050 - Richter, Götz R. - Kimani
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DIE KLEINEN TROMPETERBÜCHER • BAND 050
Götz R. Richter
Kimani
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Illustrationen von Erika Klein
Alle Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic Lizenz-Nr. 304-270/300/65 Gesamtherstellung: Landesdruckerei Sachsen, Dresden 3. Auflage • 1352 ES 9 D 2 Für Leser von 8 Jahren an
KIMANI SIEHT EINEN SILBERNEN ADLER Kimanis Haut ist glatt und braun, so glänzend und braun wie die gebrannten Kaffeebohnen. Nur die Innenflächen seiner Hände und seine Fußsohlen schimmern hell wie eure. Kimani ist ein Afrikaner, und er lebt in Kenia. Die weißen Zähne leuchten in dem dunklen Gesicht, wenn Kimani lacht. Kimani lacht gern. Er ist neun Jahre alt. Jetzt liegt er auf dem Rücken im jungen Gras einer Bergwiese, hat die kleinen Fäuste unter dem Nacken und blinzelt hinauf zu den winzigen Wolken. Wie weißwollige Schafe sehen sie aus, zusammengetrieben in großen Herden. Oh, wenn er so viele Schafe hätte! Und so weiß! So glänzend und leuchtend das Fell! Kimani kann mit offenen Augen träumen. Er stellt sich eine Herde vor. Die
Schafe sind große Tiere. Er vermag kaum über sie hinwegzuschauen. Wenn er die dunklen Hände in das weiche Fell gräbt, ist es, als versänken sie. Er hat sich eine kurze Flöte geschnitzt, aus einem Weidenstock vom Teich. Ein Pfiff! Und alle Schafe heben lauschend die Köpfe. Noch ein Pfiff! Und seine beiden Hunde, groß und schnell… Kimani denkt sich Namen aus für die beiden Traumhunde, die seine Traumherde bewachen. „Wind“ könnte der eine heißen, und der andere „Blitz“… oder „Donner“ vielleicht. Ja, Donner! Die Schafe drängen sich ängstlich aneinander, wenn sie sein lautes Gebläff hören. Die großen Jungen des Dorfes blicken neidisch herüber. Aber sie wagen sich nicht heran. Sie fürchten „Wind“ und „Donner“. Ihm aber, Kimani, gehorchen die starken und schnellen Tiere. Sie gehorchen ihm wie einem großen Häuptling,
wie es in den Geschichten ist, die sich die alten Leute erzählen, im Dämmerlicht des Tages oder wenn die Feuer brennen und alle eng beieinander hocken in der Nachtkühle. So träumt Kimani, während die kleinen braunen Ziegen, die er hüten muß, nur Wenige Schritte entfernt grasen. Und in Wirklichkeit ist bei ihm nur ein Hund mit rotgeflecktem struppigem Fell und einem Ringelschwanz. Aber Kimani träumt weiter. Die Himmelsherden ziehen davon. Eine neue, noch längere nähert sich. Das sind keine Schäfchen mehr. Das sind Antilopen. Oder Büffel! Kimani schließt die Augen. Die Traumbilder werden dann klarer. Er kann sie näher heranwünschen. Was sind Schafe gegen Büffel!
Kimanis Großvater, ein langer, hagerer Mann, erzählt manchmal Jagdgeschichten. Karanja heißt der Großvater. Im Süden, im Massailande, hat er mit dem Speer den Löwen gejagt. Er ist ein großer Jäger gewesen. Die Leute im Dorf achten ihn, obwohl er nur noch zwei Zähne hat und krumm geht, als müsse er die vielen, vielen Jahre seines Lebens in einem Sack auf dem Rücken tragen. Auch Kimani möchte Löwen jagen, deren donnernde Stimme er schon von ferne gehört hat. Oder einen Elefanten beschleichen! Aber über ihn lachen die Leute. Die großen Jungen des Dorfes rufen ihn Froschmaul. Oder auch einfach „Wakwak“. Und Thuo hat gestern gespottet: „Er sperrt die Klappe auf, als wollte er ein Nashorn verschlingen. Aber er schnappt bloß eine Mücke.“ Kimani seufzt und richtet sich auf. Er
blickt hinab in die ferne, im Sonnenlicht schimmernde Ebene. Warum muß man so lange warten, ehe man groß wird? Bis dahin wird es gar keine Elefanten und Löwen mehr geben. Großvater Karanja hat gesagt: „Ein richtiger Mann ist nur, wer einen Löwen erlegt hat.“ Kimani will ein richtiger Mann werden. Da lauscht er. Außer dem Grillengezirp im Gras und dem Taubengegurr im nahen Busch drängt sich ein anderes Geräusch in seine Ohren. Mit eingekniffenen Augen und hochgehobener Nase starrt er empor. Der Himmel ist wie aus hellblauem, glänzigem Glas. Von Süden her dringt ein Brummen; noch schwach, aber wachsend und schwellend. Und endlich erkennt der Junge den silbernen Adler, der mit singendem Dröhnen unter den Wolken dahinschießt; das Flugzeug, das von Nairobi heraufkommt und weiterfliegt nach Kairo.
Das Licht ist wie brennendes, heißes Feuer. Tränenwasser läuft vor seinem Blick zusammen. Kimani muß die Augen schließen. Er hat die Schafe vergessen, die weißfelligen, wolkenweichen. Die Büffel… Jetzt möchte Kimani fliegen. Ist Fliegen nicht viel mehr als einen Löwen töten? Was ist ein Löwe gegen ein Flugzeug? Ja, Kimani wird ein Flieger werden. Aber wie viele Jahre werden noch bis dahin über die Berge wandern? Der silberne Adler zieht im blauen Licht davon.
KIMANIS HERDE Kimani wischt mit dem Handrücken die Augen trocken. Verwundert blickt er um sich. Hat er etwa wirklich geschlafen? Die Ziegen waren doch soeben ganz in der
Nähe. Jetzt weiden sie verstreut am Hang. Eine ist fast drüben am Busch. Natürlich wieder Bessie! Das Gras ist hoch dort. Wenn nun ein paar Hyänenhunde herumstreunen oder… Es muß ja nicht gleich ein Leopard sein. Bessie muß zurück. Auch der Hund ist nicht mehr bei ihm. Obwohl Kimani noch nie in einer Schule gewesen ist, kann er seine vierzehn Ziegen zählen. Dazu braucht er die Finger beider Hände; dann zählt er an seinem rechten Fuß weiter – von rechts, von der kleinen Zehe. Die große bleibt übrig. Die große ist Bill, der Hund. Jedes Tier aus Kimanis Herde hat einen Namen. Wenn Kimani eines ruft, drehen alle die Köpfe nach ihm und glotzen, und manche schütteln sich auch, um die Brummfliegen zu vertreiben. Neben Kimani spannt dann schon Bill mit zitternden Läufen und beginnt vor Ungeduld zu
japsen. Wann kann ich endlich losjagen? Bill ist ein guter Wächter. Selbst wenn er neben Kimani im Gras liegt, den Kopf auf die Pfoten gestreckt, mit einem Auge muß er zur Herde schielen. Manchmal knurrt er ärgerlich, wenn er aus seinem Duselschlaf aufspringen und hinunterrennen muß. Wie er dann hinschießt zu den Tieren! Wie ein rotfleckiger Pfeil. Schnell rennen die Ziegen zueinander. Bill beißt sie nicht, er kneift nur mit seinen spitzen Eckzähnen. Die Ziegen fürchten ihn, außer Bessie, Bessie mit dem weißen Kopf und den weißen Klauen. Die anderen Tiere sind glattbraun, ein bißchen zum Rot hin oder ein wenig mehr zum Schwarz. Weiße Flecken hat neben dem Hund nur Bessie im Fell. Könnte Bill denken, dann bestimmt: Darauf bildet sich die dämliche Zicke was ein. Er mag Bessie nicht. Mit ihr hat er die meiste Arbeit. Kimani legt zwei Finger auf die Zun-
genspitze und pfeift schrill. Bill hetzt den Hang herauf. Er springt einmal um Kimani herum, jappt und bellt. Doch Kimani will nicht spielen. Kimani befiehlt: „Such Bessie! Such! Am Busch. Gib’s ihr!“ Bill jault auf, wirft sich herum, schüttelt den Kopf und das ganze Fell, daß es stäubt. Das könnte heißen: Na warte, du Biest! Weil du eine weiße Fratze hast, meinst du, was Bessres zu sein. Ich werde dir gleich was Bessres geben. Belfernd, als müsse er ein Wild jagen, flitzt er davon. Bessie und Bill tragen englische Namen. Jenseits des schmalen, langen Teiches, an dessen Nordufer Kimani wohnt, beginnt das Gelände der großen Farm. Dort wohnte noch vor einem halben Jahr Mister Morris. „Bwana“ mußten die Leute des Dorfes zu ihm sagen. Das bedeutet „Herr“. Oh, Kimani erinnert sich an ihn.
