072 - Glückspilz
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Band 72
Inhalt: Erzählung um den kleinen Sascha Dimitriew
4 und dem Fohlen Glückspilz mit Bezug zum 2. Weltkrieg
I
Es war einmal ein kleines, stolperbeiniges Fohlen, das sah so braun aus, als hätte es jemand mit Kakao eingepudert. Sein Schwanz war borstig wie ein alter Handfeger und seine Hufe klein wie Kinderschuhe. Das braune Pferdekind kam an einem Sommersonntag zur Welt, bei Großvater Wadim und seiner Frau, mitten im russischen Wald, dort, wo der Don noch ein schmales Flüßchen ist. „Schade, daß unser Sascha nicht da ist, sehr schade!“ brummelte der Großvater und sah zu, wie die Pferdemutter das Fohlen putzte. Großmutter Valentina brachte frisches Stroh aus der Scheune. Sie breitete es um das Pferdekind, daß es wie einem Nest lag. „Ein schönes Kind hast du uns da beschert!“ sagte Valentina zur Pferdemutter Shenja.
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Großvater Wadim fragte: „Wie soll's heißen, unser Sonntagskind?“ Seine Frau nannte ihm acht verschiedene Namen, aber keiner war dem Großvater gut genug. „Dann überlege dir selber einen!“ entschied die Großmutter und ging ins Haus, das Mittagessen zu kochen. Der Großvater blickte in den blauen Himmel, beobachtete, wie ein Eichelhäher davonflog, und brummelte wieder: „Schade, daß Sascha nicht da ist; der wüßte bestimmt einen schönen Pferdenamen. Aber immer, wenn man den Burschen braucht, hat er gerade keine Ferien.“ Großvater Wadim störte es in diesem Augenblick sehr, daß sein Haus mitten im Wald stand, drei Galoppstunden entfernt vom nächsten Nachbarn und eine Tagereise weit von Moskau, wo die Tochter, der Schwiegersohn und Sascha, der Enkel, wohnten.
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Inzwischen stellte sich das Pferdekind auf seine langen, staksigen Beine und versuchte seine ersten Schritte. Pferdemutter Shenja hielt sich dicht neben dem Fohlen, daß es sich ein bißchen anlehnen konnte, wenn ihm die Beine nicht gehorchten. Sogleich vergoß Großvater Wadim seinen Ärger. „Es läuft!“ schrie er zur Küche hinüber. Die Großmutter kam ans Fenster, schüttelte den Kopf und rief: „Ich dachte, es würde fliegen !“ Der Großvater überhörte den Spott. Er stellte sich vorsichtshalber auf die andere Seite neben das Fohlen. So lernte das Pferdekind laufen. Als es hundertvierundzwanzig Schritte zwischen seiner Mutter und Großvater Wadim gegangen war, versuchte es seinen ersten Galopp. Das Handfegerschwänzchen steil aufgerichtet, hoppelte es den Sandweg entlang zum See. Es
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stakste ganz nahe ans Ufer heran. Plötzlich sah es sein Spiegelbild im Wasser und wäre vor Schreck beinahe in den See gefallen. Der Großvater klopfte ihm zärtlich auf den Rücken. „Na, ist ja gut. Komm nach Hause." Er band dem Pferdekind einen weichen Ledergurt um den Hals und führte es den Weg zurück zum Haus. „Der Sascha würde seine helle Freude haben an dir!“ brummelte der Großvater wieder. Aber die Ferien begannen ja erst in ein paar Wochen, und wer weiß, ob Sascha nicht lieber ans Schwarze Meer flog oder in ein großes Pionierlager reiste, anstatt in die Waldeinsamkeit zu seinen alten Großeltern zu kommen.
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II „Hat es dir in die Grütze gehagelt, Alter, daß du so ein sauertöpfisches Gesicht ziehst?“ fragte die Großmutter eines Tages ihren Mann, als er von seiner Arbeit aus dem Wald nach Hause kam. „Warum soll mir's in die Grütze hageln, he?“ fragte der Großvater erstaunt zurück. „Es könnte ja sein, daß du dich ärgerst, weil der Sascha nichts von sich hören läßt.“ Großvater Wadim sah seine Frau interessiert an. „Hat jemand angerufen?“ „Nein, nur der Hund hat einmal gebellt“, qntwortete die Großmutter, und es klang wie: Frag nur weiter, alter Graukopf! Doch der Großvater lachte nur lautlos in sich hinein, während er mit einer harten Bürste das Harz von den Händen schrubbte. Dann schlürfte er ins Haus. Das Abendbrot stand schon auf dem Tisch. Den Brief an der
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Teekanne sah Großvater Wadim erst, als er schon aß. Er nahm ihn und las den Absender. Da wußte er, weshalb seine Frau so geheimnisvoll getan hatte. „Vom Sascha, soso.“ Er stellte den Brief wieder hin, als interessiere ihn gar nicht, was darin stand. „Willst du nicht lesen, was dein Enkelkind dir mitzuteilen hat, unhöflicher Mensch, du?“ „Hat er denn etwas mitzuteilen?“ Aber da nahm der Großvater schon den Brief, wischte sich den Mund ab, strich sich über die kurzen, grauen Haare und hustete zweimal. Sascha schrieb: Guten Tag, liebe Großeltern. Ich teile Euch mit, daß ich beschlossen habe, meine großen Ferien in diesem Jahr bei Euch zu verleben. Bestimmt geht der Großvater mit mir zur Wildschweinjagd. Ich will auch tüchtig essen und wandern,
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damit ich groß und stark werde. In der Schule bin ich im Kosmonautenklub, und später werde ich in den Weltraum fliegen. Am Dienstag starte ich. Papa hat für mich einen Platz in einer TU 104 gebucht. Mama hat bei Onkel Michail angerufen. Er wird mich in der Bezirksstadt vom Flugplatz abholen und zum Autobus bringen. Aber zuvor rufen wir noch an, zu welcher Stunde ich an der großen Weggabelung bei Euch ankomme, damit Großvater mich dort mit dem Pferdewagen abholen kann. Herzliche Grüße sendet Euer Enkel Sascha. Und am meisten freue ich mich auf das Fohlen, mit dem ich spielen kann. „Meine Teure, wenn du deinem Alten erklären kannst, woher der Sascha in Moskau weiß, daß wir ein junges Pferd haben, obwohl ich es ihm weder gesagt noch geschrieben habe, dann ernenne ich dich zum Kommandeur unseres ganzen Förstbezir-
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kes. Und der ist groß, wie du weißt.“ Der Großvater trank seinen Topf saure Milch aus und wischte sich bedächtig den Bart. „Das sieht dir ähnlich!“ seufzte die Großmutter. Eigentlich hatte sie den Nachsatz von Saschas Brief abtrennen wollen. Doch dann war ihr das widerwärtig gewesen. Weshalb sollte sie ihren Mann belügen. „Ein Telegramm habe ich mit dem Telefon durchgesagt. Nun weißt du‘s, alter Brummbär! War ja nicht mehr zu ertragen, deine schlechte Laune!“ Großvater Wadim schüttelte den Kopf. „Eine Frau hab ich, so was, so was. Aber erwarte nicht etwa, meine Liebe, daß ich dich für diese eigenmächtigen Vorkehrungen befördern werde.“ Die Großmutter zeigte sich zufrieden. Derweil war die Nacht in den Wald gekrochen. Der Nebel hatte die Bäume ge-
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stohlen; kein einziger war mehr zu sehen. Großvater Wadim pfiff vor der Haustür nach dem Hund. Er überdachte dabei noch einmal den Brief des Jungen. Wildschweine wollte er also jagen, der Bursche! Und womöglich gleich am ersten Tage. „Wann kommt Sascha, steht in dem Brief?“ rief er in die Stube, wo die Großmutter vor dem Fernsehgerät saß. „Am Dienstag, schreibt er. Mit dem Flugzeug! Der leichtsinnige Junge!“ Der Großvater stürzte zum Fenster und reckte seinen Kopf in die Stube. „Dienstag? Und was haben wir heute?“ „Montag. Den ganzen Tag schon“, antwortete die Großmutter geduldig dem aufgeregten Großvater. „Dann kommt er ja schon morgen!“ Die Großmutter nickte.
