt Senkel, und die Jungen flitzen los. Es ist ein imponierender Bagger. An dem Führerhäuschen ist groß aufgemalt UB 2. „Daher die Weisheit", sagt Ulli. Und dann: „Sieh mal, Flups, da drüben steht dein Onkel!" Onkel Konrad steht an der Rathausseite und redet mit einem fremden Mann. Frau Urschel ist auch dabei. „Wie der rumfuchtelt", sagt Senkel. „Dein Onkel ist prima." „Hm", sagt Flups; es klingt nicht sehr überzeugt. Als Flups von Frau Urschel kommt, sieht er gleich, daß Vati zu Hause ist, denn sein Mantel hängt am Haken. Muttis Mantel auch. Flups ist froh und geht zur Küche. „Ich verbitte mir, daß sich fremde Leute da 41
einmischen!" hört er durch die angelehnte Tür seinen Vater sagen. „Konrad ist mein Bruder", sagt Mutti. „Daß er dir neuerdings als ein Fremder erscheint, ist kein Wunder! Dir sind ja alle Menschen fremd, die sich um uns Sorgen machen. Ich bin dir fremd; sogar der Junge ist dir fremd, alles . . .!" Flups fängt an zu weinen. Er muß fürchterlich weinen. Weinend kommt er in die Küche. Er rennt zu seiner Mutti. „Mutti", schluchzt er, und seine Mutti preßt ihn an sich. „Vati", schluchzt er, und das Weinen in ihm hört nicht auf. Der Vater guckt Flups nicht an. Es scheint, als ob er durch die Wand sehen wolle. Mutti hält den Jungen ganz fest. „Da hast du es", sagt sie und weint auch, leise, aber schlimm. „Wenn du es übers Herz bringst, sag's ihm selber!" In Flups ist wieder das Rucken. Ganz klein 42
macht es ihn. Es schüttelt ihn fürchterlich. Und das Weinen hört nicht auf. „Du bist doch ein großer Junge", fängt sein Vater an. „Nein", brüllt Flups, „ich bin nicht groß. Ich bin klein. Ich bin ein Kind!" Und am liebsten möchte er in Mutti hineinkrauchen. Weil er Mutti liebhat und Vati auch. Und weil er die Erwachsenen nicht versteht. „Sieh mal . . .", setzt der Vater wieder an. „Nein", brüllt Flups, „nein!" „Laß den Jungen", sagt die Mutter und zieht ihn zu sich heran. Sie wiegt ihn, als ob er nicht ein Neunjähriger, sondern ein Baby sei. „Laß ihn, Herbert. Und geh jetzt!" Flups hört die Türen klappen. „Mein kleiner, schwarzer Peter", sagt die Mutter, wie sie früher zu ihm gesagt hat, als er noch nicht zur Schule ging. „Mein kleiner, schwarzer Peter, was machen wir nur?" 44
Flups ist krank. Er war nie gerne krank, aber jetzt gefällt es ihm, krank zu sein und im Bett zu liegen. In den Kissen ist es schön warm, und vor allem: Mutti ist öfter bei ihm als vorher. Sie bringt ihm Tee an das Bett. Und dann unterhalten sie sich. Und alles ist fast wie früher. Wenn Mutti auf der Arbeit ist, sieht Frau Urschel nach dem Jungen. Frau Urschel kann stricken und dabei sogar noch vorlesen. Dazu bringt sie ein ganz dickes Märchenbuch mit und liest jeden Tag ein Märchen vor. Flups hat schon lange keine Märchen mehr gehört. Aber jetzt, im Bett, gefallen sie ihm sehr. Er freut sich, daß immer die guten Menschen siegen. Wenn er allein ist und auf Mutti wartet, ist Flups ein Prinz, der die verzauberten Eltern durch seine Güte und Energie wieder zusammenbringt. Kommt dann seine Mutti nach Hause, ist er 45
sehr froh. Und wenn er sie genau ansieht, ist er wieder bedrückt, denn Mutti sieht sorgenvoll aus, auch wenn sie lächelt. Und an Mutti begreift Flups, daß es bei den Erwachsenen nicht stets so gut ausgeht wie im Märchen. Mutti hat viel zu tun für das Fernstudium. Manchmal, wenn sie Flups alleine lassen möchte, merkt er ihr an, wie schwer es ihr fällt. „Geh nur", sagt Flups dann, „ich lerne auch." Und er sucht in der Mappe nach seinem Lesebuch. Flups will tapfer sein und der Mutti helfen. Aber das ist leichter gedacht als getan, denn immer noch beginnen die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen und seltsame Reden zu halten. Nach einer Woche darf Flups wieder aufstehen. Aber in die Schule darf er noch nicht. Am Dienstag um drei kommt plötzlich Besuch. Es klingelt, Flups öffnet die Tür, 47
