089 - Janek Und Das Messer

August 27, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Nature
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Band 89 Janek und das Messer

Horst Rudolph Für Leser von 9 Jahren an 3. Auflage 1975 Illustrationen von José Sancha © Der Kinderbuchverlag Berlin

Inhalt: politisch; kurzer Ausschnitt aus dem Leben von Janek und seiner Schwester Marfja, in welchem sie Wladimir Iljitsch „Lenin“ Uljanow treffen

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1. „Hilf mir jetzt, Marfja!“ bat Janek. „Nur diese zwei noch bis zum Abend.“ Das Mädchen hatte blondes Haar, das schon fast weiß aussah. Sie blinzelte in die Sonne, die über den Berggraten stand. Erste Abendnebel krochen aus den Tälern. Janek hockte am Feuer. Schweiß rann ihm von der Stirn. Mit einem angekohlten Zirbelknorren schürte er das Feuer. Dann stieß er das Eisen in die Glut. Von hinten blies der Bergwind und jagte ihm Fröstelschauer über den Rücken. „Die zwei noch!“ wiederholte er, und man hörte es: Diese Arbeit – Janek haßte sie. Warum wohl? Marfja, das Mädchen, stellte den Zuber für die Molke beiseite und trat heran. Ihre Augen, blaugrün wie der Spiegel des Meerauges unten im Tal, blickten sanft 5

auf den Bruder. Sie ergriff eins der Hölzer, die Janek aus den Ästen der Zirbelkiefer geschnitten hatte, kniete sich neben das Feuer, das im Schutz eines mannshohen Granitblockes loderte. Funken sprühten. Der Wind trieb sie über das Geröll und gegen die Stallhütte. Die Lämmer, die sich um die Feuerstelle drängten, warfen die Köpfe hoch und sprangen davon. Der alles entscheidende Augenblick war der, wenn Janek die rotglühende Spitze des Eisens ansetzte. Traf sie nicht genau den Kern des Holzes, war alles verdorben. „Festhalten, Marfjuscha!“ Das Mädchen preßte das Holz gegen den Felsblock und schloß die Augen. Nicht mit ansehn mochte sie, wie das glühende Eisen immer näher kam, immer näher, so daß sie den Hauch der Glut an den nackten Armen spürte. 6

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Doch das war erst der Anfang. „Achtung!“ rief Janek. Und Marfja wußte: Nur nicht zucken jetzt! Stillhalten! Nicht atmen! Zischend fraß sich die Spitze des Eisens ihren Weg durch den Zirbelast. Jetzt war sie dicht unter Marfjas Händen. Das Holz wurde heiß und heißer. Schweldämpfe wehten über die Alm. „Gleich vorbei, Marfjuscha!“ Was geschah, wenn einmal das Holz barst in diesem Augenblick? Und immer und an jedem Tag dasselbe – fünfmal am Tag. So hatte es der Pan, der Herr, verlangt – Pan Gasienica. Fünf Rohrflöten am Tag und keine weniger! Und einmal in der Woche kam Grischa, der Aufseher der Hirten, herauf zur Alm. Zählte die Flöten, zählte die Lämmer. Und wehe den Kindern, wenn eins der Tiere hinkte, wenn eins gar fehlte, abgestürzt über die

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Steilwände! – Fünf Flöten am Tag, die der Pan auf den Wochenmärkten verkaufen ließ an die Sommerfremden. Janek haßte den Pan. Er haßte die Flöten... Er faßte das Holz jetzt selbst. Drängte Marfja mit den Schultern beiseite. Schneller! Friß, Feuer, friß! Schon mochte die Spitze des Eisens verblassen – Janek fühlte es. Lief sich der Stahl erst kalt, war’s vorbei. Ein zweites Mal ansetzen? Nie würde der Ton rein und klar kommen, wenn man später ins Mundstück blies. Soll das Werk gelingen, muß die Glut in einem Zug durchs Holz gehen. Geschafft! Mit einem Bluff blauen Rauchs stieß die Spitze des Eisens hervor. „Dann noch mal!“ sagte Janek und legte das Werkzeug zurück ins Feuer.

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Marfja nickte und ging wortlos zurück an ihre Arbeit. Sie goß die Molke in den Zuber und stampfte Kleie dazwischen. Die Lämmer drängten wieder heran. Blökten kläglich, hatten den Hunger im Leib. Sie stupsten die feuchten Lippen gegen Marfjas Arme. Mütterchen, gib! „Ja doch!“ sagte Marfja. „Ja doch, ja! – Ihr Nimmersattmäulchen!“ Janek schürte das Feuer. Schönes Brennholz! Hier verging es krachend in kurzer Zeit, um das verdammte Eisen zu heizen. Später am Abend und am nächsten Morgen würde man’s brauchen können, wenn Reif fiel über die Alm. Holz war knapp hier oben. Stundenweit mußten die Kinder laufen, um es herbeizuschaffen. Fünf Stück am Tag! So hatte es der Pan bestimmt in seiner Allmacht. „Und wehe euch, wehe, wenn...“

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So vergingen die Tage des Sommers hier oben auf der Alm, tausend Meter über den Menschen da unten in den Tälern: Mit dem ersten Tagesschein aus dem Heu kriechen. Die Herde in die taufeuchten Schrunden des Gebirges treiben. Muttertiere und Lämmer zusammenhalten und bewahren vor Bergsturz und Fehltritt. Und war beim Treiben einer der eiskalten, reißenden Bäche zu überqueren, dann mußte man die Jungtiere einzeln auf die Arme nehmen und hinübertragen. Eins nach dem andern, dreißig im ganzen, so daß einem die Füße fühllos wurden vom Biß des Wassers. „Und wehe euch, wehe, wenn eins die Kräxe kriegt!“ Diese Krankheit aber kam vom kalten Wasser. Kam von Reif und Tau, von Schnee und Hagelschauer, und alles das gehörte zum Sommer hier oben.

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Und da ein ausgedorrter Zirbelast und dort einer! Nicht jeden konnte man nehmen. Steinhart mußte das Holz sein. Ausgelaugt und gebleicht von vielen Wintern und Sommern. Und immer höher hinauf mußte man klettern in die Wände der Bergriesen auf schmalem Gesims, während unter den zerschundenen Füßen das Gestein niederfuhr. Und Marfja, Marfjuscha, tief unten und mückenwinzig, legte die Hand über die Augen. Nicht zusehn konnte sie, wie Janek sein Leben wagte. Und die Herde sie war ein hingetupftes Gesprenkel im kargen Grün des Felsentals. Manchmal dachte Janek dabei an die Zukunft. Dachte so: Den hier lass’ ich noch ein halbes Jahr verwittern. Und dieser dort, knarrend im Wind überm Abgrund, braucht wohl noch zwei Winter, bis er taugt und eine Flöte hergibt. Nein. Nichts anderes gab es für Janek und 14

Marfja hier oben. Immer dasselbe: die Lämmer, die Schafe, das Zirbelholz. Dazu die einsamen, kalten Nächte im Heu der Stallhütte. Und so würde es bleiben, immer und ewig, wenn kein Wunder geschah. – So dachte Janek an die Zukunft mit seinen zwölf Jahren ... Das Feuer drohte zu erlöschen, bevor noch das Eisen zum letzten Mal glühte an diesem Abend. Janek schürte und blies. Doch nur noch Schwaden zogen übers Geröll im einschlafenden Wind. Die Sonne war längst hinter die Berge gerutscht. Ein Brennen am Himmel war übriggeblieben vom Tag und lag über den fernen Graten und warf ein letztes fahles Licht über die Alm. Kein Scheit Holz mehr! Die Flamme zuckte und verging. Janek preßte die Fäuste gegen die Stirn. Der Schweiß dort war kalt jetzt und brannte.

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Janek fühlte sich elend. Noch vor Jahresfrist hatten Janek und Marfja ihre Flöten zum eigenen Vergnügen geschaffen. Hatten die Kunst dem alten Grzela abgesehen, noch bevor der gestorben war im neunzigsten Jahr seines Lebens. Niemand im Dorf verstand seitdem so gut wie Janek, das Glüheisen zu handhaben. Und Marfja – sie war eine Meisterin, wenn es galt, die Grifflöcher zu setzen, damit die Töne rein und klar kamen, wenn man ins Mundstück blies. Und es war eine Lust gewesen, etwas Bleibendes zu schaffen. Damals verschenkten sie ihre Flöten an die Kinder des Dorfes. Nur die gelungensten behielten sie eine Weile bei sich. Und immer besaß eine jede von ihnen ihren besonderen, einmaligen Klang. Wenn Janek und Marfja durchs Dorf gingen, hörten sie die Melodien ihrer Flöten auf den Höfen 16

der Bauern. Sie erkannten eine jede wieder am Ton, und sie freuten sich. Das ging so, bis der Pan die Kinder in Taglohn nahm, die elternlosen, und sie sommers hinauf in die Berge schickte zum Hüten. „Ich nähr euch! Lass’ krepieren euch, wenn ihr nicht I! Und wehe euch, wehe, wenn ...!“ Eines Tages fiel der Schatten des Pans über Janek, der am Feuer saß hier oben auf der Alm. Unter dem Bannblick des Herrn werkten Janeks Hände weiter, obwohl eine eiserne Spange sein Herz umschloß. Wann fiel er, der Schlag mit dem Stock? Kein Schlag diesmal. Die Stimme des Pans befahl: „Drei Stück bis Sonntag! Hörst du? – Und wehe dir, wehe, wenn...!“ „Ja, o ja, Pan!“ flüsterte Janek. Später trieb der Pan die Stückzahl bis auf fünf. Denn für gutes Geld ließen sich 17

Janeks Flöten an die Sommerfremden verkaufen. Alle wollten sie etwas Hübsches mitnehmen in ihre großen Städte. Locker saß ihnen das Geld in den Börsen. „Dem Herrgott den Tag stehlen, wie? Am Halm kauen und den Wolken nachstarren, was? – Fünf Stück!“ So lernte Janek die Flöten hassen. Er verwünschte ihren Ton. Marfja mußte weit zur Seite gehen, wenn sie probierte und die Grifflöcher setzte. Auch ihr tat es leid, daß sie die Flöten weggeben mußten an den Pan, die doch eigentlich für die Kinder des Dorfes bestimmt waren. „Hoffentlich sind’s gute Menschen, die sie kaufen!“ sagte sie. Janek brummte unwillig. War ihm egal! In den Hälsen sollten sie denen steckenbleiben, wenn sie drauf bliesen! So vergingen die Tage und Wochen vom Anfang des Juni, vom Rysek, dem 18

großen Herdenauftrieb. Tage und Wochen der Fron. Und die Berge standen ringsum, schweigend oder sturmbrüllend, unveränderlich wie das Geschick, das für Janek und Marfja bestimmt war.