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III Fünf Minuten vor fünf Uhr kroch der Großvater aus dem Bett. Die Aufregung ließ ihn nicht länger schlafen. Er ging in den Hof, goß fünf Eimer Wasser über den kleinen Bretterwagen und schrubbte ihn sauber. Er spülte ihn ab und stellte ihn in die Sonne zum Trocknen. Die Großmutter rief zum Frühstück. Aber Großvater hatte heute wenig Zeit zum Essen. Der Stall mußte ausgemistet werden. Ein zerbrochenes Zaunsfeld war noch zu nageln. Großvater Wadim fiel plötzlich eine ganze Menge Arbeit ein, die er noch zu erledigen hatte. Jede Minute konnte das Telefon klingeln. Aber das Telefon hatte es nicht so eilig wie der Großvater; es rief ihn erst um elf Uhr fünfundvierzig. Die Großmutter schlachtete gerade ein Huhn. Der Großvater mußte selbst ins Haus laufen. „Hier ist Großvater
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Wadim, Wadim Kusnezow!“ brüllte er in den Hörer. „Guten Tag, Großvater Wadim!“ meldete sich eine aufgeregte Kinderstimme. „Es spricht dein Enkel Sascha. Das Flugzeug ist bald so hoch geflogen wie ein Raumschiff!“ „Soso! Das ist schön, mein Junge. Nun mach dich auf den Weg! Hat dir Michail gezeigt, wo der Bus abfährt?“ „Ich weiß schon alles. Ich kann vom Telefon aus die Haltestelle sehen. Onkel Michail schiebt gerade meinen Koffer unter einen Sitz im Bus. In dreißig Minuten ist Abfahrt.“ Der Großvater rechnete: Dreiviertel zwölf und eine halbe Stunde, und eine Stunde Fahrt bis zur Weggabelung ... „Gut, gut, ich warte also an der Weggabelung auf dich. Und Michail soll dem Busfahrer Bescheid sagen, er hält sonst nicht an.“ Eine Stunde später schirrte Großvater Wadim Pferdemutter Shenja ein und warf ein
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Bund Stroh auf den Wagen. Der Enkel sollte weich sitzen wie in einem Kosmonautensessel. Die Großmutter stand an der Haustür, als das Pferd anzog. Großvater Wadim hockte auf dem Sitzbrett und sang: „Tunja, mein Blümelein, du sollst mein Schätzchen sein, he, Tunja mein!“ „Fall nicht vom Bock, du Opernstar!“ rief ihm die Großmutter nach. Sie ärgerte sich jedesmal, wenn sie dieses Lied hörte, weil sie selbst Tunja hieß. Aber der Großvater sang sein Tunja-Lied, daß die Vögel kreischend von den Bäumen aufflogen. – Sascha hatte während der ganzen Fahrt unentwegt die Handgriffe des Fahrers beobachtet. Er wußte schon gut, mit welchem Hebel zu schalten, mit welchem zu bremsen und mit welchem Knopf die Tür zu öffnen war. ‚Gestatten Sie, Genosse Fahrer, daß ich selbst ein wenig das Lenkrad übernehme!‘ hätte er sagen mögen. Und es
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kam ihm gar nicht gelegen, daß ihn der Großvater wie einen kleinen Jungen vom Trittbrett hob, als der Bus an der Weggabelung gehatten hatte. Großvater Wadim küßte Sascha auf beide Wangen, dann bedankte er sich beim Busfahrer, daß er seinen Enkel gesund hergebracht habe. Der Busfahrer lächelte und sagte: „Es war mir eine Ehre, Großvater!“ Sascha stand verlegen dabei. „Hast du gehört, es war ihm eine Ehre. Dabei hat er heute früh nicht einmal den Staub von seinem Autochen gewischt!“ „Gib nur acht! Du willst schon wieder einmal mit mir zum Zahnarzt fahren, Genosse Kusnezow!“ rief der Fahrer aus der Kabine. „Natürlich.“ Der Großvater war sehr stolz darauf, daß er noch alle Zähne besaß und der Zahnarzt selten damit Arbeit hatte. „Wadim Kusnezow fährt regelmäßig zum Zahnarzt! Bald ist es wieder soweit!“
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„Dann wird mein Bus wohl nächste Woche nicht hier halten.“ Der Fahrer drückte auf den entsprechenden Knopf. Rums! schlug die Tür zu. „Es könnte nämlich sein, ich habe ein Stäubchen an den Rädern!“ „Hör dir dieses Großmaul an!“ sagte der Großvater zu seinem Enkel. „Dabei war der Mensch im Krieg Pilot und hat drei Tapferkeitsmedaillen bekommen!“ Der Busfahrer war versöhnt und fuhr ab. Großvater Wadim hob Saschas Koffer auf den Wagen. „So, mein Junge, jetzt wollen wir mal wieder anspannen. Großmutter wird warten.“ Sascha nickte. Er lief zu Shenja und faßte sie vorsichtig am Zaumzeug. „Bist gewachsen, Bursche, schlank und gerade wie eine Birke!“ Zufrieden sah Großvater Wadim dem Enkel zu. Gemeinsam schirrten sie Shenja vor den Wagen. „Das Fohlen ist wohl zu Hause im Stall!“ „Hm. Es ist noch zu tapsig auf seinen
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Stakelbeinen für einen Trab neben dem Wagen her.“ „Aber Zucker darf es doch fressen?“ Sascha hatte extra für das Pferdekind zwei Startbonbons von der Stewardeß aus dem Flugzeug gebettelt. „Du bist mir schon einer!“ Der Großvater schüttelte lachend den Kopf. „So ein Fohlen hält noch nichts von Zuckerzeug. Nicht einmal an Gras und Hafer will es so richtig heran. Am liebsten trinkt es sich von früh bis abends bei seiner Mutter satt.“ Großvater hielt schon die Zügel in der Hand. „Nun steig auf, und sieh mich nicht so traurig an. Es wächst ja noch! – Vielleicht willst du auch selbst kutschieren, was?“ Sascha nickte. „Na also!“ Kaum hatte sich Sascha auf dem Sitzbrett zurechtgerückt, da trabte Shenja los. Nicht langsamer und nicht schneller, als sie es
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vom Großvater her gewohnt ward. Aber das wußte Sascha nicht. Krampfhaft hielt er die Zügel in den Händen und blickte starr auf den weichen, sandigen Waldweg vor sich. Hinten auf dem Wagen hockte Großvater Wadim neben dem Koffer im Stroh und pfiff vergnügt das Tunja-Lied.