Mister Morris hieß Bill. Er konnte auch bellen. Seine Stimme klang so. Weit hörte man sie, wenn der Bwana auf die Felder gekommen war und die Arbeiter anschrie. Bessie hatte die Tochter von Mister Morris geheißen. Ihr sehr weißes Gesicht war schmal und lang und sah dem einer Ziege nicht unähnlich. Die Frau des Farmers, Bessies Mutter, war eine gute Frau gewesen, freundlich; sie lachte sehr gern, und sie sang auch. Nun hatten sie die Farm verkauft und waren nach England gefahren. Von dort sollten sie vor vielen Jahren nach Kenia gekommen sein. Das wußte Kimani von Großvater Karanja. Wenn es nach Kimani gegangen wäre, dann hätte die Frau hierbleiben können. Aber Bessie und der Bwana Bill und die anderen, von denen jede Rede ein Befehl war: „Boy, komm her! Pese, pese! Boy, hol das! Schnell, schnell!“ Oder ihre Fragen: „Was glotzt du? Was stehst du hier
herum? Hast du keine Arbeit?“ Nein, es ist richtig, daß sie nicht mehr wie früher befehlen dürfen, nun, da das Land hier wieder den Afrikanern gehört. Kimani möchte nicht Bill heißen oder Bessie. Na ja, aber die Tiere verstehen das ja nicht. Dort hüpft Bessie schon den Hang herauf. Was sie für Sätze macht! Und Bill immer an ihren Hinterläufen. Kimani pfeift Bill zurück. „Platz hier! So ist’s gut.“ Er streicht ihm durch das zitternde heiße Fell. „Ein guter Hund bist du.“ Der Hund springt empor, bellt vor Freude. Kimani faßt Bill am Kopf, bei den zotteligen Ohren. „Wenn ich groß bin, Bill… Wenn ich eine große Herde habe oder…“
Kimani stockt. Er hat ins grüne Tal zu dem weißen Farmgebäude geblickt, da ist ihm ein anderer Gedanke gekommen. „Oder wenn ich später eine Farm habe, eine große Farm, größer als die da drüben… Dann nehme ich dich mit. Dann schläfst du auf einem Fell. Auf einem Löwenfell. Den Löwen werde ich jagen. Mit dem Speer oder…“ Kimani besinnt sich. „Mit einem Gewehr natürlich. Und wenn ich auf die Felder gehe, dann kommst du auch mit. Immer.“ „Waff, waff“, macht Bill, und das kann alles oder gar nichts heißen. Aber Kimani tut so, als habe ihn der Hund ganz richtig verstanden. „Jaja“, sagt er, „du wirst es sehen, und einen großen Traktor kaufe ich mir. Und ein Auto. Und ein Flugzeug auch. Du wirst sehen.“
KIMANI ÄRGERT SICH Abends treiben die Jungen ihre Herden heim. Meist treffen sie sich unten am Teich, wo der Bach unter dem Weg hindurchfließt. Die Frösche schreien im Schilf. Der Wind bläst darüber hin und pustet dem Papyrus durch die großen Blütenpinsel. Kimani hört einen Pelikan schnarren, und er sieht im Bach zwei große Barsche unter einer Baumwurzel stehen. Doch er greift nicht nach ihnen. Den langen Hirtenstock wie einen Speer schwingend, läuft er der kleinen Herde voran. Er macht ein paar Sprünge und sticht mit dem Stock-Speer wild in die Luft. Das tut er täglich auf seinem Weg. Das muß man üben. „Los, Bill! Lauf!“ Kimani scheint heute der erste zu sein. Schnell will er weiter, dem Dorf zu. Kimani ist der jüngste der Hirten. Drei
der anderen Hütejungen gehen zur Schule. Die treiben nur jetzt während der Regenzeit die Herden. Noch eine Woche haben die „Großen“ Ferien. Kimani wird froh sein, wenn sie wieder fort sind. Sie prahlen, was sie in der Schule alles lernen. Kimani möchte auch gern gescheit werden, so gern. Aber Vater und Mutter verdienen nicht genug, um die Schule zu bezahlen. Was kann er dafür? Die „Großen“ sollen sich nicht so aufspielen. Weil er ihr Gerede nicht mehr hören mochte, hat er sich einmal eine Geschichte ausgedacht. Er hat ihnen erzählt, daß ein Adler herabgestoßen sei und Schwarzohr, seine kleinste Ziege, hätte greifen wollen. Aber er, Kimani, habe ihn mit einem Stein getroffen, daß er kaum noch davonfliegen konnte. Da hatten die Großen Augen gemacht und gefragt und gefragt. Kimani hatte erzählt, was ihm gerade eingefallen war.
Die nächste Geschichte von dem schwarzen Eber hatten sie ihm schon weniger glauben wollen; und bald waren sie dahintergekommen, daß er seine Abenteuer erfand. Nun lachen und spotten sie über ihn. Deshalb ist Kimani froh, wenn er den großen Jungen aus dem Wege gehen kann. Wo der Pfad sich am Steilufer des Teiches hinaufwindet, wuchert zu beiden Seiten Dornengerank. Helle grüne Triebe pendeln wie züngelnde Schlangen im Wind. Plötzlich fährt Kimani zusammen. Hinter einem dornigen Strauch springt ein Junge hervor und stellt sich auf den Weg. Es ist Thuo. Thuo ist zwölf oder dreizehn Jahre alt. Seine Stimme klingt schon tief. Er wohnt im oberen Dorf. Thuo feixt. „Warum erschrickt so ein großer Jäger wie Wak-wak?“
Kimani antwortet nicht. Er dreht sich nach seinen Ziegen und nach Bill um. „Na, hast du heute einen Büffel verjagt? Oder war es vielleicht ein Elefant?“ Warum läßt ihn Thuo nicht vorbei? Was habe ich ihm getan? denkt Kimani. Ich werde schon noch einen Elefanten jagen. Bestimmt. Trotzig wirft er den Kopf zurück: „Fünf Elefanten waren es. Zehn!“ Thuo lacht. „Wak-wak-wak-wak. Es waren zehn Mäuse, was? Oder zehn Fliegen, du Angeber!“ Thuo hat auch einen Hund bei sich. Bill läuft zu ihm hin. Sie beschnüffeln sich und schwänzeln umeinander herum. Die Hunde kennen sich. Sie sind bessere Freunde als Kimani und Thuo. Kimanis Ziegen laufen zu Thuos kleiner Herde. Schon springen zwei junge Böcke gegeneinander, daß es kracht, Kimani ruft Bill. Bill fährt dazwischen.
