046 - Hugos Wostok

August 27, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Nature, Science, Technology (General)
Share Embed Donate


Short Description

.....................

Description

DIE KLEINEN

TROMPETERBÜCHER



B A N D 46

HERBERT F R I E D R I C H

Hugos „Wostok"

DER K I N D E R B U C H V E R L A G

BERLIN

ILLUSTRATIONEN VON ERIKA KLEIN

Alle Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic Lizenz-Nr. 304-270/274/73- (145) Satz und Druck: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 111-17-20 N 300 923 4. Auflage ES 9 D 1 Für Leser von 7 Jahren an Best.-Nr. 628 549 4 EVP 1.75

Jeder kennt die Geschichte vom ersten Weltraumflug eines Menschen. An einem Frühlingstag stieg er in das Raumschiff, schoß in den Himmel und umkreiste einmal die Erde: ein neuer Himmelskörper, ein kleiner Mond. Und darin ein Mensch. Er hieß Gagarin, ihr wißt es. Und das Jahr, in dem er flog, werden die Kinder und wieder die Kinder lernen, alle Jahre, immer und ewig: 1961. Und das Raumschiff nannte man „Wostok". In der Sprache jenes Mannes heißt das „Osten". Denn im Osten geht die Sonne auf, die uns Licht und Wärme schenkt. Wo er vom Himmel heruntergeschossen kam, wo er den Fuß wieder auf die Erde setzte, war eine weite Ebene, tief im Innern der Sowjetunion. Felder gab es hier und Wiesen, wie überall. Aber es war eine besondere Erde, das wußten auch die Bauern des nächstgelegenen Dorfes: Hier landete 5

der erste Kosmonaut. Und so beschlossen die Bauern, an jener Stelle ein Denkmal zu errichten. Die Geschichte von Hugo dagegen kennt nicht jeder. Die will ich euch jetzt erzählen. Hugo wohnte weit weg vom Landeplatz der „Wostok", länderweit. Er wohnte aber ganz nahe bei euch, in einem kleinen Dorf der Elbaue. Er war so um die neun Jahre alt, etwas klein geraten und hatte ein paar Sommersprossen auf der Stupsnase. Jetzt könnt ihr ihn euch schon vorstellen. Hugo schnitt alles aus den Zeitungen aus, was er vom Weltraumflug fand. So geschah es mitunter, daß Vater am Abend beim Entfalten der Zeitung in ein großes Loch blickte. Er sah durch das Loch auf Hugo, und so schien Hugo in der Zeitung zu stecken. Und er mußte Vater alles erzählen, was auf dem herausgeschnittenen Stück gestanden hatte. 6

Das Bild des Weltraumfliegers hängte sich Hugo übers Bett an die Stelle des Scherenschnittes vom gestiefelten Kater. Mutter fand am nächsten Morgen den gestiefelten Kater unterm Bett, und sie tadelte: „Du bist liederlich." Das kostete ihm seinen Pudding. Hugo aß für sein Leben gern; es fiel ihm schwer, auf den Pudding zu verzichten. Hugo verschlang auch anderes, nämlich Bücher. „Er frißt sie", meinte sein Vater während der Frühstückspause zu den Arbeitskollegen im Ziegelwerk und dachte an die Löcher in den Zeitungen. Doch das sagte er stolz. Hugos Zensuren erfreuten jeden Lehrer. „Nur mit den technischen Arbeiten", gestand Hugos Vater, „da macht er mir Kummer. Ich möchte wissen, von wem er das hat, diese zwei linken Hände .. Hugos Vater hätte gern noch weitererzählt, aber er wurde zur Ziegelpresse gerufen, um dort einen Schaden zu beheben. 8

Auch Frau Becker erzählte. Frau Becker war Hugos Lehrerin, und sie erzählte vom Raumschiff. Das war Hugo sehr lieb. Wenn Frau Becker nicht weiter wußte, da sie ja auch noch nicht um die Erde geflogen war, dann holte Hugo die Zeitungsausschnitte hervor. Und so kamen sie alle gut um die Erde und landeten glatt. Als es am Stundenende klingelte, überlegten sie gerade, wie das Denkmal aussehen könnte, welches die sowjetischen Bauern am Landeplatz errichten wollten. Nun war die Schule aus, und Frau Becker brauchte ihre Klasse nur noch fernzusteuern: Ein Wort, und die Kinder erhoben sich. Ein weiteres Wort, und sie standen an der Tür, zwei zu zwei, wie es sich gehört. Eins, zwei, drei schritten sie die Treppe hinunter, erreichten das große Tor, und dann... Dann versagte die Fernsteuerung. Dann rannten die dreißig Mädel und Jun9

gen hinaus in das Aprilwetter, so schnell, wie die Menschen in der fernen Sowjetunion auf das gelandete Raumschiff zugesprungen sein mochten. Hugo trabte neben Hock die Dorfstraße hinab. Hock hieß sonst Gerolf. Doch als er in die Hockeymannschaft aufgenommen worden war, freilich als jüngster, hatte ihm die Klasse stolz den neuen Namen verliehen. Hugo neben ihm geriet ins Schwitzen. „Du hast heute die Brigade rausgerissen", lobte Hock, „mit deiner Erzählerei übers Raumschiff." Großspurig winkte Hugo ab. „Das Raumschiff hat die Wolken angebohrt", murrte Hock. „Jetzt kommt das ganze Wasser raus." „Ich kann schwimmen", sagte Hugo. Als aber die Tropfen größer wurden, schimpfte er mit. „Das weiß nicht, ob es regnen oder 10

schneien soll." Er dachte auch an seine schöne blaue Hose, die er heute zum erstenmal trug. Der würde das Wetter gar nicht bekommen. „In fünfzig Jahren", sagte Hock, „kannst du das Wetter bestellen, wie du willst. Willst du Ski fahren, bestellst du dir Schnee." Hugo keuchte: „In fünfzig Jahren bin ich neunundfünfzig. Da will ich nicht mehr Ski fahren. Und dem da helfen deine fünfzig Jahre auch nicht." Er deutete auf einen Traktoristen, der seinen Traktor aus einem Feldweg auf die Straße lenkte. Der Traktorist war wirklich nicht glücklich über das Wetter. Er duckte sich hinter der Schutzscheibe, und von seiner Lederjacke troff die Nässe. „Guten Tag", sagte Hock. „Kennst du ihn?" fragte Hugo. Hock sah dem schmutzstarrenden Traktor hinterher. „Das ist Herr Garbe. Mit dem 11

muß ich mich gut stellen. Der ist nämlich Platzwart auf dem Sportplatz." Dann seufzte er: „Hoffentlich kommt die Sonne bald raus. Der Sportplatz steht auch noch unter Wasser." Der Traktor hielt vor ihnen. Natürlich war die Bahnschranke heruntergelassen. Drüben blinzelte Schrankenwärter Findeisen nach der Uhr und nach seinem Häuschen. In seinem Schnurrbart hingen Tropfen. Hugo nickte einen Gruß hinüber und erklärte dann: „Den Herrn Findeisen, den kenne ich nun wieder. Der geht jeden Freitag mit Vater kegeln." Traktorist Garbe schrie über die geschlossene Schranke hinweg dem Bahnwärter zu: „Du konntest mich ruhig noch durchlassen!" Der Traktorist hatte eine große Nase, einen richtigen Riecher. Wie hätte Bahnwärter Findeisen den Traktor so kurz vorm Sternburger Zug noch 12

durchlassen können? Mitten auf dem Gleis wäre der Traktor stehengeblieben, todsicher. „Mit dem Raumschiff", träumte Hugo, „hält dich keine Schranke. Du startest und sagst ,Achtung!', und du hast das Wort noch nicht ganz heraus, da bist du schon zehn Kilometer geflogen." Herr Garbe stellte den Motor ab; da hörten sie in der Ferne den Sternburger Zug tuten. Hock legte die Arme auf den nassen Schrankenbaum. Bahnwärter Findeisen hob die buschigen Brauen, und Hugo zog Hock fix zurück in die Nähe des warmen Traktors. „Hände weg von der Schranke", warnte Herr Findeisen. „Paßt lieber auf, daß euch der Zug nicht vollspritzt!" Dort, wo die Schienen über die Straße führten, war nämlich ein richtiger See. Unvermittelt sagte Hugo: „Jetzt kann ich den ganzen Weg zurücklaufen!" 14