IV Am Morgen, als der Stadtjunge in dem einsamen Häuschen erwachte, war ihm, als flüsterte der Wald: „Sascha, steh auf!“ Und die Vögel zwitscherten: „Sascha, die Sonne scheint!“ Und der Hund bellte: „Sascha, Sascha, wo bleibst du?“ Und das Fohlen wieherte: „Komm heraus, Sascha, komm!“ Die Großmutter schloß leise das Kammerfenster. Der Junge, solle sich ausschlafen,
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sagte sie in der Küche zum Großvater. Sie wolle, daß er groß und stark werde in den Ferien. Seine Eltern sollten staunen, wie gut erholt er nach Moskau zurückkomme. „Der Junge ist keine Neujahrsgans, die gemästet werden muß!“ brummte der Großvater. „Papperlapapp, was verstehst du davon!“ entgegnete die Großmutter. Sascha war inzwischen schon aus dem Bett gekrochen. Unter der Wasserpumpe im Hof wusch er sich zuerst den Schlaf vom Gesicht, dann rübbelte er sich von oben bis unten mit dem kalten Wasser ab. Kosmonautentrainig! nannte das Sascha. Und danach wollte er jeden Morgen mit Großvater frühstücken. Die Großmutter stellte ihm eine Schüssel voll Suppe auf den Tisch. Wer stark werden will, muß am Morgen Mehlsuppe essen! Der Großvater schnitt sich Häppchen von
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einer dicken Brotscheibe, spießte sie an, stippte sie in seinen Milchtopf, dann in den Zucker und steckte die süßen Brocken in den Mund. Als Sascha seine Suppe aufgegessen hatte, nahm er sich auch eine Scheibe Brot und begann es dem Großvater gleichzutun. Die Großmutter sagte: „Iß du lieber richtig! Der Großvater will nur seine schönen Zähne schonen. Er ist ein alter Partisan, den ändern wir nicht mehr.“ „Großvater!“ Saschas dunkle Augen blickten mit einem Male ganz erschrocken. „Ich habe ja etwas vergessen!“ Onkel Michail hatte ihm nämlich erzählt, daß er nach Berlin an einen deutschen Kommunisten geschrieben hatte, der im Kriege Seite an Seite mit Großvater kämpfte. „Ich soll dir ausrichten, daß Onkel Michail Antwort auf seinen Brief bekommen hat.“ „Ah!“ Großvater Wadim hielt ein, auf
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seinem Zuckerbrot zu kauen. „Und weiter?“ Sascha dachte angestrengt nach. „Ich glaube, weiter war nichts.“ „Nun hört euch das an: Weiter war nichts! Und so einer will Kosmonaut werden. Am Ende vergißt er unterwegs, wohin sein Raumschiff fliegen sollte!“ Großvater lächelte ein klein wenig mit den Augen. Das verwirrte Sascha noch mehr. „So eine Antwort kann doch gut gewesen sein oder schlecht, mein Junge“, versuchte die Großmutter ihrem Sascha auf die Sprünge zu helfen. „Ja. Ja, sie war gut! Jetzt weiß ich es wieder! Onkel Michail hat gesagt, die deutschen Genossen wollten ihm helfen, den Mann zu finden.“ Sascha atmete auf, weil ihm noch alles richtig eingefallen war. „Großvater, was ist das für ein Mann, den Onkel Michail sucht? Ein Deutscher?“
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„Ja, ein Deutscher.“ „Ein Feind oder ein Freund?“ Sascha wartete gespannt auf die Antwort. „Ein Freund.“ Es war dem Großvater anzusehen, daß er in seinen Erinnerungen spazierte, die so alt waren wie die großen Birken hinter dem Haus. Nur ganz selten ließ der Großvater jemanden hinein in seinen Erinnerungswald. Er hatte einen Zaun aus Schweigen darum gebaut. „Damals im Krieg, als jener Deutsche bei uns auftauchte, war Großvater bei den Partisanen“, erzählte die Großmutter leise. „Den ganzen Wald hier haben sie beherrscht. Dein Großvater war der Kommandeur.“ Wortlos stand Großvater Wadim auf, ging zum Schrank und brachte von dort eine kleine Holzschachtel zum Tisch. Sascha durfte sie öffnen. Es lagen zwei Orden darin. Der Junge hob sie staunend heraus.
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„Großvater steckt sie nur an, wenn er zur Oktoberfeier oder zum Ersten Mai in die Stadt fährt.“ Die Großmutter blies sorgsam ein Staubflöckchen aus der Schachtel. Sascha hielt sich einen Orden an sein weißes Hemd. „Sehr gut!“ sagte er zufrieden. „Wenn ich erst Kosmonaut bin, werde ich mir auch einen oder zwei Orden verdienen.“ „Auf die Auszeichnungen kommt es nicht an. Nur auf die Taten! Immer und überall werden nur die Taten gezählt. Und wenn du dir Ruhm und Ehre erwerben willst, mein Junge, dann bringst du mir zu Mittag das Essen hinaus. Ich bin bei den jungen Lärchen, am dritten Weg hinter dem See!“ Obwohl der Großvater meist allein im Walde arbeitete, hielt er stets darauf, pünktlich zu sein. Sascha hörte schon bald ein kurzes, wieherndes Rufen Shenjas und die helle Antwort des Fohlens. Als er aus
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dem Fenster schaute, war der Großvater mit der Pferdemutter samt ihrem Fohlen bereits davongaloppiert. Sascha war ein bißchen enttäuscht, daß er zurückbleiben mußte. Er stellte das Schächtelchen mit den Orden in den Schrank zurück und fragte die Großmutter, was mit dem Deutschen gewesen sei, von dem der Großvater gesprochen hatte. Aber die Großmutter sagte, sie wolle nicht in Großvaters Geschichten herumkramen; am Ende würde sie eine ganz falsche erzählen. Dann ging sie in den Stall und fütterte die Kuh mit Klee, den der Großvater am frühen Morgen gehauen hatte. Sascha fegte mit dem Rutenbesen den kurzen Stallgang, bis kein Strohhälmchen mehr zu sehen war. Da hatte er sich auf das Fohlen gefreut wie auf einen richtigen Spielgefährten, und nun lief es einfach mit seiner Mutter davon in den Wald. Tag für Tag konnte es draußen
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mit der Stute spielen und herumstrolchen, bis der Großvater am Abend heimritt. „Das Fohlen hat es gut hier bei euch“, sagte Sascha. „Ein richtiger Glückspilz ist es.“ „Ein Glückspilz?“ Die Großmutter saß unter der Kuh und ließ die Milch aus dem Euter in den Eimer strahlen. „Ein GIückspilz. Wahrhaftig! Und da haben wir hin und her überlegt mit dem Großvater, wie wir das Pferdchen nennen sollen.“ „Soll es denn Glückspilz heißen?“ „Warum nicht; wenn du es gern möchtest?“ „Vielleicht ist Großvater nicht mit diesem Namen einverstanden.“ „Da mach dir nur keine Sorgen. Er hätte sicher nicht einmal etwas dagegen, wenn du es Hasenpfeffer nennen wolltest.“ Sascha lehnte sich an die Stalltür und sah zu, wie die Großmutter die Kuh molk. Gewiß langweilt sich der Junge hier im Haus bei mir alten Frau, überlegte die Groß-
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mutter. Ich werde ihn bitten, im See Fische zu fangen für eine Fischsuppe am Abend. Wenn der Mensch eine Aufgabe hat, ist er gleich viel glücklicher. Das Fischen war schon etwas für Sascha. Er ruderte den schweren geteerten Kahn erst ein Stück auf den See hinaus und ließ ihn dann treiben. Glucksend schlugen die eiligen kleinen Wellen an die Bootsplanken. Sascha lag rücklings auf den Boden-brettern des Kahnes und lauschte auf die ungewohnte Stille. Wie beim Einsamkeits-training für Kosmonauten! Ja, genau so! dachte er zufrieden und vergaß darüber, das Fohlen zu beneiden. Zu Mitttag brachte die Großmutter die Tasche mit den Essentöpfen an den See hinunter. „Der braune Topf ist für Großvater, der blaue für dich!“ Sascha nickte und band ein bißchen verlegen den Kahn fest. Er hatte vor lauter Kosmonauten
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training nicht einen einzigen Fisch gefangen. Die Großmutter schaute ihm lächelnd nach, wie rasch auf dem warmen Sandweg davonlief. Als Sascha beim Großvater auf der Lärchenschonung ankam, stand das Pferdekind neben seiner Mutter und trank. „Es heißt Glückspilz!“ sagte Sascha zum Großvater. „Soso. Glückspilz. Ein schöner Name. Hast du dir ausgedacht, was?“ Sascha nickte stolz, daß dem Großvater der Name so gut gefiel. Er packte die Tasche aus und sagte besorgt: „Du bist sicher schon sehr hungrig, nicht wahr, Großvater?“ Sie aßen ihre Töpfe leer. Die Sonne schien in den Wald. Das Fohlen, satt und übermütig, tollte mit kleinen Sätzen um sie herum. „Glückspilz!“ rief es Sascha immer wieder. „Glückspilz!“ Da sprang es
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plötzlich von hinten an den Jungen heran und zwackte ihn mit seiner kleinen Samtschnauze in die nackte Schulter. Sascha wollte sich totlachen. Pferdemutter Shenja hob den Kopf und schaute verwundert herüber. Am nächsten Morgen ging Sascha wieder fischen, und am Mittag brachte er Großvater das Essen in den Wald. Dann übte er mit Glückspilz Auf-den-NamenHören, bis Großvaters Mittagspause vorüber war. Und der dritte Tag verlief wie der erste und der zweite. Da sagte die Großmutter am Abend zu ihrem Mann: „Bestimmt ist es dem Jungen langweilig bei uns!“ Der Großvater erschrak und wollte es der Frau ausreden. „Doch, doch!" behauptete sie fest. „Denk dir was aus, Graukopf, was ihm Spaß macht! Bis morgen früh wird dir schon etwas eingefallen sein.“
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Kopfschüttelnd ging Großvater vor die Tür. Er pfiff dem Hund. Der Hund kam und ließ sich kraulen. Aber auf die Frage, wie man einem Stadtjungen hier im Walde die Zeit vertreiben könnte, wußte er auch keine Antwort.