und ein rundlicher Herr mit einer Halbglatze steht draußen. Er neigt ganz kurz seinen Kopf und sagt: „Wenn ich mich vorstellen darf — Papendiek!" Flups nickt ebenfalls. „Pagel", sagt er. „Peter Pagel." „Ach", sagt der rundliche Herr enttäuscht, „du bist nicht Flups?" - „Doch", sagt Flups, „aber richtig heiße ich Peter." „Ist ja großartig", sagt Herr Papendiek, „Onkel Konrad schickt mich." — Nun weiß Flups, warum ihm der Herr so bekannt vorkommt. Er hat ihn neulich mit Onkel Konrad und Frau Urschel am Marktplatz gesehen, als sie zusammen diskutierten. „Kommen Sie doch bitte herein. Mutti muß auch bald dasein", sagt er. „Um so besser", sagt Herr Papendiek. „Zu deiner Mutti will ich nämlich auch. Zu ihr eigentlich besonders." — Flups bittet Herrn Papendiek in die Stube. „Kaffee kann ich 48
Ihnen nicht geben", sagt er. „Ich weiß nämlich nicht, wo er steht. Wenn Sie aber eine Tasse von meinem Pfefferminztee abhaben wollen?" „Oh, gern", erwidert Herr Papendiek, „ich bin leidenschaftlicher Pfefferminzteetrinker. Er macht Menschen gesund und stark." Dabei deutet er mit einer komischen Geste auf seinen Bauch, daß Flups mit Herrn Papendiek zusammen lachen muß. „Onkel Konrad schickt mich", sagt Papendiek. „Wir sind alte Freunde, schon von schlimmen Zeiten her. Die kennst du ja glücklicherweise nicht, obwohl . . . Aber vielleicht hat dein Onkel mal einen Amadeus erwähnt. So heiße ich mit dem Vornamen." „Sie sind Amadeus?" fragt Flups bewundernd und gießt ihm gleich noch eine Tasse Pfefferminztee ein. Von seinem Freund Amadeus hat ihm Onkel Konrad oft erzählt, 49
wie sie gemeinsam gewandert sind, was sie für Streiche gemacht haben und wie man sich auf ihn verlassen konnte. „Also Sie sind Amadeus. Ich wollte Sie schon immer gern einmal kennenlernen." — Herr Papendiek schmunzelt. „Ging bisher leider nicht", sagt er, „ich bin noch nicht allzulange hier. Doch nun zu meinem Auftrag : Onkel Konrad läßt sich entschuldigen, daß er dich noch nicht besuchen konnte. Es hat mit der Schicht leider nicht geklappt. Dafür schickt er dir dies", sagt Herr Papendiek und reicht Flups ein kleines Päckchen. Flups knotet die Schnur auf. Es ist Onkel Konrads alter Marschkompaß, ein wunderschönes Exemplar mit Leuchtzahlen, Spiegel und drehbarer Gradeinteilung, den Flups schon lange sehnsüchtig bewundert hat. „Ich kenne ihn auch noch", sagt Herr Papendiek, „er hat uns oft geholfen, den 50
richtigen Weg zu finden, auch im Dustern. Onkel Konrad läßt dir sagen, daß du am kommenden Mittwoch auf jeden Fall gesund sein mußt. Er wohnt Marschrichtungszahl vierundachtzig und hat was mit dir vor. Du sollst um 14 Uhr 30 aus dem Fenster gucken. Sobald er zu Hause ist, wird er mit der Trompete ,Du, du liegst mir im Herzen' blasen — über zwei Straßenzüge hin müßte das zu hören sein — und wenn du es hörst, kannst du kommen. Puh", sagt Herr Papendiek, „immerhin eine lange Botschaft!" „Ich komme ganz bestimmt", sagt Flups, der eben seine Mutter die Wohnungstür öffnen hört. Irgendwie glaubt er plötzlich nicht mehr, daß Onkel Konrad damals geschwindelt hat, als er die andere Straße entlanggegangen ist. Mutti kommt herein. „Mutti, das ist Herr Papendiek", sagt Flups. „Ich gehe dann in mein Zimmer", 51
denn er hat Angst vor den Gesprächen von Erwachsenen, seit neulich. „Auf Wiedersehen, Herr Papendiek. Es hat mich riesig gefreut, der Kompaß und alles. Grüßen Sie bitte meinen Onkel. Er ist prima." „Ist er", sagt Herr Papendiek. Dann wendet er sich der Mutter zu, und sie beginnen etwas über das Fernstudium zu reden. Flups preßt seinen Kompaß ans Herz. In seinem Zimmer stellt er sofort die Himmelsrichtungen fest. Das Bild von Vati und Mutti über seinem Regal hängt im Norden. Die Tür des Zimmers zeigt nach Osten. Eine halbe Stunde später hört der Junge Herrn Papendiek gehen. Dann kommt Mutti zu ihm. Sie ist anders als sonst — nicht ganz so sorgenvoll mehr. „Stell dir vor, Flups", sagt sie, „Herr Papendiek will mir beim Studium helfen, vor allem in Ökonomie, wo es bei mir so hapert. Er arbeitet im selben Betrieb wie Vati." Mutti 52