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2. Eines Mittags kamen zwei Fremde vom Paß herabgestiegen. Sie blieben bei der Feuerstelle stehen und beobachteten Janeks Tun. Nickten anerkennend und betasteten die fertigen Flötenrohre, die in der Sonne lagen, damit der Brandgeruch daraus entfliege. Der Kleinere von beiden setzte schließlich eins davon an die Lippen. Der Ton war selten gut gelungen. Hörte sich an wie Rauch und Glockenschlag. Janek hatte überdies seinen guten Tag. Zwei Flöten im Überfluß, und eigentlich hatte er sie aufheben wollen für schlechtere Zeiten, wenn Sturm und Hagel da oben in den Wänden herrschten, wo er seine Hölzer schnitt. Doch nun, wie er sah, daß dieser Fremde, der kleinere von beiden, entzückt den Tönen nachlauschte, Tönen also wie

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Rauch und Glockenschlag, da sagte Janek brummig, wie es seine Art war, wenn es galt, das Herz hart zu machen: „Können Sie kaufen, Pan!“ Und er überlegte, wieviel er wohl verlangen sollte, falls der Fremde entschlossen war. Denn umsonst hergeben? Einem Herrn, der einen Tuchrock besaß und lederne Gamaschen gegen den Schnee oben am Paß? Janek wußte: In einer Welt wie dieser verdienten nur die Kinder, daß man ihnen was hinschenkte! Marfja jedoch war zutiefst erschrocken. Ihr Herz schlug, und sie dachte: Wehe, wehe uns, wenn der Pan je erfährt, daß...! Doch diese beiden Fremden, Ausländer wohl von weit her ... Wie sollte Pan Gasienica jemals von Janeks Geschäften hören? Und dann war da noch die Heilige Jungfrau, die einen vorm Schlimmsten 21

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bewahren konnte! – Ein bißchen Geld Jedenfalls, es tät nicht schaden jetzt vorm Sankt–Andreas–Tag, an dem die Mädchen neue Schleifen ins Haar banden und die Perlenschnüre ausflickten an ihren Blusen! Janek sah zu Marfja hin. Die stand abseits und blickte zu Boden. Sanft wie ein Lamm und bescheiden – so wie immer. Doch vergebens der Kopfschmerz um Verkauf und Preis! Dieser Fremde, er bot gar kein Geld an. Verbarg ein Lächeln im Bart, der ihm um Mund und Kinn und Wangen saß. Seine schmalen Augen musterten das verbrauchte Messer, mit dem Janek seine Hölzer bearbeitete. „Wir tauschen!“ schlug er plötzlich vor und wandte sich an seinen Begleiter. „Was meinen Sie, Bagocki? Geld zum Bezahlen haben wir, so wie immer, doch nicht bei uns!“ 23

Janek sah mißtrauisch von einem zum andern. Tauschen? Vornehme Fremde, die aus den großen Städten kamen – und dann kein Geld? Der Kleinere zog jetzt ein Jagdmesser aus der Rocktasche, so eins mit blitzender Klinge, der Griff aus schwerem Silber. „Willst du?“ Janek erschrak. Sah auf das Messer in der Hand des Fremden. Wie denn! Es sollte ihm gehören? Zögernd griff er danach. Wog es. Prüfte die Klinge mit dem Daumen. Sie war scharf. Und der Griff tatsächlich aus Silber. Marfja sah von unten her in Janeks Gesicht. Ein Bangen stand in ihren Augen. O Janek, Janotschka! Wenn Pan Gasienica – wenn der je erfuhr ...! Janek entschloß sich mit einem Ruck. Drückte das Messer gegen die Brust. Verbeugte sich dankend. Dann reichte er 24

dem zweiten Fremden, dem größeren von beiden, eine weitere Flöte hin. Immerhin: zwei Flöten wenigstens gegen das Messer! Lumpen ließ er sich nicht. „Hm – ein guter Tauschpartner!“ lobte der Kleinere. „Nehmen Sie nur, Bagocki!“ Und er lächelte verschmitzt. „Da ich nun gewissermaßen für uns beide bezahlt habe, mein Lieber, stehn Sie, sozusagen, jetzt in meiner Schuld. Wie also wär‘s mit jener Handschrift, die Sie mir bisher vorenthalten?“ Bagocki lachte. „Raffiniert, Wladimir Iljitsch! Ich geb mich geschlagen!“ Nun strich dieser Wladimir Iljitsch mit leichter Hand über Marfjas Haar. „Leider“, sagte er, „haben wir heut nichts bei uns, was dem kleinen Fräulein gefallen könnte. Doch wir kommen wieder vorbei.“ Er blickte hinauf zum Paß. Sog die Luft ein, die von dort herabwehte. „Drei Tage

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lang die Arbeit am Schreibtisch da unten in Poronin. Aber dann ein Tag hier oben in den Bergen – zum Auslüften!“ „Die Genossen in Rußland“, mahnte der andere, „sie warten auf Ihr Buch, Wladimir Iljitsch!“ Wladimir Iljitsch seufzte. „Dann also erst in sechs Tagen, Kinder! Die Flöte wird auf meinem Tisch liegen, wenn ich schreibe. So werd ich’s nicht vergessen.“ Sein Blick ruhte nachdenklich auf Marfja. Und in wenigen Sekunden nahm er alles auf, was an dem kleinen Mädchen bemerkenswert war: die sanfte Geduld und Fügsamkeit, das blonde Haar, das schon fast weiß aussah, die verblichene Bluse, den vielfach geflickten Rock und die nackten, zerschundenen Füße darunter. Er nickte. Die beiden Besucher, keine Fremden mehr für Janek und Marfja, verabschiedeten

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sich und schritten talein. Noch tief unten hörten Janek und Marfja sie auf den Flöten probieren. Erst waren es nur einzelne Töne. Dann trug der Wind einen zarten Akkord herauf. Und als wohl soeben eine Melodie daraus werden sollte, bogen die beiden, weit unten, um die Felswand, und die Flöten verstummten. Marfja schmiegte sich an Janek. „Was für ein Tag!“ sagte der und betrachtete das Messer, den Kopf schüttelnd, als träumte er.

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3. Kalte Sternennacht über den rissigen Dachbohlen der Stallhütte. Von unten drang das Geräusch der käuenden Tiere herauf. Das Heu knisterte und staubte, während sich Janek auf seinem Lager wälzte. Der Schlaf wollte und wollte nicht kommen. Zwei Flöten – ein Messer! Zehn Flöten bedeuteten also fünf Messer, zwanzig Flöten zehn Messer. Unsinn! Wozu brauchte Janek zehn Messer? Doch was alles sonst vermißte man hier oben! Für Marfja eine warme Jacke aus Filz. Ein schmucker Gürtel dazu, perlenbestickt. Bunte Schleifen für den Zopf. – Das alles bedeuteten von jetzt an Janeks Flöten. Das alles konnten sie bedeuten, wennI Janek wagte kaum weiterzudenken.

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„Marfja! Schläfst du?“ „Nein.“ „Woran denkst du, Marfjuscha?“ „An die Fremden, Janotschka!“ Janek seufzte. Wie sollte man auch an etwas anderes denken können nach solch einem Tag! Sein Herz klopfte. „Marfja!“ „Ja?“ „Es kommen manchmal Fremde hier vorüber!“ Er spürte, wie Marfja plötzlich erstarrte. Nicht ein Mucks kam mehr von ihrem Lager, nicht ein Atmen. „Fremde?“ fragte sie sehr viel später mit ganz leiser Stimme. „Fremde!“ wiederholte Janek mit Nachdruck. „Sind für ein paar Wochen hier und gehn dann wieder und kommen nie zurück.“ „Der Pan ist mächtig! Der Pan ist groß!“ flüsterte Marfja. 29

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„Unsinn!“ sagte Janek. „Ich wag’s!“ Marfja, Marfjuscha kroch nun heran im Heu und legte ihre Wange gegen Janeks Arm. Ihr Haar roch nach Molke. Janek spürte, wie sie zitterte. „Es wird schlimm ausgehn, Janotschka!“ hauchte sie. „Ich wag’s!“ sagte Janek laut in die Stille. „Ein Versteck hab ich schon ausgedacht.“ Hoch oben in den Felswänden rollten Steine. Im Stallraum schnieften die Lämmer. „Drei Flöten nur für den Pan, zwei für uns fortan!“ entschied Janek. Marfja drückte ihr Gesicht ins Heu. Was sollte nun werden? Er schreibe Bücher, dieser Wladimir Iljitsch, sagte Janek nach einer Weile. Bücher für Genossen da drüben in Rußland, nicht weit von hier.

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Doch Marfja, Marfjuscha hörte nur soviel heraus: Bruder Janotschka billigte es, wie da ein Mann saß am Tisch überm Papier. „Ein großer Mann, ein berühmter Mann wohl gar!“ fuhr Janek fort. „Und doch gefielen ihm unsre Flöten!“ Da wisse man jetzt auch, sagte er nach einer Weile, was man wert sei in dieser Welt, nämlich nicht ganz so ein hingespuckter Dreck. „Hast du gehört?“ Marfja begriff endlich. Bruder Janek wollte wissen, ob auch Marfja verstand, was dieser Tag geändert hatte – der Tag, an dem Wladimir Iljitsch stehengeblieben war an ihrer Feuerstelle. Und so gab sie leise, kaum hörbar im Rollen der Steine und schweren Herzens, ihre Zustimmung zum Plan Janeks. Der schien nun auch zufrieden zu sein. Denn er sagte nichts mehr sondern wühlte den Kopf tiefer ins Heu, um nun endlich einzuschlafen.