V Am nächsten Morgen stand Großvater Wadim sehr zeitig auf. Er rasierte sich gründlich, als müßte er zum Zahnarzt fahren oder als sei Sonntag. Dabei ging er behutsam auf Zehenspitzen, pfiff ganz leise sein Tunja-Lied und wurde immer fröhlicher dabei. Am liebsten hätte er laut gesungen, aber die Großmutter und der Junge sollten nicht aufwachen. Jetzt noch nicht! Aus dem Schrank nahm Großvater seine
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alte Soldatenbluse. Er steckte seine beiden Orden an die sandfarbene Uniformjacke und band sogar den braunen Ledergurt um. Auf dem Oberboden fand er ein Käppi, einen leergeschossenen Patronengurt und ein Paar Gummistiefel, die der Großmutter zu klein waren. Irgendwo mußte auch noch ein Zaumzeug von Shenjas vorigem Pferdekind liegen. Großvater fand es im Heuschuppen. Es war verstaubt und mußte erst gründlich geputzt werden. Glückspilz schüttelte sich und sprang umher wie ein junger Ziegenbock, als ihm der Großvater das Halfter über den Kopf streifte. Pferdemutter Shenja wieherte leise und beruhigend. Draußen glitzerte noch der Tau im Gras. Der Großvater band Glückspilz mit den Zügeln an das Hofgatter. Dann nahm er breitbeinig Aufstellung und blies in sein blankgeputztes Jagdhorn, daß die Vögel
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aufkreischten und davonstoben. Das Fohlen erschrak und tänzelte aufgeregt an dem kurzgebundenen Zügel. Die Hühner liefen gackernd nach allen Seiten auseinander. Der Hund sprang mit drei Sätzen herbei und bellte. Was war nur mit dem Großvater los? Sascha erwachte von dem Hornsignal. Die Großmutter riß die Tür zur Kammer auf: „Schnell, zieh dich an; der Großvater bläst Alarm!“ Sascha sprang in die Hosen. Das Hemd wollte und wollte nicht über den Kopf. Als er endlich hinter, der Großmutter über die Haustürschwelle stolperte, kommandierte der Großvater: „Alles angetreten.“ Sascha und Großmutter Valentina stellten sich nebeneinander auf. „Genossen!“ sagte der Großvater mit beinahe ernstem Gesicht. „Ich habe den Auftrag, dem jungen Kosmonauten Sascha
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Dimitriew ein besonderes Lob auszusprechen. Er hat freiwillig, und obwohl er außer Dienst war, das Essen für den Kommandeur in die vorderste Stellung gebracht und sich dabei durch besondere Pünktlichkeit ausgezeichnet!“ Die Großmutter hielt mit Mühe das Lachen zurück. Was hatte sich der alte Graukopf da bloß wieder einfallen lassen! Der Großvater-Kommandeur sprach unbeirrt weiter: „Der Kosmonaut Sascha Dimitriew wird deshalb hiermit zum Sergeanten ernannt. Treten Sie vor, Genosse Dimitriew!“ Sascha trat zwei Schritte vor. Der Kommandeur setzte ihm das Käppi auf. Es war ein bißchen zu groß. Der Patronengurt war zwar leer, aber paßte schon besser. Und erst die Schrotflinte! Es war ihr beinahe nicht anzusehen, daß der Abzugshahn fehlte.
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Sascha strahlte. Er wollte sagen: Prima Großvater, was du dir da ausgedacht hast. Aber konnte er als Sergeant seinen Kommandeur einfach Großvater nennen? Also zog er schweigend die Gummistiefel an. Mit steifen Knien lief er drei Schritte nach links und drei Schritte nach rechts. Wie das Fohlen stakste er! „Sergeant Dimitriew. Sie erhalten im Auftrage unseres Bataillons das Pferd Glückspilz zugeteilt. Für ihre weiteren dienstlichen Aufgaben steht es ihnen Tag und Nacht zur Verfügung. Sie sind persönlich für seine Sicherheit verantwortlich!“ „Jawohl, Genosse Kommandeur!“, rief Sascha und wäre beinahe umgefallen, so gerade machte er seine Beine. Der Kommandeur band das Fohlen los und übergab Sascha die Zügel. Sascha fragte, ob er auf seinem Glückspilz auch reiten dürfe.
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„Mein lieber Genosse Sergeant“, erklärte der Großvater, „es ist nicht üblich, Fohlen zu reiten. Außerdem würde es sich so etwas gar nicht gefallen lassen.“ Und damit war die feierliche Handlung beendet. „Nun tummle dich, Sergeant!“ sagte die Großmutter. „In einer Viertelstunde wird gefrühstückt!“ Sascha stand neben seinem Fohlen und wußte nicht recht, wie ihm geschehen war. Glückspilz knabberte mit seinen weichen Milchzähnen neugierig am Schaftrand der Gummistiefel. Seine kleine weiche Schnauze kitzelte Sascha in den Kniekehlen. „Du bist mir ja einer.“ Sascha kraulte das Fohlen zärtlich zwischen den Ohren, wo schon die Mähnenhaare aus dem wolligen Fell sprossen. „Komm, ich bring dich zu deiner Mutter. Die hat etwas Besseres für dich, wenn du hungrig bist.“
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Für Sascha hatte Großmutter zum Frühstück die übliche Starkwerdesuppe und dazu noch Roggenbrot, Speck und saure Gurke, wie es ein Sergeant haben muß. Auch das Fohlen, erfuhr Sascha vom Großvater, sei jetzt groß genug, sich allmählich an richtige Pferdekost zu gewöhnen. Sascha solle es nur fleißig zum Weiden führen. Die Großmutter würde ihm die Flecke zeigen, auf denen besonders weiche und würzige Gräser wüchsen. Nun gut, dachte Sascha. Aber bevor ich mit ihm auf die Weide kann, muß es erst noch etwas Gehorsam und vor allem seinen Namen lernen. Sascha mühte sich den ganzen Vormittag, aber das Fohlen konnte sich seinen Namen Glückspilz nicht merken. Sascha brachte ihm sein Käppi randvoll gefüllt mit Gräsern für Pferdekinder. Glückspilz schnupperte lange daran. Ein paar kaute er ein bißchen
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und spuckte sie dann wieder aus. Nur von einer bestimmten Sorte schluckte er welche hinunter. „Brav, Glückspilz!“ lobte Sascha. „Komm, Glückspilz!“ Er zupfte die gewissen Halme aus dem Käppi. Glückspilz nahm sie aus Saschas Hand. Da stürzte der Junge aufgeregt davon. Als er zurückkam, war sein Käppi gefüllt mit Glückspilz’ Lieblingsgräsern. Sascha blieb an der Stalltür stehen. „Glückspilz!“ rief er. Das Fohlen kam nicht. Sascha streckte die Hände mit dem Käppi vor, damit das Fohlen die Gräser besser wittern könnte. „Glückspilz! Glückspilz, komm doch!“ Das Pferdchen wälzte sich übermütig in der Strohbucht, in der seine Mutter während der Nacht gelegen hatte. Ach du! dachte Sascha. Du kannst einem auch alles verderben! Was soll ein Sergeant mit einem Pferd, das seinen Befehlen nicht gehorcht? „Und wenn ich dich nun mal
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rufen muß, he? Wenn du dich vielleicht einmal im Walde verirrst?“ Das Fohlen kam steifbeinig hoch. Es schüttelte sich und wedelte mit seinem struppigen Schwänzchen. Genau zwölf Uhr null null erhielt Sascha von der Großmutter den Auftrag, das Essen aus der Feldküche des Bataillonsgefechtsstandes zum Kommandeur in die vorderste Stellung zu bringen. Es war ein gefährlicher Auftrag. Erst gestern hatte der Großvater beim Ausholzen der Lärchenschonung zwei Wildschweine aufgestöbert. Sascha bewaffnete sich gut. Großvater sollte keine Angst um ihn haben. Sogar Glückspilz ließ sich folgsam am Zügel führen. Sascha war sehr zufrieden. Und die Birken am Weg flüsterten einander zu: „Verneigt euch, verneigt euch, ihr Weißstämme! Der neue Sergeant geht durch den Wald. Seht diesen tapferen Burschen!
