087 - Preuss, Gunter - Joe Spannt Den Wagen An
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DDR 1,75 M
ab7 J.
DIE KLEINEN TROMPETERBÜCHER
Jo tappt zum Schuppen. Leise zieht er den Handwagen heraus. Dann holt er den starken schwarzen Ziegenbock aus dem Stall. Schnell schirrt er ihn vor den Wagen. „Hejo, Schwarzer." Jo schnalzt mit der Zunge. Der Schwarze ruckt an. Der Wagen hüpft auf dem Pflaster. Jo will sich nützlich machen. Aber kann das so ein kleiner Steppke schon? Jo will es beweisen. Er macht sich auf, um ein Radlager zu holen. Die Fahrt in die Stadt ist ein Abenteuer, und Schwierigkeiten bleiben nicht aus. Am Abend ist Jo ein Stück gewachsen.
DIE KLEINEN TROMPETERBÜCHER • BAND 122
Gunter Preuß
Joe spannt den Wagen an
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Illustrationen von Dagmar Ranft-Schinke
ISBN 3-358-01062-7
Jo steht vor einem der weißgekalkten Häuschen und gähnt. Die Sonne steigt gerade über die Dächer. Sie kitzelt dem Frühaufsteher die Nase. Jo ist müde. Am liebsten würde er sich ins Gras unter Großvaters Rosen legen. Aber nein, er hat es sich nun einmal vorgenommen, an einem Ferientag ganz früh aufzustehen. Er will sehen, was für ein Gesicht die Welt um diese Zeit hat. Jo scheucht den roten Hahn Felix von der Regentonne und setzt sich. Er sagt: „Los, du neuer Morgen, nun zeige dich.“ Jo braucht nicht zu warten. Milchkannen scheppern. Aus der Bäckerei duftet frisch gebackenes Brot. Die alte Käte aus der Geflügelfarm kommandiert das Federvieh. Traktoren blubbern auf. Sie poltern mächtig mit vorgeschobenen Bäuchen über die Straße. Auf den Hängern sitzen Wilkes, Karstens, Opa Pech und Opa Schultze, die immer miteinander
streiten, dann der junge Wenzel, der Unteroffizier ist und Jo eine Patronenhülse geschenkt hat… Sie rufen und lachen – sie wundern sich, als sie Jo so früh auf der Tonne sitzen sehen. Jo winkt ihnen. Er erkennt Papsch und Mutsch. Der junge Morgen gefällt ihm. Die lange Dorfstraße hat die Traktoren verschluckt. Staub wölkt sich in der Ferne. Nichts Neues ist zu hören und zu sehen. Jo wartet. War das alles? Sein Bauch beginnt zu sprechen. Er knurrt nach Kuchen, Äpfeln oder überhaupt nach etwas zu essen. Jo rennt ins Haus, in die Küche. Großmutter klappert wild mit den Kochtöpfen. Der Tisch sieht aus wie ein Gemüsebeet. Jo federt auf dem Sofa. Über ihm klopft die alte Kuckucksuhr. Die hat Großmutter von ihrer Großmutter. Der Kuckuck fehlt schon lange. Und nach geht sie auch. Jos Zeigefinger stößt das Pendel nach rechts,
nach links – schneller, immer schneller. „Laß das“, schimpft Großmutter. „Das ist eine Uhr und keine Schaukel. Geh spielen, Jo, ich habe Arbeit, kann dich nicht brauchen.“ Jo hockt auf der Sofalehne. „Hü! Hejo!“ ruft er, gibt dem Pony die Hacken. „Ich habe Papsch und Mutsch gesehen“, sagt Jo. „Alle sind auf die Felder. – Großmutter, Ferien sind langweilig. Gestern noch nicht; aber heute. Immer nur spielen…“ „Geh angeln, Jo“, sagt Großmutter. Sie rührt mit dem Holzlöffel im Teig. „Geh angeln oder tanze auf den Händen – Junge, halte die Augen offen, dann ist dir nicht langweilig.“ Jo greift sich ein tellergroßes Schinkenbrot. Er sagt: „Sie beißen nicht. Nur Kroppzeug: Barsche und Rotfedern.“
Jo stellt sich breitbeinig vor den Spiegel. Der ist groß und dunkelfleckig. „Na, du“, sagt Jo zu Jo. Er sieht ein paar schiefgetretene Sandalen; dünne braune Beine; eine zu große Lederhose; den oft gestopften, viel zu engen Pulli, von dem Jo sich nicht trennen kann; dann den Kopf: ein Kopf wie jeder andere – Nase, Augen, Mund, viele Haare für den Friseur und Ohren. Aber solche Ohren hat nicht jeder. Jo wackelt mit dem linken, dem rechten, mit beiden. Das will gelernt sein. Das bin ich, denkt Jo. Komisch. Ob der Spiegel schummelt. Eigentlich, denkt Jo, eigentlich bin ich viel größer. Manchmal bin ich so groß wie Papsch oder der junge Wenzel und selten, ganz selten so groß wie der Schmied. Hannes ist zwei Meter oder sogar mehr. Er hat Arme wie Jos Oberschenkel. Mit den Muskeln kann er wackeln wie Jo mit den Ohren. Jo stöhnt. Der Spiegel hat recht. Leider.
Jo sagt: „Großmutter, ich geh mal los. Nur so. Vielleicht angeln.“ „Zum Mittag bist du zurück“, ruft Großmutter. Jo schlendert die Dorfstraße hinunter. Hähne krähen um die Wette. Jo hört Felix heraus – der kann es am besten. Häuser hocken links, hocken rechts. Auf den roten Dächern sprühen Funken; die Sonne badet im Tau. Links wohnt Uwe, da Pitt, dort LH. Alle schlafen. Jo nicht. Jo läuft, kaut, summt. Er pumpt sich voll Luft, reckt sich hoch. Er denkt: Jetzt bin ich so groß wie Papsch. Mindestens. Jo rennt. Weiter, immer weiter. Wenn er sich bewegt, bewegt sich die Welt. An der Schule bleibt er stehen. Er zieht sich am Zaun hoch. Das große Haus steht ruhig und verlassen. In den Kastanien auf dem Hof spielt der Wind Harfe. Die Fensterläden sind verschlossen. Nur die schwarze Kätzin streicht durch die Gräser.
Die Schule schläft. Schade. Dort ist es nicht langweilig. Jeden Tag passiert etwas Neues. Die Schule war Jos Arbeit. Der junge Wilke bewacht die Grenze, Papsch ist Feldbaubrigadier, und Hannes, der schmiedet glühendes Eisen. Jo lernt. Jeder hat seine Arbeit. Nein, Jo nicht, er hat Ferien. Er läßt sich vom Zaun gleiten, stößt die Hände in die Taschen seiner Lederhose und geht weiter. Ein Lied pfeift er, irgendeins – laut und wütend. Er geht den Hammerschlägen nach, die flink aus der Schmiede durchs Dorf reisen. Vor der Schmiede dösen ein Schimmel und ein Brauner in der Morgensonne. Daneben steht ein Hänger. Ein Rad fehlt ihm. „Na, Brauner. He, Schimmel“, grüßt Jo. In der Schmiede riecht es nach Feuer und Eisen. Hannes steht gebeugt über dem Amboß. Das Eisen ist wie rote Knetmasse. Der Hammer zwingt es rechts, zwingt es links – es regnet Funken.