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Zwischen den Dachplanken glitzerten die Sterne. Bis dorthin war’s so weit, so unendlich weit! Angst drückte Marfjas Herz. Aber sie wagte nicht, zu Janek hinzukriechen in der Dunkelheit und sich an ihn zu schmiegen wie immer sonst, wenn sie sich fürchtete. Denn im Kopf Janotschkas ging etwas vor, was man nicht recht begreifen konnte. Und damit war auch ein bißchen von jener Fremdheit über ihn gekommen, wie sie die Erwachsenen an sich hatten. Marfjas Tränen näßten das Heu. Sie weinte lautlos, um Janek nicht zu stören im Schlaf. Der brauchte jetzt Kraft. Sie weinte und fror; denn Janek, Janotschka – er war nun weit weg von ihr mit seinen Gedanken und Wünschen und Plänen, und sie war‚ allein und verlassen unter diesem Dach. Ach, Wladimir Iljitsch! Was hast du nur, angerichtet mit deinem Messer! 33

4. Da unten sitzt ein Mann am Tisch beim Kerzenlicht – da unten im Dorf Poronin, das vorm Gebirge liegt. Es ist längst Mitternacht vorbei, und noch immer eilt die Feder übers Papier. Die Gedanken des Mannes eilen schneller als das Schreibzeug. Wörter bleiben unausgeschrieben vorerst. Ein Strich dort, ein Häkchen da genügen, um das Gedachte festzuhalten. Von hoch oben funkeln die Sterne herein und, etwas tiefer, schimmernd im Mondlicht, die Schneegipfel des Gebirges. Seite um Seite. Nur selten stockt der Federkiel. Dann legt der Mann am Tisch die Hand über die Augen. Schmerzen sie? – Vielleicht. Oder sehen sie so besser, was der Mann sehen will, wenn er seine Sätze schreibt? 34

Fern, in der fernen Heimat den Strom. Der wälzt die Wasser des russischen Tieflandes dem Kaspisee zu. Wolga heißt er, und an seinem Ufer wurde der Mann vor dreiundvierzig Jahren geboren. Er erinnert sich: Mit zornigem Gesang zerren Menschen am Seil, barfuß im Ufergeröll. Schleppen das Lastschiff gegen die Strömung, gegen Wind und Wellen. Vom Kaspisee geht die Qual den Strom hinauf bis Nishni Nowgorod –Tag um Tag, Woche um Woche. Der Steppenwind läßt die Bärte der Wolgatreidler fliegen – die schwarzen Bärte, die grauen, auch die weißen der Alten, die im Joch wanken ... Der Mann am Tisch nimmt die Hand von den Augen. Sein Blick fällt auf die kleine Flöte, die vor ihm liegt – auf einem Stapel von Büchern. Töne wie Rauch und Glockenschlag! Ein Lächeln kommt ins Gesicht des Mannes. 35

Nun schreibt er weiter. Das eine Kapitel – er muß es noch abschließen in dieser Nacht. Bagocki, der Freund und Genosse, wird es morgen ins reine bringen. Und später werden, in winziger Schrift auf dünnes Papier gedruckt, kleine Pakete mit Büchern den weiten heimlichen Weg antreten über die Grenze nach Petrograd, nach Moskau und Kasan, Kiew und Odessa. Mit Büchern, die in jedem Rockfutter, unterm Strohsack oder hinterm Schwellenholz verschwinden können, bevor sich der Arm der Zarenpolizei danach ausstreckt. Jedes einzelne wird weiterwandern von Hand zu Hand. Wird auf dem Tisch liegen im hintersten Winkel des Kohlenschuppens der Putilow–Werke in Petrograd, wo sich die Genossen nach zwölfstündiger Arbeit darüberbeugen, um zu lernen, wie die Macht der Herrschenden zu stürzen sei. Mit schweren, rauhen

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Händen wird der Bauer am Don die Seiten umblättern auf der Suche nach Wahrheit und Wissen. Und der Lehrer in Tula wird Satz für Satz abschreiben in feiner Schrift, damit auch der Matrose des Panzerkreuzers „Potemkin“ am Kai von Odessa seinen Anteil an Wahrheit und Wissen erhält. Überall dort drüben hinter der Grenze lebt die Partei, für die der Mann, hier am Tisch überm Papier, sei ne Sätze schreibt. Da noch ein Häkchen. Dort noch ein Ausrufezeichen. Punkt. Fertig für heut. Wladimir Iljitsch lehnt sich im Stuhl zurück. Blickt durchs Fenster hinauf ins Gebirge: Mondlicht, schweigende Wälder, in denen Bär und Wolf hausen. Darüber. die Almen. Irgendwo dort sieht Wladimir Iljitsch ein Feuerchen flackern im einschlafenden Wind. Sieht er Marfja und Janek, die Kinder – die nackten Füße rot vom Biß des Wassers. 37

Wladimir Iljitsch greift zur Flöte. Setzt sie an die Lippen. Eine kleine Melodie geht durchs nachtschlafene Haus in Poronin. Ja – schnell haben sich Wladimir Iljitschs Finger auf den Grifflöchern zurechtgefunden. Immer hat ihn die Musik begleitet auf seinen langen bitteren Wegen in die Fremde – von Petrograd nach Schushenskoje in die Verbannung, später nach München, London und Genf, nach Finnland und Paris. Nun lebt er hier in Poronin, zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt, den Genossen dort nah wie seit langem nicht. In der Musik sind die Hoffnungen der Menschen eingeschlossen. Auch die Hoffnungen der Kinder da oben im letzten Winkel des Gebirges. Töne wie Rauch und Glockenschlag. Im oberen Stockwerk knarren die Dielen. Wladimir Iljitsch runzelt die Stirn und setzt das Instrument ab. 38

Zu spät. Schritte kommen herab von oben. Es ist die Pensionswirtin, Frau Skupien. „Noch immer auf, Wladimir Iljitsch?“ Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. „Nadeshda Konstantinowna hat mir aufgetragen, bevor sie nach Krakau fuhr ... Na, Sie wissen schon!“ Wladimir Iljitsch seufzt. Legt behutsam die Flöte auf den Tisch. „Ein selten schöner Ton!“ lobt die Wirtsfrau. „Die haben Sie wohl auf dem Wochenmarkt gekauft?“ „Ertauscht hab ich sie!“ Und Wladimir Iljitsch erzählt von den Kindern, erzählt von Marfja und Janek. Frau Skupien nickt. Sie kennt die Kinder, und sie sagt: „Ich weiß von Janek, weiß, von Marfja, Marfjuscha!“ Dabei lächelt sie. „Weiß auch von Pan Gasienica!“ Und ihr Lächeln gefriert. Wladimir Iljitsch hebt den Kopf. 39

„Sind elternlos“, erklärt die Wirtin. „Und überall auf den Almen weiden die Herden des Pans. Schafe – immer wieder Schafe! An die dreitausend Stück bisher. Er scheffelt den Reichtum. Und alle die Hütejungen – sie arbeiten ums nackte Leben.“ „Ein Ausbeuter“, sagt Wladimir Iljitsch, schließt die Augen, streicht sich langsam mit der Hand über die Stirn. Nackte Füße – fühllos vom Biß des Wassers, wund vom Ufergeröll am Wolgastrorn, wund vom Schneewasser da oben auf der Alm – hier wie dort. Wladimir Iljitsch nickt. Frau Skupiens Schuhe sehen unter dem langen weißen Überwurf hervor, lederne Schuhe mit Messingspangen. Wo man hier derartige Schuhe kaufen könne, fragt er, und wie groß sie etwa sein müßten für Marfja, Marfjuscha, wenn man bedenke, daß auch Strümpfe darin Platz finden müßten – schafwollene. Und 40

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die wären natürlich auch noch zu besorgen. Gleich morgen, verspricht Frau Skupien, werde sie sich darum kümmern. Jetzt aber sei Schlafenszeit und endgültig Schluß mit der Arbeit und dem Flötenspiel. „Denn Sie wissen ja, Wladimir Iljitsch! Nadeshda Konstantinowna, Ihre Frau! Sie sorgt sich um Sie. Und – sind Sie nicht eigentlich zur Erholung hierhergekommen?“ Wladimir Iljitsch lächelt, ein wenig spitzbübisch. „Dann also: Gute Nacht! Schlafen Sie wohl! Und nicht die Schuhe vergessen, nicht die Strümpfe!“ Wladimir Iljitsch fährt mit den Händen in die Westentaschen. Er sucht und sucht. „Lassen Sie nur!“ Frau Skupien lächelt. Nein! Mit Geld und Gut sind sie nicht gesegnet, diese Uljanows!

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5. Ein schöner Sommertag nach langem Regen. Schon am zeitigen Morgen gießt die Sonne eine Flut von Licht aus über die Berge. Wladimir Iljitsch ist ein Frühaufsteher. Noch nicht einmal fünf ist’s, da sitzt er schon auf der Terrasse vor dem Haus, mit bloßem Kopf, hemdsärmelig. Vor ihm dampft der Tee im Glas. Nebenan in den kleinen Höfen der Bergbauern werden die Panjepferdchen eingeschirrt. Heutag ist heut. Festtag nach langem Regen. Die bunten Trachten der Mädchen spiegeln sich im Quellbach, der von den Bergen herabschießt. Gabeln blitzen und Rechen. Hej und Hoh! Ratternd biegen die Wagen aus den Höfen und entfernen sich bergwärts. Wladimir Iljitsch blickt ihnen nach. Was tun an einem solchen Morgen? 43

Die neuen Zeitungen, die er für seine Arbeit braucht, sind erst nachmittags zu erwarten. Und Nadeshda Konstantinowna – sie wird nicht vor dem Abend zurückkehren. Wladimir Iljitsch erhebt sich. Läuft federnd ein paar Schritte hin, ein paar Schritte her. Tief atmet er die Luft ein, die vom Gebirge herabweht. Was also tun, wenn die Ungeduld brennt? Ein Entschluß ist schnell gefaßt an solch einem Morgen. Wladimir Iljitsch holt Rock und Kappe aus dem Haus, streift die Gamaschen über. Greift nach Bergstock und Beutel. Und nach einer halben Stunde schon liegt ihm das Dorf im Rücken, wachsen vor ihm die Berge in den Himmel. Zwei Stunden später die erste Rast. Nun brennt die Sonne schon mit Macht.