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Kerzengerade geht er, und die Stiefel reichen ihm bis an die Knie!“ Da neigten alle Birken, die kleinen und die großen, ihre grünblättrigen Wipfel; denn der Wind blies heute stärker als sonst. „Am liebsten möchte ich dich mit nach Moskau nehmen!“ sagte Sascha zu Glückspilz. „Jeden Tag könnten wir dann, wenn du groß bist, über den Roten Platz reiten. Alle Leute würden uns bestaunen. Aber Hufeisen müßtest du tragen, sonst stößt du dir die Hufe wund. Vor den Autos brauchtest du kein bißchen Angst zu haben ...“ Sascha kam nicht dazu, Glückspilz genau zu erklären, weshalb. Das Fohlen preschte so plötzlich vor, daß Sascha die Halfterleine aus den Fingern glitt. Dann hörte auch er deutlich Pferdemutter Shenja wiehern. „Glückspilz!“ rief Sascha. „Glückspilz!“ Was sollte nur der Großvater von seinem
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Sergeanten denken. „Ich befehle dir, komm zurück, Glückspilz!“ schrie Sascha. Er machte größere Schritte. Das umgehängte Gewehr schlug ihn in die Beine. Und die Tasche mit den Essentöpfen zerrte ärger als zuvor an den Armen. Von dem Fohlen war kein Schwanzzipfelchen mehr zu sehen. Sascha biß die Zähne aufeinander. Ein Sergeant heult nicht! Ein Sergeant gibt acht, daß er wenigstens das Essen nicht verschüttet. Nur ein kleines bißchen, blinzelte Sascha zu den beiden Pferden hinüber, bevor er dem Kommandeur meldete: „Befehl ausgeführt. Melde, es gibt Meerrettichfleisch und Klöße!“ „Tüchtig, mein Junge, sehr tüchtig!“ Großvater Wadim strich Sascha die Haare aus der Stirn zurück. Zufrieden und brüderlich teilten sie die Klöße miteinander.
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Glückspilz ließ sich von Pferdemutter Shenja putzen.
VI Jeden Mittag erhielt der Sergeant von seinem Kommandeur einen neuen Auftrag. Diesmal lautete er: „Sichern Sie die Stellung gegen das Eindringen der Schwarzkittel!“ Sascha stapfte rundum durch die Lärchenschonung. Die grünen Nadelpinsel streiften ihm weich über Gesicht, Hals und Arme. Mit dem hölzernen Kolben der Schrotflinte schlug er gegen die schlanken Stämme der jungen Bäume. Das dröhnte nicht, sondern sang ganz leise. Sascha schrie dazu: „He! Hallo! He!“ Kein Wildschwein, das dieser wilde Ruf nicht fürchten machte. Sascha konnte sich beruhigt ins
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Gras legen, dort, wo es dicht und feinfädig war wie Mutters Pelzmantel. Leichtfüßig huschten die Gedanken zu, den Schulgefährten in Moskau. Zu Onkel Michail. Und schon waren sie wieder bei dem geheimnisvollen Deutschen und umsponnen ihn mit einem wirren, undurchdringlichen Netz. „Erzählst du mir heute von Onkel Michail und dem Deutschen?“ fragte Sascha am Nachmittag auf dem Heimweg, als er Pferdemutter Shenja reiten durfte. Der Kommandeur, der gemächlich mit dem Fohlen neben Sascha herging, blickte nur schweigend zu dem Sergeanten hoch. Neugier war dem Großvater zuwider wie den Schwarzkitteln der Jäger. Sicher war es leichter, den übermütigen Glückspilz in der Koppel hinter dem Haus einzufangen, als in Großvaters Erinnerungswald einzudringen. Und Großmutter
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sagte immer: „Die Zeit bringt alles, wenn man warten kann.“ Aber hatte Sascha so viel Zeit? Schon ab morgen würde alles anders sein. Ab morgen bereitete Großvater für die Holzfällerbrigade den Einschlag einer Waldfläche hinter den Sumpfwiesen vor. Der Weg dorthin war gefahrvoll. Viel zu gefahrvoll für einen Stadtjungen mit einem Fohlen. Der Sergeant sollte deshalb den Bataillonsgefechtsstand befehligen, von morgens bis zu Großvaters Rückkehr am Abend. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, gewiß. Sogar die Großmutter und die Feldküche waren Sascha unterstellt. Aber der Kommandeur würde am Abend sicher über seiner Müdigkeit das Erzählen vergessen. Sascha ließ die Beine baumeln. Als die Gummistiefel dabei die Stute in die Rippen stießen, nahm sie das als Aufforderung
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und galoppierte davon, daß der Sand unter ihren Hufen aufstob. Großvater sah schmunzelnd hinter seinem Enkel her. „So ist das, mein Lieber“, sagte er zu dem Fohlen. „Es will alles gelernt sein.“ Mit Feuereifer stürzte sich Sascha in seine neue Aufgabe als Befehlshaber des Bataillonsgefechtsstandes. Glückspilz kam ein bißchen kurz dabei. Gut, gut, Sascha pflegte ihn ordentlich und führte ihn zu seinen Lieblingsgräsern. Doch die meiste Zeit steckte das Fohlen in seiner Koppel hinter dem Haus. Oft stand es dort, breitbeinig, und ließ ratlos den Kopf hängen. Sascha hatte so ein ganz, ganz kleines bißchen die Lust an Glückspilz verloren. Zugegeben, allzuviel kann so ein Sergeant noch nicht mit einem Fohlen anfangen. Und Sascha hatte tausend neue große Pläne! Da war doch die Großmutter
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eines Morgens ernsthaft wegen des Wetters in Sorge geraten. Sascha hatte ihr erst erklären müssen, daß nur Zirrokumu-luswolken am Himmel zu sehen seien, die sich in einer Höhe von mindestens sechstausend Metern befänden, wogegen sich Regenwolken höchstens auf zweitausend Meter Höhe bewegen würden. Die Großmutter hatte dazu ein Gesicht gemacht, als müßte sie erfahren, daß die Wiese vor ihrem Haus gar nicht grün, sondern in Wirklichkeit rot sei. Sascha beschloß ohne langes Für und Wider, auf dem kleinen Hügel hinter dem Haus eine meteorologische Station einzurichten. Eine meteorologische Station ist für einen Kosmonauten, was für die Großmutter die Zwiebeln in der Küche sind. Eine Windfahne, sagte die Großmutter, hätten sie irgendwann schon einmal besessen. So geriet Sascha auf den Oberboden.