„Guten Morgen, Eisenhannes“, schreit Jo. Der Schmied sieht hoch. Er blickt zornig. Dann sieht er Jo. Er lacht, streicht sich mit schweren Händen den Schweiß aus der Stirn. „Du bist es. Um diese Zeit liegen kleine Spatzen noch im Nest und träumen vom Spielen und Naschen.“ „Bin kein Spatz“, sagt Jo. „Klein schon gar nicht, und ich träume von etwas ganz anderem.“ „Beleidigt, kleiner Spatz?“ lacht Hannes. Er taucht das Eisen in einen Wasserbottich. Es faucht und zischt. Wasserdampf sprüht auf, senkt sich wie ein Schleier auf Jo. Manchmal zweifelt Jo, daß Hannes sein Freund ist. Spatz, Kleiner, Säugling – das sind für Jo Beleidigungen. Gut, er ist ohne Arbeit in den Ferien. Dafür kann, er nicht. Er würde auch lieber Traktor fahren oder den Hammer schwingen. Alle sagen: Bist zu
klein, Jo, geh spielen, Jo. Es ist zum Bäumeausreißen. Jo beobachtet Hannes: Jung und stark bezwingt er das Eisen. Sein mächtiger Kopf mit dem braunen Haarpolster, den ruhigen Waldseeaugen glüht ampelrot. Aber ich darf als einziger Eisenhannes zu ihm sagen, überlegt Jo. Nur ich, sonst niemand. Hannes duldet das nicht. Er ist stolz auf seine Arbeit. Eisenhannes klingt zu unqualifiziert, sagt er. Ein Schmied müsse mehr können als hämmern. Das weiß Jo. Hannes hat für Fräulein Kiesel eine Rose geschmiedet. Seitdem sind beide verlobt. Und Fräulein Kiesel ist Jos Klassenleiterin. „Du – Hannes“, sagt Jo, „warum steht der Hänger faul herum. Papsch sagt, alle Wagen werden jetzt gebraucht.“ Ding – dong – ding… Der Hammer tanzt wild. „Weiß ich, Kleiner“, erwidert Hannes. „Müßte in die Stadt, ein Radlager holen. Habe aber noch am Mähdrescher
zu tun.“ Jo geht nach draußen. Er rupft ein paar Löwenzahnblätter. Der Schimmel und der Braune haben nasse Lippen. Beide kauen gemächlich. Jo läuft zum Hänger: „He, du mit deinen drei Rädern – du wirst gebraucht. Es ist Erntezeit. Willst dich drücken, was?“ Da kommt Jo ein Gedanke. Plötzlich ist er da, hakt sich fest, will sprechen. „Hannes“, ruft Jo, „ich hole das Radlager. Ich hole es, Hannes!“ „Ja, ja“, knurrt Hannes. Er hat andere Sorgen. Die Genossenschaft wird gleich wieder anrufen: Wo bleibt der Mähdrescher, Kollege Brauske? „Ich gehe“, drängelt Jo. „Ich gehe los und hole das Radlager.“ Hannes ruft: „Flieg los, kleiner Spatz, flieg über dreimal drei Dörfer oder sonstwohin. – Kleiner, siehst doch, daß ich zu
tun habe.“ Dieser Hannes, denkt Jo. Manchmal ist er wie alle anderen. Denkt, ich schaffe nichts. Jo geht los. Den Weg zurück. Endlich Arbeit. Arbeit für Erwachsene. Arbeit für das Dorf. Arbeit für Jo. Er braucht viel Arbeit. Er ist groß und stark, und sein Zeugnis kennt keine Drei oder Vier. Jo schleicht über die Wiese. Von hinten an das Haus. Er drückt die Weinranken beiseite, späht durchs Küchenfenster. Großmutter schwenkt Töpfe und Tiegel. Ein Brummer knallt gegen die Scheibe. Jo tappt zum Schuppen. Leise zieht er den Handwagen heraus. Hühner fliehen spektakelnd. Dann holt er den starken schwarzen Ziegenbock aus dem Stall. Schnell schirrt er ihn vor den Wagen. „Hejo, Schwarzer.“ Jo schnalzt mit der Zunge. Der Schwarze ruckt an. Jo hält die Zügel straff. Der Wagen hüpft auf dem Pflaster.
Bei Lil zipfelt das Bett im Fenster. Lil singt. Pitt auch. Sie harken Unkraut im Garten. Immer hocken sie zusammen. Fast zwei Tage schon. Nur darum: Lil kann nicht tauchen. Jo meinte, sie könnte nie Kapitän wie ihr Onkel werden. Als er im Dorf zu Besuch war, tauchte er eine Minute und drei Sekunden. Na, sollen sie harken. Jo hat Wichtigeres zu tun. „Hejo, Schwarzer!“ ruft Jo. Gerade sitzt er, als kutschiere er sechs Rappen. Lils und Pitts Lied verstummt. Sucht dieser Jo wieder Streit? Dann singen sie – lauter, lauter… Jo läßt die Zügel locker. Der Schwarze galoppiert. Nichts ist mehr zu hören. Nichts von Lil und Pitt. Bei den drei Birken biegt Jo in eine Seitenstraße ein. Er will nicht an der LPG vorbei. Dort ist Jahnke, der Vorsitzende. Der will alles ganz genau wissen. Von wegen in die Stadt, Jo, würde er sagen. Auch die anderen wären dagegen. Ja, Großvater würde
sagen: Fahre, Jo. Niemand ist zu klein, wenn er etwas will. Aber Großvater ist in Berlin. Ganz plötzlich ist er weg. Sie haben gestritten: Großvater und der Vorsitzende Jahnke. Großvater hat geschrien: Wir brauchen neue Maschinen. Dann haben beide geschrien. Am Abend hat sich Großvater seinen grasgrünen Binder umgetan und gesagt, er müsse nach Berlin, seinen Minister sprechen. Eisenhannes hat ihn mit seiner ES zum Zug gebracht. Eisenhannes ist immer dabei, wenn etwas passiert. Großvater sagt, ein paar mehr von der Sorte wie Hannes, und das Dorf hätte bald sein neues Klubhaus. Das Dorf liegt schon weit zurück. Der Weg ist dünner geworden. Zu beiden Seiten wellt golden das Korn. Schwalben spielen Haschen im Himmelblau. Jo steigt in den Wagen. Der Schwarze zieht leicht. Sein bärtiger Kopf nickt bei jedem Schritt.
„Hejo, Schwarzer!“ ruft Jo. „Das Korn ist reif. Der Hänger hat nur drei Räder. Ich muß schnell in die Stadt.“ Doch der Schwarze geht seinen Schritt. Die Sonne klimmt heiß den Himmel hoch. Von weit her tönen Lachen und Motorengeräusche. Jo ist weit in den Feldern. Der Schwarze verharrt. Am Wege dehnt sich der alte Mühlenteich ohne Mühle. Weiden hängen ihre Zweige ins Wasser. Libellenpärchen zucken übers Schilf. Das Wasser lockt zum Baden. Ich bin kühl, ruft es. Zeige mir, Jo, wie du tauchen kannst. „Hör nicht hin, Schwarzer“, sagt Jo. „Hejo, Schwarzer, wir haben Arbeit. Der Hänger braucht ein Radlager.“ Der Wagen schuckert über Wiesen, zwischen Feldern. Ab und zu eine Birke am Wegrand. Sperlinge krakeelen im Geäst. Die Sonne sengt, hängt wie ein Rucksack auf Jo. An dem langarmigen Wegweiser schwenkt Jo links ein.
In der Ferne steigt die Stadt aus den Wiesen. Schornsteine zeigen wie Finger in die Luft. Der Schwarze hat jetzt blankes Pflaster unter den Hufen. Der Wagen rollt munter. Vor der Stadt krächzen die Kräne. Halbfertige Häuser, Kalkgebirge, Betonplatten… Vor drei Monaten war hier noch alles Wiese. Jo hält an. Er staunt. Vorige Woche war er mit Lil hier. Sie hatten Lils Vater besucht. Der ist Bauleiter und geht immer noch zur Schule. Lil sagt, das Diplom will er machen. Also vorige Woche standen die Häuser noch nicht. Da schaukelte noch die alte Laube vom Schäfer im Wind. Dort wächst jetzt ein Haus. Hier müßte man arbeiten, denkt Jo. Häuser bauen, so hoch wie Aussichtstürme. Einen Schutzhelm auf dem Kopf. Hoch oben im Kranhäuschen sitzen, mit dem Giraffenhals des Krans Betonplatten schweben lassen.