Hock blinzelte ihn neugierig an. „Warum denn?" „Ich habe die Bücher nicht abgegeben in der Bücherei. Ich schleppe alles wieder mit heim." „Du erstickst noch mal in Büchern, du Leseratte." Hugo nahm Hocks Lächeln nicht krumm. Besser in Büchern ersticken als im Straßenschlamm. Jetzt hätte er ein Fahrzeug gebrauchen können. Nicht gerade ein Raumschiff, aber wenigstens einen Traktor. Zu Fuß ginge er nicht noch einmal zurück. Da blieb er lieber an der Schranke stehen. Ihr müßt wissen, er hatte doch die neue Hose an. Sie hörten schon den Zug rattern. Traktorist Garbe warf die Zigarettenkippe weg, und Schrankenwärter Findeisen nahm die Flagge unterm Arm hervor, mit der er dem Lokomotivführer zeigen wollte, daß alles in Ordnung war. 15

Hugo starrte auf die großen Schneeflocken, die sich nun in den Regen mengten. Ohne Buch, das würde ein langweiliger Tag werden. Vielleicht spielte er mit sich selber Mensch-ärgere-dich-nicht. Hock sagte etwas, aber Hugo verstand es nicht. Die Lokomotive fauchte gerade vorbei. Rußspuckend riß sie den Zug hinter sich her, und das Wasser spritzte wirklich bald bis zum Traktor am Warnkreuz. Hock schrie: „Ich bastele heute. Bei dem Wetter kann ich nicht auf den Sportplatz!" „Was bastelst du?" ,,'ne Libelle!" „Fang dir doch eine. Am Ziegelteich gibt's eine ganze Menge." Hock war erbost. „Dummkopf, um diese Jahreszeit! Meine Libelle ist ein Flugmodell!" Hugo staunte. Vom Sternburger Zug sauste der letzte Per16

sonenwagen vorbei, Hugo merkte es gar nicht. Hock sagte: „Du schwärmst so vom Weltraumflug und liest bloß! Auf 'nem Buch hätte der Gagarin nicht fliegen können. Bau mit, laß dich nicht betteln!" Der großnasige Herr Garbe sagte neidisch von seinem hohen Fahrersitz herunter: „Ihr habt es gut. Ihr schwartet und bastelt Modellchen." Er schaltete die Zündung ein. „Tuck, tuck, tuck", brüllte der Traktor. Herr Findeisen leierte eilends die Schranke hoch. „Komm", drängte Hugo. „Ich bin schon naß." Es ärgerte ihn, daß der Traktorist ihr Gespräch gehört hatte. Und nun lachte er gar noch über sie. Da gingen sie weiter auf Zehenspitzen durch die große Pfütze. In der Mitte dieses kleinen Sees überholte sie knatternd der Traktor. Wie eine Bugwelle spritzte er das Wasser weg. Hugo schrie. Er spürte die 17

Nässe an seinen Beinen auf der nackten Haut. „Meine Hose!" schrie Hugo. „Die eine Minute konntest du noch warten, Garbe, bis die Jungen auf dem Trockenen sind!" Herr Findeisen zankte und kam herüber und schwenkte drohend die Flagge. Hock sagte schnell: „Es wird nicht so schlimm sein!" Herr Garbe war doch sein Platzwart, der Mann, der den großen Sportplatz unter sich hatte, auf dem es sich so schön Hockey spielte . . . Herr Garbe selber betrachtete finster den Schaden, fuhr aus der Pfütze heraus und hielt dann. „Garbe", drohte Bahnwärter Findeisen, „die Hose bezahlst du, da hilft dir nichts." Das Wasser, das Hugos Hose durchtränkte, war ölig. Er fror jetzt sehr, aber es freute ihn auch, daß ihm Vaters Kegelfreund beisprang. 18

„Schickt mir die Rechnung!" schrie der Traktorist. „Ich muß weiter. Kartoffeln wollt ihr doch essen, was?" Dann knatterte er los. „Entschuldigt, ihr!" rief er noch über die Schulter. Hugo bedankte sich bei Herrn Findeisen und meinte dann: „Mutter wird sich freuen. Die neue Hose." „Was wird nun?" fragte Hock an der Lockwitzbrücke. „Baust du mit, heute nachmittag?" „Du mit deiner Bauerei", sagte Hugo. „Wiedersehen", sagte Hock, und Hugo schwieg und zitterte vor Kälte. Der Traktor fuhr weit drüben unter den Kirschbäumen auf der Landstraße dahin. Daheim machte Mutter große Augen. „Dich kann man nicht allein lassen!" zankte sie und wrang die Hose aus. „Du bist selber schuld. Den Traktor hättest du sehen können."

19

Hugo zog sich in die entlegenste Ecke zurück und tüftelte an den Hausaufgaben herum. Dann holte er sich ein Zeichenblatt und versuchte, ein Denkmal zu entwerfen, wie es die Bauern am Landeplatz der „Wostok" errichten könnten. Auch die Zeitung überflog er rasch, fand aber nichts mehr von der Raumschiffahrt, überhaupt war die Zeitung bald ausgelesen. Lang und grau war der Nachmittag. Und so saß er da und schaute in den Regen und ab und zu in Mutters vorwurfsvolle Augen und war wütend auf Herrn Garbe. Wenn ich nun doch zu Hock ginge, dachte er, dann würde ich die neue Hose und Mutters traurigen Blick vergessen. Leise stand er auf und huschte in den Schuppen zum Werkzeugschrank. Er grübelte lange, was wohl zum Bau eines Flugmodells gebraucht würde. Nach einer Weile nahm er Laubsäge, Bohrer, Feile und 20

Zange. Und zuletzt griff er noch einen Hammer. Aber der Hammer fiel ihm herunter, genau auf den Milchnapf der Katze. Nun konnte die Katze keine Milch mehr daraus saufen. Erschrocken wickelte Hugo das Werkzeug in Vaters blaue Schürze. Erst die Hose, jetzt der Milchnapf — er wurde vom Pech verfolgt. Mutter setzte das Bügeleisen ab, als sie unseren Hugo so kommen sah. „Was willst du jetzt wieder anstellen?" „Wir basteln. Bei Gerolf. Zum Abendessen bin ich daheim." „Wenn das dein Vater sieht", sagte Mutter. Doch da war Hugo schon draußen. Hock wohnte drüben in einem verwitterten Fachwerkhaus, das am Hang lehnte. Hock war nicht schwer zu finden. Hugo erstieg, dem Sägegeräusch folgend, die Knarrtreppe, auf der der Hund döste. In Hocks Zimmer sah es aus wie bei Rumpelmänn21

chen. Zwischen Leisten und Papier thronte Hock und freute sich königlich. Hugo freute sich weniger, denn Hock war nicht allein. Der kleine Kurt fuchtelte vergnügt mit einer Schere herum, und am Fenster stand Dieter und leimte etwas. „Jetzt ist die ganze Brigade beisammen", sagte Dieter zufrieden. Er war nämlich ihr Brigadier. „Frau Becker wird sich freuen." Dieter dachte immer daran, wie gut die Brigade dastehen müßte in Frau Beckers Augen. Daß sie Hugo zum Modellbauen einfangen könnten, daran hatte er nie und nimmer geglaubt. Ehe sich's Hugo versah, saß er am Tisch. Dieter schob seinen Kram zusammen, und auf dem gewonnenen Platz breitete Hock den Plan der „Libelle". Hugo paßte auf wie ein Autofahrer im Großstadtverkehr. Oder wie der Traktorist auf dem durchweichten Acker. Und aufpassen konnte er, das bewies er in der Schule täglich. 23