macht eine kleine, traurige Pause. Dann sagt sie tapfer weiter: „Herr Papendiek macht da so etwas wie die betriebliche Planung. Und zu uns geschickt hat ihn . . . — „Onkel Konrad", sagt Flups. „Herr Papendiek ist sicher, nein: ganz bestimmt ein guter Mensch." „Bestimmt", sagt die Mutti und lächelt ein wenig. Da kommt es Flups vor, als sei er an diesem Nachmittag wieder ein wenig gewachsen. Aber in den Spiegel schaut er noch nicht. Wenn Vati kommt, kommt er sehr spät, so daß ihn Flups nicht sieht. Und morgens ist er sehr früh wieder weg. Auch glaubt Flups, daß er auf dem Sofa in der Stube schläft, denn er hat dort neulich morgens eine Steppdecke und ein Kissen liegen sehen. Früher ist Vati auf diesem Sofa nur beim Fernsehen eingeschlafen und hat 53
dann immer ein steifes Genick bekommen. Das möchte Flups nicht. Und deshalb hat er auch Kissen und Decke ganz tief in seinem Schrank versteckt. Vorgestern nun lag auf Flups' Nachttisch ein neues Buch, „Die schönsten Sagen des Altertums". Und darin war eine Karte, darauf stand: Lieber Flups! Die Erwachsenen haben es manchmal auch nicht leicht. Ich wollte Dir und Mutti nicht weh tun. Werde bald wieder gesund. Vati Das Buch gefällt Flups. Die Karte nicht so. Vati hätte lieber selber kommen sollen, meint Flups. Doch als er am Donnerstag wieder zur Schule darf, steckt er das Buch in die Mappe, um es Ulli und Senkel zu zeigen. 54
Die Rotdornallee ist lang, und Flups zählt die Steinplatten des Bürgersteiges. Er ist gerade bei der Zahl Zweihundertsiebenunddreißig, da hört er vor sich eine Gartentür quietschen, und eine Frauenstimme sagt: „Guten Morgen, Herbert." Flups guckt hoch und bleibt wie angewurzelt stehen, denn das Fräulein reicht Vati die Hand und guckt ihn verliebt an. „Guten Morgen, Irene", sagt Vati. „Na, denn auf ein neu . . ." Er spricht nicht weiter, er hat Flups gesehen. Flups möchte im Boden versinken oder wegrennen. Aber er bleibt stehen. „Darf ich vorstellen", sagt Vati mit einem gequälten Lächeln, „mein Sohn Peter." „Ach", sagt Fräulein Kalmann, nur: ach. „Du gehst wohl zur Schule?" fragt Vati. Dabei sieht er Flupsens Mappe und weiß, daß er zur Schule geht. Fräulein Kalmann will Flups die Hand 55
reichen, aber der steckt seine Hand in die Hosentasche. „Wie alt bist du denn?" fragt das Fräulein. Flups schweigt. „Er ist neun", sagt der Vater. „Neun Jahre", sagt das Fräulein. „Ein großer Junge. Warum haben Sie ihn nicht mal mitgebracht, Herr Pagel? Warum holt er Sie nicht mal vom Betrieb ab?" Der Vater druckst. „Die Versammlungen und so. Die Arbeit bis in die Nacht", sagt er, „du weißt ja." „Ach", sagt Fräulein Kalmann wieder. Sie guckt auf Flups und dann auf Vati. „Aber ob das richtig ist, Herr Pagel?" Es entsteht eine lange Pause. „Tja, ich muß dann wohl", sagt Fräulein Kalmann. „Auf Wiedersehen, Peter! Fein, daß ich dich kennengelernt habe!" Sie lächelt, hebt ihre Hand ein wenig und winkt. Dann nimmt sie ihre Tasche unter den Arm und geht. Vati will ihr nach, bleibt 56
dann aber stehen, sieht Flups an und zuckt mit den Schultern. Er ist betroffen. „Du siehst ja", sagt er. „Du mußt dich jetzt wohl auch beeilen." Flups guckt an seinem Vater hoch. „Ich will dein Buch nicht", sagt er. Dann dreht er sich um und geht zur Schule. Das Rucken ist ausgeblieben. Und Fräulein Kalmann ist gar keine Ziege, im Gegenteil — sie ist irgendwie nett, ganz anders, als es sich Flups gedacht hat. „Ich habe viel Zeit", sagt Flups am Mittag zu Senkel. „Frau Urschel kann heute nicht, da muß ich erst um fünf zu Hause sein." „Ich kann bis drei", sagt Ulli. Aber Senkel freut sich nicht wie sonst. Sollten die Vorwürfe, die ihm Lehrer Lingke wieder wegen der Schularbeiten gemacht hat, so nachwirken? „Ich muß zurück in die Nordstadt", sagt 57