Kimani entgegnet: „Du bist auch ein Angeber. Du hast gesagt, du kannst schon Zigaretten rauchen.“ „Ha, kann ich auch. Oder glaubst du es nicht?“ Nun kommt auch noch Ndemi. Ndemi wird Thuo unterstützen. Beide sitzen in der gleichen Schulklasse, drei Meilen von hier, hinter dem Berg Ngorika. „Wak-wak hat heute zehn Flöhe erlegt“, höhnt Thuo. Ndemi grinst. Er ist klein, aber schon breitschultrig. Thuo dagegen ist lang und hager. Gut einen Kopf größer als Ndemi, zwei Köpfe größer als Kimani. Ndemi trägt lange Hosen. Das tut er, weil er krumme Beine hat. Bei Thuo dagegen knicken beim Gehen die Knie nach innen. Es sieht immer aus, als habe er zu schwer an seinen großen Füßen zu tragen. Thuo sagt zu Ndemi: „Stell dir vor. Er hat die Flöhe mit Pfeil und Bogen erlegt.“
Kimani spürt, wie ihm der Zorn in die Kehle kriecht und den Atem abschnürt, daß er nicht sprechen kann. „Flöhe? Das ist ja Großwild“, spottet Ndemi. „Flöhe sind gefährlich. Und zehn, sagst du? Oh, ich denke, du wirst noch hundert Flöhe erlegen an einem Tag.“ Die großen Jungen lachen. Kimani denkt zornig: Sie keckern wie die Affen. Es kommen noch andere: Njogu, Mugo und Kungu. Kimani geht weiter. Er berührt Thuo fast. Thuo hält ihn nicht auf. Sie folgen ihm. Kimani hört Kungu reden: „Mir hat er erzählt, einmal ist ein Löwe gekommen, und er war ganz allein, nachts. Dabei bleibt er nachts doch nie draußen. Aber er hat es behauptet.“ Mugo fragt: „Hat er euch erzählt, wie er mit den Hyänen gekämpft hat?“
„Nein“, entgegnet ein anderer. „Aber ich weiß, daß er auf einem Büffel geritten ist.“ Dann lachen sie wieder. Nur Njogu, der größte und stärkste der Jungen, sagt: „Er ist ein kleiner Kerl. Ich hab auch gesponnen.“ Kimani fließen Tränen in die Augen. Er schämt sich seiner Lügengeschichten. Es stimmt ja, was die Jungen sagen. Warum aber haben sie ihn verspottet? Denken sie vielleicht, er habe nicht gemerkt, daß Thuo und Ndemi auch aufgeschnitten haben? „Aber wenn i c h es tue, dann ist es schlimm“, so redet er vor sich hin. „Ja, Großvater Karanja hat noch was erlebt. Tapfer soll man sein, hat er gesagt. Wie soll ich denn tapfer sein?“ Dabei ist es gar nicht schwer gewesen, die Geschichten zu erfinden. Wenn er so allein bei den Ziegen ist… Nur noch mit Bill… Oder auch nachts in der Hütte, wenn er nicht einschlafen kann…
Man kann sich doch alles vorstellen. Kimani hat oft daran gedacht, was sein könnte, wenn er plötzlich einem Leoparden begegnet. Oder einem Löwen. Dort unten im Massailande streichen sie doch umher. Und um ehrlich zu sein: Manchmal ist es Kimani, als habe er das, was er sich ausgedacht hatte, wirklich erlebt. Ndemi höhnt immer noch. „Er ist ein großer Jäger, so groß, daß er einem Flußpferd ins Maul kriechen kann und sich zwischen den Zähnen verstecken. Hahahaha!“ Da dreht sich Kimani um. „Und deine Beine sind so krumm, daß zwischen den Knien ein Flußpferd hindurchrennen kann.“ Die Jungen außer Ndemi lachen. „Ihr werdet es sehen. Ich werde es euch beweisen“, ruft Kimani. Eigentlich will er das gar nicht. Er will doch aufhören, aufzuschneiden. Aber sein Mund redet und
redet. „Ich werde euch zeigen, daß ich keine Angst habe.“ Dann beginnt er zu rennen. Die Herde und Bill springen ihm nach. Nur Bessie trödelt, nimmt hier ein Gräschen und dort noch ein Hälmchen. Dreimal muß Bill ihretwegen zurückjagen.
GROSSVATER KARANJA ERZÄHLT Von der Kuppe des Teichhügels aus erblickt Kimani die ersten Gehöfte, die Shambas, unter den riesigen wilden Feigenbäumen. Von den vielen, vielen Ästen streben Luftwurzeln nach unten in die Erde. Das sieht aus, als würden die mächtigen Bäume durch Hunderte von Seilen gehalten. Aus dem dunklen Braungrün der Kronen leuchten gelbe und rote Tupfen wie Blumen auf. Kimani weiß, das sind
die bunten Webervögel, die an ihren Nestern bauen. Es ist ihm, als höre er bis hierher das Geflatter und Getschilp. Niemand weiß genau, wie alt diese Bäume sind, nicht einmal Großvater Karanja. Der hat erzählt, der Mogumo, so heißt der Baum, sei heilig, und früher seien hier die Opfertiere geschlachtet worden. Das sind alte Geschichten. Kimani kann sich nicht richtig vorstellen, was ein Opfertier ist. Er versteht den Sinn nicht. Wenn Großvater Karanja oder auch andere alte Leute davon erzählen, so klingt das immer ein wenig gruselig. Kimani hört gern Gruselgeschichten. Früher sollen in dem riesigen Mogumo Gespenster gewohnt haben, hoch oben im Wipfel, wo abgestorbene Äste und welke Blätter, von Lianen umschlungen, wie Zottelbärte herabhängen. Kimani hat schon oft hinaufgespäht. Ein Gespenst jedoch ließ sich nicht sehen, nur Vögel, und einmal eine Wildkatze.
In der zweiten Shamba wohnt Kimani mit der Mutter, dem Vater, mit Großmutter Wangare und Großvater Karanja. Kimani hat noch eine große Schwester, sie heißt Wanjira und ist Lehrerin in der Stadt Kiambu. Bis Kiambu sind es hundert Meilen. Kimani ist stolz auf seine Schwester; und wenn er es richtig überlegt, so wäre Lehrer auch für ihn ein schöner Beruf. Ach, schade, daß man nicht alles werden kann. Und: vorher muß er selbst zur Schule! Die Mutter und den Vater sieht Kimani den ganzen Tag nicht. Manchmal ist er deshalb traurig. Die Großeltern sind sehrgut zu ihm. Aber sie können nicht mehr rennen. Und wenn Kimani mal einen Kampfruf ausprobiert oder wie ein großes Signalhorn dröhnt oder wie der Traktor tuckert, wie die neue viermotorige Düsenmaschine dahinbraust – gleich sagen sie, er soll still sein.
Vater arbeitet in der Stadt Nakuru im Wasserwerk. Mutter geht jeden Tag zur Buschbock-Farm. Kimani wünscht sich, daß der Farmer mit seiner Frau und den zwei kleinen Mädchen auch zurückfahren möge nach England, so wie der Bwana Morris es getan hat. Dann brauchte Mutter nicht mehr die Kinder der Engländerin zu versorgen. Das ist nämlich ihre Arbeit. Kimani findet es ungerecht. Wieso haben seine Mutter und sein Vater so wenig Geld, obwohl sie so viel arbeiten? Die Engländerin auf der Buschbock-Farm arbeitet nicht. Sie kocht nicht. Sie wäscht nicht, scheuert nicht das Haus, arbeitet nicht auf den Feldern. Aber sie hat so viel Geld, daß sie zwei Autos fährt und Leute bezahlen kann, die für sie die Arbeit tun. Vom Vater weiß Kimani, daß das alles anders werden soll, jetzt, da das Land frei geworden ist. Aber wie es anders werden soll, das weiß Kimani nicht.
Als er mit dem Großvater am Tisch sitzt, sagt er: „Wenn ich erst meine Farm habe, dann brauche ich niemand, der für mich die Arbeit macht.“ Der Großvater lacht leise. Er kneift die Augen eng zusammen, daß man sie gar nicht mehr sehen kann, daß sie nur wie zwei große Runzeln aussehen. „Jaja, Kleiner“, sagt er. „Aber da mußt du vorher noch eine große Fuhre Mais essen.“ Das bedeutet, Kimani muß noch viele Jahre warten. „Dein Leben ist schon ganz anders als meins“, sagte der Großvater. „Als ich so alt war wie du, da kamen die ersten weißen Leute nach Kenia. Wir haben sie wie Gäste aufgenommen. Manche waren auch freundlich, oder sie taten so. Später aber, als sie auch Soldaten hatten, haben sie uns das Land weggenommen. Sie hatten Gewehre und Kanonen. Was ist ein Speer, was ist ein Bogen mit Pfeilen, was ist eine
Keule gegen eine Kanone? Aber heute… Jetzt gehen viele der weißen Leute in ihr Land zurück, weil sie nicht mehr die Herren sein können. Jetzt wird ein gutes Leben kommen, Kleiner.“ Kimani blickt den Großvater mit glänzenden Augen an. „Erzähl mir wieder eine Geschichte! Wie war es damals, als ihr gegen die Weißen gekämpft habt? Bist du der Tapferste gewesen?“ „Ach, ach, ach, tapfer! Wer weiß das von sich? Ich habe auch Angst gehabt.“ „Angst?“ Der alte Mann nickt. „Aber das hab ich keinem gesagt. Ich bin auch nicht ausgerissen. Das ist die Hauptsache, daß man nicht davonläuft vor der Angst. Denn die kommt immer nach, verstehst du?“ Das versteht Kimani zwar nicht, aber er nickt.