„Das ist die Tragfläche." Hock wies auf das Liniengewirr, das Hugo an die Schnittmusterbogen seiner Mutter erinnerte. Doch dann, als er sich hineinvertiefte, vergaß er Mutters Vorwürfe und auch den Traktoristen. Endlich konnte er das Werkzeug aus der Schürze wickeln, die er sich sofort umband. Sie war ihm zu weit. Er mußte aber doch die zweite Hose heute vor Schaden bewahren. „Tolles Werkzeug hast du", lobte Dieter. „Zeig mal her." Ein Hammer. Eine Zange. Säge, Bohrer und Feile. Alle drei lachten so laut, daß der Hund draußen auf der Knarrtreppe hochfuhr und bellte. Dieter hielt mit Lachtränen in den Augen den Hammer hoch. „Damit kannst du Pfähle einrammen!" Hugo hatte damit den Milchnapf zerschlagen. Das genügte ihm. Die anderen kicher24

ten immer noch. Im ganzen Flugmodell saß kein einziger Nagel, also war auch die Zange überflüssig. Aber die Säge befanden alle für gut. Ja, sein Vater hatte schon Werkzeug, das sich sehen lassen konnte. Und so war Hugo in den Kreis der Flugmodellbauer aufgenommen. Kurt hatte ihm schon Holz für die Spanten hingelegt. Eine nach der anderen zeichnete er darauf, sorgfältig und sauber, und er leckte sich vor Eifer die Lippen. Jetzt war er nicht mehr ängstlich, und an den Leimgeruch hatte er sich gewöhnt. Von Zeit zu Zeit schielte er zu den anderen. Die bauten schon die Tragflächen zusammen. Da wünschte er sich, er würde je so weit kommen. Vielleicht aber dauerte dies bis zum Herbst oder bis er die Lust verlor. Seine Freunde erzählten sich von Flugzeugen, als seien sie auf jedem Flugplatz zu Hause. Und er hätte sich an der Tür 26

nur noch ein Schild gewünscht, auf dem weiter nichts zu lesen stand als WERKSTATT FÜR R A U M S C H I F F E . Dieter sagte mit einemmal: „Jetzt hat der Hugo so viel Spanten gezeichnet, das langt für zwei Tragflächen." Da war er selber überrascht, und zufrieden war er auch, weil er nicht zu Hause hockengeblieben war. Und er sagte wie ein Fachmann: „Besser, man zeichnet etwas mehr. Vielleicht springt beim Aussägen das Holz. Gib mal die Säge her." Aber Hock zeigte ihm die Uhr. „Schluß für heute, ich muß morgen zeitig raus." Erstaunt bemerkte Hugo, es ging schon auf sieben zu. Das Sandmännchen war bestimmt schon dagewesen. Wenn das Sandmännchen jedoch bis zum Sommer warten könnte, würde es, wer weiß, mit Hugos Flugzeug kommen. Auf die dünne Holzplatte mit den Spanten 27

schrieb er HUGO, damit sie ja nicht verwechselt würde. „Hat Spaß gemacht", sagte er, als er Hock die Hand drückte. Heimzu regnete es nicht mehr. Dieter und Kurt trabten mit ihm bis zur Kreuzung. Auf der Brücke blieben sie stehen und starrten in das schwarze Lockwitzwasser. Und dann schauten sie hinauf zum Himmel, durch den ein Mensch im Raumschiff geflogen war. Zu Hause schlich die Katze traurig umher, ihr fehlte der Milchnapf. Vater dagegen freute sich. Die verdorbene Hose schaute er gar nicht an. „Der Knoten reißt!" rief er. „Hugo baut sich was, wunderbar!" In den kommenden Tagen saß Hugo jede freie Minute in Hocks Zimmer. Spanten zerbrachen ihm beim Aussägen, Laubsägeblätter zerbrachen. Dieter schimpfte, sie müßten noch eine ganze Laubsägeblätterfabrik für sich arbeiten lassen, so viel 28

brauchten sie. Einmal schnitt Hugo Leisten zu, die zu dick waren. Dieter konnte sich nicht beruhigen, bis Hock ihn am Kragen packte und an die Luft setzen wollte. Während sich die beiden an der Tür stritten, half der kleine Kurt unserem Hugo beim Einpassen der richtigen Leisten. „Wenn du nicht willst, Dieter", drohte Kurt zur Tür hinüber, „suchen wir uns einen anderen Brigadier." Das half augenblicklich. Trotz aller Rückschläge kam Hugo jedesmal wieder, hartnäckig und eisern. In der Schule erzählten sie schon Wundermären über sein prächtiges Modell; sogar die Lehrer hatten davon gehört. Zum Kegelabend sagte Vater stolz zwischen zwei Kugeln zu Bahnwärter Findeisen: „Mein Hugo, der baut 'n Flugzeug. Jetzt ist der Knoten gerissen." Mit Schwung schob er die Kugel, so daß die Kegel durcheinanderpurzelten. 29

Auch die Katze war zufrieden. Die trank aus einem neuen Milchnapf. Und Mutter war zufrieden, weil die neue Hose gereinigt war vom Traktorenöl und weil Herr Garbe dafür Geld geschickt hatte. Die Stare schwatzten in den Gärten, und an der Lockwitz, diesem zahmen Bächlein, stiegen die Wiesenpieper in die Luft. Die Felder dufteten, und die Sonne trieb den Flieder, und Nachbar Krug strich den Gartenzaun, erst braun, dann grün. Und als er fertig war, war auch Hugo fertig mit seiner Tragfläche. Oh, wie stolz war da Hugo! Brigadier Dieter und der kleine Kurt und Hock, der Sportsmann, keiner sparte mit Lob. Und die ganze Zeit über hatte doch auch keiner mit Hilfe gespart. Und Mutter sagte: „Ich mache mir Sorgen um dich. Ich glaube, du nimmst ab." Hugo hatte ganz andere Sorgen. Er hatte Woche um Woche an dem Modell geses30

sen, gemessen, gebastelt und geschnitzt. Er hatte gesehen, wie es unter seinen Händen wuchs. Würde es nun auch fliegen? Und er baute und baute, nun längst in Vaters Schuppen, nachdem er vorsorglich den neuen Katzenmilchnapf weggeräumt hatte. In Hocks Zimmer hingen an Bindfäden von der Decke herunter die Flugzeuge der Freunde. Die Bäume blühten. Die Sonne lockte hinaus, lockte den Hock zum Sportplatz. Jede Woche trainierte er zweimal in der Mannschaft für den Kreismeistertitel im Hockey. Und Dieter steckte den ganzen Tag im Schulgarten. Und im Sommer erst würden ihn die Libellen am Ziegelteich viel mehr interessieren als die „Libelle" aus Holz und Papier. Und Kurt, der Kleine, stellt euch vor, war Haushaltsvorstand geworden, nachdem sein Vater auf einen Lehrgang gefahren war. Nur abends steckte er dann und wann seine 32