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Tiefblau leuchten die Blüten des Enzians im Kalkgeröll. Mittag ist’s, als Wladimir Iljitsch die Hochalm erreicht. Die Kinder haben ihn längst bemerkt. Da stehn sie Hand in Hand und erwarten ihn. „Guten Tag, Kinder!“ Wladimir Iljitsch streckt sich im Gras aus. Wischt sich den Schweiß von der Stirn. Marfja, Marfjuscha ist die Hausfrau. Ein Holzkrug mit saurer Sahne für den Gast. Der trinkt sie mit Behagen. Man wartet nun höflich, bis der Besucher gesättigt ist. Bis sein Herz wieder ruhig schlägt nach dem stundenlangen beschwerlichen Aufstieg. „Ist’s nun fertig, das Buch?“ fragt Janek schließlich. Wladimir Iljitsch zwinkert mit den Augen. „Schon auf dem Weg zur Druckerei.“ Janek nickt zufrieden. Er gehöre nämlich

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zu den Bücherliebhabern, teilt er mit, und habe auch schon mal ein Buch gelesen. Marfja blickt erschrocken auf den Bruder. Wie denn! Fängt der zu schwindeln an neuerdings? Bläst sich auf vor den Herren aus der Stadt? „Ein Buch war’s mit Bildern nur!“ brummt Janek. „Von all den Heiligen und Engeln. Wie sie lebten und so.“ „Und welcher von ihnen gefiel dir am besten?“ Wladimir Iljitsch stützt den Kopf in die Hand und wartet gespannt auf die Antwort. „Er hatte ein Schwert und hieb ein auf den Drachen“, sagt Janek. „Sein Gesicht war wild und schön. Und die Menschen dankten ihm, nachdem er das Untier besiegt hatte.“ Wladimir Iljitsch nickt. „Der Erzengel Gabriel. Er kämpfte gegen das Böse in der Welt, gegen das Unrecht.“

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„Und Sie, Herr?“ fragt Janek. „In Ihrem Buch – gibt’s da auch Bilder?“ Wladimir Iljitsch schüttelt den Kopf; beinahe bekümmert. „Leider nicht. Worte nur. Doch auch die können mächtig sein.“ „Kann nicht lesen!“ brummt Janek enttäuscht. So wichtig, wie’s erst schien, kann es nicht sein, dieses Buch, auf das die Genossen in Rußland so warten. „Und was steht drin geschrieben?“ fragt er dennoch. Man will ja nicht unhöflich sein, den fremden Herrn wohl gar beleidigen durch Geringschätzung. „Vom Kampf gegen das Unrecht steht da zu lesen“, erwidert Wladimir Iljitsch. Er fügt hinzu: „Vom Kampf gegen die Pans.“ Janek bohrt mit einem Stecken im Gras. Die Lämmer äugen herüber. „Die Hirten – sie erzählen mancherlei“, sagt Janek

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nachdenklich. „Von den Pans drüben im Russischen und wie ihnen das Land abgenommen werden soll von den armen Leuten.“ „Diese Hirten sagen die Wahrheit“, antwortet Wladimir Iljitsch. „Freiwillig werden sie es aber nicht hergeben wollen!“ „Tun sie nicht!“ bestätigt Wladimir Iljitsch. „Sie müssen davongejagt werden. Das hab ich aufgeschrieben in meinen Büchern in all den Jahren: Die Revolution – sie muß bewaffnet sein!“ „Mit Gewehren? Kanonen?“ fragt Janek fassungslos. Marfjas, Marfjuschas Augen zucken von einem zum andern. Was sind das für schreckliche Worte? Re–vo–lu–tion! Gewehre! Kanonen! Davonjagen! Wladimir Iljitsch erklärt: „Es beginnt in den Köpfen. Ein Gedanke, den tausend

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Menschen zu gleicher Zeit und im richtigen Augenblick denken, wiegt hundert Gewehre und Kanonen der Pans auf.“ Janek schüttelt zweifelnd den Kopf. „Gedanken gegen Gewehre?“ Wladimir Iljitsch lächelt. So lächelt er immer, wenn da bei dem, mit dem er spricht, nur noch ein Zipfelchen der alles entscheidenden Einsicht fehlt. Und so fragt er nur noch: „Wer denn, Janek, baut die Kanonen in den Fabriken? Wer schießt mit den Gewehren?“ Dann greift er nach dem Beutel. Marfja sitzt ihm gerade recht. Thront vor ihm auf einem Felsblock wie eine verwunschene Prinzessin. Zuerst zuckt sie ein wenig, als Wladimir Iljitsch nach ihrem Fuß greift, dem häßlich rotgeschwollenen, schorfigen. Doch dann schließt sie ergeben die Augen. Komme, was da will! Und fühlt sich das jetzt nicht an wie Wolle? 50

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Und nun wird etwas darübergeschoben, eine Spange klickt ... Marfja, Marfjuscha wagt nicht, die Augen zu öffnen. „Paßt alles ausgezeichnet“, sagt Wladimir Iljitsch zufrieden,. Und allen Dank – er wehrt ihn ab. Und lacht dazu. Nun erhebt er sich. Streckt sich und blickt empor zu den Schneegipfeln der Berge. „Ganz da oben möcht ich einmal stehn!“ sagt er. Janek ist’s eng ums Herz wie seit langem nicht. Und brummig, wie es seine Art ist zuweilen, schlägt er vor: „Die Rys da hinter den drei Graten, die kenn ich genau. Kann Sie hinaufführen!“ Bestürzt schlägt Marfja die Hände vors Gesicht. Wie denn! Die Herde des Pans im Stich lassen will er? Bergführer sein will er? Was ist nur in dich gefahren, o Janek, Janotschka! Ist’s nicht wie eine

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Krankheit? Re–vo–lu–tion! Davonjagen! Von all so schrecklichen Wörtern wohl kommt das. Doch wehe, dreimal wehe uns, wenn der Pan je erfährt ... Bittend blickt Marfja auf Wladimir Iljitsch. Ist doch ein guter Mensch und wird ein Einsehen haben! Ach, Wladimir Iljitsch! Laß uns leben wie bisher! Es wird nicht gut ausgehen! Doch Wladimir Iljitsch sagt: „Wenn es soweit ist, Janek, hörst du von mir. Du sollst mich zur Rys führen. Nun muß ich mich aber beeilen.“ Ja – fern von den Kindern, fern von Marfja und Janek sind auf einmal seine Gedanken. Der Nachmittag bricht an. Was werden heut die Zeitungen bringen? Das Urteil gegen die Petrograder Genossen – wieviel Jahre Verbannung? Der große Streik in Odessa – wen hat man verhaftet?

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Tief unten im Tal, bevor er um die Felswand biegt, sieht er nochmals zurück. Da stehn die Kinder, Janek und Marfja, Hand in Hand, die Lämmer um sich wie lockeres Federgewölk. Nein! Wladimir Iljitsch ahnt nicht, daß er in den Augen Marfjas als Unruhstifter von der Alm geht.

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6. Erstes Frührot hinter fernen Bergkämmen. Das Heu knistert, als Marfja seufzend die Arme über den Kopf hebt, Unverständliches murmelt und in einen neuen Schlummer hinübersinkt. Janek tastet sich über die Leiter nach unten. Atemdampf wölkt in die Reifkühle, als er die Stallpforte aufstößt. Das Gebirge liegt schweigend. Zwölf Flötenrohre im Bündel, das ihm über den Schultern hängt! Talein lenkt er seine Schritte. Allmählich, während er niedersteigt, treten die Bergriesen aus der Nachtschwärze. Die Gipfel zuerst, dann die Schrunden ihrer Flanken. Sonne blitzt auf hoch oben am Grat. Schneefelder schwimmen in seidenem Nebel. Und Marfja, Marfjuscha?

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Allein ist sie heut Herrin der Alm. Vorgesorgt ist und der beste Weidegrund aufgespart für diesen Tag seit langem. Zufrieden fortfressen werden sich Schafe und Lämmer von Kraut zu Kraut am Talgrund hin – bis zum Abend, wenn Janek wiederkehren wird mit prallem Bündel. Bald taucht er tief unten unter die Wipfel von Fichte und Eiche, von Buche und Ahorn. Das Knirschen des Gerölls unterm Fuß erstirbt. Moos dämpft den Schritt. Im Bündel klappern die Flötenrohre gegeneinander – zwölf an der Zahl, und an einem jeden hängt eine ganze Hoffnung: Filzstoff für einen Mädchen rock. Perlenschnur und Garn und Flicknadel – Hoffnungen Marfjas, Marfjuschas. Auch ein Wunsch Janeks hängt daran: die Buchstabenfibel, wie sie Janek einst bei den Töchtern des Pans sah und wie man sie braucht zum Lernen des Lesens

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und Schreibens. Denn: Nicht alle Bücher der Welt sind bedruckt mit Bildern. Buchstabenbücher, nun weiß man‘s ja, sind wichtiger. Links und rechts ‚des Weges, den Janek geht, liegen die Höfe der Bergbauern. Morgensuppenrauch zieht aus den Giebellöchern. Hähne krähn in Tau und Tag. Nach altem Brauch steht der Wochenmarkt jedermann offen zum Handeln und Feilschen. Wer etwas anzubieten hat, stellt sich hinter die Planke im Palisadengeviert und ist damit ausgewiesen als Verkäufer. Bleibst du vor der Planke, willst du kaufen. So einfach ist das. Janek gerät zwischen einen Melonen berg, den eine flinke Alte neben ihm aufbaut, und einen Flickschuster, der Hammer und Ahle und Dreibock zurechtlegt. Hast du ein Loch in der Sohle, den Absatz schiefgetreten, mach hier halt! 58

Ein guter Platz! denkt Janek. Die Flickschusterkunden müssen warten. Stecken sich ein Pfeifchen an. Die Augen gehn umher. Sehn Janeks Flöten auf der Planke liegen...Ist der Absatz angenagelt, ist auch der Flötenhandel abgeschlossen. So denkt Janek in der Morgenstunde. Drüben auf der Gegenseite aber – so ein Hemdsärmeliger spreizt sich dort! Auf buntbesticktes Tuch legt er aus: Flöten, Flöten, nochmals Flöten. Die Sonne glänzt in ihrem Lack. Brandmalerei ziert das Holz. Wie armselig nehmen sich dagegen Janeks Instrumente aus! Doch Janek reckt sich. Morgenstunde ist und stark die Hoffnung. Er wird hier ausharren, bis ihm die Münzen in der Tasche klimpern. Die Stunden vergehnI Die Kauflustigen schieben und schwatzen, lachen und murren an Janeks Stand