„Aber das Radlager ist auch wichtig, Schwarzer“, sagt Jo. Doch er schaut auf die Kräne, freut sich, wie sie die Lasten schwenken. Der Schwarze meckert, will weiter. „Ach was“, sagt Jo, „nicht so hastig. Das Radlager rollt ohne Rad nicht weg. Und das Rad hat Eisenhannes. Wir haben Zeit, Schwarzer. Ein Tag hat eine Menge Stunden. Ich will nur näher an die Häuser. Alles sehen will ich. Vielleicht treffen wir Lils Vater. Vielleicht setzt er mir wieder seinen Schutzhelm auf.“ Jo lenkt in die Baustelle. Sand knirscht unter den Rädern. Kalkstaub steht wie Qualm in der heißen Luft. Motorenlärm, Rufe und Lachen prallen aufeinander. Die Bauarbeiter auf dem Gerüst rackern an einer Betonplatte. Sie haben Jo entdeckt. Sie winken und lachen über Jos Ziegenkutsche. „He, Kutscher!“ dröhnt es vom Gerüst. „Zu welcher Hochzeit geht’s denn mit dem
edlen Rappen?!“ Das gibt ein Lachkonzert für Jo. Jo setzt sich gerade. Sein Schwarzer ist nicht zum Lachen. Der Schwarze ist ein prämiierter Bock und sein Freund. Jo gibt die Zügel frei. Der Schwarze stakst los. Er kommt nicht weit. Ein Kipplader faucht. Räder kreiseln im Sand. Der Fahrer schreit: „Hier ist Baustelle und kein Zookindergarten. Kannst du lesen, Pionier, dort und dort: Betreten verboten!“ Das Gesicht des Fahrers ist schmutzig. Es schaut wütend und dabei lustig unter dem löchrigen Hut vor. „Bitte“, sagt Jo, „schreien Sie nicht so. Mein Schwarzer verträgt das nicht. Und lesen kann ich. Und wie.“ „Besser als der Lehrer, was“, lacht jetzt der Fahrer. „Wohin willst du denn?“ Jo steigt aus. Er tätschelt dem Schwarzen den Rücken. „Ich suche Lils Vater.
Der ist Bauleiter. Wir sind Bekannte, wissen Sie. Seinen Schutzhelm hatte ich auch schon auf.“ Der Kipplader heult auf. „Da seid ihr allerdings gute Bekannte“, ruft der Fahrer. „Geh rüber, Pionier, dort in die Baracke. Da ist dein Bauleiter und sein Schutzhelm.“ Der Kipplader ruckt an, schießt wie ein Rennwagen über die Baustelle. Erst müssen die Erwachsenen brummen und schimpfen, denkt Jo, dann sind sie alle in Ordnung. Fast alle. Man darf sich nur nicht unterkriegen lassen. Man ist ja nicht irgendwer, sagt Großvater, und: Ich bin der Bauer Hermann Hinz, wer ist mehr? Das sagt Großvater, und was er sagt, stimmt. Die Barackentür steht offen. Ein heißer Brei aus Luft, Tabakqualm und Schweiß drückt Jo entgegen. Er tritt ein. Der Raum ist eng. Staub flimmert in den Sonnenstrahlen. Überall stehen Schreibtische,
große Tafeln, Papierstapel; Schaufeln liegen in den Ecken. An einem Schreibtisch sitzen drei Männer. Sie sitzen über einen großen Bogen Papier gebeugt. Sie streiten über irgend etwas. Und dort, zwischen zwei Papierstapeln, steht Lils Vater. Er telefoniert. Aber wie. Er rüttelt den Hörer, zupft an der Schnur. „Verdammt!“ schreit er. „In der Sandgrube hört niemand! Dort muß der Apparat kaputt sein!“ Lils Vater ist klein und schmächtig. Das Größte an ihm ist der Kopf mit dem Schutzhelm. Er sieht aus wie ein Jockei von der Pferderennbahn. Da hat er Jo entdeckt. „Holla, Jo, ist was passiert? Wo ist Lil?“ „Nichts ist passiert“, sagt Jo. „Lil harkt Unkraut.“ „So eine verflixte…“, schimpft Lils Vater. Er hat Jo schon wieder vergessen. Seine Faust klopft den Tisch. Die Zigarre in seinem Mund rutscht von Ohr zu Ohr.
„Wir brauchen Sand, und der sitzt auf den Ohren…!“ „Nur Ruhe, Ossi, die Ruhe“, sagt einer der drei Männer. Er ist so breit wie hoch. Sein Atem klingt wie Kettengerassel. „Zur Not muß Harry mit dem Barkas fahren.“ Die Männer haben Sorgen. Sie brauchen Sand. Jetzt kann Jo nicht um einen Schutzhelm bitten. „Gut, Harry soll los“, ordnet Lils Vater an. „Zehn Fuhren Sand soll Tango-Paul bringen. Verflixt…“ Jo kennt die Sandgrube. In dem stillgelegten Teil war er mit Hannes und den anderen baden. Schon oft. Er kennt auch Tango-Paul. Der arbeitet in der Sandgrube. Über ihn kichert man im Dorf. Er ist hinter den Mädchen her, sagen sie. Wenn irgendwo Tanz ist – Tango-Paul ist da. „Ich…“, stottert Jo erregt, „ich, ich ken-
ne die Sandgrube. Ich kann Bescheid geben. Zehn Fuhren Sand. Sofort. Ich sage es Tango-Paul.“ „Du…?“ Lils Vater winkt ab. „Am nächsten Eisladen sind es fünf Fuhren. Am übernächsten hast du alles vergessen. Das ist Arbeit, Jo. Kein Spiel.“ „Ich suche Arbeit“, sagt Jo. „Die Schule hat lange Ferien. Ich will nicht immer spielen; will arbeiten. Ja.“ „Laß ihn doch“, sagt der Runde. „Zwei Stunden hat es noch Zeit. Ist er dann nicht dort, können wir Harry noch immer schicken.“ Lils Vater hebt die Arme hoch. Seine Zigarre fährt Karussell auf den Lippen. „Na gut. Volldampf, Jo, und aufgepaßt. Zehn Fuhren, hörst du…!“ Jo ist draußen. Er springt in den Wagen. „Hejo, Schwarzer! Hejo!“ Jo möchte singen, lachen, jubilieren. Aber er sitzt gerade und ernst. Nur die Augen, die hüpfen und lachen. Er hat Arbeit. Viel Arbeit. Ein
Tag voller Arbeit. Arbeit wie die Erwachsenen. Und mehr noch. Der Bäcker Frantzke backt seinen Kuchen, Papsch fährt Mähdrescher, Mutsch ist Meister im Rinderstall – und Jo muß das Radlager holen und in der Sandgrube Sand bestellen. „Hejo, Schwarzer!“ Jo kutschiert über die Baustelle. Zurück zur Straße. Vorbei an den Bauarbeitern. Nun ist er einer von ihnen. Kollege Jo. Die Straße glänzt wie Metall. Autos fauchen vorbei. Die Sandgrube liegt am anderen Ende der Stadt. Jo muß mittendurch. Die ersten Häuser der Stadt. Jo kennt die Stadt. Er war mit der Klasse und Fräulein Kiesel, im Kindertheater. Schon zweimal. Und manchmal war er mit Großvater Sahne schleckern. Mit Eisenhannes war Jo im Ersatzteillager. Eine Kurbelwelle haben sie geholt.
Jo weiß Bescheid in der Stadt. Sie ist nicht groß: enge Straßen; das Rathaus; zwei Kirchen, wo die Tauben nisten; der Marktplatz; Läden. Viele Läden. Am anderen Stadtrand steht die Fabrik. Auch die hohen, hellen Häuser. Und der Goldfischteich mit dem Springbrunnen, der das Wasser in den Himmel spuckt. Das ist alles neu, hat Fräulein Kiesel erklärt. Es ist so jung wie Jo. Jo muß aufpassen. Autos, Radfahrer, Fußgänger… Der Schwarze senkt die Hörner. Die Leute bleiben stehen. Sie schmunzeln und staunen über Jos Fuhre. Sie müßten wissen, daß Jo Schmied und Bauarbeiter ist. Sie würden vor Staunen den Mund nicht zubekommen. In die Zeitung käme es auch. Wie damals die alte Käte mit ihrem Federvieh. Die Häuser haben blanke Augen. Das Rathaus schaut ernst in den Sonnentag. Zum Ersatzteillager geht es hier links ab.