Nase in Hugos Schuppen und erkundete, wie es stand mit dem Flugzeugbau; und er half wohl auch. Und die schönste Stunde war es für Hugo, wenn Vater am Abend in den Schuppen kam und ihm zeigte, wie man das Werkzeug handhabte. Und jeden Tag, wo sie gerade waren, sahen alle vier irgendwann zum Himmel. Die Wolken waren gut abgedichtet und segelten ruhig über Land. Was für herrliches Flugwetter! Und im herrlichen Frühling war doch auch Gagarin geflogen. Und einmal klinkte Kurt wieder an Hugos Schuppen, und er klinkte und klinkte. Da war er verschlossen. Und als er enttäuscht um die Ecke bog, saß Hugo mit zufriedenem Gesicht auf der Treppe und streichelte die Katze. „Fertig ist es", sagte Hugo. Kurt lachte und begann vor Freude zu boxen, was aber die Katze übelnahm. „Jetzt können wir die Flugzeuge fliegen 33

lassen." Das hatten sie sich in Hocks Zimmer geschworen: Keines fliegt, bevor nicht alle vier fix und fertig dastehen. Als Mutter wenig später zum Abendessen rief, miaute nur die Katze. Hugo klopfte gerade einige Straßenecken weiter an Dieters Tür. Da niemand öffnete, wühlte er in den Taschen, fand auch einen Zettel und einen Bleistiftstummel. Und er schrieb auf einem rissigen Balken als Unterlage: „Lieber Dieter, Du bist bestimmt im Schulgarten. Ich war bei Dir, aber ich kann nicht mehr warten . . . " Nun hatte er schon so viel geschrieben, und der Zettel war bald voll. Und das Wichtigste fehlte doch noch. Als Hugo noch einmal alles durchlas, merkte er, daß sich die beiden Zeilen reimten. Das war gut. Das war viel besser bei diesem bedeutenden Anlaß, als wenn er nur so ein paar Worte hingekrakelt hätte. Das war feier34

lich. Und er kratzte sich mit dem Bleistift an der Nase und buchstabierte: ,,. . . Garten . . . warten . . . Karten . . ." Und die Gänse machten einen großen Bogen um ihn herum. Dann lachte er hell, überlegte. „Starten", ja, „starten" mußte der Reim heißen. Und schnell kritzelte er als dritte Zeile: „Mein Flugzeug ist fertig. Wir können es starten." Als er den Zettel in den Türschlitz schob, ging einer hinter ihm vorbei. Erst dachte er, Dieter käme doch noch. Es war aber Traktorist Garbe, der in den sauber gefegten Hof der LPG einbog. Hugo grüßte höflich, aber Herr Garbe schaute nicht herüber; er sah auf die Gänse im Graben, die lauter waren als Hugos Gruß. Und Hugo sagte sich: Herr Garbe, der hat Zorn auf mich, weil er mir die Hose bezahlen mußte. Und über das Modellbauen hat er sich doch 36

auch lustig gemacht, und über das Bücherlesen, damals an der Schranke. Jetzt, da das Flugzeug fertig war, konnte er wieder lesen. Aber immer nur die Nase in die Bücher stecken wie früher, dazu würde er wohl keine Lust mehr haben. Vergnügt pfeifend trollte Hugo nach Hause. Kurt war am gleichen Abend zum Sportplatz geradelt, um Hock von Hugos Modell zu erzählen. So saßen am nächsten Nachmittag alle vier im Schuppen, die Flugzeuge zwischen sich und mittendrin die Katze. Und das Bild vom gestiefelten Kater war auch an der Schuppenwand gelandet. Es war ein Festtag für sie. „So eine gute Brigadearbeit, das sollen erst mal die andern aus der Klasse nachmachen", sagte Dieter. Er schwieg aber, als Hugo zum erstenmal die Tragfläche auf 37

dem Rumpf befestigte. Mit Kennermiene nahm er das Modell in die Hand und wog es. „Der Schwerpunkt liegt gut!" Hugo schmunzelte. Mit zwei linken Händen hatte er es gebaut. Oder hatte er jetzt keine zwei linken Hände mehr? Er schaute stolz auf sie, die das vollbracht hatten. Und er dachte an den Tag, da der erste Mensch im Weltall geflogen war. Und er dachte an das wunderbare Raumschiff, auf das die Erbauer nicht stolzer sein konnten als er auf sein Modell. Und er tauchte den Pinsel in die schwarze Tusche und schrieb auf den Bug: „Wostok". Dem kleinen Kurt klappte der Mund auf, und Dieter sträubten sich die Haare. Und Hock schrie: „Du verdirbst alles. Du machst es vorn zu schwer!" „Egal", sagte Hugo und malte den Namen auch auf die andere Seite. „Das fliegt keinen Meter", brummte Dieter, 38

und alle drei schüttelten betrübt die Köpfe. „Jetzt ist es hin." Sie wurden aber wieder fröhlich, als Hugo eine Flasche Sauerkirschwein herumgehen ließ, die er aus dem Keller geschmuggelt hatte. Und sie träumten, sie säßen in ihren Flugzeugen und flögen einmal um die Erde und könnten alle Länder sehen und die ungeheuren Meere. Und sie malten sich aus, wie es einem zumute sein müßte, der in solch einem Raumschiff drinsäße und der dann zu seiner Heimaterde zurückkäme. Und wo er den Fuß aufs Land setzte, dorthin gehörte wirklich ein Denkmal, eines, das noch nach tausend Jahren an jenen Tag erinnerte. Und als sie alle so erzählten und ihre Flugzeuge betrachteten und viel lachten und die Katze streichelten, nahm Hugo das Bild des gestiefelten Katers vom Haken und sagte: „Das paßt auch nicht in den Schuppen." 40

„Und wir?" fragten sie und schauten sich an. Da packten sie ihre Flugzeuge und gingen in den Hof, im Gänsemarsch, Hugo als letzter. Dieter startete sein Flugzeug zuerst, wie es ihm als Brigadier zukam. Es flog eine Runde um die alte Pumpe, dann setzte es vor ihm auf. „Eine Runde, genau wie Gagarin", sagte Kurt. Und die Katze hatte Laueraugen. Hocks „Libelle" schoß unter der Teppichstange durch wie ein Kunstflieger durch eine Brücke. Da staunte nicht nur die Katze. Nun war der kleine Kurt an der Reihe. Er steckte erst den Zeigefinger in den Mund und dann in die Luft, um an der Kühle zu spüren, woher der Wind kam. Dabei erzählte er: „In Schönefeld macht man das natürlich anders, da . . ." Das Wort blieb ihm im Hals stecken, denn jetzt kam die Katze geflogen, vom Fenstersims auf seinen 41

Rücken. „Nimm sie weg!" schrie Kurt. Die Katze fauchte und langte mit der Pfote nach seinem Flugzeug. Sie krümmten sich vor Lachen. Dieter vermutete: „Die wollte bestimmt einsteigen. Die hat was von den Hunden gehört, die in der Sowjetunion geflogen sind." Hugo schleppte die Katze in den Schuppen, wo sie sich das Bild des gestiefelten Katers anschauen mußte. Als er herauskam, war Kurts Modell bereits geflogen. Hock drängte: „Wir warten nur noch auf dich!" Hugo stellte sich auf, schwang das Modell und lächelte. Dann suchte er sich einen Fleck aus, nach dem er es abschieben konnte. Das Teppichstangentor stand eisern da. Der Wassertrog neben der Pumpe glänzte tückisch. Und drüben die frischgestrichenen Zaunlatten vom Nachbar Krug waren spitz wie Katzenzähne. 43

„Hier ist es zu eng", sagte Hugo, „hier eckt es überall an." Das paßte den anderen nicht. „Alle sind geflogen, und deines soll nicht fliegen?" „Was haben wir geschworen, wie?" „Feigling!" Jeder sagte etwas anderes. Hugo sah es schon in Stücken liegen. Und er hatte doch so lange daran gesessen. Zum Glück kam ihm seine Mutter zu Hilfe. „Hugo, essen!" schallte es über den Hof. Und da er heute nicht ein paar Straßenecken weit weg war, mußte er wohl oder übel folgen. Auch kratzte die Katze an der Schuppentür. „Ein Flugzeug braucht Platz", tröstete Hugo. „Wir steigen auf 'nen Berg. Von da aus kann es fliegen." Weil Hugos Mutter schon zum zweitenmal rief, stimmten sie eilig zu. Aber wütend waren sie doch. Als Hugo drinnen sein Wurstbrot aß, sagte 44

er: „Die Katze hatte ich zum Glück eingesperrt. Aber die Zaunlatten kann ich nicht wegsperren. Stellt euch vor, wenn die ,Wostok' zerschellt wäre . . . " „Nicht auszudenken", bestätigte Vater. Erst die Hose, dann der Katzenmilchnapf, dann das Flugzeug - das wäre zu viel Pech. Und Hugo hütete das Flugzeug wie seinen Augapfel. In der Schule sprachen alle von Hugos Segelflugmodell, geheimnisvoll wie von einer Weltraumrakete, von der noch etwas zu erwarten war. Und alle wollten das Modell sehen, zumal Dieter, Hock und Kurt die tollsten Dinge davon berichteten. Dies taten sie nur, um Hugo ein bißchen zu ärgern. Vor allem wollten sie es fliegen sehen. „Gut", sagte Hugo. „Morgen. Vom Lugturm aus. Wer mitkommen will, das Anschauen kostet ja nichts!" 45