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Schrift für Schritt tastete er sich die Leiter zur Bodenluke hinauf. Lautlos und gespenstisch schwebten Staubkörnchen in dem einzigen Streifen Sonnnenlicht, der durch das kleine Giebelfenster drang. Sascha fand eine alte Truhe, eisenbeschlagen, mit geteerter Leinwänd bezogen. Er zuckte zusammen, als er gegen eine verbeulte eiserne Windlaterne stieß. Er träumte sich als Kosmonaut, der auf einem noch unbekannten Stern gelandet war. Oder hatte doch schon jemand vor ihm diesen geheimnisvollen Planeten entdeckt? Ein festverschnürtes, in Ölpapier gepacktes Bündel stach irgendwie neu von den Kisten und Kästen, den zwei zerbrochenen Stühlen und der alten Lampe ab. Ganz fremd sah es aus, wie eine Botschaft, die ein unbekannter Weltraum-forscher eigens für Sascha hinterlassen hatte. Sascha versuchte, das rätselhafte Paket zu
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öffnen. Er fand einen Packen Netze in dem Ölpapier. Fein geknüpftes Netzzeug aus gewachsten Hanffäden. Und auf der Stelle wuchs in Sascha ein neuer, gewaltiger Plan. Er würde den Bataillonsgefechtsstand in ein Fischereikombinat verwandeln. Karpfen und Hechte gab es genug im See. Großmutter mußte die Verarbeitungsstation übernehmen. Karpfen in Gelee. Karpfen geräuchert. Hecht gedörrt. Dörrfisch soll den Tschuktschen-Eskimos die Zähne stark und weiß erhalten! Sascha rannte los, der Großmutter seine neuen Befehle zu erteilen.
VII Das Bündel Netzzeug war kein Fischnetz, sondern eine Hängematte. Onkel Michail hatte sie für seinen nächsten Urlaub im
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Waldhaus auf dem Oberboden verwahrt. Mit dem Fischereikombinat würde es also nichts werden. „Du hast ja noch die Wetterstation einzurichten, mein Junge“, tröstete die Großmutter. Sie knotete die Hängematte mit den dicken Hanfseilen an den beiden Enden zwischen zwei Birken am Waldrand. „Vor allem ist es nötig, daß ein kommandierender Sergeant auch seine Ruhestunden hat.“ Die Großmutter lächelte Sascha zu, daß die vielen kleinen Falten um ihre Augen noch dichter wurden. „Und heute mittag koch ich dir Sauerkraut.“ Sascha blickte der Großmutter nicht nach, als sie wieder ins Haus ging. Wie ein kleines trauriges Kind ließ er sich in der Hängematte hin und her schwingen. Warm schien die Sonne auf, ihn herab. Sascha hörte die Stare schwatzen und die dicken Hummeln summen. Allmählich verflog sein
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Kummer, obwohl nicht das leiseste Windchen wehte. Ganz sacht schwang die Hängematte, ganz leise ächzten die Seile. Dann hörte Sascha Schritte im Gras. Ein Schatten fiel auf seine sonnenwarme Brust. Aber so schnell konnte er gar nicht die Augen öffnen, wie ihm eine nasse, rauhe Pferdezunge mitten übers Gesicht leckte. Sascha schwang die Beine aus der Hängematte, daß er sich beinahe dabei überschlug. Glückspilz schüttelte sein Stummelschwänzchen und wieherte leise, als wollte er Sascha auslachen. Mit kurzen Sätzen sprang er ein Stück davon. Aber Sascha verstand wohl die Aufforderung nicht. Er sah plötzlich aus wie einer, der soeben entdeckt hatte, daß seine Schultasche laufen konnte. Er warf sich in das hanfene Netz zurück und begann heftig zu schwingen. Glückspilz wieherte ein bißchen lauter, ungeduldiger.
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„Na, was ist?“ rief Sascha. „Ich kann dich nicht mit in die Hängematte nehmen!“ Und schon schaukelte er weiter. Schneller, immer schneller. Lauter knarrten die Seile. Glückspilz kam neugierig wieder heran. „Nun geh schon! Geh fort!“ schrie Sascha. Wie sollte er jetzt Zeit haben, sich um das Pferdchen zu kümmern! Seine Finger waren klammweiß, so fest hielt er über sich die Öffnung der Hängematte zu. Hin und her, hin und her, und jetzt – der erste Überschlag! Ein wenig blieb dabei der Atem aus. Was machte es? Gleich noch einmal: hin und her, hin und her, und nun –der nächste Überschlag. Die ganze Wiese, die feste grüne Wiese und die Birken kreisten um Sascha. Daß noch keiner vor ihm auf diesen Gedanken gekommen war: Schwerelosigkeitstraining in der Hängematte! Sascha stieg aus dem Riesennetz, weil die
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Wiese nun wieder fest und grün unter ihm war, wo sie hingehörte. Auf der Stelle wollte er nach Moskau an seine Freunde schreiben! Als Sascha an Glückspilz Koppel vorbeikam, sah er, daß der Balken am Einlaß nicht vorgelegt war. Auch die Tür im Hofgatter stand offen. Sascha blickte zurück zu den Birken. Er lief zum Stall. Er rannte um das Haus und noch einmal in den Stall. Glückspilz war nicht zu finden. Und wer hatte die Koppel offen gelassen? Kein anderer als der Sergeant Sascha Dimitriew, als er es am Morgen eilig hatte, auf den Oberboden zu kommen! Und wer hatte das Pferdekind weggeschickt, wer hatte ihm befohlen wegzulaufen? Die Großmutter lehnte aus dem Fenster. „Was suchst du denn?“ „Das Fohlen ist nicht da! Es ist überhaupt nirgends zu sehen!“
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„Es wird nicht weit gelaufen sein. Sieh hinunter zum See, sicher ist es dort.“ Sascha rannte den Sandweg zum See hinunter. Das Pferdekind war nirgends zu sehen. Sascha rief es bei seinem Namen. Nicht das leiseste Wiehern antwortete ihm. Sascha suchte im Wald. Sonnenlichtdurchwirkt schimmerte das grüne Laubdach. Er kniete sich und lauschte dicht über dem Pfad. Er lauschte lange, wie es ihn der Großvater gelehrt hatte. Nichts. Kein gedämpfter Klang von Pferdehufen nah oder fern. Sascha lief kreuz und quer durch den Wald. Er riß sich die Beine am Brombeergesträuch wund. Glückspilz blieb verschwunden. Was sollte bloß werden? Plötzlich erinnerte sich Sascha: Die Hauptsache ist, du paßt am Morgen gut auf, daß das Fohlen seiner Mutter nicht nachläuft! hatte der Großvater gesagt, als er das erste Mal zu den Sumpfwiesen davonritt.
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Sascha erschrak. Er wollte diese dummen Gedanken nicht wahrhaben. Dann rannte er los. Eine Viertelstunde später entdeckte er das Fohlen. Zwei, drei Meter nur war es abgekommen von dem Weg, der sich durch die Sumpfwiesen schlängelte, von dem Weg, der viel zu gefahrvoll war für einen. Stadtjungen und ein Fohlen. Glückspilz war mit beiden Hinterbeinen in ein Sumpfloch geraten und bis an den Bauch eingesunken. Sein Fell glänzte schweißnaß. Wild schüttelte er, den Kopf, um die Fliegen und Mücken abzuwehren. Als er Sascha auf dem Weg sah, ruckte er die Schultern vor und stapfte mit den Vorderbeinen auf den schwankenden Boden. Wie oft mochte er schon vergebens versucht haben, sich zu befreien? Seine Bewegungen waren kraftlos und müde. Stocksteif, beide Hände an die Wangen gepreßt, starrte Sascha auf das Fohlen.