Jo muß weiter. Erst die Sandbestellung. Das Stadtende. Breit und gelb: das Ortsausgangsschild. Noch vier, fünf Häuser stehen bunt im Wiesengrün. Dunkle Tannen stoßen wie Speerspitzen ins Licht. Hinter dem Wäldchen die Sandgrube. Zwischen dürren Wiesen, kahl, grau, hüglig das Gelände. Kein Strauch, kein Baum. Die Sandgrube ist ein Riesentopf: steil und tief. Ein schmaler Weg führt hinunter. Breit genug für Tango-Pauls Kipplader. Jo steigt aus, führt den Schwarzen bergab. In Tango-Pauls Baracke schrillt das Telefon. Die Tür ist verschlossen. Ein Zettel hängt über der Türklinke: Bin gleich zurück. Jo ist wütend. Was heißt hier, gleich. Eine Stunde ist bestimmt schon vergangen. So lange braucht man durch die Stadt. Wenn Tango-Paul nicht bald kommt, schicken sie Harry. Denken wie-
der, auf Kinder ist kein Verlaß. Eisenhannes wird wieder kleiner Spatz sagen und lachen, daß der Rost vom Eisen fällt. Großvater wird sich mit beiden Händen über den Kahlkopf streichen und brummen: Dafür gibt’s keine Prämie, Bauer. Tango-Pauls Kipplader ruht unter dem verlängerten Barackendach. Jo bringt den Schwarzen in den Schatten – wartet, schwitzt. Zählt die Sekunden. Bis sechzig. Dann hebt er einen Finger. Zehn sind schon oben. Das Telefon schreit in den Tag. Weit und breit kein Tango-Paul. Jo zählt, denkt, schimpft. Da kommt er durcheinander. „Dieser Tango-Paul“, schimpft er. „Tanzt vielleicht nach dem Gesummse der Bienen, statt hier Sand zu laden.“ Und er denkt: Das Korn braucht den Hänger. Der Hänger das Rad. Das Rad das Radlager. Und er zerstampft hier Sand. Wartet auf Tango-Paul. Jo hat keine Uhr. Aber die Zeit rennt.
Sie rennt in Jo, daß es kribbelt. Wenn er nichts unternimmt, rennt sie ihm davon. „Warte hier, Schwarzer“, sagt Jo. Er steigt quer durch die Sandgrube. Die Sonne sticht mit tausend Nadeln. Dann ist er am Hang. Steil geht es hoch. Ab und zu hängt ein Büschel Gras wie graues Haar. Jo muß hoch. Er könnte den Weg gehen; dann rings um die Grube. Aber das kostet Zeit. Er muß schnellstens Tango-Paul finden. Vorsichtig kriecht er los. Seine Hände umklammern Grasbüschel. Langsam kommt er voran. Er schwitzt wie Eisenhannes am Amboß. Der Hang wird steiler und schwerer. Jo schnappt nach Luft. Seine Hände schmerzen. Die Beine sind wie Gummi und zittern. Und die Angst ist da. Sie kommt aus der Tiefe und setzt sich Jo in den Nacken. Sie flüstert: Kannst nicht mehr, Jo. Brichst dir die Beine. Wolltest wie die Erwachsenen sein, Kleiner. Bist nur ein Kind, Jo.
Jo getraut sich nicht mehr, nach unten zu sehen. Er will auch hoch und nicht runter. Er drückt den Kopf in den Sand. Atmet ruhig wie im Sportunterricht. Da – eine Eidechse. Grün klebt sie am Hang. Dicht vor Jo. Flinkfüßig huscht sie den Hang hoch. Einen Meter über Jo erstarrt sie. Jo kriecht nach. Er denkt nicht mehr an Tango-Paul, nicht an das Kugellager, nicht an seine Angst. Die kleine Eidechse bezwingt den großen, steilen Hang. Ist Jo heran, trippelt sie weiter. Immer wieder. Geschafft. Der Hang ist zu Ende. Jo sitzt im Sand. Die Eidechse ist auf und davon. „Mann!“ sagt Jo. Nichts weiter. Ihm ist wie Weihnachten und Geburtstag. Und auch ein bißchen schlecht ist ihm. Er winkt nach unten. Der Schwarze scharrt an der Barackenwand. Jo steht auf. Er trabt zwischen gelbkrummen Birken. Bis zum großen Zeh.
Das ist ein verwitterter Felsbrocken. Jo klettert hoch. Hier kann er die ganze Gegend übersehen. Links die Stadt im Schornsteinnebel. Rechts die Sandgrube. Dort schwarz der Wald. Da ist noch der stillgelegte Teil der Sandgrube. Grün schimmert das Wasser. Und im Wasser etwas Helles. Gelb wie Sand. Fast weiß. Ein Haarschopf! So einen gibt es nur einmal: Tango-Paul! Jo schleicht wie ein Fuchs. Von Hügel zu Hügel. Von Grasbüschel zu Grasbüschel. Tango-Paul prustet wie ein Nilpferd. Er taucht, quirlt mit den Füßen über Wasser. „He – oheeee – he…“, singt er. Fühlt sich wohl, der Tango-Paul. Jo ist heran. Er sucht Deckung. Zehn Meter vor dem Wasser liegt ein altes Sofa. Dicht neben dem Schild: Schutt abladen verboten!
Jo schiebt sich dahinter. Tango-Paul singt Arien. Vor Jo liegen ein Hemd und eine Hose. Tango-Pauls Sachen. Jo reißt eine Spirale aus dem Sofa. Er angelt Hemd und Hose. Dann schreit er: „He! Tangoo-Paul!!“ Tango-Paul springt vor Schreck wie ein Frosch über Wasser. Dann taucht er. Jo zählt:… 43 – 44. Da ist er wieder. Nicht so lange wie Lils Onkel, stellt Jo fest. Tango-Paul sucht die Gegend ab. Er sieht Jo auf dem Sofa sitzen. Den kleinen Jo. Das beruhigt ihn. „Was soll der Lärm?“ ruft Tango-Paul. Er ist wieder ganz obenauf. „Ist wer gestorben?“ „Nichts ist“, sagt Jo. „Nichts. Du badest und vergißt deine Arbeit. Fragst, was ist.“ Dann schreit Jo. Schreit seine Wut über das Wasser: „Hast nur tanzen und baden
im Sinn, Tango-Paul! In der Schule würdest du sitzenbleiben! Eine Fünf bekämst du ins Zeugnis!“ Tango-Paul schwimmt zum Ufer. „Du Großmaul“, sagt er, „ich werde dir fünf auf den Hintern zählen…“ „Komm nur, komm.“ Jo lacht. Er wedelt mit Tango-Pauls Sachen über dem Sofa. Tango-Paul erstarrt. Er ist nackt. Nackt wie ein frisch geworfenes Ferkel. Jo lacht und lacht. Tango-Paul nestelt an seinem Halskettchen. Aber das zieht ihn auch nicht an. „Hör mal“, bittet Tango-Paul, „hör mal, das war nicht so gemeint. Gib mir meine Sachen. Ich muß zur Baracke…“ Jo sagt: „Erst versprechen, daß du mir nichts tust. Ehrenwort, Tango-Paul?“ „Ehrenwort.“ Tango-Paul ist erleichtert. Das hätte was werden können. Ohne
Sachen. Diese Blamage. Jo wirft ihm Hemd und Hose hin. Er erzählt von der Baustelle. Zehn Fuhren Sand brauchen sie. Es eilt. Bald werden sie Harry schicken. Tango-Paul hat es jetzt eilig. „Komm“, ruft er. Sie hasten um das Wasser. Rennen Hügel hoch, Hügel runter. Staub wirbelt auf, macht das Atmen schwer. TangoPaul hat lange Beine. Es ist ein Rennen wie zwischen Windhund und Dackel. Endlich – der Weg zur Sandgrube. Die Baracke. Tango-Paul schließt auf, stürzt zum Telefon. Er wählt eine Nummer. Jo steht in der Tür. Tango-Paul spricht. Die Baustelle. Er sieht auf Jo. Er stottert etwas von Panne und nichts gehört. Wird rot wie ein Schuljunge, der Tango-Paul. Dreht fast die Telefonschnur kaputt, der TangoPaul. „Ja“, spricht er ins Telefon, „der Kleine hat alles ausgerichtet. Zehn Fuhren Sand.