So stieg denn am nächsten Nachmittag die halbe Klasse auf die Räder. Die Sonne brannte, als sei der Sommer gekommen. Traktoren blubberten über die Felder, und die Bauern schauten der Radkolonne hinterher. Das Dorf lag in der Talebene, die von niedrigen Höhenzügen gesäumt wurde. Auf einem davon stand ein Turm, und da man von ihm weit ins Land lugen konnte, hieß er allenthalben der Lugturm. Dahin also wollten sie. Hugo fuhr sehr vorsichtig. Auch ein Sturz hätte sein Flugzeug zerstören können. Die Speichen konnten es zersäbeln, der Handbremsengriff konnte es hinterlistig durchbohren. Oh, am liebsten wäre er gelaufen. Aber bis zum Turm waren es sechs Kilometer. Und dann kam er sich vor wie Gagarin, der von seinen Freunden im Autobus zur 46

Rakete begleitet worden war. Seine „Wostok" durfte ihm keine Schande machen. Den letzten Kilometer mußten sie schieben. Steil stieg der Berg an. Je höher sie kamen, desto mehr konnten sie übersehen: das Dorf, die vielgewundene Lockwitz, die ganze Talweitung mit der Stadt im fernen Dunst. Wenig Bäume gab es auf dem Höhenrücken; es war nicht schwer, einen geeigneten Startplatz zu finden. „Das ist unser Kosmodrom", sagte Hugo. So wird nämlich der Startplatz für Weltraumraketen genannt. Sacht legte er das Rad ins Gras, und alle folgten seinem Beispiel. Dann stellten sie sich um ihn herum und verfolgten kritisch, wie er die „Wostok" abstieß. Kurt wollte vorher wieder den Finger in den Mund stecken. Er ließ es aber sein, als sich Dieter an die Stirn tippte. 48

Das war der erste Flug der „Wostok". Sie glitt rasch talwärts, gewann etwas an Höhe und wippte in der Luft. Zuletzt legte sie sich in eine leichte Kurve. Vor einem Haselstrauch setzte sie auf. Alle jubelten. Keiner hatte erwartet, daß Hugo solch ein gutes Modell baut. Kurt rief: „Die Landung war Klasse!" und stürmte noch vor dem Erbauer der „Wostok" den Hang hinunter. Als Hugo bei Kurt ankam, betrachtete sich dieser das Flugzeug von hinten und vorn. „Ist es kaputt?" fragte Hugo erschrocken. Sein Herz klopfte wild. Kurts Lächeln beruhigte ihn. „Den Flügel müssen wir verstellen!" Kurt zerrte am Gummi. „Du wirst sehen, jetzt fliegt es geradeaus." „Mach es nicht kaputt!" warnte Hugo argwöhnisch. Schnaufend stiegen sie hangan, und sie 49

staunten, weil oben nur noch wenige Jungen standen, und die redeten aufgeregt durcheinander. Erst jetzt sah Hugo, daß Hocks Flugzeug in einer Fichte hing. Mit diesem Flugzeug würde nun nicht mehr viel anzufangen sein. Sechs, acht Jungen standen unter der Fichte und reckten die Hälse, und Hock tastete am Stamm herum, und Dieter las Zapfen auf. „Bleib hier", sagte Kurt, als Hugo zur Fichte rennen wollte. „Ich glaube, es kommt ein Lüftel." Er schob den Finger in den Mund und reckte ihn dann in den Himmel. „Wirst sehen, Hugo, es kommt Wind." Hugo starrte auf Kurts Zeigefinger, als käme der Wind von dort. Das Lüftel kam wirklich. Es kitzelte ihm die Haare und streichelte auch die Fichte, und Hocks Flugzeug schaukelte sich in den Zweigen wie in einer Wiege. „Es bläst zuwenig", sagte Hugo. Und er 50

dachte: Sie hatten so viel Stunden gebastelt, und dann stellt sich eine Fichte in den Weg und nimmt einfach das Flugzeug weg. Hugo wollte nun doch noch hinübergehen, da bewegten sich die Äste stärker, und das Flugzeug trudelte herab. Kurz überm Boden fing es sich wieder. „Glück gehabt", sagte der kleine Kurt neben Hugo. Erst jetzt nahm er den Finger herunter. „Den Wind müssen wir ausnützen. Gib mal her!" Er riß dem verblüfften Hugo die „Wostok" aus der Hand, hielt sie in die Luft, so hoch er konnte, dann rannte er, rannte talwärts und stieß sie ab. „Was habe ich gesagt!" schrie er zufrieden. „Jetzt fliegt sie geradeaus. Alle bestätigten das. „Ein tolles Flugzeug." „Gratuliere, Hugo!" Hugo lächelte. 52

Die „Wostok" flog über die Fichte, in der sich Hocks Flugzeug ausgeruht hatte. Sie flog, etwas nach links gleitend, über die Felder dahin. Dann segelte sie, nur noch daumengroß, über die Straße. Gesträuch kam, wieder ein Feld. Immer noch flog die „Wostok", ein gelber Punkt. Hugo lächelte nicht mehr. „Sie ist weg!" rief er. Dieter sah sie noch. „Dort an der Feldecke fliegt sie." „Wo?" „Jetzt an der Kreuzung!" „Wo denn?" „Sie ist weg!" „Ja, jetzt ist sie weg!" Sie stürzten zu den Rädern. Dieter lag da wie ein Jäger. „Fahrt schon, ich merk mir die Richtung!" Blaß schob sich Hugo in den Sattel. Auf den Rädern flitzten sie die Straße hinunter, 53

vorbei an den Holzstapeln und durch die Kirschenallee. Keuchend hielten sie an der Kreuzung. Welchen Weg sollten sie nehmen? Jeder wußte es besser, und einer überschrie den anderen. Nur der kleine Kurt war stumm. Und Hugo. Der brauchte nun nicht mehr auszurechnen, wieviel Stunden er gesessen hatte. Er hätte sich nur darüber geärgert. Hinter ihnen bimmelte es heftig. Dieter schoß heran. Das Hinterrad rutschte ihm weg, als er bremste. „Bis zu einer Weidengruppe habe ich sie noch gesehen", sagte er atemlos. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Dieter war doch ihr großer Naturforscher, der fand die Weiden. Und vielleicht waren die Weiden so lieb gewesen wie die Fichte und hatten die „Wostok" aufgefangen. Doch als Dieter die Weiden zeigen sollte, drehte er sich ratlos hin und her. „Von 54

unten sieht eben alles anders aus", verteidigte er sich. Unruhig standen sie und beratschlagten. Kurt nagte an der Lippe. Hugo dachte: Die ganze Arbeit war umsonst. Er war zu bedauern. Er hatte sich große Mühe gegeben. Lange hatte er gebraucht, um seine „Wostok" zu bauen. Wohl zehn Bücher hätte er lesen können in der Zeit, die er verbastelt hatte. Dieter schlug vor: „Querfeldein müssen wir gehen. Hat sich etwa das Flugzeug an die Straße gehalten? Wir werden die Weiden schon irgendwo entdecken." Keiner wußte einen besseren Plan. Dieter lehnte auch schon das Rad an einen Kirschbaum und sprang über den Graben. Die anderen folgten behende. „Micki, du bleibst als Radwache hier", entschied Dieter. Vor allem brauchten sie doch 55