Senkel. „Eva ist krank, und Mutti muß mit ihr zum Arzt. Da soll ich, bis Vati kommt, auf Hans-Dieter aufpassen. Mit dem Spielen wird es also nichts. Was macht ihr?" „Weiß nicht", sagt Ulli, „wo ich gerade mal Zeit habe! Ist nicht irgendwo was los?" „Auf dem Festplatz wird ein Zirkus aufgebaut", sagt Senkel und setzt dann hinzu: „Ein recht mieser." „Au, fein", sagt Ulli, den diese Einschränkung nicht abschreckt. „Macht's gut. Mein Bus", sagt Senkel traurig und geht los. Flups hat Senkel genau angesehen. „Geh mal heute allein", sagt er zu Ulli. Dann nimmt er seine Mappe und rennt Senkel nach. „Ich komme mit", ruft er. Der Bus ist nicht voll. Als die beiden aussteigen, scheint die Sonne so schön, daß man sich richtig ärgern kann. Der Zir58
kus, das wäre doch ein Ereignis gewesen! „Gerade heute muß Eva krank sein", sagt Senkel, als er zu Hause die Tür aufklinkt. „Hätte sie nicht morgen . . ." „Fein, daß du kommst", sagt Senkels Mutter. „Ich muß mich nämlich beeilen." Dann guckt sie auf Flups. — „Das ist Flups", erklärt Senkel, „Verstärkung, sozusagen." „Gut", sagt Senkels Mutti. „Macht keine Dummheiten. Essen steht in der Röhre. Gebt Hans-Dieter was ab. Er spielt in der Stube. Wenn ich noch nicht da bin: Vati kommt um vier." Dann nimmt sie die kleine Eva auf den Arm, greift nach der Einkaufstasche und rennt los. „So ist es immer", sagt Senkel. „Nie hat einer Zeit." — „Kenne ich", sagt Flups sachverständig und nickt. Sie gehen in die Stube. „Mensch", sagt Senkel, „was hast du denn wieder ge60
macht, Dieter?" Hans-Dieter hat die Tischdecke vom Tisch gezogen und sich darin eingewickelt. Nun kommt er nicht heraus und brüllt. „Man hat sein Kreuz mit denen", sagt Senkel wie ein Erwachsener und wickelt sachverständig seinen Bruder aus. „Dabei ist er fast dreieinhalb", seufzt er und setzt den Jungen an den Tisch. „Wir essen jetzt", sagt Senkel nun. Da ist der kleine Dieter gleich still. „Was machen wir nachher?" fragt Senkel. „Wo ich schon hier bin", sagt Flups, „vielleicht könnte ich auf den Jungen aufpassen, und du machst deine . . ." — „Meine Schularbeiten?" sagt sein Freund. „Nö, die mache ich immer abends. Und das mit dem Aufpassen stell dir nicht so einfach vor." „Denk an Lingke", sagt Flups. „Wenn du wenigstens ein bißchen was machst." — „Ooch", sagt Senkel und dann: „Na ja, wir können's versuchen. Nimm sein Dreirad 61
mit und geh mit ihm nach hinten in den Garten." Flups faßt den kleinen Hans-Dieter an und freut sich, daß er gleich mitkommt, als ob Flups sein Bruder wäre. Richtig stolz ist Flups. — „Aber melden, wenn was ist!" ruft Senkel den beiden nach. Hans-Dieter fährt mit seinem Dreirad los wie ein Wilder, den Gartenweg hinunter und wieder hinauf. Ein Stein liegt im Weg. Das Rad kippt um. Dieter stößt sich den Kopf und weint. Flups ist hilflos. Aber Senkel guckt schon aus der Tür. „Du mußt ihm die Tränen abwischen und pusten", sagt er. Wupp, ist er wieder verschwunden. Flups tröstet den Kleinen. Er beruhigt sich. Aber gleich reißt er sich los und rennt auf das Blumenbeet zu. „Eine Ameise!" ruft er und beginnt in der schwarzen Erde zu wühlen. — „Du, die Blumen!" sagt Flups. Aber der Junge buddelt weiter. — „Dieter hat sie", 62