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vorüber. Der steht hinter der Planke. Versucht sich ein Ansehn zu geben und mustert die Gesichter. Jener dort! Sieht er nicht gerade so aus, als habe er nichts anderes im Sinn als eine von Janeks Flöten? Ein Gesicht, in dem ein wahrer Flötenhunger sitzt! Treten Sie heran, Pan! Nur heran! denkt Janek. Neben ihm schreit die flinke Alte ihre Ware aus, hämmert der Flickschuster. Beidseits klingelt das Geld im Kasten. Langsam schiebt sich jenes Gesicht an Janeks Stand vorüber. Keinen einzigen Blick verschwendet es an dessen Flöten. Janek sucht sich in der Menge eine neue Hoffnung. Du dort! Einen billigen Preis mach ich dir! Beinahe geschenkt sollst du sie bekommen, die Flöte! Doch unbeachtet bleiben die Werke Janeks und Marfjas. Hoffnungen und Wünsche –

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sie beginnen zu verfliegen im Staub und in den hundert Gerüchen des Marktes. Mittag. Der Strom der Käufer versickert. Drüben wird für Janek wieder jener feindliche Stand sichtbar. Fast entblößt liegt das buntbestickte Tuch auf der Planke. Und der Hemdsärmelige — den Schweiß wischt er sich von der Stirn. Janek spürt, wie ihm die Tränen in die Augen steigen wollen. Ist er ein Aussatz, um den alle Welt einen Bogen schlägt? „Nimm und iß!“ sagt die Alte neben ihm und schiebt ihm eine aufgeschnittene Melone zu. Sie mustert ihn freundlich. Jetzt erst hat sie Zeit dazu. Denn leergefegt liegt der Markt im MittagssonnenSchein. „Falsch stellst du’s an, Jungchen!“ Janeks Lippen schwimmen im süßen Melonensaft.

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„Mußt sie ausschrein, deine Ware!“ belehrt ihn die Alte. „Am Rockärmel mußt sie packen, die Leut! Dann verkaufst du auch!“ Janek seufzt. „Es ist das erste Mal.“ „Ja, ja!“ murmelt die Alte. „Schwer ist’s!“ Ihr freundliches Gesicht verfällt in Bitternis. „Was dir am Abend bleibt, reicht kaum für das Brot.“ Janek wundert sich. Da im Kasten liegt’s doch zuhauf! Geld neben Geld! „Gehört dem Pan!“ erklärt die Alte. „Pan Gasienica! Pachtland hab ich von ihm. Und zwei Drittel nimmt er mir von der Ernte!“ Mittag vorbei. Hinter hundert neuen Gesichtern verbirgt sich der Hemdsärmelige mit seinem Tuch dem protzigen, buntbestickten Die flinke Alte neben Janek fährt fort, ihre Ware anzupreisen. Keine Zeit mehr für Janek und seine Sorgen. Nur einmal, am

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Nachmittag schon, zischt sie ihm zu, beinahe böse, mit heiserer Stimme: „Ausschreien mußt sie! Mußt sie ausschreien!“ Doch Janek steht da wie ein Pflock. Hat nicht gelernt an hundert Markttagen, wie man den Käufer lockt. Auf die Breite einer EIle ist sein Platz hinter der Planke geschrumpft. Und wer sieht da schon, daß da noch etwas ist zwischen Melonenberg und Flickschusterei? Flöten, zwölf Stück! Am späten Nachmittag weiß Janek: Nichts wert war sein Plan. Kein SanktAndreas-Tag wird oben auf der Alm bei Marfja, Marfjuscha sein! Aber eine halbe Stunde vor dem Abendläuten erscheint drüben an der Pforte des Palisadengevierts so ein Weißhaariger in städtischem Anzug, den Strohhut in der Hand. Einer dieser Sommerfremden. Und jetzt eilt er auf den Hemdsärmeligen zu. 64

Vorbei mit schnellem Schritt an Gurkenkiepen, Hühnerbergen, Butterklumpen, Kirschkörben. Der weiß genau, was er will. Eine Flöte sucht er. Nichts als eine Flöte! Ohnmächtig sieht Janek zu, wie er mit dem Hemdsärmeligen um den Preis feilscht. Arme fliegen. Finger schreiben Zahlen in die Luft. Von weitem sieht das Ganze... Sieht es nicht aus wie ein Streit? Da faßt Janek sich ein Herz. Setzt eine seiner Flöten an die Lippen. Ruhig liegt der Markt in der Abendsonne. Und nun geht eine zarte Melodie darüber hin wohlklingend, fast wie Rauch und Glockenschlag, voller Hoffnung. Das Weißhaar drüben hebt den Kopf, lauscht. Janek lockt mit einem Triller, der sich höher und höher schwingt. Da legt das Weißhaar drüben die Flöte aufs Tuch. Legt sie weg, die gelackte, 65

hoffärtige. Tut den ersten Schritt weg vom Hemdsärmeligen. Janek bläst lauter, fordernder. Geh du her zu mir! bläst er. Immer meinen Tönen nach. Das Weißhaar tut einen weiteren Schritt. Der Hemdsärmelige packt ihn am Rock, zerrt und zerrt. Nicht auslassen will er den Kunden. Janek aber bläst und bläst. Unwirsch reißt sich das Weißhaar drüben los. Die Hemdsärmel gehen wie Windmühlenflügel. Fast sieht’s so aus, als wollte jener dort hinterm Tuch sich in die Luft erheben, um der verlorenen Beute nachzufliegen wie ein Geier. — Janek bläst. Da schlägt der Feind zurück mit gleicher Waffe. Janeks Töne gehen unter im schrillen Konzert des Widersachers. Krächzend erheben sich die Dohlen von den Palisaden. 66

Das Weißhaar bleibt stehen. Steht mitten auf dem Platz. Beide Ohren wägen ab, was da in sie ein dringt von zwei Seiten. Janek schließt die Augen. Bläst. Letzte Hoffnung ist in ihm. Er bläst sie durchs Flötenrohr. Zwölf Flöten, eine nach der anderen, führt er vor. Endlich spürt er, daß da einer dicht vor ihm steht. Vorsichtig öffnet Janek die Augen. Drüben reißt der letzte schrille Triller ab. Janek hat gesiegt über die gelackte Hoffart. „Kaufe sie alle!“ sagt der Weißhaarige, die Börse zückend. „Da nimm! Und die noch! Und noch eine! – Genug?“ „Ja, o Herr! Genug!“ stammelt Janek, die Hände voller Münzen. „Wunderst dich wohl, daß ich sie alle haben will?“ Janek kann sich überhaupt nicht mehr wundem. Aber er nickt..

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Der Fremde lächelt. Ein freundlicher alter Herr, ein Flötenliebhaber, wie’s scheint. „Ein Verrückter!“ murmelt der Flickschuster kopfschüttelnd. „Nicht Verrückter!“ sagt der Fremde. „Professor der Musik aus der großen Stadt Wien.“ Und er erklärt, warum er alle die Flöten kaufe. Aus Gründen der Wissenschaft nämlich, wie man staunend erfährt. In Janeks Herz zieht ein großer Jubel ein. Nicht nur der verdienten Münzen wegen – nein! Wie man sieht: Irgendwelche Wissenschaft – sie braucht die Flöten Janeks und Marfjas! Taumelnd verläßt Janek seinen Platz hinter der Planke. Der Verkäufer wird zum Käufer. Prall füllt sich das Bündel. Und über allem Glück vergißt Janek auch nicht den eigenen Wunsch: die Fibel zum Lernen des

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Lesens und Schreibens. Glück über Glück! Doch wütend, mit zusammengezogenen Brauen, sieht ihm der Hemdsärmelige nach, als Janek durch die Pforte den Markt verläßt.

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7. Mit aufgestützten Armen sitzt der Pan am Tisch – Pan Gasienica. Still ist es in der Stube. Nur eine Kleehummel summt am Fenster. Schlägt gegen die Scheibe, verstummt. Summt wieder, schlägt an – immerfort. Der Pan frühstückt. Ein Bissen vom Braten, zwei Schlucke vom Wodka. Der Sprit gluckert aus dem Flaschenhals. Der Pan schnalzt zufrieden, als er gesättigt ist, und hebt die Augen. „Nun rede, du!“ sagt er. Den Hut in der Hand, steht der Besucher an der Tür. Verfolgte die Bissen vom Braten, die Schlucke vom Wodka mit den Augen und nickte dazu. Nun tritt er ein paar Schritte näher. „Gib Feuer!“ verlangt der Pan. Der Mann kniet vor den Kamin, in dem die

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Flammen lodern. „Zu dienen, Pan!“ Und: „Bitte sehr!“ „Also?“ „Ich bin gekommen, Pan, um Klage zu führen.“ Der Pan pafft Wolken. „Klage?“ wiederholt er mißtrauisch, drohend. Der Mann verbeugt sich. „Wenn’s erlaubt ist? – Wie du weißt, kauf ich von dir alle die Flöten ein, die dir die Hütejungen bringen. Veredle das grobe Holz in eigener Werkstatt – mit dem Lack, dem Brennstahl. Und die Hälfte des Erlöses geb ich wiederum dir...“ „Her damit!“ Der Mann tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Nicht eigentlich deshalb, o Pan, bin ich gekommen!“ „Weshalb also?“ murrt der Pan. „Wie du weißt“, beginnt der Besucher aufs neue, bemüht, den rechten Ton zu

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treffen, „hast du mir allein gestattet, den Flötenhandel zu betreiben auf den Wochenmärkten hier.“ Er erlaubt sich ein kleines Lächeln. „Wir sind also, du und ich, gewissermaßen, Geschäftspartner.“ Pan Gasienica lacht los. „Geschäftspartner? Ich und du? Zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetsch ich dich! Herr über dreitausend Schafe bin ich! Was besitzt du?“ Dem Besucher wird angst. „Nur ein Kleiner bin ich, selbstverständlich! Nur ein Kleiner! Mein Geschäftchen – eben nur so schleicht es hin unter deinen schützenden Händen!“ „Komm zur Sache!“ verlangt der Pan. „Einer deiner Hütejungen, dessen Flöten ich dir abkaufe... Du weißt um diese Hölzer. Roh und ungefüg sind sie, und eine Kunst ist’s, sie zu Meisterwerken umzuformenI“