Sofort.“ Klack, der Hörer fällt auf die Gabel. Tango-Paul muß an Jo vorbei. „Es war so heiß“, sagt er. „Ich – ich wollte nur – nur abkühlen – ach was, verdammt noch mal!“ Tango-Paul rennt zum Kipplader. Fährt ihn tiefer in die Grube. Springt raus. Zieht das Förderband heran. Der Motor summt – das Band läuft Tango-Paul schaufelt. Schaufelt, ohne aufzusehen. Schaufelt, als ginge es um sein Leben. Jo zieht den Schwarzen unter dem Barackendach vor. „Hejo, Schwarzer.“ Sie schnaufen den Weg hinauf. Jo fährt zurück in die Stadt. Er ist enttäuscht von Tango-Paul. Badet, während alle arbeiten. Das kann Jo nicht verstehen. Das ist genausowenig richtig, wie zwei mal zwei drei ist. Das schmälert seine Freude über die erledigte Arbeit. Großvater sagt: Jeder muß zupacken. Jeder, der einen Kopf und
zwei Hände hat. Jo kutschiert. Jetzt holt er das Radlager. Viel Zeit hat er verloren. Aber er schafft das schon. Er kann mehr, als Verstecken spielen und Barsche angeln. Sie zuckeln durch das Wäldchen. Es ist schattig und kühl. Ein Specht wummert in die Stille. Dann wieder die Straße. Die vier, fünf Häuschen. Die Stadt lärmt Jo entgegen. Tango-Pauls Kipplader kommt angebraust. Mit einer Sandbergladung. Jo sieht weg. Tango-Paul sitzt starr hinter dem Lenkrad. Rrscht! Vorbei ist er. Jo kutschiert durch enge Straßen. Hinter den Neubauten biegt er ab. Weiter, immer weiter. Vorbei an den Fabriken. Maschinengeratter dringt aus geöffneten Fenstern. Weiter. Die Einbahnstraße hinunter. Am Ende: das Ersatzteillager. Ein langer, flacher Bau. Neben der Tür ein Schild: VEB Landmaschinen Lager 1.
Jo drückt auf die Türklinke. Die Tür ist zu. Nanu, denkt er. Rüttelt an der Tür. Nichts. Rot blinkt ein Klingelknopf. Jo klingelt einmal, klingelt zweimal, läßt den Daumen drauf. Ein Mann reißt die Tür auf. Er ist groß, steht knorrig und krumm wie ein Ast. Die dunkle Brille sitzt vornehm auf der Nase. „Was soll denn das?! Bist wohl übergeschnappt. Klingelt und klingelt…“ Der Krumme guckt böse, zieht heftig an seiner Pfeife. „Bin nicht übergeschnappt“, sagt Jo. Er kennt die Pfeifenraucher. Großvater ist auch poltrig, aber gutmütig. „Ich wollte nur etwas abholen, Kollege Lagerleiter…“ „Kollege Lagerleiter…“ Der Krumme lächelt. Er nimmt Jo bei den Schultern, schiebt ihn vor das Firmenschild. „Lies“, fordert er. „Geschlossen von 13 – 15 Uhr. – In einer Stunde geht es weiter. Mittags-
pause ist Mittagspause.“ In Jo rüttelt der Schreck. So spät ist es schon. Er hat zuviel Zeit bei Tango-Paul gelassen. Aber so leicht gibt er nicht auf. Er muß das Radlager haben. Das ist seine Hauptarbeit. Er muß es haben. Was sollen sie im Dorf sagen. Den ganzen Tag weg und bringt nicht mal das Radlager. Der Krumme ist schon in der Tür. „Warten Sie. Bitte“, sagt Jo hastig. „So lange habe ich nicht Zeit. Ich will für Eisenhannes das Radlager holen. Er braucht es für den Hänger. Und der Hänger muß aufs Feld.“ „Eisenhannes? Meinst du Hannes Dahnke aus Seedorf? Den Schmied?“ „Ja, ja!“ Die Tür ist nur noch spaltbreit offen. Tabakqualm steht dazwischen. Der Krumme sagt: „Also in einer Stunde. Ordnung muß sein.“
Noch ist das Türschloß nicht zugeschnappt. Noch ist ein winziger Spalt zu sehen. „Hallo! Bitte!“ ruft Jo verzweifelt. Er kämpft gegen seine Enttäuschung. Etwas versucht er noch. Er erzählt vom Dorf, von Großvater, Eisenhannes und den anderen. Erzählt von der Schule, die so lange Ferien macht, und von seiner Arbeit, die er erledigen muß. Er sagt: „Komme ich ohne Radlager, bin ich wieder der kleine Jo. Spielen schicken sie mich.“ Langsam, ganz langsam öffnet sich die Tür wieder. Der Krumme schaut ernst über seine vornehme Brille. Er klopft die Pfeife an die Hausmauer. Asche rieselt. Sekunden vergehen wie Stunden. „Ja“, sagt der Krumme endlich. „So ist die Welt. Wenigstens bei uns ist es so. Als ich Kind war, wollten wir spielen und mußten arbeiten, und heute, da könnt ihr spielen und wollt arbeiten. Aber das ist
gut so. Sehr gut so.“ Der Krumme zieht Jo ins Lager. „Los schon. Denkst du, ich will die ganze Pause mit dir vertrödeln.“ Jo ist glücklich. Der Krumme hat ihn verstanden. Sie laufen einen langen Gang entlang. Links und rechts stehen Eisenregale. In Kästen liegen Bolzen, Schrauben, Nieten… Alles genau sortiert. Überall strahlt Ordnung. Wie in Großmutters Küchenschrank. Der Krumme bleibt stehen. „Für welchen Hängertyp braucht ihr das Radlager?“ Das weiß Jo. Eisenhannes hat es ihm oft erklärt. „Tja… das tut mir leid“, sagt der Krumme. „Das ist nicht im Lager.“ Jo wird es heiß vor Schreck. So nahe am Erfolg, und nun… Er steht, den Kopf gesenkt, starrt durch die Regale. Irgendwohin. Dann geht er. Traurig, müde, enttäuscht. Der lange Gang. Seine Schritte
hallen. Ihm ist kalt. An der Tür holt ihn des Krummen Stimme ein: „Nun warte doch. Im Lager zwei – in Zweditz –, die haben welche.“ Das ist ein Fünkchen Hoffnung. Aber Zweditz ist weit. Viele Kilometer. Da geht dem Schwarzen die Puste aus. Und die Zeit reicht nicht. Der Krumme öffnet die Tür zum Hof. Dort sitzen seine Kollegen auf einer Gartenbank. Sie essen, trinken, sprechen von gestern und heute und morgen. Sie lassen die Sonne auf der Haut schmeicheln. Es ist Pause. „Klaus“, hört Jo den Krummen sagen. „Muß mal nach Lager zwei. Borgst du mir deinen Flitzer?“ Der Krumme kommt zurück, den Sturzhelm wie einen Turban auf dem Kopf. In der Hand den Zündschlüssel und die Fahrzeugpapiere. „Wir fahren“, sagt er.