sagt er und preßt seine Hand zusammen. - „Zeig mal", sagt Flups, aber der Junge macht die Hand nicht auf. Er läuft zu seinem Dreirad und steigt auf. „Die bringe ich zum Zoo", erklärt er stolz. Und gleich darauf fängt er unerklärlicherweise wieder an zu brüllen. Er macht die Hand auf, und Flups sieht eine Wespe darin. „O Gott, eine Wespe!" sagt er. — „Die Ameise hat gepikt", sagt Dieter schluchzend. „Was ist los?" ruft Senkel von der Tür her. „Eine Wespe hat ihn gestochen." — „Ach, du liebe Güte", sagt Senkel, „er hält Wespen für Ameisen. Das hätte ich dir gleich sagen sollen. Ich hole Zwiebel", sagt er und verschwindet. Dann kommt er mit einer Zwiebelscheibe wieder, die er mit einem Taschentuch auf Dieters Hand bindet. „So, das hilft", sagt er. „An Ameisen geht er nicht ran, weil er denkt, daß es Wespen sind." Der Kleine beruhigt sich. „Es wird 63
wohl nichts werden mit den Schularbeiten", sagt Senkel. „Du könntest höchstens noch versuchen, ihm was vorzusingen. Da ist er am friedlichsten." Flups nimmt den Jungen und setzt ihn neben sich auf die Gartenbank. Dann überlegt er, was er singen soll. Weil ihm nichts anderes einfällt, singt er: „Dem Morgenrot entgegen". Senkel zieht sich wieder zurück. Flups singt, und der Kleine klettert auf der Bank rum. Flups singt: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit." Der Kleine rutscht die Bank hinunter. Flups hört etwas reißen. „Au weia", sagt Hans-Dieter und deutet auf seine Hose. Flups sieht, daß er sich an der Bank einen großen Dreiangel gerissen hat. Da nimmt er Dieter wieder an die Hand und geht mit ihm hinein zu Senkel. „Leg dein Zeug weg", sagt er, „ich geb's auf." — „Habe ich ja gleich gesagt", 64
triumphiert Senkel. „Wenn man's nicht gewohnt ist! Aber ein lieber Kerl ist HansDieter doch." — „Glaube ich", sagt Flups und bewundert Senkel. „Schade, daß ich dir nicht besser helfen konnte." „Die Sätze habe ich immerhin fertig", sagt sein Freund. „Bleibt nur noch Mathe." Als Flups nach Hause fährt, fällt ihm etwas ein. Und er nimmt sich vor, mit jemandem zu reden. Dann ist wieder Mittwoch. Genau um 14 Uhr 30 lehnt sich Flups aus dem Fenster. „Du, du liegst mir im Herzen", tönt entfernt eine Trompete. Da weiß Flups Bescheid und saust los. Die Marschrichtungszahl hat er längst eingestellt. Natürlich stimmt sie nicht, weil er nicht auf der Luftlinie zu Onkel Konrad fliegen kann. Aber was macht das schon! „Na also, Karl", sagt Onkel Konrad, und 65
Flups weiß, daß er heute Karl heißen wird. „Amadeus war ja wohl bei dir." „War er", sagt Flups. „Ein seltsamer Name, nicht?" Onkel Konrad muß lächeln. „Er heißt wirklich Amadeus, weil sein Vater wollte, daß er Musik studiert", sagt er. „Aber dann wurde doch nichts draus. Das Geld langte man gerade für Essen und Kleidung. So mußte er das Leben studieren und sein Wissen im täglichen Kleinkampf aus billigen Broschüren schöpfen. Dabei ist seine Neigung zur politischen Ökonomie entstanden." „Aha", sagt Flups. „Aber warum ist er hierhergezogen?" „Im Schwermaschinenbau hat irgend etwas mit der Planung nicht geklappt. Drum hat die Partei gesagt: Da muß Papendiek hin, der wird das schon machen! Wo Amadeus ist, läuft der Laden. Gefällt er dir?" „Na klar", sagt Flups. „Er ist wie du." — 66
„Besser", sagt Onkel Konrad. Aber Flups weiß keinen besseren Onkel als seinen. „Bist du damals zu ihm gegangen, als du sagtest, du würdest zu Heinemann gehen?" - „Du Fuchs hast mich beobachtet", sagt Onkel Konrad und lacht. „Amadeus trinkt dort sein Bier, wenn er von der Arbeit kommt. Aber mittwochs haben Heinemanns Ruhetag. Das ist mir eingefallen." — „Ich dachte damals, du schwindelst auch", sagt Flups. — „Karl, Karl!" sagt Onkel Konrad und erhebt scherzhaft drohend seinen Zeigefinger. „Ich war so unsicher wegen Mutti und Vati." „Weiß ich längst", sagt Onkel Konrad. „Fräulein Kalmann ist nett, was?" Flups ist baff. Eine Weile sagt er gar nichts. Dann nickt er ganz zaghaft mit dem Kopf. „Allzu begeistert scheinst du mir nicht zu sein!