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„Was ist mit dem, du!“ „Er verkauft sie nun selbst auf dem Wochenmarkt. Bringt dich ums Geld und mich!“ „Waaas?“ „Es ist so!“ beteuert der Mann. „Mit diesen meinen eignen Augen hab ich’s angesehn – am Markttag vor Sankt Andreas!“ „Flötenzeugs! Dreckzeugs!“ knurrt der Pan. Er steht auf, mißt die Stube mit dem Stiefelschritt. Plötzlich bleibt er stehen, sagt mit leiser, gefährlich leiser Stimme nur so für sich: „Wollen jetzt gar die Hütejungen zu Eigenem kommen? Ein Gift, das umgeht in den Köpfen! Das sich fortfrißt von Ort zu. Ort!“ Nicht die Flöten sind’s, die ihn empören. Aber daß da einer wagt, sich aufzulehnen gegen den Willen des Herrn...! „Du setz dich dahin!“ sagt er plötzlich. „Überlege!“

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Die Stuhlkante, auf welcher der Besucher hockt, ist hart. Sie fördert das Überlegen. „Du hast doch, o Pan“, beginnt er nach kurzem und dreht den Hut in den Händen, „hast doch da oben unterm ewigen Eis...“ Das Ohr des Pans kriecht näher. Die Stimme des Flötenhändlers sinkt zu einem“ Flüstern, und die finstere Miene des Pans hellt sich auf. „Weit ist der Weg von dort in die Dörfer!“ endet der Händler. Der Pan reicht die Hand hin. Der Mann ist entlassen in Gnaden, schlurft nun zur Tür. „Grischa!“ brüllt der Pan durchs Haus. „Verdammter Kerl! Wo steckst du?“ Was braucht er wohl jetzt diesen Grischa? Was braucht er ihn, der sein Büttel ist, sein Aufseher über alle die Hirten im Gebirge ringsum?

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8. Kümmerlicher denn kümmerlich ist das Leben oben im letzten Talgrund vor dem ewigen Eis. Die Stallhütte hier liegt schief versunken im Geröll, das die Alm auffrißt. Vermorscht sind die Planken. Und der Regen, der Hagel – sie peitschen gegen die Schindeln. Sieben störrische Althammel leben hier oben. Nein, keine Freude mehr an den drolligen Spielen der Lämmer! „Ich hab’s gewußt!“ schluchzt Marfja, Marfjuscha. „Es geht nicht gut aus!“ „Unsinn!“ murrt Janek. Er packt die Hammel, einen nach dem andern, und zwingt sie in die Hütte. Sein Herz schlägt heftig, als endlich der Riegel vorgeschoben ist. Stark sind diese Hammel, jeder einzelne stärker als Janek. Marfja, Marfjuscha steht da, den Kopf gesenkt bescheiden und demütig, so

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wie immer, und trägt Ihr Geschick. Der Regen rinnt Ihr aus dem Haar. Strähnig und dunkel hängt es Ihr vorm Gesicht und war doch einmal, so blond, daß es fast weiß aussah. Zerrissen die neue Bluse, der neue Rock vom SanktAndreas-Tag. Zerrissen die Perlenschnüre von der Fron hier oben. Später hocken die Kinder am Stallboden, den dünne Spreu deckt. Kalt Ist’s und zugig. Unten wüten die Hammel gegen die flanken. Und kein Feuer hier oben für Glüheisen und Flötenbau! Das spärliche Holz reicht gerade, um einmal am Tag die Suppe zu wärmen. Am ernten Tag der Woche kommt Grischa heraufgestiegen. Wirft einen Beutel mit Hirse ab, etwas Schmalz, einen Laib Brot – wortlos. Und davon leben Janek und Marfja. Müssen sie leben. Ohne Milch,

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ohne die zartwollige Freundlichkeit der Lämmer. „Lange wird’s dauern, bis der Pan verzeiht!“ schluchzt Marfja und klammert sich an den Bruder. „Unsinn!“ brummt Janek. Er schlägt die zerschlissene Decke fester um Marfjas Schultern. „Schlaf jetzt, Kleines“, flüstert er. Es ging nicht gut aus – nein! Sankt-Andreas-Tag ist längst vorbei. Marfja, Martjuscha war wie eine Prinzessin. Sie saß am wärmenden Feuer. Kuchen aß sie und süße Kringel... Aber ach! Lang vorbei! Marfja, Marfjuscha hatte recht: Es ging nicht gut aus. Warum ging es nicht gut aus? „Das Messer war schuld!“ schluchzt Marfja. „Das Messer Wladimir Iljitschs! Davon bist du hochmütig geworden, Janek.“

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„Unsinn!“ sagt Janek. „Schlaf jetzt!“ Er denkt nach. Wladimir Iljitschs Messer? – Vielleicht! Man konnte danach nicht mehr so leben wie früher – so dahinleben. Unten stoßen die Hammel gegen die Planken. Regen und Hagel peitschen die Schindeln, und gegen Morgen wird es schneien. „Du und ich“, sagt Janek laut in die Dunkelheit, „du hast sie gesehn, die Münzen, die ich übrigbehalten hab. Versteckt hab ich sie. Wir brauchen keinen Pan fortan, Marfja. Schlimmer kann’s nicht werden, nur‘ besser. Wir gehn irgendwohin. Du hast gesehn: Ich kann arbeiten für ehrliches Geld! – Willst du?“ Marfja, Marfjuscha schluchzt. „Unser Vater, als er noch lebte, war Schafzüchter. Vierzig Stück zählte seine Herde. Wo eigentlich sind sie geblieben, als Vater starb und Mutter ihm folgte? –

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Wir brauchen vorm Pan nicht länger den Rücken zu krümmen, Marfja! Nur weil wir jetzt im Unglück sind „Der Pan ist mächtig! Der Pan ist groß!“ flüstert das Mädchen. Janek denkt nach. Warum ist er mächtig? Warum groß? Die Hütte erzittert von der Wut der Hammel. Marfja schmiegt sich an Janek. „Die wahren Teufel!“ flüstert sie und erschauert. „Keine Teufel!“ sagt Janek. „Der Hunger ist’s, der sie böse werden ließ. Tief unten, auf den Almen des Vorgebirges, leben die Herden im Pferch. Ringsum Dickicht und Wald. Bär und Wolf und Luchs lauernI Pan Gasienica selbst wählt die Hammel aus. Der da! Und dieser dort! Bringt sie hinauf ins Gebirge unters ewige Eis! Und: Hungern müssen sie!“ 81

„Warum?“ fragt Marfja. „lm Außenpferch bleiben sie später über Nacht. Kommt der Bär, kommt der Wolf – wütend senkt der Althammel das Gehörn. Kampf gibt’s zwischen ihm und dem Räuber. Die Hirten erwachen, schwingen den Feuerbrand. In seinem Blut liegt der Hammel. Gerettet hat er die Muttertiere, die Lämmer und tapfer sein Leben verteidigt. War ja zu nichts nütze sonst! Das Fleisch zäh, das Vlies verschorft. Ja – zäh muß das Fleisch werden und hart das Gehörn. Und alles das macht der Hunger hier oben.“ Janek starrt in die Dunkelheit. Spürt die klopfende Angst im Körper Marfjas, Marfjuschas. „Wir solln so werden wie sie!“ knirscht er. „Bös und elend. So will’s der Pan. Gott verdamm ihn! – Aber wart nur, Kleines!

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Ich hab einen Plan. Weggehn werden wir von hier!“ „Janek!“ schreit Marfja verzweifelt. „Janotschka!“

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9. Stark sind die sieben Althammel. Jeder einzelne stärker als Janek. So muß er die List zu Hilfe nehmen, um seinen Plan auszuführen. An diesem Morgen treibt dichter Nebel im Hochtal. Blind sind die Tiere im Nebel, drängen sich aneinander in Furcht. Schieben und stoßen – immer im Kreise. In ihren Augen sitzt ein stummes Flehen, denn ringsherum und überall ist die Welt zu Ende. Keine Wildtiere sind’s. In der Not brauchen sie den Menschen, und sei er noch so klein. Marfja krault sie unterm Kinn, die Verängstigten, und hat sie noch in der Nacht verflucht. Deren Not ist nun auch ihre Not. Was nur – was hat er vor, unser Janek? Der wirft jetzt sein Bündel über den Rücken und packt das Leittier beim Gehörn.

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Aufwärts geht es Im Tal. Dicht an dicht folgt die kleine Herde. Marfja geht zuletzt. Die Schlafdecke trägt sie als Umhang, darunter den Suppenkessel mit den kargen Vorräten. So steigen sie aufwärts, steigen bald über Schneefelder und Eisschrunden. Steigen Stunde um Stunde und quälen sich. Irgendwo da oben im Nebel liegt der Paß. Muß er liegen! Er führt hinüber, soll sie hinüberführen in den sonnigen, freundlichen Süden des Gebirges. Jenseits des Grates warten Licht und Wärme, fette Weiden. Wartet die Freiheit. So denkt Janek an diesem Morgen. „Schneller, Marfja!“ keucht er. „Ehe der Nebel weicht, müssen wir drüben sein!“ Er führt den Leithammel beim Gehörn. Hin und her reißt es beide im Geröll. Talwärts poltern die losgetretenen Steine. „Achtung! Spring beiseite, Marfja!“

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Das Mädchen bemüht sich, Anschluß zu halten. Immer steiler geht es empor. Dünn wird das Geröll. Nackter Fels tritt hervor. Nun kann es nicht mehr weit sein bis hinauf zum Paß, hinauf zum Paß des Südens, der Freiheit. Doch, denkt Marfja, liegt dahinter wirklich das Paradies, so wie es Janek, Janotschka versprochen hat? Die Hammel blöken kläglich. Haben sich in Menschen hand begeben. Verraucht sind Wut und Widersinn. Janeks Füße bluten. Er stieß sie sich wund im Fels. Kaum noch ein Hälmchen wächst hier aus den Felsritzen. Nur hin und wieder glüht im Nebel eine Anemone. Glüht wie ein Wegzeichen, das die Richtung weist hinauf zum Paß. Wieder sperrt ein steiles Schneefeld den Weg. Mensch und Tier kämpfen sich darüber hinweg. Mit bloßen Füßen. Drei

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Schritt vor, zwei zurück. Janek tritt Stufen in den Schnee. Rot vom Blut sind die Stufen, die Janek tritt. Aber er beißt die Zähne zusammen. Denn: Hat man sich einmal entschlossen, gibt’s kein Zurück mehr. Er versucht, den dichten Nebel mit BIikken zu durchdringen. Der Schall der scharrenden Hufe hinter ihm klingt gedämpft. Marfja ist nicht zu sehen. Grau wölkt um Grau, fließt die Wände empor und quillt aus Spalten. Stürzt saugend über Abgründe in tiefste Tiefen. Wann ist er endlich erreicht, der Paß? Plötzlich, in Sekundenschnelle, reißt der Nebel auf. Die Sonne sticht in die Augen. Die Hammel geraten in Unruhe. Sie scheuen. Stoßen mit dem Gehörn und tanzen auf der Hinterhand. Noch zwanzig Meter bis zum Paß! Vielleicht auch dreißig!