„Aber – Ihre Pause?“ sagt Jo. „Jeden Tag ist Pause“, knurrt der Krumme. „Morgen wieder.“ Sie gehen nach draußen. Jo bindet den Schwarzen an einen Laternenpfahl. „Bin bald zurück, Schwarzer.“ Der Krumme und Jo steigen auf die Awo. Das Motorrad ist schon alt. Schmutzig ist es auch. Aber es ist schneller als alle Ziegenböcke. Der Krumme schaltet den Gang rein, gibt Gas. Die Awo macht einen Satz, knattert los. Im Nu sind sie aus der Stadt. Auf der Landstraße zeigt die Awo, was sie noch kann. Sie läßt die Luft pfeifen, die Bäume rennen – sie frißt die Kilometer wie der Schwarze das Heu. Hejo, alte schwarze Awo! Sie fahren über holprige und glatte Straßen. Durch große und kleine Dörfer. „Zweditz!“ ruft der Krumme. Er nimmt
das Gas weg. Die Awo schnieft, steht. Ein Gebäude, länger und höher als das in der Stadt: VEB Landmaschinen Lager 2. Der Krumme geht ins Haus. Jo wartet. Er tätschelt der Awo den Blechbauch. Der Krumme ist prima. Opfert seine Pause. Du bist auch prima, Awo. Oh, Eisenhannes wird Augen machen, wenn Jo das Radlager bringt. Und Großvater wird stolz auf seinen Enkel sein. Und Lil und Pitt werden mit ihm arbeiten wollen. Da ist der Krumme wieder. Ein Päckchen äugt aus seiner Jackentasche. „Das Radlager!“ jubelt Jo. Der Krumme rückt schmunzelnd seine Brille zurecht. „Aufgesessen.“ Zurück geht’s. Mit dem Wind um die Wette. Jo befühlt das Päckchen. Ganz sacht. Wieder und wieder. Bald sind sie in der Stadt. Da sind die Fabriken. Dann die Einbahnstraße hinun-
ter. Der Schwarze steht brav am Laternenpfahl. Er meckert, als Jo ihn krault. „Ich hab’s“, flüstert Jo ihm in die langen Ohren. „Ich hab’s, Schwarzer…“ Dann flitzt er ins Lager. „Und nun zum Geschäftlichen“, sagt der Krumme. „Gib mal den Auftragsschein.“ „Den Auftragsschein…?“ Jo hat keinen Auftragsschein. „Na, den kleinen gelben Zettel“, sagt der Krumme. Jo hat keinen kleinen gelben Zettel. Nichts hat er. Das Radlager will er. Der Krumme rückt an seiner Brille. Er guckt wieder böse. „So was“, schimpft er. „Kommt hier an, will ein Radlager, ich verfahre meine Pause – und dann keinen Auftragsschein…“ Der Krumme redet sich in Wut. „Was ist das für eine Organisation in euerm Dorf? Wie denkt sich das dein Schmied,
he? So eine Wirtschaft! – Also, ohne Schein kein Radlager. Alles muß seine Ordnung haben! Auf Wiedersehen!“ Der Krumme wendet sich ab, verschwindet hinter den Eisenregalen. Jo steht einsam. Seine Gedanken hetzen. Ist alles aus? Noch einmal ins Dorf und mit dem Schein zurück – das schafft er nicht. Es ist schon spät. Bald drei Uhr. Alles ist aus. Die ganze Mühe umsonst. Der Krumme hat seine Pause geopfert. Klaus seine Awo geliehen. Und Jo hat alles getan. Das Teil liegt vor ihm. Auf dem Tisch. Zum Greifen nah. Er darf es nicht nehmen. Der Schein fehlt. Der kleine gelbe Zettel. Aber er wird gebraucht. Jo geht. Er weiß es kaum. Seine Beine laufen. Sein Kopf ist heiß und schwer. Er bindet den Schwarzen los, hockt sich in den Wagen. Der Schwarze zieht. Die Tränen sitzen Jo dicht hinter den Augen. Er ballt seine Hände, daß er nicht losheult.
Nur eines denkt er, und es rumort und zwickt und sticht in ihm: Alles ist aus. Sie werden sich über dich lustig machen. Alle werden sie es. Das ganze Dorf wird lachen. Und das Schlimmste – es wird sein wie vorher: Ich bleibe der Kleine, der Spatz. Jo fährt durch die Stadt. Sieht nicht nach links, sieht nicht nach rechts. Fährt über den Marktplatz. Vorbei an der Konditorei. Leute sitzen beim Eis in der Sonne. Sie lachen über den kleinen Jungen und den großen Ziegenbock. Sie lachen und wissen nichts. Wissen nichts über Jo. Kennen seine Sorgen nicht. Ahnen nicht, wie ihn der Kummer drückt. Bremsen quietschen. Der Schwarze steigt. Jo reißt die Zügel rüber. „So was…!“ schimpft der Autofahrer. „Schläft am hellen Tag…!“ Das Rathaus. Stimmen streiten. Dahinter ein Karussell. Musik erklingt. Kinder jauchzen, „Taratata – bum – bum…“, plärrt der Lautsprecher.
„Schneller, Schwarzer“, treibt Jo. Alle Welt ist fröhlich. Jeder schafft seine Arbeit. Nur ich nicht. „Schneller, Schwarzer!“ Nur weg aus der Stadt. Der Schwarze galoppiert. Die Stadt bleibt zurück. Es wird still um Jo. Doch die Stille ist schlimmer als der Lärm. Die Stille kann sprechen. Schreien kann sie. „Hast deine Arbeit nicht geschafft!“ schreit sie. Und Fäuste hat die Stille. Mit denen schlägt sie Jo. Endlich die Baustelle. Das Gekreisch der Maschinen, die Rufe der Bauarbeiter – das alles ist wie die Hand der Mutter. Wie Großvaters Augen. Ruhe kommt über Jo. Er steuert gegenüber der Baustelle in die Wiese. Legt sich ins Gras. Schmiegt sich an die warme Erde. Sehnt sich nach der Stimme der Mutter, die nur „Jo“ sagt und alles leichter macht. Der Wind geigt in den Gräsern. Die
Gräser sind lang und gelb. Sie verstecken Jo. Jo liegt, möchte immer so liegen – dann hebt er den Kopf. Es hat keinen Sinn, sich zu verstecken. Das hilft ihm nicht. Niemandem hilft es. Jo sieht zur Baustelle. Sieht den Bagger sich durch den Sand fressen. Sieht die Kräne Betonplatten tragen. Und sieht die Bauarbeiter schaufeln, hämmern, schrauben. Und Tango-Paul rast mit vollem Kipplader über die Baustelle. Die wievielte Fuhre ist es wohl? Diese Arbeit hat Jo erledigt: die Sandbestellung. Warum bringt er das Radlager nicht? Der kleine gelbe Zettel fehlt. Liegt es nur an dem kleinen gelben Zettel? Jetzt fragt sich Jo, fragt sich wie Großvater, wenn bei ihm etwas schiefgeht. Was hast du falsch gemacht? Wo stimmt die Geschichte nicht? Großvater sagt, alles muß aufgehen, genauso, wie zwei mal zwei vier ist. Aber ein Tag läßt sich
nicht so leicht zusammenrechnen wie zwei mal zwei. Für Großvater nicht, und für Jo noch weniger. Dieser Tag erst recht nicht. Es war ein besonderer Tag für Jo: ein Arbeitstag. Jo denkt hin, denkt her. Er beobachtet den Kranführer. Der sitzt hoch oben, weit über den Gerippen der Häuser. Der Kranführer kann nicht nebenbei Sand schaufeln oder Eisenträger schweißen. Er muß aufpassen, daß er die Betonplatten richtig setzt. Jo wollte alles schaffen. Alles auf einmal. Wollte das Radlager holen, wollte den Sand bestellen. Hätte er Harry fahren lassen, wäre Zeit genug gewesen, den Auftragsschein aus dem Dorf zu holen. Jo weiß nicht, wie lange er so gelegen und nachgedacht hat. Noch nie hat er so gedacht. Nicht im Kindergarten. Nicht in der Schule. Gehört das zum Erwachsensein, sich mit dem vergangenen Tag zu
unterhalten? Jo weiß es nicht. Er weiß nur, daß Großvater es tut. Abends, auf seiner Bank vor dem Haus. Manchmal leise, manchmal laut. Auf der Baustelle ist Arbeitsschluß. Stille legt sich wie ein Tuch über das Gelände. Die Bauarbeiter warten an der Bushaltestelle. Der Bus kommt. Brummt weg. Jo ist allein. Nur Tango-Paul kommt mit einer neuen Sandfuhre. Hat er den Feierabend verpaßt? Tango-Paul, der badet, statt zu arbeiten. Jo will hier weg, will nach Hause. Er hat Hunger, ist müde. Will seinen Kummer verschlafen. Da klirrt und kracht etwas die Straße herauf. Klirrt wie zerschlagenes Geschirr, kracht wie das Luftgewehr vom jungen Wenzel. Eine rote Kiste taucht auf, faucht heran. Die alte Minna! Fräulein Kiesels Auto!