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„Na ja", sagt Flups, „wegen Mutti. Und wenn die Kalmann nun zu Vati auch so nett ist. . . überhaupt — woher kennst du sie denn?" „Ich habe vorgestern mit ihr gesprochen", sagt Onkel Konrad, „sie ist nicht nur nett, sie ist auch eine vernünftige junge Frau mit Verantwortungsbewußtsein. Aber genug davon. Ich hatte dir was versprochen. Nimm mal die Büchse!" Er reicht Flups das Luftgewehr. „Wo habe ich denn nur den Bodenschlüssel?" Er findet ihn in der Hosentasche. „Komm, Karl", sagt Onkel Konrad, „wir wollen mal nach oben." Auf dem Boden hat Onkel Konrad seine Bastelwerkstatt. Flups könnte stundenlang hier sitzen. Aber Onkel Konrad nimmt nur etwas in Zeitungspapier Gewickeltes von der Hobelbank und steigt die breite Leiter zum Dach hinauf. Er öffnet die Luke. Das Haus hat ein flaches Pappdach. 68
„Na, komm schon!" sagt er. Auf einem Hausdach war Flups noch nie. Darum nimmt er es als hohe Ehre, mit auf das Dach zu dürfen. Und auch, weil es sonst nur Erwachsenen erlaubt ist. Flups ist sehr stolz. Onkel Konrad wickelt das Zeitungspapier auf. Es sind zwei Eier darin. Ausgeblasene, stellt Flups fest, denn sie hängen an Fäden, und die Fäden wiederum sind an Holzspeile geknüpft. Flups wundert sich. „Wir schmeißen sie in die Kiefer vorm Haus", sagt Onkel Konrad. „Da bleiben sie hängen. Jeder hat drei Schuß. Wer weniger braucht, ist Sieger. Werfen muß ich aber", sagt er und holt weit aus. Das Ei segelt auf die Kiefer zu. Der Speil verfitzt sich in einem Zweig. Als das Ei ausgependelt hat, sagt Onkel Konrad: „Bitte!" Flups ist aufgeregt. Erst beim dritten Mal trifft er. 69
„Jetzt ich", sagt Onkel Konrad und holt wieder aus. Schwungvoll segelt das Ei auf die Kiefer zu. Aber der Speil findet keinen Halt. Er rutscht ab. Auch der nächste Zweig hält ihn nicht. „Karl", sagt Onkel Konrad leise, aber eindringlich, „guck mal schnell, Papendiek kommt!" Flups sieht, daß Herr Papendiek gerade auf den Baum zugeht. Das Ei fällt ihm genau vor die Füße. Er bleibt starr stehen und sieht auf das Ei. Dann guckt er hoch zum Baum. Dann sieht er wieder auf das Ei und schüttelt den Kopf. „Seit wann fällt ein Hühnerei vom Baum", murmelt er. Onkel Konrad und Flups müssen sich das Lachen verbeißen. Und während Herr Papendiek gereckten Halses die Kiefer umrundet, flitzen sie schnell über die Bodentreppe zurück in Onkel Konrads Wohnung, greifen sich eine Zeitung und setzen sich malerisch hin. 71
Gleich darauf klingelt es. „Herein!" ruft Onkel Konrad, und Herr Papendiek öffnet die Tür. Er schüttelt immer noch den Kopf und hält in der Hand das ausgeblasene Ei. „Stell dir vor, Konrad", sagt er, „das ist eben vom Baum gefallen!" - „Nein", sagt Onkel Konrad ernst und erstaunt. - „Aber ja", sagt Herr Papendiek, „und genau vor meine Füße!" - „Nein", sagt Onkel Konrad und: „Kannst du dir das vorstellen, Flups?" - „Nein!" sagt Flups. Aber dann müssen er und Onkel Konrad doch gewaltig lachen. Herr Papendiek guckt ganz komisch. Aber als sie ihm erzählen, wie alles geschehen ist, lacht er auch. „Ich komme wegen des Eis, äh, wegen der Sache von neulich", sagt er. — „Ist gut", sagt Onkel Konrad, „setz dich. Das hat Zeit bis später." - „Jedenfalls läßt sich die Sache an", sagt Herr Papendiek. Dann geht sein Blick zur Wand, wo das Bild von 72
Tante Lucie hängt. „Lucie, meine Schöne", sagt er und ist einen Augenblick ganz ernst. „Er hat sie auch liebgehabt, Karl", sagt Onkel Konrad zu Flups, „sie wollte aber unbedingt mich. Sie hat sich so entschieden, und damit war es gut. Wir haben uns dennoch vertragen — ich mit meiner Lucie und Amadeus mit seiner Hildegard. Obwohl, unser Leben war nicht leicht. Und gekabbelt haben wir uns manchmal auch." „Das stimmt", sagt Herr Papendiek. „Aber wir haben uns immer wieder zusammengerauft; schwere Stunden verbinden. Ich muß mich nur über die Jungen wundern, wo sie es doch viel leichter haben, jetzt!" „Du hast nur bedingt recht", sagt Onkel Konrad. „Sie haben es anders schwer." „Hm", sagt Herr Papendiek, „nur sind sie etwas schusselig oder einseitig diensteifrig und dabei doch bequem." 73
„Es sind eben Menschen", sagt der Onkel, „und manchmal muß man sie an die Zusammenhänge erinnern. Die hier", er zeigt auf Flups, „haben's dann wieder anders leicht und schwer." „Alter Dialektiker!" sagt Herr Papendiek lachend und schlägt dem Onkel auf die Schulter. „Flups", sagt Onkel Konrad, „nächste Woche habe ich Urlaub. Und ich glaube, daß dann gutes Wetter wird, denn du hast ja auch Ferien. Jetzt kann ich Amadeus nicht warten lassen." „Gut", sagt Flups tapfer, weil er gerne noch geblieben wäre. „Grüß Vati und Mutti", sagt der Onkel. „Und Frau Urschel", sagt Herr Papendiek. „Ich bin ebenfalls sicher, daß es gutes Wetter geben wird."