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„Wir müssen es schaffen!“ keucht Janek. Seine Fäuste krallen sich ins Fell des Leittieres. Das bockt jetzt, als es die Wüstenei um sich wahrnimmt, will ausbrechen, zu Tal stürmen in wilder Furcht. Janek stürzt, hält fest. Schleift am Boden hin. „Janek!“ schreit Marfja. „Janotschka!“ Nur nicht loslassen! denkt Janek und beißt die Zähne zusammen. Der Hammel schüttelt ihn, beißt um sich. Janek liegt unter dem Tier. Schon scheint alle Hoffnung begraben. Da! Der Abgrund! Meter um Meter näher! Schon schnürt Todesangst das Herz ab. Da kommt der rettende Einfall. „Marfja!“ schreit Janek. „Die Decke!“ Und Marfja, Marfjuscha begreift sofort. Wirft dem wütenden Leittier die Decke über den Kopf. Nacht ist wieder für den Hammel, Schwärze ringsum. Langsam beruhigt er sich. 89

Janek steht auf, blutend. Er führt den Blinden die letzten Meter hinauf zum Paß. Sonniger Süden! Da liegen sie, die Täler, weit ausgeschwungen, grün und mit den blinkenden Spiegeln der Meeraugen tief unten. Die Hammel finden den Weg dorthin allein. Hand in Hand wandern Janek und Marfja hinterdrein – in Sonne und Wärme. Janeks Wunden schließen sich. Hier haben die Nordstürme keine Macht. Und friedlich äsend finden sich später die Tiere zusammen, genau an der Stelle, die Janek bestimmt hat als das Lager. Eine trockene Höhle gibt es hier, eine Quelle. Weideland in Überfluß. Krummholz für den Flötenbau – das Paradies. „Alle Not, sie ist zu Ende!“ sagt Janek. Marfja schmiegt sich an ihn. Blickt an ihm empor, das Haar so blond, daß es fast 90

weiß aussieht. Wirklich? Alle Not zu Ende? Gern, zu gern möchte sie es glauben!

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10. Lang ist der Marsch hinauf zur Alm der Kinder, wenn man den Umweg nimmt über das sanft ansteigende Vorgebirge. Doch er ist bequem, dieser Weg. Ruhig geht das Herz und leicht der Atem. Nadeshda Konstantinowna bleibt stehen, blickt zurück. Sie ist froh darüber, wieder einmal so tief hinabblicken zu können in die Täler. „So hoch, Wolodja, war ich lange nicht!“ Und ihre Augen leuchten. Sehn jede Blüte am Weg, den Enzian, das Edelweiß, die gelbe Gemswurz. Wladimir Iljitsch lächelt glücklich. Seit Tagen geht’s ihr besser. Bezwungen scheint die Krankheit, derentwegen man vor Monaten die Stadt Krakau verließ, um hier Heilung zu suchen. „Es ist nun nicht mehr weit. Siehst du? Dort oben!“ Nadeshda Konstantinowna beschattet die Augen mit der Hand. Sie erfährt natürlich

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alles, was Wladimir Iljitsch beschäftigt. Erfährt seine großen Sorgen, auch seine kleinen, und sie teilt seine Freuden und Kümmernisse. Sie erfuhr also auch von den Kindern, von Marfja und Janek. Und Kinder, natürlich, interessieren sie sehr. Denn eigentlich ist sie ja Lehrerin. Hat studiert in Petrograd vor vielen Jahren. Doch nie konnte sie vor einer Klasse stehen. Man schickte sie in die Verbannung, ins ferne Sibirien, und später begleitete sie ihren Mann durch ganz Europa. Also, die Kinder! Sie muß sie kennenlernen. Es vergingen Tage, an denen der Nebel im Gebirge herrschte. Nichts für Nadeshda Konstantinownas angekränkelte Lunge! Doch heut wird sie die Kinder besuchen, nach dem Rechten sehen da oben auf der Alm. Kinder – haben sie nicht ewig zerrissene Strümpfe? Muß da nicht ein

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Rock gesäumt werden? Jedenfalls hat sie das Nähzeug eingepackt, vorsorglich. Wladimir Iljitsch hat lächelnd dabeigestanden. Irgendwie: Diese Kinder, vor kurzem noch unbekannt – die Familie Uljanow hat sie eingeschlossen in ihre Sorgen. Nadeshda Konstantinowna schreitet aus. Ihr langer Rock flattert im Wind. Wladimir Iljitsch blickt besorgt auf ihre Füße. Taugen sie denn, die städtischen Schuhe, hier im Geröll? – Taugen natürlich nicht. Er nimmt ihren Arm, um sie zu stützen. Sie lächeln sich zu – vergessen einmal die großen Sorgen, vergessen die Bücher und Zeitungen. Was verstehst du schon von Kindern! denkt Nadeshda Konstantinowna. Kaufst da Schuhe und Strümpfe für ein kleines Mädchen! Werden sie denn gepaßt haben?

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Dann sind sie auf der Alm, der Alm der Kinder. Die Herde zieht am Talgrund – lockeres Federgewölk. Die Lämmer springen und stolpern auf staksigen Beinen, und die Muttertiere grasen geruhsam von Kraut zu Kraut am Berghang hin. Wo aber sind die Kinder? Ein alter Bärtiger sitzt am schwelenden Feuer. Pafft Tabakrauch in den Mittag. Ein Jüngerer lehnt am Felsblock und schnitzt gelangweilt an einem Stecken. „Ich seh sie nicht!“ flüstert Nadeshda Konstantinowna. Wladimir Iljitsch runzelt die Stirn. Die Alm – sie erscheint ihm irgendwie verändert. Wo sind Janek und Marfja? Man kann ja fragen. Der alte Bärtige schweigt. Wendet das Gesicht ab, schweigt und deutet mit dem Pfeifenstiel ins Ungewisse. Der Jüngere

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dreht verlegen den Stecken in den Händen. Man merkt jedenfalls: Da will jemand nicht recht heraus mit der Sprache! Soviel ist sicher: Mit Marfja und Janek – mit den Kindern stimmt etwas nicht. Und die Wahrheit, als man sie den beiden auf Umwegen endlich abgelistet hat, ist bitter. „Das duldet ihr, ihr Hirten?“ fragt Wladimir Iljitsch geradezu. Nicht viel Freundlichkeit ist in seiner Stimme. Das merkt auch der bärtige Alte. Er senkt den Kopf. „Was kann man tun? Der Pan ist mächtig! Der Pan ist groß!“ „Die Schafe“, sagt Wladimir Iljitsch, „sind sie schlauer als ihr Hirten? Eure Tiere drängen sich zusammen, wenn der Sturm kommt, und die stärksten stehn ganz außen m Kreis!“

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„Recht hat er!“ murmelt der Jüngere. Sieht sich scheu um dabei. Der alte Bärtige hebt hilflos die Hände. Zu spät ist’s für gutgemeinten Rat! „Da oben!“ sagt er. „Verbannt unters ewige Eis!“ Wladimir Iljitsch blickt hinauf. Endloser Weg, steil und beschwerlich. Nichts für Nadeshda Konstantinowna. Sie wird die Kinder nicht sehen! Enttäuscht wandern sie später, nachdem sie alles erfahren, wieder talein. Grau liegt das Gebirge um sie her, obwohl die Sonne scheint. „Du bist schuld!“ sagt Nadeshda Konstantinowna plötzlich. Wladimir Iljitsch bleibt stehen, erschrocken. Faßt nach ihrer Hand. Denn solch ein Vorwurf – er trifft schlimm. Und da Nadja ihn ausspricht, muß etwas Wahres dran sein.

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Nadeshda Konstantinowna lächelt schmerzlich. „Das Messer!“ sagt sie. „Von da an wollte er anders leben als bisher, dieser Janek, und rannte in sein Unglück.“ „Es ist nicht sein Unglück!“ widerspricht Wladimir Iljitsch, nachdem er eine Weile überlegt hat. „Es ist so: Du wirfst den Stein ins stille Wasser, vielleicht ohne besondere Absicht.“ „Und?“ „Es ist in Bewegung gekommen, das Wasser.“ Nadeshda Konstantinowna nickt. „Sie gehören jetzt zu uns.“ Sie nickt nochmals. „Verbannt wie wir! Sie teilen unser Schicksal – auf ihre Weise.“ „Wer kämpft“, tröstet Wladimir Iljitsch, „dem wachsen Flügel!“ Sie reden noch lange darüber, schreiten

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talein dabei. Und mit ihnen geht in allen ihren Gedanken die Sorge um die Kinder, um Marfja und Janek.