Die Großmutter bringt das Essen. Ihr Haar ist weiß wie der Schnee auf dem Gipfel des Mount Kenia. Doch sie geht noch mit kleinen flinken Schritten. Heute hat sie einen dicken süßen Poscho, Maisbrei, gekocht. Aus einem kleinen Topf gießt sie heißes Palmöl darüber. Kimani baut schnell mit seinem Löffel in den Brei Berge und Täler und Schluchten und Dämme und Flüsse. Großmutter streut noch Zucker darüber mit Zimt. Der Poscho dampft. Kimani hat noch Zeit zum Bauen. Er leitet das Palmöl erst mal zusammen in einen großen Teich. Für eine Weile fragt er nichts mehr. Er hört nur Großvater Karanja in seinen Poscho pusten und mit dem Löffel kratzen. Nun durchsticht Kimani seinen Damm, daß das Öl herausfließt und neue Bäche und neue Teiche bildet. Endlich essen sie. Nachher räumt die Großmutter Teller und Schüsseln weg und
geht hinaus. Kimani holt den Lappen, wischt die Tischplatte ab und bringt dem Großvater Tabaksbeutel und Pfeife. Der Großvater stopft viel Tabak in den großen Pfeifenkopf. Kimani wartet. Er weiß, daß man da geduldig sein muß. Er läuft zum Herdfeuer, nimmt einen Span und entzündet ihn. Er wölbt die andere Hand um die kleine Flamme und trägt sie zu Großvater Karanja. Der saugt tiefe Mulden in die faltigen Backen und bläst blaue Tabakswolken aus dem Mund. Schließlich beginnt er: „Ich weiß noch, wie es war, als der alte Bwana Morris hierherkam. Vor vielen, vielen Jahren. Vor dem ersten großen Krieg der Weißen. Da lebte deine Mutter noch nicht und dein Vater noch nicht. Drüben, wo jetzt die Farm ist, standen damals unsre Shambas. Dahinter lag eine große Weide. Wir hatten viele Schafe, aber auch Rinder. Gute Boranrinder. Mehr als zwanzig unserer
Männer waren nach dem Norden gewandert. Ich dabei. Wir haben die Tiere eingehandelt bei den Turkanas und heimgetrieben. Gesundes Vieh. Es hielt sich gut. Die Herde wuchs. Wir hatten sie sieben oder acht Jahre, als der alte Bwana Morris kam und sagte, das Land, wo die Koppel sei und wo unsre Shambas stünden, das Land habe er gekauft. Wir haben ihn ausgelacht; denn nach unserem Recht konnte man Land nicht verkaufen. Es gehörte doch allen – wie der Wald, wie das Wasser, wie der Regen und die Sonne. Und in unserem Land mußte doch unser Recht gültig sein. Wir holten unsere Rinder nicht von der Weide. Der Bwana Morris kam wieder und zeigte uns das Papier, auf dem bestätigt wurde, daß er das Land erworben hatte. Wir konnten nicht lesen. Aber ich habe den Stempel mit einer Krone auf dem Papier
gesehen. Wie konnte der englische König unser Land an den Bwana Morris verkaufen? Es war doch nicht sein Land. Es war unser Land. Das sagten wir. Der alte Bwana Morris meinte, auf der anderen Seite des Teiches wäre doch noch mehr Land, das habe er nicht gekauft, dort sollten wir hinziehen mit unseren Herden, mit unseren Shambas. Wir haben gesagt, er solle dort hinziehen. Hier wären wir, und wir wären so viele, und er hätte nur noch seine Frau. Aber er wollte nicht.“ Der Großvater saugt an seiner Pfeife, bis sie wieder dick qualmt. „Und dann hat er Soldaten geholt. Wir mußten die Hütten räumen. Es gab einen Kampf, und sie trieben uns in den Busch mit ihren Gewehren. Mein Bruder wurde von einer Kugel in den Bauch getroffen und verblutete. Wir hatten einen großen Zorn. Unsre Pfeile und Speere reichten nicht hin bis zu den weißen Soldaten.
Aber ihre Kugeln, die flogen weit. Sie warfen viele um. Die Soldaten umstellten den Wald. Sie riefen uns zu, wir sollten das Dorf räumen und neue Hütten bauen. Wir könnten auch viel Geld verdienen, wenn wir für den Bwana Morris arbeiteten. Wir wollten nicht. Er hatte uns doch das Land genommen. Und nun sollten wir auf unsrem Land auch noch zu seinen Knechten werden? Nein, sagten wir. Wir sind im Recht. Wir verließen den Wald nicht. Aber der Hunger kam zu uns. Die Kinder schrieen nach Poscho. Das Vieh brüllte auf der Weide. Da bin ich nachts mit zwei Wassersäcken fortgeschlichen, um Milch von der Weide zu holen. Ich hab es heimlich getan. Ich dachte bei mir, da werden die Leute sagen: Seht an, der Karanja. Was ist das für ein mutiger Bursche. Er zieht ganz allein nachts los, schleicht sich an den Weißen vorbei, um Milch für die Kinder
zu holen. Ist das nicht ein tüchtiger Kerl! Ich weiß nicht mehr genau, wie es war. Aber so ungefähr hab ich gedacht. Ich kam auch gut an den Weißen vorbei. Ich bin zu den Kühen hin und habe gemolken, bis ich die Wassersäcke voll hatte. Sie waren schwer. Sie schlenkerten mir vor den Beinen herum. Warum hatte ich es nicht den anderen gesagt? Wir hätten viel mehr Milch holen können. Wenn wir mehrere gewesen wären, hätten uns die beiden Weißen auch nicht aufhalten können. Mich allein fingen sie. Sie haben mich geprügelt. Und die Milch haben sie über mich ausgegossen. Das werde ich nicht vergessen. Wäre ich doch nicht allein gegangen!“ An diesem Abend kann Kimani lange nicht einschlafen. Er wälzt sich umher, daß die Lederriemen seines Lagers knarren. Draußen jault der Wind um die Hütte.
Er hört einen Vogel schreien. Der Schrei ist spitz wie ein Stich. Hat er etwa Angst? Dann kommt die Mutter heim. Sie kauert sich an seiner Schlafstelle nieder und zieht ihm die Decke zurecht. Er fühlt ihre kühle Hand auf seiner Stirn. „Was ist, Mani? Kannst du nicht schlafen?“ Kimani streckt plötzlich die Hände nach der Mutter aus. Er umschlingt ihren Kopf, er lacht still; und er hat keine Angst mehr.
KIMANI GEHT AUF DIE BERGWEIDE Als Kimani am nächsten Morgen die Herde hinaustreibt, rollt schon die Sonne über die Berge. In der dichten Krone des Mogumobaumes erwachen die Vögel. Drei blauschwarze Tauben fliegen ab, hinunter zum See.
Bill bellt in wilder Freude wie jeden Morgen und stößt die kleine Herde zurecht. Er nimmt sich noch die Zeit, ein Stück davonzupreschen, einer Maus nach oder einem gackernden Perlhuhn, oder nach Faltern zu springen und schillernden Fliegen. Der schmale, gewundene Pfad ist kühl von der Nacht. Kimani fröstelt und steckt die Arme tief unter die Decke, die er um die Schultern trägt. Aus den Hütten kriecht der Rauch der Herdfeuer. Kimani hatte eigentlich früher als sonst losziehen wollen, um den großen Jungen nicht zu begegnen. Hat es Zweck, mit ihnen zu streiten? Ihr Spott ist stärker, und er schmerzt. Dann jedoch hat er zu fest geschlafen, so daß ihn die Mutter erst wecken mußte. Als der Vater sich verabschiedete, um zur Arbeit zu fahren, ist Kimani der Gedanke gekommen, ihm alles zu erzählen. Und doch hat er ge-
schwiegen. Er denkt sonst, ich bin ein Feigling. Am Teichufer sieht er Ndemi und Thuo. Kimanis Schritte werden kürzer. Soll er ihretwegen einen Bogen machen? Was werden sie dann erst sagen! Er ruft Bill. „Fuß!“ Das heißt, der Hund soll dicht bei ihm bleiben. Kimani zwingt sich, den Kopf zu heben und die Jungen anzublicken. Er denkt daran, daß er sich vorgenommen hat, keine Geschichten mehr zu erfinden. Am besten wird sein, wenn er nur einen Gruß sagt. Ndemi und Thuo flüstern miteinander. Sie stehen ihm zugekehrt und halten die Hände auf dem Rücken. Ihre Herden sind mit den Hunden weit voraus. Die Ziegen grasen in der Nähe des Steilhangs am Bach. Wenn eine abstürzt! Kimani möchte ihnen am liebsten zurufen: „Was steht ihr da wie zwei Stöcke? Ihr wißt wohl
nicht, wie man auf eine Herde achtgibt?“ Warum halten sie so lange die Hände auf dem Rücken? Ndemi sagt laut zu Thuo: „Guck doch, der Kleine friert. Wie seine Knie zittern!“ Das ist gelogen. Kimani blickt nach unten. Und wenn es so wäre! Was ist dabei, wenn ihn friert? Der Hund stößt mit dem Kopf gegen Kimanis Hand. Er hebt an einer Seite die Oberlippe über die Zähne. Das sieht verächtlich aus, als wolle er sagen: „Was läßt du dich mit ihnen ein. Sie haben es nur darauf angelegt, dich zu ärgern.“ Es sind noch wenige Schritte. Zögernd dreht sich Kimani um. Die Ziegen sind beieinander. Er hat seine Linke im Fell des Hundes. Thuo tritt auf den Weg. Ndemi folgt. „Ich glaube, er schläft noch. Wir werden ihn wecken müssen.“ Kimani nimmt den Kopf hoch. Er hat sich doch etwas vorgenommen! Ganz fest!