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Was sollte er tun? Wie konnte er schnell helfen? Großmutter holen? Das würde zu lange dauern. Das Fohlen würde vielleicht inzwischen ganz einsinken. Großvater könnte mit Shenja hergeritten kommen. Wo aber arbeitete er? Großvater war auch zu weit weg! „Warte, Glückspilz, warte! Ich helfe dir.“ Vorsichtig tastete sich Sascha Fuß für Fuß vom Weg in die weite Wiesenfläche hinein, die unter jedem seiner Schritte sacht schwankte. „Ich komme ja schon“, sprach er tröstend dem Fohlen zu. „Ich komme. Aber du warst sehr unvorsichtig, das mußt du zugeben. Allein kämst du hier nicht wieder heraus.“ Dunkelgrüne, harte Binsenspieße stachen gegen Saschas Waden. Über den schillernden braunen Lachen zwischen den harten Grasbuschen stiegen Wolken von Stechmücken auf und fielen gierig über ihn her. Aber es gab auf dieser
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üppigen, trügerischen Wiese Hügelchen, auf denen der Fuß sicheren Halt fand. Auch dort, wo die strauchigen Weiden wuchsen, war der Boden fester. „Siehst du, Glückspilz, so geht es!" Sascha hatte das Fohlen erreicht. Er brach brüchige Äste vom Weidengebüsch und wedelte damit dem Pferdekind die Fliegen von Kopf und Hals. „Nur noch ein paar Minuten, Glückspilz. Sascha weiß einen Ausweg.“ Das Fohlen ruckte verzweifelt Schultern und Vorderbeine nach vorn. Schmatzend zog das Sumpfloch den Pferdekörper eine Handbreit tiefer hinab. Glückspilz wieherte dünn und schrill. Kaltes Entsetzen packte Sascha. Er stürzte zum Schlängelpfad zurück, sank bis zu den Knöcheln in die nasse Wiese, stolperte, stürzte, raffte sich auf. Er mußte helfen, retten! Am Pfad standen Birken, junge noch, die den Weg kenn zeichneten. Sascha brauchte die Birken.
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Mindestens zwei. Er bog die Birken, bis sie brachen. Wie eine schwere Last fühlte Sascha die Mittagsglut auf seinen Schultern. Der Durst klebte ihm die Zunge an den Gaumen. Schweigend arbeitete Sascha. Von der Seite schob er die zwei Birken unter das Pferdekind. Aber er brauchte noch zwei. Und er brauchte Weidengesträuch und fest zusammengedrehte Bündel aus Zweigen. All das drückte er unter Glückspilz. Dabei probierte er wieder und wieder, ob er genug Halt auf der Unterlage fand, ob die Birkenstämme ihn und das Fohlen wie eine Brücke vor dem Absinken bewahren würden. Wenn die Brücke nun nicht, trug? Wenn. Sascha auch in das Sumpfloch rutschte? Sascha richtete sich zitternd auf. Ganz plötzlich war die Angst gekommen und schüttelte ihn.
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Sascha zerbiß die Angst. Sie schmeckte salzig, von den Tränen, die aus den Augen liefen, ohne daß er es merkte. Er hockte sich ganz klein zusammen. Wie ein Krebs schob er sich langsam rückwärts unter das Tier. Stück für Stück fühlte er die atmende, zitternde Last drückender auf sich. Aber das Fohlen fand Halt auf Sascha und begann wohl zu spüren, wie ihm der Junge helfen wollte. Vorsichtig bewegte es die Hinterbeine. Sascha versuchte, sich auf die Ellenbogen zu stützen. Die harten Weidenzweige schnitten ihm in die Haut. Die Brücke unter ihm schwankte und – kippte! Aber nein, das Fohlen hatte nur das linke Hinterbein auf die Unterlage heben können. Sascha stemmte sich keuchend noch ein Stückchen höher und drückte das Fohlen dabei nach vorn, bis es auch mit dem rechten Hinterbein Halt fand. Am Halsgurt führte Sascha das erschöpfte
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Pferdchen aus den Sumpfwiesen hinaus. Mit seinem Hemd rubbelte er es trocken. „Man könnte heulen vor Freude, wenn man nicht ein Sergeant wäre, mein Lieber. Bestimmt!“ Glückspilz legte seine weiche Samtschnauze müde auf die Jungenschulter.
VIII Auf den Tellern dampften die Bratkartoffeln. Großvater stach sich dazu mit dem Löffel Stückchen von der Sauermilch, die wie ein dicker Kuchen auf dem Molkenwasser schwamm. Er aß schweigend und bedächtig. Auch Sascha löffelte schweigend. Ohne den Kopf zu heben, blickte er hin und wieder schnell auf Großvaters Gesicht. Aber es war nicht zu sehen, was der Kommandeur dachte.
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Allein die Großmutter redete. Sie redete, um ihrem Sascha das Herz leichter zu machen. „Iß nur, iß!“ sagte sie. „Du hast es dir heute besonders verdient." Sascha senkte den Kopf beschämt noch tiefer. Die Großmutter hatte an dem Schmutzbündel, das er ihr gebracht hatte, ihre Kunst versucht und wieder ein Hemd daraus gezaubert. Weiß wie die Daunen ihrer Gänse flatterte es an der Leine im Grasgarten. Glückspilz stand geputzt in seinem Stall. Kein Stäubchen war an ihm zu finden. Daß sein Haar glanzlos war und struppig, lag nicht an Sascha. Fohlen verlieren ihr erstes Haar bald; erst das zweite dankt die Pflege. Die Großmutter schob ihrem Wadim die Sauergurken über den Tisch. „Nimmst du noch eine, Graukopf?“ Aber so, wie sie fragte, klang es eher nach: Nun mach endlich den Mund auf und rede!
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Der Großvater aß schweigend weiter. So ein Junge! dachte er zufrieden. Holt ganz allein das Fohlen aus dem Sumpf. Reibt es mit seinem Hemd trocken! Tapfer, wirklich tapfer! Aber das war eben nur das eine. Auf das andere mußte der Junge selbst kommen. Großmutter trug die Schüssel mit den leeren Tellern zum Herd. Großvater brannte sich die Tabakspfeife an. „Wie war das nun genau, Genosse Sergeant. Sie haben – wie mir Ihre Großmutter erzählt hat – dem Fohlen Glückspilz das Leben gerettet?“ Sascha nickte. „Ich habe... Vielmehr, das Fohlen..." „Stottere nicht“, sagte die Großmutter vom Herd her. „Erzähle dem Großvater ruhig genau, wie du das Fohlen befreit hast.“ „Ich habe aber auch vier Birken dazu umbrechen müssen. Die am Weg. Und heute morgen habe ich die Koppel offenge-
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lassen.“ So, jetzt war es gesagt. Jetzt wußte der Großvater genau, woran er war, mit der Heldentat seines Sergeanten. Großvater Wadim schüttelte nur den Kopf. „So ein Bursche! Nein, so ein Bursche!“ Wahrhaftig, man konnte stolz auf ihn sein. „Großmutter“, entschied der Kommandeur, „unser Sergeant hat eine Belohnung verdient. – Gut, er ist ein Kosmonaut in seiner Schule in Moskau, hat Training, wäscht sich jeden Tag mit kaltem Wasser und hat das Fohlen – aus Versehen! – erst weglaufen lassen ... Aber trotzdem, eine Belohnung soll er erhalten!“ Sascha hätte auf der Stelle drei Saltos in der Hängematte drehen mögen. Die Großmutter meinte, er solle sich etwas wünschen. „O ja!“ Sascha hatte gleich einen dringenden Wunsch zur Hand. „Großvater könnte mir die Geschichte ...“ Sascha zögerte.
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Der alte Partisanenkommandeur nickte und setzte sich zurecht. „Also, das war im Krieg. Im Winter. Hinter unserem Wald, auf der anderen Seite der Stadt.“ Großvater wies mit der Tabakspfeife die Richtung. Seine Gedanken machten sich auf den weiten Weg dorthin zurück. „Es war im zweiten Kriegswinter. Der Widerstand unserer Armee, Unmengen Schnee und ein beißender Frost hatten den Vormarsch der Deutschen in diesem Frontabschnitt zum Stehen gebracht. In großer Hast räumten sie ein Dorf hinter der Kampflinie für ihre Herren Generäle als Winterquartier. Sie säuberten es gründlich, wie sie es nannten. Wer noch arbeiten konnte, wurde in ihre Fabriken abtransportiert, und wer dann noch übrigblieb, hatte zu sterben.“ Sascha duckte sich zusammen. Bang lauschte er der Stimme des Großvaters.