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„Meine Mutter ist sauer", sagt Senkel, „wegen der Wespe und dem Riß in der Hose. Sie sagt, ich hätte es wissen müssen. Aber das ist nicht das Schlimmste. Die Mathe-Zensur hat ihr den Rest gegeben. Ich soll in den Hort. Nur, in der Nordstadt haben wir keinen. Nun wollen sie irgend etwas mit mir organisieren!" „Hör auf zu nölen", sagt Flups, „du kommst um zwei mit zu Frau Urschel. Ich habe mit ihr gesprochen. Wenn du ihr gefällst, nimmt sie dich." „Ja, aber ob meine Eltern . . .?" „Bestimmt", sagt Flups. „Frau Urschel ist wie eine Oma. Außerdem war sie mal Lehrerin." „Und wenn ich ihr nun nicht gefalle?" Senkel ist nicht sehr überzeugt von sich. Er versucht, seine strubbeligen Haare zu glätten und sieht befangen auf einen Marmeladenfleck, den er auf seinem Hemd 75
hat. „Soll ich ihr ein Gedicht aufsagen? Vielleicht das von der Hühnerfee oder ,'s war nicht die Zeit'?" „Die Idee ist gut", sagt Flups. „Nur die Gedichte passen nicht. Aber ich hab mal eins zum Lehrertag lernen müssen, das bringe ich dir bei." Dann fällt ihm noch was ein. „Komm mit zum Bahndamm!" sagt er. Am Bahndamm wachsen Blumen. Johanniskraut steht da, Kornrade und Glockenblumen. Und gelbe und blaue Lupinen. Die Jungen pflücken beide einen großen Strauß. „Schöner als im Laden", sagt Senkel stolz. — „Jetzt nimmt sie dich bestimmt. Und der Strauß hier ist für deine Mutter, wenn du nach Hause kommst", sagt Flups. „Du bist ein Kumpel!" Senkel ist gerührt. Inzwischen haben sie auch das Gedicht gelernt. Und Punkt zwei klingeln sie bei Frau Urschel. — „Das ist mein Freund Senkel. Er kann ein Gedicht", sagt Flups. 76
„Oho", sagt Frau Urschel. „Na, dann kommt mal rein!" In der Stube stellt sich Senkel ganz steif hin und hält sich den Blumenstrauß vor den Bauch. Dann beginnt er aufzusagen: „Ich werde einmal Flieger und fliege nach Berlin, nach Moskau und nach China, wenn ich erwachsen bin. Mein Lehrer sagt: Die Ferne bezwingt nur, wer was kann. Doch wenn ich fleißig lerne, dann glaubt er auch daran. Wenn Lehrertag ist, später, hab ich mir ausgedacht, werf ich ihm Blumen runter und fliege eine Acht." 78
Gleich darauf läßt er vor Aufregung den Blumenstrauß fallen. Schnell hebt er ihn wieder auf und streckt ihn Frau Urschel hin. „Für Sie!" sagt er. „Danke. Du gefällst mir", sagt Frau Urschel. „Bitte. Sie mir auch", sagt Senkel. Und dann machen sich die drei gemeinsam an die Aufgaben. Als Senkel um vier in seinen Bus steigt, sieht er sehr glücklich aus. Frau Urschel hat ihm einen Zettel geschrieben, für seine Mutter, und zum Abschied gesagt: „Nach den Ferien fangen wir richtig an!" Die Blumen für seine Mutti hätte er bald vergessen. Flups gibt sie ihm. Er ist mitgegangen, denn er hat noch Zeit. Der Bus fährt ab. Flups will sich gerade nach Hause trollen, doch da bleibt er stehen und schlägt sich mit der flachen 79
Hand an die Stirn. Er dreht sich auf der Stelle um und rennt noch einmal in Richtung Bahndamm. Um fünf steht er mit einem großen Blumenstrauß vor seiner Mutti. „Nanu", sagt sie, „die Prüfung ist doch erst übermorgen. Hast du dich nicht geirrt?" „Nein", sagt Flups, „sie sind für dich. Es ist mir so eingefallen." „Junge", sagt seine Mutti, „du weißt gar nicht, was du mir damit für eine Freude gemacht hast." Sie sucht im Büfett nach ihrer Lieblingsvase, holt Wasser und stellt die Blumen mitten auf den runden Tisch. „Mit solch einem Jungen bestehe ich jede Prüfung. Was wir doch für einen prächtigen Jungen haben!" Sie nimmt Flups, hebt ihn hoch und küßt ihn auf die Nase. Wenn Ferien sind, sieht die Straße ganz anders aus. Die Pappeln salutieren wie 80
Soldaten, als wollten sie sagen: Bitte, Prinz Flups, hier entlang! Die Kugelahornbäume sind wie grüne Luftballons, die durch ihre schlanken Stämme an der Erde festgehalten werden. Die Häuser sehen freundlich aus ihren blanken Fensteraugen und haben sich mit blühenden Balkons geschmückt. Heute war der letzte Schultag, und Flups geht die Straße entlang. Machen es allein die Ferien, daß die Straße so bunt und lustig aussieht? Flups denkt nach. Nein, die Ferien allein machen es nicht. Gestern hatte Mutti Prüfung. Den ganzen Tag war sie weg, und Flups hatte mächtige Angst. Wenn sie nun nicht besteht, dachte er. Aber dann kam Mutti und hatte doch bestanden. Da waren beide sehr glücklich. Macht es also Muttis bestandene Prüfung, daß die Straße so anders aussieht? Nein, die macht es auch noch nicht! Oder liegt es an Vatis Glückwunschtele81