Aber wenn sie ihm keine Ruhe lassen… „Laßt mich vorbei.“ Jetzt zittern ihm wirklich die Knie. Seine Hand umkrampft den Stock. Thuo sagt zu Ndemi: „Er hat sich noch nicht gewaschen, unser Quakfrosch. Am Hals hat er einen Dreckrand. Dort!“ „Du lügst!“ Kimani kann nicht mehr still sein. Mit einem Ruck zieht er die Decke von den Schultern und öffnet das Hemd am Hals. „Hier, hier!“ schreit er. „Wo ist der graue Rand? Du lügst! Du bist ein… ein gemein…“ Er reißt die Decke zu spät vors Gesicht. Das kalte Wasser läuft schon von seinen Haaren herunter. Das Hemd klebt auf der Haut. Auch die Hose ist naß. Ndemi und Thuo halten sich die Hände mit den leeren Blechbüchsen vor den Bauch. Sie haben ihm aufgelauert mit Wasser aus dem Teich in den Büchsen. Deshalb waren ihre Hände auf dem Rücken.
Kimani wirft den langen Hirtenstab fort, springt vor und schlägt Thuo seine kleinen Fäuste ins Gesicht. Thuos Nase beginnt zu bluten. Er schreit auf. Auch Ndemi schreit. Aber das ist, weil ihm Bill in diesem Augenblick die Hosen herunterfetzt. Kimani weiß später nicht mehr alles von dieser Prügelei. Natürlich sind die beiden großen Jungen stärker als er. Sie haben ihn unter sich gehabt. Wenn nur Njogu gekommen wäre! Njogu kann boxen! Ihn fürchten Ndemi und Thuo. Er hätte Kimani geholfen. Doch Njogu ist nicht gekommen. Kimani hat plötzlich schreckliche Angst gehabt. Er konnte nicht mehr atmen. Die Jungen drückten ihm die Luft ab. Da hat er in seiner Not Thuo in eine Wade gebissen. Thuo hat aufgeheult wie eine Hyäne. So ist Kimani freigekommen. Aus zwanzig Schritt Entfernung haben sie sich dann beschimpft. Kimani sieht die beiden noch in Gedanken: Thuo auf ei-
nem Bein, das andere immerfort massierend. Ndemi fuchtelt mit den Armen in der Luft herum. Doch dort findet er die Hose nicht, die ihm Bill von den Beinen gezerrt hat, als Ndemi auf Kimani lag. Oh, Ndemis Beine sind wahrhaftig krumm. Bill könnte bestimmt zwischen den Knien hindurchspringen. Der Hund hat die Hose noch eine Weile mitgeschleift, bis sie an einem Dornbusch hängengeblieben ist. Noch bis zum Waldrand hat Kimani die Schimpf- und Hohnworte der Jungen gehört. Und nun ist er auf dem Wege zur alten Bergweide. Es ist alles anders geworden, als er es sich heute beim Verlassen der Shamba vorgenommen hatte. Ist es seine Schuld? Wirklich, er hat nicht wieder prahlen wollen. Aber sie haben ihm aufgelauert, haben ihn geschlagen und verspottet. Gut, er hat auch gelacht, als Ndemi bis zum Bauchknopf nackig auf dem
Wege stand. Aber sie haben ihn einen Feigling genannt. Einen Feigling…! Thuo hat gerufen: „Seine Beine schlackern vor Angst.“ „Du hast Angst“, hat Kimani zurückgeschrien. „Ihr habt Angst!“ Es war wieder so über ihn gekommen. „Ich werde euch beweisen, daß ich keine Angst habe. Ich gehe sogar allein in den Wald.“ Wenn sie nur nicht so gelacht hätten. Es ist ihm ganz, ganz heiß geworden. Dann hat er nicht mehr gewußt, was er sagt. „Ich bin ja schon drüben auf der alten Bergweide gewesen. Ganz allein. Wenn ihr’s nicht glaubt, geh ich wieder. Jetzt gleich.“ Die Jungen haben lauter gelacht. Er hat gelogen. Nie ist er auf der anderen Seite des Ngorika gewesen. Wenn es Wahrheit werden soll, muß er nun hinansteigen. Drei Stunden wird er zu gehen haben.
Ach was! denkt er. Ich werde nicht müde. Zuerst hat er sich ein paarmal umgedreht. Werden sie ihm nicht nachgehen, ein Stück wenigstens? Die alte Bergweide liegt inmitten des Urwaldes. Es führt von dieser Seite des Berges nur ein Weg hinauf, durch die Elefantenschlucht. Die Schlucht ist schmal, an einer Stelle nicht breiter als vier Schritte vielleicht. Mächtige, von den Wänden herabgestürzte Felsbrocken werden von Gestrüpp umwuchert. Weiter oben läuft der Pfad durch den dichten, feuchten, grünen Dschungel, umgeht den Gipfel und endet auf der Westseite des Ngorika an der Bergweide. Es werden viele Geschichten von der alten Bergweide erzählt. Während des MauMau-Aufstandes gegen die Engländer sind auf der Bergweide die Kampfgruppen zu großen Versammlungen gekommen. Einmal ist ein Verräter gewesen.
Der hat den Engländern von einer Zusammenkunft Nachricht gegeben. Die sind mit Flugzeugen über den Gipfel geflogen und haben Benzinbomben abgeworfen. Viele, viele Männer sind verbrannt. Die ganze Bergweide soll eine einzige Flammenwolke gewesen sein, erzählen die Leute; und die Alten sagen, die Geister der Toten hocken dort oben und lauern auf jeden, weil sie den Verräter noch nicht haben finden können. Seitdem hat auch niemand mehr das Vieh hinaufgetrieben, obwohl das Gras saftig und fett ist, wie nirgends hier. Kimani hat damals noch nicht gelebt, und doch weiß er aus den Geschichten sogar den Weg hinauf. Vor den Geistern fürchtet er sich nicht. Der Vater hat ihm gesagt, daß Geister nur von Menschen erdacht werden, daß es keine Geister gibt. Kimani weiß ja selbst gut, wie leicht man Geschichten erfinden kann. Aber der Weg
durch den Dschungel wird dunkel sein. Im Gras sollen Schlangen huschen. In den Büschen sirren die Stechmücken. Zecken hängen an den Zweigen, saugende Egel am nassen Gras. Weshalb nur hat er gesagt, daß er da hinaufgehen will? Als er die niedrige Zederngruppe erreicht, sieht er schon die rotbraunen Steinwände der Elefantenschlucht durch das Grün der Büsche schimmern. Er setzt sich auf einen zerklüfteten Felsbrocken in den Schatten der Bäume. Bill kommt hechelnd zu ihm. „Ist heiß heute, was?“ Bill steht auf drei Beinen und jault leise. Er leckt über den rechten Vorderlauf. Fliegen wollen sich auf die dunkle Blutkruste setzen. Ndemi hat mit der Blechbüchse zugeschlagen. Kimani erkennt mit einem Mal, daß er ganz allein ist, weit fort vom Dorf. Was
ist, wenn er einem Löwen begegnet? Es streicht manchmal Raubzeug hier herum. Während der Regenzeit kommt es aus dem Süden, aus dem Massailande. Das liegt nicht weit. Manche Tiere räubern in den Farmen, am Rande der Wälder, reißen Vieh auf den Weiden. Der Junge öffnet den kleinen Wasserbeutel und trinkt. Seine Kehle ist wie ausgetrocknet. Bill jappt. Kimani gießt für Bill etwas Wasser in eine Mulde des Felsens. Der Hund schlappt es bis zum letzten Tropfen heraus. Dann hechelt er wieder. Die Ziegen grasen. Kimani weiß nun, daß ihm die Jungen nicht gefolgt sind. Wenn er jetzt hierbliebe bis zum Nachmittag und dann heimzöge, könnte er sagen, er sei auf der alten Bergweide gewesen. Doch zu dem Hund spricht er: „Sie werden staunen. Sie denken nämlich, wir getrauen uns nicht. Oder hast du Angst, Bill?“
Der Hund dreht den Kopf nach Kimani. Er schüttelt sich ein paar Fliegen ab, und das sieht genau so aus, als wolle er sagen: „Angst? Ich? Nein!“ „Aber deine Pfote? Kannst du denn?“ Fast wünscht Kimani, daß Bill nicht kann. In diesem Augenblick rennt der Hund fort. Er muß Bessie zurückjagen. Was Kimani mit einem Male alles durch den Sinn geht! Wenn es Mutter wüßte, Vater! Und Großvater Karanja. Der hat gestern am Ende seiner Geschichte gesagt: „Wäre ich doch nicht allein gegangen!“ Der Junge denkt: Nein, bei mir ist es anders. Der Großvater hat auch gesagt: Der Angst kann man nicht davonlaufen. Und jetzt glaubt er, das zu verstehen. So zieht Kimani weiter, hinüber zu den großen Felsen, zur Elefantenschlucht. Schritt vor Schritt setzt er. Die Sonne in seinem Rücken steigt hoch hinauf in den Himmel. Der Junge sieht seinen Schatten