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11. Haben sich wohl doch geirrt, Nadeshda Konstantinowna und Wladimir Iljitsch, mit ihren Sorgen um die Kinder? Denn: Da sitzt Janek neben dem lodernden Feuer. Summt vergnügt ein Liedchen. Marfja liegt im Gras, lang hingestreckt, ins Blau des Himmels träumend. Ein schwarzbepunkteter Käfer kriecht auf ihrem Arm immer höher. Marfja kichert, denn es kitzelt natürlich. Doch sie läßt dem Käferchen die Freude, die es am warmen Arm genießt. Und sie zieht einen Schmollmund, als er dann doch die Flügel spreizt und ins Blau davonschwirrt. Friedfertig zupfen die Hammel das fette Gras der südlichen Alm. Zupfen es genüßlich mit der Zunge. Ihr Hunger – längst ist er besiegt. Und Janek war unten im fremden Dorf. Er hat eingekauft für seine Münzen, was 101

man so braucht, und hat noch übrigbehalten. Seit Tagen lebt man hier im Paradies. Janeks Plan – er ist aufgegangen. „Nun schür das Feuer!“ sagt er und reckt sich. „Drei Flöten müssen wir heute noch fertig kriegen!“ Ja – er blickt weit, dieser Janek! Über allem Träumen vergißt er nicht die Zukunft. Was er braucht, ist vorhanden: Holz in Überfluß, der Brennstahl, den er bei sich trug auf dem Marsch über das Gebirge. Ihrer beider Kunst. Und das Messer – das Messer Wladimir Iljitschs, sein kostbarster Besitz. Janek wählt sorgsam prüfend drei Krummhölzer aus dem Vorrat, den er am Morgen unweit des Lagers geschnitten hat. Die Arbeit kann beginnen. Doch Marfja, Marfjuscha – sie schert sich nicht. Liegt da im Gras und sieht in den Himmel über sich. 102

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Janek lächelt. „Nun mach schon, Kleines! – Faulenzerin!“ Marfja, das Mädchen, stützt sich auf einmal auf und spricht die Frage aus, die sie seit langem bewegt: „Wem sie wohl gehören mag – diese Alm hier?“ Janek schweigt. Er glättet die Oberfläche der Hölzer mit dem Messer. Hat wohl vorbeigehört? Oder: Ist sie nun genannt, die schwache Stelle im Plan Janeks? „Alles in der Welt gehört irgendwem!“ sagt Marfja überzeugt. Und recht hat sie. Die Welt – aufgeteilt ist sie unter die Großen, die Mächtigen bis aufs letzte Zipfelchen! „Was soll werden, wenn er kommt?“ fragt sie zum dritten Mal. „Wer? Wenn wer kommt?“ brummt Janek nach einer Weile, tief gebeugt über seine Hölzer.

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„Der, dem diese Alm gehört!“ „Da gibt’s keinen!“ murmelt Janek übers Feuer hinweg. „Sieh dich um! Das Gras, das Kraut – hochgeschossen seit dem ersten Frühlingstag, als der letzte Schnee geschmolzen war. Niemand nutzt die Alm!“ „Warst doch selbst unten im fremden Dorf!“ beginnt Marfja wieder. „Gibt’s dort keine Pans?“ „Gibt’s!“ brummt Janek. „Einem von ihnen gehört also die Alm hier! Und er wird kommen. Heut oder morgen. Wird uns vertreiben mit Schimpf und Schande!“ „Soll er nur kommen!“ knurrt Janek. Die Klinge des Messers rutscht ihm ab. Blut quillt auf am Finger. Janek steckt ihn in den Mund. „Wir sehn ihn ja von weitem, wenn er kommt!“ „Und dann? Was willst du tun?“

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Sieh einer an! Die kleine Marfja, Marfjuscha! Beginnt neuerdings zu fragen nach Janeks Plänen! Denkt seine Gedanken und denkt sie weiter als Janek! Hat sie vordem nie getan. Immer folgsam war sie und bescheiden und trug ihr Geschick in Demut – komme, was da will! Tja – für einen solchen Fall...? Da hat Janek gar keinen Plan. Er wollte hier leben, seine Flöten schnitzen. Wollte sie da unten im fremden Dorf verkaufen, wo ihn niemand kennt. Wollte einkaufen wieder, was man so braucht. „Heut ist der siebente Tag!“ sagt Marfja und fügt traurig hinzu: „Lange kann’s nimmer dauern!“ Sie meint das Glück. Denn: Glück, denkt sie, reicht nicht ewig für unsereinen, und sei es noch so winzig. Und dennoch: Sie ist dankbar für die sieben Tage, die gewesen sind.

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„Dann müssen wir wieder zurück über den Paß!“ sagt sie. „Niemals!“ ruft Janek und stößt das Eisen ins Feuer, daß die Funken sprühen. „Wir gehn in die Dörfer. Gehn irgendwohin, wo es Arbeit gibt – ehrliche Arbeit um ehrliches Geld! Wir gehn zu einem andern Pan!“ Ist das die Lösung? Zu einem anderen Pan? „Und die Hammel?“ fragt Marfja. Sie sind ihr nun doch ans Herz gewachsen, die sieben. Satt sind sie und freundlich – Schafsgroßväter, die stundenlang in die Sonne blinzeln können, die friedlich wiederkäuen und ihr Alter genießen. „Mögen sie sich drum streiten, die Pans hüben und drüben!“ sagt Janek. „Was kümmert’s uns? Es sind nicht unsere Hammel!“ Er stößt einen frischen Knorren

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ins Feuer. „Nun schweig endlich und hilf mir!‘‘ Die Zeit ist plötzlich kostbar nach den Worten Marfjas, Marfjuschas! Jede Flöte, die fertig wird, bevor sie jener fremde Pan aufspürt, bedeutet einen Tag Brot und Schmalz und Milch.

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12. Nun ist alles so gekommen, wie es vorausgesagt war von Marfja, Marfjuscha: Verjagt mit Schimpf und Schande von den Almen. Ausgestoßen aus dem Dorf des Pan Gasienica. „Hab euch genährt, undankbares Pack! Krepiert in der Hölle!“ Tapfer nahm Janek die Schwester an der Hand. Warf das Bündel über den Rücken. Ein Blick noch auf den Pan, daß der zurückwich. Dann schritten sie hinab ins Tal des sonnigen Südens, während der Pan mit seinen Knechten die Hammel zurücktrieb über den Paß. Zurücktrieb unter Schimpfen und Fluchen und bösen Verwünschungen für die ganze Welt. Stundenweit der Weg durchs vielfach geschwungene Tal. Immer mehr bog es ab von der südlichen Richtung, je tiefer man kam. Doch leicht trat sich der Pfad 109

im Wiesengrün. Im Bündel Janeks klapperten die Flötenrohre, wieder zwölf an der Zahl, das Werk der letzten Tage da oben im Paradies. Bald bog der Weg endgültig nach Osten, später nach Norden. Einmal mußten sie im Wald übernachten, fern von den Menschen. Hohl klang das Heulen der Wölfe in der Dunkelheit. Doch am nächsten Tag erreichten die Kinder ihr Ziel: das Dorf Poronin. „Hier schreibt er seine Bücher!“ sagte Janek. „Und da oben, Marfja, Marfjuscha, hinter drei Graten die Rys! Der Tag – bald ist er gekommen!“ Freundlich lächelnd reichte Marfja allen die Hand, nachdem man eingetreten war. Reichte die Hand Nadeshda Konstantinowna, die sich freute, die Kinder nun doch kennenzulernen. Reichte sie Frau Skupien, der Wirtsfrau. Reichte die Hand

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auch Wladimir Iljitsch, mit dessen Messer alles begonnen hatte. Der stand in Hemdsärmeln unter der Tür, in der Rechten noch das Schreibzeug, so wie er aufgestanden war von seinen Büchern. Nein – Marfja war ihm nicht mehr böse, diesem Wladimir Iljitsch! Marfja, das Mädchen, hatte nachzudenken begonnen, warum und wieso, und wußte jetzt: Nicht das Messer war schuld. Schuld war etwas anderes. Sie würde es noch herausfinden. Man fand alles heraus, wenn man nur nachdachte! „Zwölf Schafe hab ich!“ sagte Frau Skupien. „Da hinterm Haus auf den Wiesen. Eine kleine Hirtin, die sie mir wartet, wär mir sehr lieb. Denn ich hab immer mehr zu tun mit den Gästen, mit den Sommerfremden hierherum!“ Und sie warf einen Blick auf Wladimir Iljitsch. „Dahinten, hab ich gesehn“, sagte Janek,

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„dahinten baun sie neue Häuser. Werd mich verdingen. Zimmermann werd ich!“ Ja – Holz sollte es bleiben, mit dem er fortan umging. „Wohnen könnt ihr bei mir im Dachstübchen!“ schloß Frau Skupien. „Die Tage sind gut jetzt!“ sagte Janek eines Abends zu Wladimir Iljitsch, und er meinte das Wetter. Janek hatte auch bemerkt, daß Wladimir Iljitsch einen langen Artikel für die Zeitung abgeschlossen hatte in der Nacht. Folgte nun also eine Ruhepause – zum Auslüften. „Fünf Tage brauchen wir!“ sagte Janek. „Drei Tage hin über drei Grate, zwei zurück.“ Der Abend verging mit den Vorbereitungen. Und am nächsten Morgen, mit dem ersten Hähnekrähn, begann der Marsch – voran Janek, dann Wladimir Iljitsch, zuletzt der Genosse Bagocki. Zwei der Grate überwanden sie am ersten

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Tag und schliefen zur Nacht in einer verlassenen Stallhütte. Am zweiten überkletterten sie den dritten, der am höchsten war, und nächtigten in der Berghütte am großen Meerauge. Bärenfelle deckten die Betten. Vor dem Schlafengehen stießen Wladimir Iljitsch und Janek auf das Gelingen des Plans an, und der Wein ließ Janeks Träume überschäumen in der Nacht. Am nächsten Morgen stand vor ihnen, jenseits des Meerauges, in dem die Forellen sprangen, der Gipfel der Rys in strahlendem Weiß. Neuschnee war dort oben gefallen, und nicht leicht würde der Aufstieg werden. Janek rollte das Seil auf, das sie verbinden sollte, wenn man erst in die steilen Schrunden des Berges geriet. „Ich freu mich auf den weiten Blick dort oben!“ sagte Wladimir Iljitsch. „Doch

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auch auf das Steigen selbst. Was dir ohne Kampf zufällt, ist nichts wert!“ Dann schritten sie aus, um den See herum, der grün war und tief wie das Auge eines Fabelwesens, am Wasserfall vorbei, der sie mit Naß bestäubte. Darüber im Tal lag ein zweiter See, schimmernd im öden Geröll. Eisschollen trieben am Nordufer. Hier verbanden sie sich mit dem Seil. Ein Adler kreiste hoch oben im Blau. Umkreiste den Gipfel, der weit über ihnen lag. Janek wies den Weg. Ließ hin und wieder Wladimir Iljitsch den Vortritt. Denn man wußte ja: Es war ein ganz eigenes, ein ganz besonderes Gefühl, als erster zu gehen am Berg.

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