einen Wächter für die anderen Flugzeuge. Micki verzog den Mund. „Immer die Kleinen!" Er warf sich maulend ins Gras. Zunächst marschierten sie über die Wiese, dann wie die Gänse einen Feldrain entlang. Das Gras war feucht. Nach allen Seiten ließen sie die Blicke wandern. Von dem Flugzeug wußten sie nur, daß es nicht mehr in der Luft sein konnte. Das war ein schlechter Start ihrer „Wostok" gewesen. Die Bodenmannschaft hatte versagt. Sie querten einen Feldweg und gingen den Rain weiter. Da sagte Dieter: „Dort sind die Weiden." Alle atmeten auf. Die Bäume standen mit struppigen Asthaaren hinter einer Bodenwelle, als unterhielten sie sich über Hugos Langstreckenflugzeug. Nur standen sie jenseits des Feldes, und das war riesengroß. Kein Weg, nicht mal ein Rain, führte hinüber. „Auf in den Kampf", sang Hock und betrat 56

den Acker. Dieter riß ihn zurück. „Bist du verrückt! Der schöne Winterweizen!" „Du hast gut reden", murrte Hugo. „Dein Flugzeug ist es nicht!" Nun waren sie wie Hund und Katze zueinander. Hugo blähte die Backen und kraulte sich an der Nase, überall war es feucht, als hätte hier lange Zeit Wasser gestanden. Wenn sein Flugzeug in diesem Dreck niedergegangen war, dann konnte er es gleich liegenlassen. Dieter versuchte, den Frieden wiederherzustellen. „Der Rain hier führt durch bis zur Lockwitz. Wir gehen ihm einfach nach und dann die Lockwitz abwärts. Da kommen wir bestimmt an die Weiden." „Dort suchst du wohl im Mondschein?" fragte Hock böse. Es war nämlich schon ziemlich spät. Dieter gab es auf. Er ging wortlos von dannen, die anderen stapften hinterher. 58

Nur Hock und Kurt blieben bei Hugo. „Und der hat mit uns gebaut!" empörte sich Hock. „Jetzt läßt er uns sitzen. Den brauchen wir nicht mehr als Brigadier." Kurt betrat als erster das Feld, auf dem sich der Winterweizen an der Abendsonne freute. Er wollte beweisen, daß er nicht feig war. Und dann hatte doch er die „Wostok" zu diesem unglückseligen Flug gestartet. Dieter war mit den anderen schon weit weg, da verließen auch Hock und Hugo den Rain. Sumpfig war das Feld, vollgesogen mit Wasser. „Dreck!" fluchte Hock und brachte kaum noch die Füße aus dem Feld. So wateten sie auf die Weiden zu. „Das müßte meine Mutter sehen", sagte Hugo und dachte an die neue Hose von damals. Und Kurt an der Spitze sagte: „Bei Gagarin, da haben sie Hubschrauber gehabt 59

und Funk und alles mögliche. Den haben sie schnell gefunden." „Hehhh!" schrie es, und Kurt drehte sich fragend zu ihnen. „Was habt ihr gesagt?" „Nichts. Träum nicht. Los, weiter!" „Hehhh!" dröhnte es. Kurt blieb wieder stehen. „Du, da schreit einer." Jetzt hörten es alle. „Hehhh! Wollt ihr wohl runter vom Acker!" Schnell drehten sie sich herum. Hugo flüsterte: „Himmel, der Herr Garbe!" Der Traktorist mit der großen Nase, der Platzwart. All dies fiel Hugo im Augenblick ein. Die neue, mit Traktorenöl bespritzte Hose und das Geld für die Hose und die Wut, die Herr Garbe ohnehin auf ihn hatte. Auch Hock wurde bleich. Auf dem Sportplatz würde er sich nicht mehr blicken lassen dürfen. Der Traktorist fuchtelte mit den Armen. 60

Es half nichts, sie mußten zurückgehen. Drohend wartete Herr Garbe auf dem Rain. Drüben auf dem Feldweg, den sie vorher gekreuzt hatten, blubberte im Leerlauf der Traktor. Hock knirschte: „Den hat uns der Dieter auf den Hals gehetzt. Aus Rache." Aber Dieter war doch nach der entgegengesetzten Seite gegangen . . . Reden konnten sie nicht mehr. Jetzt hätte der Traktorist schon jedes Wort verstanden. Verlegen schlichen sie auf den Rain. Der Traktorist griff Hock an der Jacke. „Hiergeblieben, ihr Burschen!" Hock zeigte auf Hugo und murmelte: „Sein Flugzeug ist fortgeflogen. Vom Lugturm bis hierher." In den Augen des Traktoristen leuchtete es auf. „Ah, die Herren Modellbauer." Das wußte er also noch. Und man sah, er dachte auch an Hugos Hose. 61

Der Traktorist war ein junger Mann, kräftig, mit dichtem Haar. Sicher hatte er sich über Gagarins Flug gefreut, hatte am Radio gesessen und vor dem Bildschirm. Doch über die Leistung von Hugos „Wostok" freute er sich überhaupt nicht. Die drei Jungen musterten ihre Schuhspitzen, die freilich vor Erdklumpen nicht zu sehen waren. „Eure Klasse will ich wissen", befahl Herr Garbe. Hugo trat einen Schritt vor. „Es ist mein Flugzeug." Herr Garbe gab sich damit nicht zufrieden. „Wem das Ding gehört, interessiert mich nicht. Vom Lugturm bis hierher latscht ihr über die Felder, alle drei. Wie heißt du? Raus mit der Sprache." „Hugo Helle. Dritte Klasse." „Deine Hose, die habe ich bezahlt", zürnte der Traktorist und suchte in der Tasche nach 62

etwas zum Aufschreiben. „Diesen Schaden hier werdet ihr bezahlen. Euer Lehrer wird Augen machen." Schüchtern hielt ihm Hugo den Bleistiftstummel hin, mit dem er vor noch nicht langer Zeit für Dieter den Brief gereimt hatte. Der war fein raus heute, der Dieter. Herr Garbe starrte ungläubig auf den Bleistift, dann musterte er sie der Reihe nach. „Klasse drei, das merk ich mir. Da brauche ich bloß an euch drei Früchtchen zu denken. Stecke ruhig den Bleistift ein." Damit drehte er sich um und stiefelte zum Traktor. Hock fluchte und schleuderte einen Stein zu Boden. Jetzt war es so gut wie sicher, daß er aus der Hockeymannschaft herausflog. Sie standen noch, als der Traktor schon lange verschwunden war. Von der anderen Seite trabten Dieter und die Jungen heran. Einer rief: „Was war los?" Jeder fragte irgend etwas. Dieter sprudelte: „Wir haben 64

nämlich alles von weitem beobachtet. Als der Traktor gehalten hat, sind wir in Deckung gegangen." „Ihr wart gar nicht bei den Weiden?" fragte Hugo enttäuscht. „Nein. Was wollte denn der Mann? Redet doch!" „Der hat uns nach der Klasse gefragt", sagte Kurt leise für Hugo. „So ein Pech." Das war keine Freude für ihre Lehrerin. Als sie die Räder erreichten, sank die Sonne. Micki hatte schon befürchtet, sie kämen nicht. Er lachte übers ganze Gesicht, doch als er alles gehört hatte, war er dem Weinen nahe. „Weg ist weg", sagte Dieter und schneuzte sich. „Auf die Schule morgen können wir uns freuen." Sie schwiegen bedrückt. Alle nahmen ihre Flugzeuge und drehten 65