Das hat Jo noch gefehlt. Er will niemand sehen. Jetzt nicht. Er drückt sich ins Gras und horcht. Das Geklapper setzt aus. Der Motor japst leise. Schritte nahen. Über Jo fällt ein Schatten: Eisenhannes Ringerschultern, sein Lockenpolster. Hinter Eisenhannes reckt sich Fräulein Kiesel. Sie wirkt wie ein Kind gegen ihn. Ihr dichtes schwarzes Haar hat das Kopftuch in den Nacken geschoben. „Jo…!“ ruft Fräulein Kiesel. Da ist noch Lil. Sie springt zu Jo, kniet sich neben ihn. Ihre Puppenzöpfe zittern. „Ist was passiert, Jo…?“ fragt sie erschrocken. Jo steht langsam auf. Oh, er fühlt sich unbehaglich. Drei Gesichter starren ihn an, verlangen eine Antwort. „Wir sahen den Schwarzen von der Straße aus“, sagt Fräulein Kiesel. „Im Dorf haben sie dich schon gesucht. Großmutter und dein Vater…“
„Und wir auch“, sagt Lil. „Wir wollen Großvater vom Bahnhof abholen. Du solltest mit. Großmutter sagte, du wärst angeln. Wir haben dich am See gesucht.“ „War nicht angeln“, sagt Jo. Er blickt zu Eisenhannes, der die Sonne verdunkelt. Was soll er sagen? Soll er vom Radlager erzählen? Sie werden lachen. Lil wird wie ein Kasper springen. Fräulein Kiesel wird ihm durchs Haar streichen. Und Eisenhannes Lachen wird wie Donner sein. Kleiner Spatz, wird er rufen. „… war nicht angeln“, wiederholt Jo langsam. „Ich – ich wollte das Radlager für den Hänger holen.“ Da ist es heraus. Und Jo erzählt weiter. Erzählt seine ganze Geschichte. Die Geschichte eines Tages. „So war das“, schließt Jo. „Das Radlager liegt auf dem Tisch, aber der Schein fehlt.“ Eisenhannes steht unbeweglich wie ein Berg. Fräulein Kiesel knöpft ihre Strickjacke auf, knöpft sie zu. Und Lil
staunt: „Wo du überall warst…“ „Soso…“, sagt Eisenhannes. Mehr nicht. Man sieht ihm an, er denkt nach. Denkt nach über Jos Geschichte. Er sagt: „Wolltest also das Radlager holen.“ Er schlägt sich mit der Hand an die Stirn. „Hast es mir noch gesagt. Ich dachte, willst dich aufspielen, Kleiner. Dann der Mähdrescher – ich hatte keine Zeit.“ Ein bißchen quält Hannes das schlechte Gewissen. Er war nur mit sich beschäftigt, heute morgen, in der Schmiede. Hat nicht richtig zugehört, was Jo sagte. Hat ihn nicht für voll genommen, den Kleinen, den Spatzen. Hätte ihm den Auftragsschein mitgeben können. Und Fräulein Kiesel sagt: „Man muß den Kindern viel mehr zutrauen. Sie schaffen mehr, als wir manchmal denken.“ Jo spürt Fräulein Kiesels Hand im Haar. Sie versteht ihn, versteht ihn, wie der
Krumme ihn verstanden hat. Und Eisenhannes? Der geht mit Riesenschritten zur Straße. Seine Hände kämmen durchs Haar, von hinten nach vorn. Das alles läßt ihm keine Ruhe. Der kleine gelbe Zettel soll Jo seine ganze Arbeit verderben? Eisenhannes kennt keine halben Sachen. Dann stehen sie bei der alten Minna. Lehnen an dem knallroten klapprigen Blech. Stehen da, sagen nichts. In Eisenhannes Hand flattert ein Stück Papier im Wind. Der kleine gelbe Zettel! Schon seit vier Tagen trägt er ihn in seiner Tasche. „Wie spät ist es?“ fragt Eisenhannes. „Es ist bald sechs Uhr“, antwortet Fräulein Kiesel. „Wir müssen uns beeilen. Großvater wird bald hiersein.“ In Jo überschlagen sich die Gedanken. Da ist der Auftragsschein. Das Lager schließt um sechs Uhr. Vielleicht würden
sie es schaffen. Jo hätte das Radlager! „Was denkst du, Großer?“ wendet sich Eisenhannes an Jo. „Versuchen wir’s? Vielleicht bekommen wir noch unser Radlager.“ „Eisenhannes!!“ Jo springt seinen Freund an, hängt wie eine Klette. Großer hat Eisenhannes gesagt. Das erste Mal hat er Großer gesagt. „So einfach ist das nicht“, unterbricht Fräulein Kiesel die Freude. „Was wird aus Großvater? Und dein Schwarzer, Jo. Willst du ihn hier stehenlassen?“ „Nur die Übersicht behalten, Fräulein Lehrer.“ Eisenhannes lacht. „Das muß doch zu schaffen sein…“ Aber wie? Der Weg zum Bahnhof geht nach links, der zum Ersatzteillager nach rechts. Und der Schwarze ist kein Automat. Ihn kann man nicht aufziehen und allein nach Hause schicken. Und die Zeit
rennt, hat Siebenmeilenstiefel an. Auf der Baustelle kippt Tango-Paul Sand ab. Er wundert sich über die vier, die bei der alten Minna stehen und stehen. Tango-Paul läßt den Motor aufbrüllen. Jetzt holt er die zehnte Fuhre. Er umkurvt Balken und Eisenträger, braust zur Straße. Dort stoppt er ab: Vorfahrt beachten. „He, Paul!“ Eisenhannes hält die Hände als Lautsprecher vor den Mund. Er winkt Tango-Paul. In Eisenhannes kommt Bewegung. Er knallt seine Faust auf das Dach der. alten Minna. Was haben die denn, denkt Tango-Paul. Ich habe keine Zeit. Es ist bald sechs Uhr, und ich hole die zehnte Fuhre. Er will zehn Fuhren schaffen. Die Arbeit von eineinhalb Tagen. Das mit dem Baden – das will er wiedergutmachen, der TangoPaul.
Tango-Paul fährt einen schnittigen Bogen, schrammt fast die alte Minna. Er lehnt sich lässig aus dem Fenster und lächelt Fräulein Kiesel an. Die anderen sind Luft für ihn. „Was gibt’s denn?“ fragt er. Fräulein Kiesel ist Eisenhannes Braut. Er sieht nicht gern, wenn sie jemand so anlächelt – und Tango-Paul schon gar nicht. „Hör mal“, sagt Eisenhannes finster. „Kannst du uns helfen? Wir müssen ganz schnell…“ „Keine Zeit“, unterbricht Tango-Paul. „Du siehst doch, ich fahre Sand.“ „Das sehe ich“, sagt Eisenhannes. Er bittet nicht gern. Entweder man will helfen oder nicht. Und dieser Tango-Paul hilft nur sich selbst. Aber Jo zuliebe versucht es Eisenhannes noch einmal: „Wir müssen in die Stadt. Du solltest nur mal beim Bahnhof vorbei, Bescheid geben, daß wir nicht kommen können. Jos Großvater soll den Bus nehmen.“
„Bitte…!“ sagt Jo. Und Tango-Paul erinnert sich an heute morgen. Der Kleine war schon in Ordnung. Hat nicht gequatscht auf der Baustelle. Hat ihm geholfen. „Na ja“, sagt Tango-Paul. „Aber ich kenne keinen Großvater.“ „Ich fahre mit“, sagt Fräulein Kiesel. „Aber was ist mit dem Schwarzen? Wer bringt ihn nach Hause?“ „Ich, ich!“ Lil wirft die Hand hoch wie in der Schule. Das hat sie sich schon immer gewünscht: Einmal ganz allein den Schwarzen kutschieren. So ist alles klar. Lil kutschiert den Schwarzen von der Wiese. Tango-Paul springt vom Kipplader, hilft Fräulein Kiesel in den Wagen. Und Eisenhannes steigt widerstrebend zu Jo in die alte Minna. Er sieht böse auf Tango-Paul. „Dieser Tanzbodenaffe“, schimpft er. „Fahre“, treibt Jo. „Das Radlager!“
Tango-Pauls Kipplader schießt davon. Die alte Minna ächzt hinterher. Sie fahren in die Stadt. „Hejo, alte Minna!“ Jo sitzt in den dicken Polstern. Er drückt sich die Daumen weiß. Hoffentlich schaffen sie es noch. Er sieht vor sich Hannes breiten Rücken und am Lenkrad seine starken Hände. Es ist schön, so einen Freund zu haben. Das Karussell dreht noch immer. Am Rathaus ist es ruhig. „Schneller, Hannes“, ruft Jo. Doch mehr als fünfzig Stundenkilometer darf Hannes in der Stadt nicht fahren. Mehr schafft die alte Minna auch nicht. Wenn man sie zu sehr anstrengt, bleibt sie stehen. Über dem Marktplatz segeln Tauben. Irgendeine Kirchturmuhr schlägt sechsmal. Meine Güte, denkt Jo. Aber Kirchenuhren nehmen es mit der Zeit nicht so genau. Jo hofft, daß sie noch früh genug zum Ersatzteillager kommen.