vor sich. Der wird kleiner und kleiner. Doch immerfort huscht er vor den Füßen den Pfad dahin. Die braunrote Erde ist heiß. Die Steine dazwischen sind hart und auch spitz. In flachen Senken steht noch Wasser von einem Gewitter. Heute hängt schon wieder Schwüle unter dem Himmel. Der Pfad besteht aus zwei von Traktoren ausgefahrenen Furchen. Sie laufen wie ein buckliges Gleis vom Wald herab in die Ebene und führen weiter zum Holzverladeplatz tief unten am Fluß. Während der Regenzeit kommen die Traktoren nicht. Trotz ihrer breiten Reifen würden sie im vom Regen aufgeweichten Boden steckenbleiben. Junges Gras sprießt zwischen den Furchen. Darauf kann man gut gehen. Kimani gönnt sich und den Tieren keine Pause mehr. Er steigt die Schlucht hinauf und erreicht den Wald. Unwillkürlich
nimmt er dort wieder die Decke um, als sei die grüne Dämmerung unter den dichtlaubigen Wipfeln kalt. Von den Blättern fallen dann und dann Tropfen. Die Sonne stößt ihre Strahlen dort und dort durch die Blätter. Er sieht in dem Licht Insekten tanzen wie glühende Funken über dem Feuer. Der Weg steigt weiter steil. Bill muß die Herde treiben. Dann wendet der Weg nach Westen um den dicht bewaldeten Gipfel des Berges zum Nordhang. Immerfort vernimmt Kimani Tierstimmen, aber er sieht die Tiere nicht. Der Wald zu beiden Seiten des Wegs ist wie eine Wand aus Baumstämmen und Sträuchern und hin und her wachsenden Lianen. Er hört den krächzenden Warnlaut des Kitschotschos, des fliegenden Waldwächters. Hoch über ihm streitet eine Horde Meerkatzen. Äste knacken unter ihren Sprüngen. Vor Kimanis Füße fällt ein abgebrochener Zweig. Die
spitzen Blätter des Bambus rascheln. Als er endlich aus dem Dämmer des Waldweges hinaustritt auf eine große Lichtung, atmet er tief und wie befreit auf. Bill jagt voraus, und die kleine Herde läuft in das Sonnenlicht und in das saftige Gras. Das muß die alte Bergweide sein. Die wilde, fruchtbare Natur hat alle Spuren der gräßlichen Bombennacht überwuchert. Nie vorher sah Kimani solch eine grüne, dunkle Weide. Die Ziegen fressen gierig. Der Junge setzt sich nieder, zieht die Knie dicht an den Leib, umschlingt die Beine mit seinen Armen und blickt hinab ins Tal. Eine nie geschaute Welt zeigt sich ihm, weit und unendlich. Der Riesenkrater des Menengai, des erloschenen Vulkans, liegt vor ihm. Er kennt ihn nur aus den Märchen. Es wird erzählt, die Elefanten zögen zum Sterben hin. Dort ist der flache Berg. Sind nun auch die Märchen Wirklichkeit?
Er sieht nicht sein Dorf, nicht die Shambas unter den Feigenbäumen. Er ist hoch oben; und wenn Wolken wären, die Wolken wären nah.
DAS WETTER Kimani schläft im Schatten eines Nandibaumes. An dem grünen Blätterkleid leuchten die roten Blüten wie aufgesteckte Sterne. Die Sonne ist schon durch die Mitte des weißblauen Himmels gezogen. Mit ihr wandert der Schatten des Baumes, wandert auch über den schlafenden Jungen hin, bis der sich schließlich geblendet die Augen reibt. Die Ziegen ruhen. Ihre Mäuler mahlen. Bill schläft, nicht einmal mit einem Auge blinzelnd. Kimani hört in seinem Bauch den Hunger knarren. Auch Durst verspürt er. Der
Beutel ist fast leergetrunken. Beim Wassergluckern hebt Bill den Kopf, gähnt und streckt sich verschlafen. Er wendet den Kopf nach den Ziegen, dann kratzt er sich lange mit der rechten Hinterpfote das Ohr. Kimani wölbt eine Hand zu einer kleinen Schale, aus der Bill seinen Anteil Wasser schlürft. Der Junge greift nach seiner Tasche, darin sind, in ein weißes Tuch gewickelt, drei Tschapatis, in der Pfanne gebrutzelte und mit Zucker bestreute Maisfladen. Beim Kauen muß er an die Mutter denken, daran, wie sie gestern abend zu ihm ans Lager gekommen ist und die Hand auf seine Stirn gelegt hat. Er schaut ins Tal, und für einen Augenblick durchfährt ihn der Gedanke, daß er nicht wieder zurückfinden könnte. Da sind nur fremde Berge. Der unheimliche Menengai. Flimmernder Dunst liegt auf der hügeligen Horizontlinie.
Kimani dreht sich um. Hinter ihm und über ihm erhebt sich die Waidkuppe des Berges. Er wischt sich über die schweißnasse Stirn. Die Büsche und Bäume stehen regungslos in der Sonnenglut. Und kein Laut ist, außer dem sirrenden Lied der Grillen. Dem Jungen klingen die Ohren davon. Die Farbe des Himmels ist mit einem ungewöhnlichen gelben Schimmer überleuchtet. Ob es heute ein Gewitter gibt? Er denkt: Vielleicht sind Thuo und Ndemi und die anderen schon heimgezogen. Wenn sie nun auf ihn warten? Er muß lächeln. Sie haben es ihm nicht geglaubt. Wenn die anderen mit den Herden ins Dorf kommen, werden die Leute fragen: Wo ist denn Kimani? Habt ihr Kimani nicht gesehen? Sie werden ungläubig den Kopf schütteln. Auf die alte Bergweide, sagt ihr? Aber das ist doch viel zu weit! Viel zu gefährlich! Durch die Elefantenschlucht!
Kimani wird es heiß vor Stolz. Großvater Karanja nimmt die Pfeife aus dem Mund. „Er ist ein kleiner Büffel. Immer mit dem Schädel durch die dicksten Dornen.“ Das hat der Großvater schon oft gesagt. Es ist ihm, als höre er Ndemi sagen: „Wir konnten es uns eben nicht vorstellen. Bis auf die alte Bergweide…!“ Und Thuo: „Dazu gehört was.“ Kungu wird nicken: „Wir haben nicht gedacht, daß er so viel Mut hat.“ Und Großvater Karanja brummelt: „Mut! Mut! Er ist ein kleiner Büffel.“ Ja, so werden sie vielleicht reden; und sie werden einsehen, daß sie ihm Unrecht getan haben. Einer wird vielleicht sagen: Wir müssen ihn schnell holen. Der Junge erwacht aus seinen Träumereien. „Komm, Bill! Wir müssen zurück. Holen sollen sie uns nicht.“
Bill bellt. Die Ziegen drehen die Köpfe und hören auf, wiederzukäuen. „Los, Bill!“ Aber Bill gähnt noch, dann endlich rennt er zu Bessie, um sie zu knuffen, weil sie so dumm glotzt. Kimani erkennt bald, daß der Abstieg nicht leichter als der Aufstieg ist. Seine Füße schmerzen. Die Ziegen zuckeln langsam. Sie haben sich Hängebäuche angefressen. Solche Weiden sind sie nicht gewöhnt. Sonst fressen sie karges und mageres Gras. Bill trottet neben Kimani her. Er schnappt nicht einmal nach den Fliegen, die vor seiner Schnauze summen. Eine Wolkenwand wächst in den Himmel, und als sie die Sonne einholt, wird es noch dunkler im Wald. Kimani muß wieder stehenbleiben und auf die Herde warten. „Los, Bill! Komm, pese, pese!“ Das heißt: Schnell, schnell!
Sie mögen eine Stunde gegangen sein, da bleibt Kimani lauschend stehn. Der Donner poltert in der Ferne. Die Ziegen drängen aneinander. Ihre dicken Bäuche schaukeln. Die kleinste, Schwarzohr, scheint am gierigsten gefressen zu haben. Ihr Bauch schleift fast auf der Erde. Im düstren Wald steht eine unheimliche Stille. Der Weg windet sich hinab; und zweimal oder dreimal bleibt der Junge stehn, von dem Gedanken erschreckt, er habe sich verlaufen. Er glitscht auf einer nassen Wurzel aus. Seitdem humpelt er beim Gehen. Der Donner kommt näher. Das Wetter ist vorn und hinten und links und rechts. Nur über ihnen, da ist es noch nicht. Trotz der Schmerzen beginnt Kimani zu laufen. Die Tiere folgen, so schnell sie es vermögen. Der Donner treibt sie, die Angst vor dem Wetter. Schwarzohr meckert kläglich. Andere fallen ein.