sie prüfend hin und her. Kein einziges hatte auch nur einen Riß. Hugo konnte gar nicht hinschauen. Keiner hatte sich so geschunden wie er. Der kleine Kurt nahm es leicht. „Der Traktorist hat mit den Kartoffeln zu tun. Der kommt nicht in die Schule." Hock überlegte: „Wir hätten doch nicht übers Feld gehen sollen." „Aha!" rief Hugo wütend. „Jetzt habt ihr alle Angst. Jetzt will es keiner gewesen sein. Und wenn Gagarin hier gelandet wäre, mitten auf dem Winterweizenfeld, da wäre der Herr Garbe selber drübergetrampelt, bestimmt! Und in seiner Freizeit, da hätte er dort ein Denkmal gebaut, mitten auf dem Feld!" Dieter schüttelte den Kopf. „Für so ein kleines Flugmodell ist das zuviel Brot. Weg ist weg." „Wenn ihr nicht mehr suchen wollt, ich finde 66

es auch allein!" Zornig schwang sich Hugo aufs Rad und fuhr, was er konnte. Jetzt brauchte er nicht mehr zu bangen, daß ihm die Tragfläche in die Speichen geriet. Bevor er aber ins Haus trat, beseitigte er den Winterweizenacker von seinen Schuhen. Am nächsten Tag saßen sie mit Herzklopfen in der Schule. Hugo schaute die andern nicht an. Und doch warteten alle auf das gleiche, auf das Klopfen an der Tür und das Hereintreten des Traktoristen. Das war ein unruhiger Vormittag. Als Herr Garbe um zehn noch nicht da war, dachten sie: Er kommt bestimmt in der Mittagspause. Und als um zwölf die Sirene von der Ziegelei tutete, erstarrten sie und zählten die Minuten. Heute hörte wohl kaum einer, was Frau Becker erzählte. Und als es fünfzehn Minuten nach zwölf immer noch nicht an der Tür geklopft hatte, schöpften sie Hoffnung. Dann war auch die letzte Stunde verstrichen. 67

Dieter knuffte unsern Hugo in den Rücken. „Du, er kommt wirklich nicht." Das klang sehr erleichtert. Dabei hätte doch Dieter gar nicht mit in der Patsche gesessen. Und so lächelte Hugo seinem Brigadier zu, obwohl er nicht mehr mit ihm hatte reden wollen. Auf der Straße jubelten sie, und Frau Becker sagte müde zum Hausmeister: „Ich weiß gar nicht, was die Klasse heute hatte." Daß der Traktorist nicht gekommen war, hatte Frieden zwischen ihnen gestiftet. Alle vier brachen mit neuem Mut zur Suche auf, und Hock verzichtete dabei sogar auf sein Training. Sie fuhren geradewegs zum Lugturm, um hier noch einmal die Spur aufzunehmen. Unschwer fanden sie den Startplatz und Hocks Fichte. Und Dieter peilte über den Daumen und sagte, das eine Auge zugekniffen: „Dort liegt die Weidengruppe. Dort ist es verschwunden." 69

Kurt schlug sich an den Kopf. „Mensch, das sind doch gar nicht die Weiden, zu denen wir übers Feld laufen wollten." Was waren sie für Esel gewesen. Dieter staunte mit offenem Mund. Sie prägten sich die Lage der Weiden gut ein. Kurt fertigte sogar eine Kartenskizze an, damit sie die Bäume ja fänden. Dann fuhren sie hinunter und versuchten, an die Weiden heranzukommen. Die Weiden standen am Ziegelgraben. Der Wind rauschte im Gezweig; nur eine stand kahl und knorrig da wie ein Zwölfender-Hirsch, der auf sein Rudel aufpaßt. Einen Hasen stöberten sie hoch. Von der „Wostok" fehlte jede Spur. „Wenn wir sie nicht bald finden, ist sie hin", sagte Dieter. „Unsinn!" Hugo wehrte sich gegen diesen unangenehmen Gedanken. Alle wollten nun nach Hause, nur Hugo nicht. Hock 70

ärgerte sich, weil er sein Hockey versäumt hatte, und Kurt hatte sich irgendwo den Fuß verknackst. Hugo bettelte: „Bleibt doch! Es ist noch hell! Wir laufen am Bach entlang!" Schließlich ließ sich Hock erweichen. Er stellte Dieter an den Weiden-Zwölfender. „Mach den Rücken krumm!" Mit der flachen Hand schlug er an den Stamm, als wollte er die Weide tätscheln. Es klang hohl. Ehe sich's Kurt und Hugo versahen, stand Hock auf Dieters Rücken und dann im Geäst. Es war doch gut, daß sie einen Sportsmann in der Klasse hatten. „Siehst du was?" Hock starrte sich bald die Augen aus. Nach der Grabenseite nahmen ihm die Bäume die Sicht. Das war nicht schlimm. Von dort waren sie ja gekommen. „Einen Feldstecher brauchte man", knurrte Hock. Die Äste knackten, er kletterte lang72

sam zurück. Ohne Hilfe sprang er auf den Boden. Er war schwarz von den Ästen, und der kleine Kurt hätte gern darüber gelacht. Da aber Hock so fluchte, ließ er es lieber. „Das war der letzte Versuch", sagte Hock. Und Dieter sagte: „Weg ist weg." Am nächsten Tag suchte nur der kleine Kurt noch mit. Sie fanden aber nichts. Am übernächsten Tag regnete es. Den Rest der Woche kroch Hugo allein herum, am Schenkhübel und an der Schäferei, hinter den abgesoffenen Lehmgruben und an der Feldscheune. Wo er aber Leute auf dem Acker sah, dort schlug er einen großen Bogen, froh darüber, daß der Traktorist alles vergessen hatte. Endlich sagte er sich: „Weg ist weg." So wie es Dieter immer gesagt hatte. Nur abends, wenn Hugo allein mit der Katze hinterm Haus saß, erzählte er ihr von seinem Modell. „Du müßtest eine Zauber74

katze sein. Du würdest durch die Luft fliegen und mir die ,Wostok' suchen." Zauberkatzen müßten natürlich auch bezahlt werden für ihre Gefälligkeit, das wußte Hugo aus den Märchenbüchern. Der gestiefelte Kater war belohnt worden, auch der Froschkönig. Jeden Tag wollte er der Katze die beste Milch hinstellen. Der Fehler war nur, daß seine Katze keine Zauberkatze war. Und wenn er sein Flugzeug fände, so ohne jeglichen Zauber, dann wollte er auch immer der Mutter zur Hand gehen und mit Micki üben und nicht mehr naschen. Und die Katze sollte trotzdem leben wie im Schlaraffenland; einmal würde er ihr Pudding hinstellen, ganz gewiß. Das wollte er alles gern bezahlen, wenn er nur das Flugzeug wiederbekäme. Und dann würde er es so machen wie die Bauern an Gagarins Landeplatz in der fer75

nen Sowjetunion. Dann würde er dort, wo er die „Wostok" fände, ein Denkmal bauen mit der Inschrift: „Vom Lugturm bis hierher flog Hugos ,Wostok'." Vielleicht konnte man die Inschrift auch reimen wie Dieters Brief... So sann Hugo am Abend hinterm Haus. Und die Katze verriet kein Sterbenswörtchen. Und da ja dies doch alles unmöglich war, seufzte Hugo nur noch: „Weg ist weg." Nach einer Woche war das Modell von der Klasse drei vergessen. Aber doch nicht von allen. Als nämlich Frau Becker den kleinen Micki ein Gedicht vortragen ließ, schob Kurt unserm Hugo einen Zettel zu. Darauf stand: „Ich habe die ,Wostok' gestartet. Sie ist weg. Ich gebe dir mein Flugzeug." Darunter hatte Kurt eine wuchtige Rakete gekrakelt, an deren Bug „Wostok" stand. 76