Da steht ein Volkspolizist mitten auf der Straße. Er winkt: Anhalten! Was will er denn? Jo ist verzweifelt. Auch das noch. „Guten Tag“, grüßt der Volkspolizist. Er mustert mißtrauisch die alte Minna. „Ihre Papier bitte.“ Eisenhannes kramt die Fahrzeugpapiere aus der Tasche. Der Volkspolizist kontrolliert. „Hier ist jetzt gesperrt“, sagt er. „Eine halbe Stunde. Das alte Hotel wird gesprengt.“ Gesprengt wird jetzt. Was nun? „Los, raus“, kommandiert Eisenhannes. Sie springen aus der alten Minna,! rennen quer über die Straße zu den Neubauten. Der Volkspolizist schüttelt den Kopf, prüft noch einmal das Nummernschild. Zwei Verrückte, denkt er. Jo und Eisenhannes laufen in ein Haus, zur Hintertür hinaus, überqueren den Hof,
von dort auf eine Straße. Eisenhannes kennt die Stadt wie seine Schmiede. Sie spurten durch den Park. Blumenduft steigt in die Nase. In Sandkästen balgen sich Kinder. Sie quieken vor Übermut. Auf Bänken ruhen sich Erwachsene aus. Sie denken, was haben die beiden? Springen wie Hengst und Fohlen. Jo und Eisenhannes laufen mit der Zeit um die Wette, kämpfen gegen die Sekunden. Das Radlager! Sie müssen es haben. Hinter dem Park die Fabriken. Tür und Tor sind verschlossen. Die Einbahnstraße! Jo kann kaum noch. In seinem Kopf dreht es sich wie ein Karussell, die Beine bewegen sich mechanisch wie Uhrpendel. „Durchhalten, Großer!“ spornt Hannes ihn an. Das Lager. Die vier Treppen hinauf.
Das fällt ihm so schwer, als müßte er einen steilen Berg erklimmen. Jo stürzt zur Tür, hängt sich an die Klinke. Die Tür ist verschlossen. „Nein“, sagt Jo, „nein“. Er rüttelt. Nichts. Eisenhannes drückt seine Faust auf den Klingelknopf. „Was ist denn hier los, zum Donnerwetter?!“ Jo und Eisenhannes fahren herum. Der Krumme blinzelt über seine Brille. Seine Pfeife qualmt wie eine Dampflok. Jo ist erschrocken. Aber seine Freude ist größer: Sie haben es geschafft! „Du bist es schon wieder“, sagt der Krumme zu Jo. „Du gibst wohl nie auf, was?“ „Das will ich meinen“, sagt Eisenhannes. „Jo schafft, was er sich vornimmt.“ Er gibt dem Krummen den kleinen gelben Zettel. „Hat man denn nie Feierabend“, brum-
melt der Krumme. „Erst ist die Mittagspause futsch – jetzt der Abend. Wenn man schon mal pünktlich nach Hause will.“ Er brummelt weiter, rückt an seiner Brille, sucht den Schlüssel aus der Tasche. Der Schlüssel rasselt im Schloß. Der Krumme geht ins Lager. Jo und Eisenhannes warten an der Tür. Eisenhannes knufft Jo, Jo knufft Eisenhannes. Ihr Lachen hallt durch das Lager. Der Krumme nimmt das Radlager vom Tisch. Er drückt einen Stempel auf den kleinen gelben Zettel. Erledigt. Jo hat das Radlager. Er preßt es fest an sich, tanzt über die Straße. „Danke! Vielen Dank, Kollege Lagerleiter!“ Sie laufen zur alten Minna. Eisenhannes neben Jo. „Jetzt ab nach Hause“, sagt Eisenhannes. „Hoffentlich haben die anderen Großvater nicht verpaßt.“
Der Krumme winkt. Dann geht er seiner Wege. Rückt an seiner Brille. In seinen Augen sitzt ein Lächeln. Die alte Minna ist graugepudert. Wo das alte Hotel stand, liegt ein Schuttberg. „Dort bauen sie das neue Warenhaus hin“, erklärt Eisenhannes. Der Volkspolizist steht auf der anderen Straßenseite. Er beobachtet Jo und Eisenhannes. Er traut dem Frieden nicht. Sie steigen ins Auto. Eisenhannes schaltet die Zündung ein. Die alte Minna stöhnt auf. Hejo, alte Minna! Nach Hause geht’s. Eisenhannes steuert die alte Minna durch die Stadt. Jo schwatzt und schwatzt. Irgend etwas. In seinem Hemd steckt das Radlager. Als sie aus der Stadt sind, ist es Abend. Die alte Minna schaukelt über Feldwege. Die Luft duftet. Sie schmeckt nach Korn
und Erde. Die Sonne welkt rosenrot. Sie schwimmt auf dem Meer der Getreidehalme. Das Dorf. Die Häuser werfen lange Schatten. Der junge Wenzel ist im Garten. Bei Wilkes spielt jemand Akkordeon. In der LPG laden sie Grünfutter ab. An der Schmiede steht Tango-Pauls Kipplader. Die Kühlerhaube ist hochgeklappt. Tango-Paul ist zur Hälfte darunter verschwunden. Fräulein Kiesel und Lil füttern den Schwarzen. Pitt und Uwe turnen auf dem Hänger. Karstens und der Vorsitzende Jahnke sind da. Auch ein paar Studenten, die zur Ernte helfen. Alle sind neugierig auf Großvaters Berlinreise. Großvater spricht mit dem Vorsitzenden. Na klar, sie streiten miteinander. Eisenhannes bremst die alte Minna ab. „Da seid ihr ja endlich“, ruft Lil. Fräulein Kiesel kommt: „Hat alles geklappt?“
Jo hält das Radlager hoch. „Wir haben es!“ Alle haben schon davon gehört. Sie kennen Jos Geschichte. „So ein Leichtsinn“, sagt der Vorsitzende. „Allein in die Stadt…“ „Hör mir auf“, sagt Großvater. „Du und deine ewige Vorsicht. Wir hätten längst die neuen Maschinen haben können.“ „Tschüs, alle.“ Tango-Paul sitzt wie ein Rennfahrer hinterm Steuer. Er will die letzte Fuhre holen. Die zehnte. Motorenlärm, eine Staubwolke – Tango-Paul ist weg. Jo gibt Eisenhannes das Radlager. „Darf ich dir helfen, wenn du es einbaust?“ „Klar, Großer“, sagt Eisenhannes. Er hebt Fräulein Kiesel wie eine Puppe auf das Dach der alten Minna. „Wie haben wir das gemacht, Fräulein Lehrer?“ sagt er vergnügt. Plötzlich ist Großmutter da. Sie gibt Jo
einen Klaps hinter die Ohren. „Du Rumtreiber – das ganze Dorf weiß, wo du steckst, nur deine Großmutter nicht.“ „Komm, Hinz“, sagt sie zum Großvater. „Komm mit nach Hause. Ihr streitet euch sonst noch die Nacht durch.“ „Bis morgen.“ Jo winkt. Er nimmt seinen Schwarzen am Geschirr, läuft zwischen Großvater und Großmutter. „Vater und Mutter sind im Theater“, sagt Großmutter. „Wollten erst nicht fahren, als du nicht kamst. Hättest du nicht wenigstens Bescheid geben können, Junge…?“ „Das nächste Mal bestimmt, Großmutter.“ Dann fragt Jo, was er schon lange fragen will: „Wie war es in Berlin, Großvater? Hast du deinen Minister gesprochen?“ Großvater lacht, legt Jo seine schwere Hand auf die Schulter. „Der Minister war in Bulgarien, Jo. Zu einer Konferenz. Das war mir zu weit zum Hinterherfahren.“
„Na und? Da hast du gar nichts erreicht?“ fragt Jo enttäuscht. „Den Sekretär habe ich gesprochen“, sagt Großvater. „Der wird sich drum kümmern. Alles wird in Ordnung kommen.“ Sie sind am Häuschen. Großvater sieht nach seinen Rosen. Jo bringt den Schwarzen in den Stall. Dann saust er in die Küche. Einen Bärenhunger hat er. Auf dem Tisch thront ein Riesenstullenteller. Jo kaut. Die Müdigkeit kommt aus dem Knarren der alten Kuckucksuhr. Das Sofa ist weich wie sein Bett. Heut war ein schwerer Tag für Jo. Ein guter Tag. Er hat das Radlager geholt. Jo schmiegt sich in die Kissen. Fast schläft er schon. Wie von ferne hört er Großvaters Stimme: „Weiter so, Bauer, hast dich gut gehalten. Hast einen Tag besiegt, Jo.“
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