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„Einige Kilometer von diesem Dorf entfernt lag einsam, in den lichten Saum des Waldes geduckt, ein Sägewerk. In einem der kleinen Häuschen daneben hauste nur noch ein einarmiger Alter mit seiner Frau. Tag für Tag schnitten die beiden, so gut sie es noch vermochten, das Holz aus ihrem heimatlichen Wald für ihre Feinde. Von Zeit zu Zeit schickten die Deutschen ein Fuhrwerk und luden auf, was sie brauchten. Die beiden Alten waren unsere Verbindungsleute. In ruhigen Nächten, wenn der Einarmige ein vereinbartes Zeichen gegeben hatte, pirschten sich zwei, drei Männer unserer Partisaneneinheit aus dem Wald zum Sägewerk vor. Eines Nachts, die Frau hatte Brot für unsere Einheit gebacken, und meine Genossen waren gerade dabei, es zu verstauen, pfiff ihr Sicherungsposten Alarm. Die Männer krochen in ein vorbereitetes Versteck, das neben der
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Sägewerksbaracke im Schutze eines haushohen Bretterstapels ausgehoben war. Durch das Fernglas sahen sie einen Mann vom Dorfe her auf das Sägewerk zukommen. Der Mann schleppte eine Last mit sich. Er nutzte jede Deckung aus, die sich ihm bot. Das war hinter der Frontlinie ungewöhnlich. Als der Mann den Waldrand fast erreicht hatte, erkannten die Unseren, daß es ein deutscher Soldat war, der ein Kind trug. Sie beobachteten, daß er auf das Kind einsprach. Daß er es im Schutz der ersten Bäume in den Schnee legte. Daß er das Gewehr von der Schulter nahm. Da brachte einer der Genossen sein Gewehr in Anschlag. Er hatte schon den Finger am Abzug, als er sah, wie der Deutsche dem Kind die Füße mit Schnee zu reiben begann. Es war barfuß. Offenbar wollte der Deutsche verhindern,
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daß sich das Kind die Füße erfror. Meine Genossen hielten ihre Waffen dennoch schußbereit; denn keiner konnte wissen, ob der Deutsche wirklich so harmlos war, wie er tat. Aber der Mann schien völlig vergessen zu haben, daß Krieg war. Fast eine Viertelstunde soll er dem Kind die Füße massiert haben. Dann trug er es zum Haus unseres Einarmigen. Er klopfte den Alten heraus und legte ihm seine Last vor die Tür. ‚Da, nehme!' befahl er. ‚Essen, trinken, Stiefel!' Drehte sich um und ging davon. „Zurück ins Dorf?“ Saschas Ohren glühten vor Erregung. „Er ist nicht weit gekommen. Die Genossen haben ihn umstellt. Hat gleich die Hände gehoben. Das Kind war ein siebenjähriger Junge. Aus dem Dorf, aus dem die Deutschen alle vertrieben hatten. Halbverhungert hatte ihn der Soldat Tage nach der Räumungsaktion irgendwo aufgelesen.
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Drei Stunden hat er ihn dann heimlich zum Sägewerk geschleppt. Der Junge bestätigte mir die Angaben des Soldaten.“ „Dann hat ja der Deutsche mitten im Kriege dem Kind das Leben gerettet!“ „So ist es. Das Leben hat er ihm gerettet. Der Junge ist zu Großmutter gebracht worden, die hat ihn wieder aufgefüttert. Er hieß Michail. Und du nennst ihn nun deinen Onkel.“ Der Samowar summte. Der Großvater war noch nicht zurück von seiner weiten Gedankenreise. „Was mag aus dem Deutschen geworden sein?“ „Hieß er nicht Heinz?“ grübelte die Großmutter. Großvater Wadim nickte. „Und Augen hatte er, wie ein Mädchen so schön. Aber er wußte nicht einmal zusagen, weshalb er ein sowjetisches Kind gerettet hatte. Er wollte nicht begreifen, daß der Krieg nichts als ein
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Raubzug der Deutschen war. Und erst heute weiß ich, daß dieser Heinz damals nur unbewußt gefühlt hat, daß die Verantwortung für alles Lebendige auf der Welt ganz allein die Menschen tragen.“ „Auch die Kinder. Nicht wahr, Großvater?“ „Ja, mein Junge, auch die Kinder!" Durch das geöffnete Fenster tönte der Ruf einer Elster und vom Wald her das leise Rauschen des Windes, der die Erinnerungen des Großvaters wieder forttrug, weit hinter den Zaun seines Schweigens. Doch die Großmutter sah wohl jenen Kriegswinter und das arme elternlose Bürschlein von damals noch vor sich. „Der Mischa, ach! Wie ein Bruder war er deiner Mutter, Sascha. Fünf Jahre blieb er bei uns. Und jetzt schaut er jedes Jahr mindestens einmal vorbei, als wären wir seine Eltern.“ Es war der Großmutter anzusehen, mit wieviel Liebe sie an Michail dachte. Sascha sah es
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nicht. Sascha hatte schwierige Dinge zu durchdenken. Viele böse Menschen hatte es damals gegeben! Nicht alle waren ganz schlecht. Sascha hoffte leidenschaftlich, daß es nun nur noch sehr, sehr wenig böse Menschen gäbe. Der Abend dieses Tages schob ein Gewitter über den Wald. Die Großeltern saßen noch in der Stube. Beim ersten Windstoß, der wild durch die Birken am Haus wirbelte, hob die Großmutter den Kopf. „Habe ich alle Fenster geschlossen?“ Sie, stand auf und schaute zuerst in die Küche. Dann öffnete sie leise die Tür zu Saschas Kammer. „Graukopf, der Junge!“ Erschrocken starrte sie auf das leere Bett. „Der Junge ist fort!“ Großvater blieb ruhig. „Wir sollten im Stall nachsehen!“ entschied er. Im grellen Licht eines Blitzes entdeckten die Großeltern ihren Enkel. Sascha lag neben
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Glückspilz. Den Kopf an den Rücken des Fohlens gelehnt, so schlief er fest und sichtlich zufrieden. „Er nimmt seine Verantwortung sehr genau, unser kleiner Sergeant“, sagt der Großvater stolz. „Er ist nach seiner Mutter geraten!“ „Und wessen Tochter ist seine Mutter?“ fragte flüsternd die Großmutter. „Deine natürlich!“ bestätigte der Großvater. Leise pfiff er: Tunja, mein Blümelein. So gingen sie beide zurück ins Haus. Und wachten noch, bis das Gewitter vorüber war. IX Noch manche Nacht durfte Sascha im Stall bei seinem Fohlen schlafen. Und am Morgen des letzten Tages der Ferien weckte der
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Großvater seinen Enkel wieder mit dem Jagdhorn. Der Sergeant Sascha Dimitriew wurde verabschiedet. Er erhielt den Befehl, in der Schule fleißig zu lernen und sich im nächsten Jahr wieder im Bataillonsgefechtsstand zu melden. „Verstanden, Genosse Kommandeur!“ rief Sascha. Zufrieden ließ der Großvater wegtreten zum Frühstück. Als Shenja angespannt, der Koffer und die Großmutter auf den Wagen aufgeladen waren, verabschiedete sich Sascha noch immer von Glückspilz. Er sagte ihm, wie schade es sei, daß er ihn nicht mit nach Moskau nehmen könne, und versprach, im nächsten Jahr bestimmt wiederzukommen. Und wenn er erst einmal ein Kosmonaut sei und im Kosmonauten-städtchen wohne, sollten alle Kosmonau-tenkinder auf Glückspilz das Reiten lernen.
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Glückspilz nickte mit dem Kopf, schwang sein borstiges Schwänzchen und rieb zärtlich seine weiche Schnauze an Saschas Ärmel. Der Autobus mußte diesmal sogar ein bißchen an der großen Weggabelung warten; denn auch die Großmutter hatte für Sascha viele liebe gute Worte zum Abschied, bevor sie mit dem Pferdewagen widder zurückfuhr. Großvater aber begleitete seinen Enkel bis zum Flugplatz. Als sie sich trennten, weil Sascha hinaus auf den Platz zu der großen silbernen Maschine gerufen wurde, sahen sich die beiden Soldaten an. "Auf Wiedersehen, Kommandeur!“ sagte Sascha. „Wischen Sie sich die Tränen ab, Genosse Sergeant“, antwortete der Großvater. „Ich wünsche Ihnen einen guten Flug!" Dann rannte Sascha hinaus. Hoch hinauf trug ihn das Flugzeug in den Blauhimmel.
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