Kurt schielte zu Hugo herüber. Und Micki vor der Klasse rezitierte gefühlvoll: „Wie hoch die Vögel fliegen, ich möchte hinterdrein . . ." Gewiß dachte wenigstens Micki bei dieser Stelle an das entflogene Modell. Und Hugo schrieb auf den Zettel: „Nein." In dem Augenblick klopfte es an die Tür. Micki stockte. Hugo zerknüllte den Zettel. Dieter griff nach dem Lineal. Alle waren blaß. Und richtig. In der Tür erschien Herr Garbe. „Also doch", stöhnte Hock. Hockeymannschaft, ade! Und Kurt dachte: Jetzt hat er die Kartoffeln im Boden, jetzt kommt er. Und Hugo dachte: Nach zehn Tagen. Das ist feig! Und Dieter kaute am Lineal, das ist gar nicht bekömmlich. „Zur Klasse drei will ich", sagte Herr Garbe. 78

Drei - zu den drei „Früchtchen". „Ja, aber . . .", sagte die Lehrerin. Und in der Stille hörte man vorm Fenster den Traktor blubbern. „Ich habe wenig Zeit", erklärte Herr Garbe. „An der Tür stand: dritte Klasse." „Ja, das stimmt", sagte Frau Becker, „aber..." Hugos Gesicht überzog sich rot, und seine Beine waren so schwer, als klebe noch die Krume vom Winterweizenacker daran. „Ihre Jungen hier haben ein Segelflugzeug fliegen lassen, vom Lugturm her über unsere Felder..." Die Sünder saßen da mit eingezogenen Köpfen. So unerwartet rasch kommt das Unglück. Unerbittlich stand der Traktorist noch immer an der offenen Tür. „Auf dem Feld hinterm Bahndamm habe ich's gefunden", sagte er. Langsam schob sich Hugo in die Höhe. Er 79

traute seinen Ohren nicht. Doch da holte Herr Garbe das Flugzeug hinter seinem Rücken hervor, Tragfläche und Rumpf einzeln. Und er lachte. Die „Wostok" war wieder da, sie konnten es alle nicht fassen. Doch dann brach ein Lärm aus, der nicht zu beschreiben ist. Aus den Nachbarklassen steckten die Lehrer die Köpfe heraus. Frau Becker hob hilflos die Hände. Als aber alle sahen, daß der Traktorist redete, waren sie im Nu still. Er sagte: „Vom Lugturm bis zum Bahndamm sind es ungefähr zwei Kilometer, Luftlinie natürlich. Wer so gut baut, der repariert auch den kleinen Schaden. Na, wem gehört es?" Mit drei Sätzen stand Hugo vor dem Traktoristen. Der lachte spitzbübisch, und Hugo wußte, er dachte an den Winterweizen. Und auch an die Hose und das Traktorenöl. Die Bespannung war zerrissen und aufgeweicht, aber Hugo strahlte. 80

„Danke", sagte er. Und dann fragte er rasch: „Was war es denn für ein Feld?" „Kein Winterweizen", sagte der Traktorist. „Zuckerrüben waren's." Dann rief er: „Wiedersehen, ihr Flieger!" Und: „Entschuldigen Sie bitte." Dann war er schon draußen. Fröhlich sagte Frau Becker: „Das war überraschender Besuch." Alle spitzten die Ohren, um zu hören, wie der Traktor wegfuhr. Hugo nickte dem Dieter, dem Hock und dem Kurt zu, und jeder bewunderte ihn und das kleine Modell, das zwei Kilometer geflogen war. Donnerwetter! Am Nachmittag fuhren die vier zum Feld hinterm Bahndamm. Hier, so weit weg vom Lugturm, hätten sie nie gesucht. Und sie beschauten es sich, als hätten sie noch nie ein Feld gesehen, den dunkelbraunen Boden, die rübengrünen Reihen. Es war ein besonderes Feld: der Landeplatz von 81

Hugos „Wostok". Die Rübenpflänzchen hatten dem Flugzeug nicht weh getan. Und wenn es dreißig Meter nur weniger geflogen wäre, dann hätte es mitten auf dem Bahndamm gelegen, und der Sternburger Zug hätte es zerstampft. Und Bahnwärter Findeisen hätte vielleicht nur noch hier einen Splitter Holz und da einen Fetzen Papier gefunden. Dieter sagte: „In einer Woche hätte es auch der Traktorist nicht mehr entdeckt. Das Unkraut schießt hoch über Nacht, da siehst du kein Flugzeug mehr, geschweige denn eine Rübe." Und sie dachten alle an den Traktoristen, dem sie den Winterweizen zertrampelt hatten und der ihnen dennoch das Flugzeug wiederbrachte. Keinen Mucks hatte er ihrer Lehrerin erzählt. Da schämten sie sich ein bißchen. Und Hugo dachte auch an seine Katze zu 82

Hause, die nicht zaubern konnte und der er doch einen Pudding versprochen hatte. Er dachte an Froschkönig und den gestiefelten Kater. Und er dachte daran, daß er sich geschworen hatte, am Landeplatz der „Wostok" ein Denkmal zu errichten. Dies müßte nun hier irgendwo auf dem Rübenacker stehen. Und das war ganz und gar unmöglich. Wie sollten denn die Rüben gedeihen, wenn denen so schon das Unkraut zu schaffen machte? Und der kleine Kurt und der starke Hock und gar auch Dieter, der Fachmann — wie würden sie lachen über ein Denkmal für Hugos „Wostok". Und Herr Garbe würde sich ärgern. Dabei hatte nur er sich die Belohnung verdient und nicht die Katze, wenn man es recht nahm. Und Hugo sagte zu den Gefährten: „Das viele Unkraut... Herr Garbe hat sich eine Belohnung verdient."

83

Sie nickten gewichtig mit den Köpfen. Das hatte er wirklich. „Also?" fragte Hugo. „Unkraut jäten", sagte Dieter mit einem fachmännischen Blick. „Auf diesem Feld." Das meinte der kleine Kurt. Und Hock: „Zuerst kriegt man Muskelkater, doch dann hat man solche Kräfte!" Er ruckte an Kurt, als wolle er ihn in die Höhe stemmen. Und Kräfte, die konnte Hock beim Hockey gebrauchen, wirklich. Und so beschlossen sie es. Der Rübenacker, das war ihr Feld. Ihre Brigade würde den Anfang machen und schließlich die ganze Klasse mitreißen. Und Herr Garbe sollte sich freuen, weil sie mehr konnten als Saaten zertrampeln. Und so errichteten sie Hugos „Wostok" am Landeplatz dennoch ein Denkmal, obwohl nur einer davon wußte, nämlich Hugo. 84

Und immer, wenn sie hier über den Acker gingen, schauten sie einmal zum Lugturm hinüber, von dem die „Wostok" gestartet war.

Kennst Du schon die Titel aus der Reihe DIE K L E I N E N T R O M P E T E R B Ü C H E R Nr. 1 Inge und Gerhard Holtz-Baumert DER

KLEINE TROMPETER

UND SEIN FREUND Das ist eine farbige Geschichte aus dem Leben des berühmten kleinen Trompeters. Mit viel Spannung lesen wir von den aufregenden Kämpfen der Hallenser Arbeiter und erleben die Entstehung des Liedes vom kleinen Trompeter. Illustrationen von Kurt Zimmermann 68 Seiten • Pappband mit Folie • 1,75 M Best.-Nr. 628 536 3 Für Leser von 7 Jahren an DER

KINDERBUCHVERLAG

BERLIN

Nr. 24 Sammelband

KLEINE GESCHICHTEN VON GROSSEN FREUNDEN

Aus dem Leben Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts, Ernst Thälmanns und Wilhelm Piecks erzählen diese Geschichten. Sie zeigen euch die großen deutschen Arbeiterführer in ihrer menschlichen Wärme und in ihrer tiefen Verbundenheit zu den arbeitenden Menschen. Illustrationen von Kurt Zimmermann 96 Seiten • Pappband mit Folie • 1,75 M Best.-Nr. 628 388 6

Für Leser von 7 Jahren an

DER

KINDERBUCHVERLAG

BERLIN

View more...

Comments

Copyright ©2017 KUPDF Inc.
SUPPORT KUPDF