Kimani denkt nicht mehr daran, daß sie im Dorf sagen werden, er sei mutig. Er wünscht jetzt nur, daß er schnell herauskommen kann aus dem grünfinsteren Wald. Als sich das dichte Blätterdach endlich lichtet und Kimani losrennen will ins Freie, bleibt er wie angewurzelt stehen. Da ist keine zehn Schritte vor ihm ein Buschbock, den Kopf mit dem starken Gehörn gesenkt, äugend, die Ohren zurück. Bill läuft fünfzig Schritte hinter Kimani, um die Herde anzutreiben. Der Junge hört nichts um sich, nur sein Herz schlagen. Da reißt er den Mund auf und schreit, schreit, wie wohl noch nie in seinem Leben. Der Buschbock wirft sich zur Seite und bricht durch das lichte Gehölz. Kimani starrt ihm nach, hört noch Äste und Zweige knacken, Blätter rauschen. Dann
springt auch Bill herbei; den Kopf weit vorgestreckt, so jagt er in Riesensätzen dem Bock nach. Kimani ruft. Doch Bill kommt spät zurück, keuchend mitweit heraushängender Zunge, da steigt Kimani schon von der Waldblöße hinunter zur Schlucht. Die Ziegen sind nicht mehr beisammen. Bill hat seine Not. Dabei ist Bessie diesmal nicht unter den letzten. Schwarzohr hat bestimmt zuviel gefressen und zu schnell dazu. Kimani hört immer häufiger ihr klägliches Meckern. Ein Blitz zuckt wie ein flammender Speer über ihnen hin durch die Wolken, tief und blendend nah. Der Donner trifft sie wie ein Schlag. Die Herde ist ein dunkles Knäuel. Ein Tier will unter das andere kriechen. Der Junge hat sich niedergekauert und hält Bills Kopf umfaßt. Er spürt die dampfende Wärme des Hundefelles.
Der Regen bricht herab. Die Tiere liegen. Kimani wirft die Decke über Bill und über sich. Wie Steine schlagen die Tropfen auf die Decke, durchnässen sie sofort. Bill hechelt laut. Kimani streichelt ihn. Er hat das alles getan, ohne erst nachzudenken. Das Wasser rinnt an seinem Kopf herab, den Nacken hinunter. Er horcht. Aber es ist nichts da als das Rauschen des Regens. Blitz und Donner wälzen sich die Flanke des Berges hinan. Nach einer Weile schiebt Kimani die Decke zurück. Kalte Luft trifft seinen nassen Körper. Die kleine Herde liegt noch eng beieinander, doch nicht mehr geduckt wie vorhin im Erschrecken. Bill schüttelt sich neben Kimani, daß das Wasser weit spritzt. Die Erde ist kalt und glitschig. Der Schlamm knietscht zwischen den Zehen. „Auf, Bill! Pese, pese!“ Kimani stützt sich auf seinen langen Hirtenstock. Die
Schlucht ist tief. Das Wasser strömt hinein, rauscht und gurgelt wie ein Wildbach. Fern im Südosten über dem mächtigen Kinangop hellt der Himmel auf. Dort, wo sich sonst die Wolken ballen, strahlt jetzt blitzweißes Sonnenlicht hinter den Wetterwolken hervor. Die Regentropfen glitzern wie gläserne Perlen. Kimani muß am Rand der Schlucht durch das Gehölz hinabziehen. Im Wald ist kein Vorankommen. Durch die Schlucht strömt der Wildbach. Der Junge friert. Doch jetzt ist nicht die Zeit, daran zu denken. Wie tief mag die Sonne stehen? Er sieht sie noch nicht. Mehr als eine Stunde bleibt bestimmt nicht bis zum Untergang. Er hat keine Panga, kein Buschmesser, nur seinen Stock. Die Dornen zerreißen ihm die Decke und die Hose und das Hemd und die Haut. Er weiß nicht, ob es Tränen sind, die über sein Gesicht rinnen,
oder Regentropfen. Heller und heller kommt ihnen das Licht hinter der Wetterwand entgegen. Doch es brennt nicht blau, wie im Morgen und in der Mitte des Tages. Es hat goldene Strahlen. Endlich ist die Sonne frei. Kimani schätzt ihren Weg bis zum Horizont auf eine halbe Stunde. Seine Beine zittern. Oft gleitet er aus und stürzt, die Tiere auch. Sie wollen nicht mehr. Und Bill hat fast keinen Atem, so muß er hin und her hetzen. Die Wolken fliegen davon. Der Regen versiegt. Plötzlich ist eine Schneise vor ihnen. Gefällte Bäume liegen zu beiden Seiten. Dazwischen ist der Boden tief aufgeschürft. Wasserlachen blinken. Aber es ist ein Weg. Es geht schneller voran. Dann breitet sich die Schlucht, und sie können hinabsteigen. Kimani blinzelt zur Sonne. Es ist ihm, als sähe er, wie sie sich senkt. Vielleicht zweihundert Schritte noch, dann wird die Nacht kommen.
Er wendet sich nach rechts, muntert Bill auf. Und er zwingt sich zum Laufen, springt einen Hang hinab. Dort ist das Ende der Elefantenschlucht. Bill kläfft hinter ihm. Kimani rennt weiter. Die Beine sind schwer, das linke sticht bei jedem Schritt. Er ist schon wieder durstig und beißt in die regenfeuchte Decke und saugt. Doch er muß ausspucken. Er hätte Wasser auffangen sollen. Vorn in der Schlucht wird alles verschmutzt sein. Bill bellt sich heiser. Meckert da wieder Bessie? Die Herde steht. Ein Tier wälzt sich vor einem Felsstein. „Komm her, Bill. Nicht fassen!“ Kimani läuft hin. Es ist die kleine rotbraune mit den schwarzen Ohren und schwarzen Läufen. Schwarzohr. Sie liegt keuchend am Boden und erbricht grünes, schleimiges Zeug. Kimani reißt Gras ab und wischt über das Fell. Die anderen Tiere lassen sich nieder.
Der Himmel ist golden. Wie eine rosa Frucht, prall und groß, fällt die Sonne herab. Schnell wachsen die Schatten, und der Himmel verfärbt sich blaugrau. Kimani befühlt die Beine der kleinen Ziege. Da ist kein Bruch. Schwarzohr hat zuviel gefressen. Und er weiß mit einem Mal, daß er schuldig ist. Der lange Weg! Die Hetze. Er ist der Ziegenjunge. Er hätte daran denken sollen, daß die Weide für die Ziegen zu fett ist. Die Tiere blicken alle zu ihm; und als er sie so sieht, muß er plötzlich weinen.
DER KAMPF MIT DER ANGST Stärker dunkelt der Himmel. Sterne leuchten auf. Kimani kniet bei Schwarzohr. Der Leib ist aufgetrieben und heiß. Das Tier keucht, ist nicht auf die Beine zu bringen. Kimani hat es die letzten hundert Schrit-
te auf seiner Decke bis hin zu dem großen Felsen gezerrt. Hier ist Gras. Hier läßt sich gut lagern. Und von hier kennt er den Weg. Er muß doch heimfinden! Ob Vater und Mutter schon zu Hause sind? Manchmal kommen sie spät. Kimani hat vergessen, daß er vor zwei Stunden noch gedacht hat: Nein, holen sollen sie uns nicht. Ich will es ihnen beweisen. Er ist lange genug Hirtenjunge, um zu erkennen, daß Schwarzohr in großer Gefahr ist, daß ihm das Tier sterben kann. Aber er allein vermag nicht zu helfen. Großvater Karanja versteht etwas von Tierkrankheiten und der Vater und Onkel Kariuki. Kimani muß Hilfe holen. Mit Bill würde er trotz der Dunkelheit den Weg schnell finden. Doch er darf die Herde nicht ohne Schutz zurücklassen. Wie große, dunkle Steine liegen die Tiere im Gras. Und jetzt klagt nicht nur Schwarzohr.