gramm mit dem kurzen Text: „Gratuliere zum Diplom. Komme Freitag mittag. Herbert", das gestern der Bote brachte? Nein, das alles zusammen ist es noch nicht. Flups geht die Straße entlang, staksig noch, aber selbstbewußter, sicherer. Er weiß ohne Spiegel, daß er gewachsen ist. Und dabei ist gar nicht viel geschehen von gestern zu heute. Wie soll er es sagen? Mutti und Vati saßen am runden Tisch, als er aus der Schule kam, am Tisch mit seinen Sommerblumen. Mutti war wieder anders, noch anders glücklich als gestern. Und Vati hat Flups fest angeguckt; er ist seinem Blick nicht ausgewichen. Und dennoch war er gelöst, als ob ihm jemand eine Last weggenommen hätte, die ihn in letzter Zeit bedrückt hatte. Alle drei hatten Mittag gegessen, und dann hatte Flups gesagt: „Ich gehe jetzt." 82
— „Geh nur, mein großer Junge", hatte Mutti gesagt. Und als er dann noch einmal zurückguckte, hatte sein Vater mit den Augen geblinzelt wie früher, aber doch nicht wie früher. Und das kleine bißchen macht es, daß die Straße so blank aussieht und daß die Vorgärten prahlend ihre Blumenteppiche ausbreiten oder mit ihren Strauchfingern nach Flups greifen, um ihn zu necken. Flups geht nah am Rand der Zäune und weicht den Sträuchern mit dem Kopf aus. Flups geht zu Onkel Konrad. „Hör zu, Peter", sagt Onkel Konrad. Das erstemal nennt er Flups beim richtigen Namen. „Ich will mit dir über deinen Vater sprechen, über Mutti und überhaupt über alles. Setz dich hin. Wir wollen versuchen, gerecht zu sein." Flups kriegt einen Schreck. Onkel Konrad 83
sieht es. „Wenn dir jetzt etwas weh tut — das geht vorbei. Es sind Wachstumsschmerzen." Er gießt Flups ein großes Glas voll Apfelsaft. Sich selber stellt er ein Bier hin. „Du brauchst keine Angst zu haben. Deine Eltern sind gute Leute. Warum sich auch gute Leute manchmal nicht vertragen, weiß der Kuckuck; es gibt tausend Gründe dafür. Dein Vater zum Beispiel ist ganz anders, als du vielleicht denkst; er hat in dieser für dich so schlimmen Zeit eine neue Technologie ausgearbeitet. Deswegen war er weniger und manchmal nur so kurz zu Hause, über der Arbeit hat er dich und auch Mutti ein wenig — vergessen. Fräulein Kalmann schien ihm da näher, denn sie hat ihm geholfen. Gestern nun war dein Vati im Ministerium. Die neue Technologie wird eingeführt, nicht nur hier, auch in Berlin und Rostock. Das bedeutet einen großen Fortschritt für unsere Wirtschaft, und natür84
lich ist es auch ein Erfolg für deinen Vati. Er hat Sonderurlaub bekommen und wird mit Mutti ans Schwarze Meer fliegen — ohne dich!" In Flups will es wieder rucken. „Das sind die Wachstumsschmerzen", sagt Onkel Konrad. „Die Großen müssen manchmal ohne Kinder sein, um sich auf sich selbst zu besinnen. Deine Mutti hat die Ruhe auch verdient, oder?" „Ja", sagt Flups, „aber ich ... Was wird aus mir? „Hach, kann ich mich ärgern", sagt Onkel Konrad und springt von seinem Stuhl hoch. „Das hätte ich dir natürlich erst sagen sollen: Du kommst für die Zeit mit mir an die Ostsee, nach Ahlbeck. Wir bauen uns am Strand eine Burg. Wir werden angeln, und . . ." Flups fällt ein Stein vom Herzen. „Peter", sagt Onkel Konrad, „es geht nicht 86
alles gut in der Welt. Nicht mit den Erwachsenen und auch nicht mit den Kindern." „Ich weiß", sagt Flups, weil er es wirklich weiß. „Was hätte ich ohne dich machen sollen?" „Wieso ich?" fragt Onkel Konrad. „Denk an Amadeus, an Frau Urschel, an Herrn Lingke und all die vielen, die sich um euch kümmern, ob ihr sie nun kennt oder nicht!" „Da hast du auch wieder recht", sagt Flups. Und dann: „Nehmen wir das Luftgewehr mit?" „Natürlich", sagt Onkel Konrad. „Und du vergiß den Kompaß nicht! Sonntag früh fahren wir."
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