Die Herde wird heute keinen Schritt mehr tun. Er muß allein gehn. Es ist ihm, als habe die Wildnis noch nie vorher so viele Stimmen gehabt wie jetzt in der Dunkelheit. Die Ohren scheinen besser zu hören. Nachtzikaden lärmen im Gras. Ein fremder Vogel kollert. Und ist das nicht eine Hyäne? Sie lacht keckernd. Zu Kimani kriecht die Angst. Wenn Schwarzohr nun stirbt! Wegen meiner Prahlerei! Die Leute aus dem Dorf müssen doch kommen. Vielleicht aber haben Ndemi und Thuo gar nichts erzählt? Dem Jungen tritt der Schweiß auf die Stirn, obwohl sich die Nachtkühle aus dem Himmel herabsenkt. Schwarzohr keucht. Kimani blickt in die Richtung, in der das Dorf liegen muß. Ob er nicht den Lichtschein der Hütten sieht? Fast scheint es ihm so.
Die Hyäne bellt näher. Dann heult sie: Huuuuu-hui! Der Hund knurrt. Bill wird bei der Herde bleiben, das weiß der Junge. Bei der Herde ist seine Arbeit, da läuft er nicht weg. Aber ich, ich, muß Kimani plötzlich denken. Ich bin weggelaufen. Weg von der Weide. Und jetzt? Nun werden sie von neuem lachen. Schwarzohr erbricht sich. Kimani reibt sie wieder mit Gras trocken. „Sei ruhig, Schwarzohr. Sie holen dich bald. Weißt du, ich… Ich werde… Ich gehe jetzt nämlich los. Aber Bill bleibt hier. Ihr braucht keine Angst zu haben. Es ist ja nicht weit.“ Er redet und redet und hat das eigentlich gar nicht sagen wollen. Das ist doch jetzt ein Versprechen. Er legt seine Wolldecke über Schwarzohrs aufgetriebenen Leib. Tastet dann
nach seinem Stock und beugt sich zu Bill hinab. „Bill, paß auf. Paß auf!“ Der Hund spitzt die Ohren. „Du bleibst hier, Bill. Platz, Bill! Verstehst du? Platz!“ Bill wafft leise. Kimani muß ein paarmal schlucken. Dann dreht er sich um und geht die ersten Schritte. Bill winselt. „Sei still. Du bist doch kein Angsthase.“ Dabei zittern ihm selbst die Beine. Doch das kann von der Müdigkeit sein. Sie erscheinen ihm schwer und hölzern. Das linke ist am Knöchel geschwollen. Doch Kimani geht, er läuft sogar. Dort hinter dem Busch ist wirklich ein Lichtschein. Das sind die Feuer des Dorfes! Auch der Mond steigt auf. Es wird schnell heller werden.
Wenn er erst bei den Zedern wäre! Dann wird er den Weg nicht mehr verfehlen. Aber bis dahin… Das Elefantengras steht hoch. Kimani nimmt den Stock empor, wiegt ihn in der Hand. Plötzlich schrickt er zusammen. Die Hyäne! Sie lauert vor ihm! Zehn, zwölf Schritte entfernt. Er sieht die Augen lichtern. „Tju-tju-huuu.“ Kimani hat die linke Hand im Mund, und plötzlich schmeckt er Blut. Sein Herz scheint durch seinen ganzen Körper zu dröhnen, bis in den Kopf hinauf, und er erinnert sich an den Buschbock. Den Kopf hatte er gesenkt, das Gehörn wie zwei Dolche zum Stoß bereit. Kimani springt auf und schreit. Er sieht, wie die Lichter größer werden. Er schleudert den Stock vor. Springt sie nicht? Er hört seinen Stock in eine Pfütze klat-
schen. Im hohen Gras raschelt es. Das Rascheln und Knacken entfernt sich. Lauschend bleibt der Junge stehen und erkennt: Die Hyäne ist geflüchtet! Vor ihm! Oh, wie das Herz schlägt. Aber das ist jetzt nicht mehr Angst. Er tappt voran. Vorsicht! Jetzt muß die Pfütze kommen. Das Mondlicht spiegelt sich schon. Er greift sich den Stock und läuft weiter. Als er die Zedern erreicht, erkennt er, daß der Lichtschein näher gekommen ist. Das sind Fackeln! Die Leute aus dem Dorf suchen ihn. Kimani wölbt die Hände um den Mund und ruft: „Hee, ho-jii, ho-jii!“, so, wie die Hirten in den Bergen rufen, wenn es Zeit ist, mit der Herde heimzuziehen. Dann rennt er auf die Lichter zu. Der Vater ist unter den Männern, Kimani
hängt sich an seinen Arm. Der Vater fährt ihm über den Kopf. Die Männer des Dorfes stehen herum. Gemurmel. Auch junge Burschen sind dabei; und dort äugt Ndemi. Auch Thuo. Sie flüstern. Kimani schluckt die Tränen hinunter. Er erzählt schnell, was geschehen ist. Er verschweigt nichts. Er denkt sich keine Geschichte aus, durch die er sich herausstellen kann. Er erzählt nur die Wahrheit. Keiner beschimpft ihn. Niemand schilt ihn. Das ist Sache des Vaters. Das wissen die anderen. Sie mischen sich nicht ein. Und der Vater wird mit ihm reden, das weiß Kimani. Und die Mutter… Kimani ist wieder den Tränen nahe. Der Vater geht mit seinem Jungen an die Spitze des Zuges. Kimani führt die Männer. Ndemi und Thuo kommen nach vorn. Ndemi fragt leise: „Warst du wirklich auf der alten Bergweide?“
Thuo fragt: „Und durch den Busch bist du? Durch die Elefantenschlucht?“ Und Kimani sagt nicht: Ja. Es war gefährlich. Ich habe einen Buschbock in die Flucht geschlagen. Ich habe eine Hyäne verjagt. Bloß mit meinem Stock. Kimani sagt: „Es war ganz anders, als ich gedacht hatte. Gruselig ist es nicht so sehr. Sie haben dort viele Bäume gefällt. Bloß als das Gewitter kam, da…“ Er zwingt sich zur Wahrheit: „Da hab ich Angst gehabt.“ Er fühlt wieder die Hand des Vaters. Sie liegt auf seiner Schulter. Kimani bleibt stehen, legt die Hände wie einen Trichter um den Mund und ruft: „Bi-hill! Bi-hill! Gib Laut!“ Bill antwortet. Heiser klingt sein Bellen, aber auch freudig. Der Junge nimmt die Hand des Vaters, zieht ihn heran. Er hat das klagende Meckern der Ziegen gehört.
Einmal noch erschrickt Kimani. Plötzlich springt ihn ein Schatten an. Es ist Bill. Nun sind sie bei der Herde. Onkel Kariuki kniet bei Schwarzohr nieder. „Schlimm“, sagt er. „Der Ranzen platzt ja fast.“ Er trommelt mit den Händen auf Schwarzohrs Leib. Kimani preßt das Tier mit den Hinterläufen auf die Erde. Schwarzohr windet sich. Vorn hält der Vater. „Wenden!“ schreit Onkel Kariuki. Der Junge hört den Zorn aus der Stimme. Sie drehen Schwarzohr auf den Bauch. Onkel Kariukis Hände kneten jetzt. Keuchend geht sein Atem. Endlich wagt Kimani die Frage: „Wird sie… wird sie sterben?“ Onkel Kariuki knetet und hämmert und keucht. Hat Kimani zu leise gesprochen? Da richtet Onkel Kariuki den Oberkörper auf und sagt: „Wir sind gerade noch zurechtgekommen. Ein paar Minuten später
wäre vielleicht schon zu spät gewesen.“ Er wendet sich an die anderen, die sich um die Ziegen bemühen. „Macht vorsichtig. Drückt ihnen die Luft nach und nach aus dem Wanst.“ Die Männer haben trocknes Holz mitgebracht und ein Feuer entzündet. Thuo kniet neben Kimani. Er nimmt das eine Bein Schwarzohrs, Kimani atmet auf; es geht besser so. Wie er jetzt so auf Schwarzohr niedersieht, wie er auch die anderen Tiere unter den Händen der Männer kläglich meckern hört, da schämt er sich. Nur seinetwegen ist das alles. Nur seinetwegen sind sie in der Nacht hinausgezogen. Und wenn sie nun nicht gekommen wären… In diesem Augenblick merkt Kimani zum ersten Male in seinem Leben, wie sehr er die anderen Menschen alle braucht. Die Männer haben auch Decken mitgebracht, die binden sie zu Tragen. Immer
zwei nehmen eine Ziege. Nur Bessie will nicht. Sie springt fort. Aber da ist Bill bei ihr. Er beißt ihr diesmal richtig in die Hinterbacken, daß sie laut aufmeckert. Der Mond steht hoch über ihnen, als sie heimwärts ziehen. Kimani hält die Hand seines Vaters. Er ist ganz still. Aber er muß viel, viel denken.
INHALT Kimani sieht einen silbernen Adler Kimanis Herde Kimani ärgert sich Grossvater Karanja erzählt Kimani geht auf die Bergweide Das Wetter Der Kampf mit der Angst
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