020 - Schmidt, Egon - Der Storch Von Landau
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DIE KLEINEN TROMPETERBÜCHER • BAND 20
EGON SCHMIDT
Der Storch von Landow Illustrationen von Werner Schinko
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Dieses Buch wurde beim Preisausschreiben für Kinder- und Jugendliteratur des Ministeriums für Kultur 1961 mit einem Preis ausgezeichnet.
Klaas läuft als erster auf den Schulhof. Er sieht sich um. Der graue Himmel drückt auf die Erde. Nicht einmal die Häuser von Upahl sind zu erkennen. Der Wald rückt dicht an den Zaun und an ihren Schulgarten. Aus den Wipfeln der Fichten tropft es. Der Boden ist naß. Klaas hat kein frohes Gesicht. Heftig wirft er den Lederball gegen die Mauer und fängt geschickt den Zurückpraller. Die Schultür wird aufgestoßen. Lärmend laufen die Kinder ins Freie. „Wir spielen!“ ruft Klaas. „Klar!“ sagt Walter. „Wir spielen!“ Sie stellen die Schultaschen an die Wand. Robbi ist der Längste unter den Kleinen. Mit ernstem Gesicht schreitet er das Spielfeld ab. „…sieben, acht, neun, zehn. Hierher die Tasche!“ Inzwischen hat Rolf aus dem Fahrradschuppen einen Stock geholt. Damit kratzt
er die Grenzen des Spielfeldes in den feuchten Boden. „Nicht so krakelig!“ ruft Robbi. Nun sind auch die Mädchen der 3 b vom Essen gekommen. Anke hat ihr neues hellblaues Kleid an, im Haar eine Schleife. Wie eine Puppe sieht sie aus. „Hu“, sagt sie und schüttelt sich, „ist doch zu kalt heute. Wollen wir nicht lieber etwas vorlesen?“ Einige Jungen jagen einander den Ball ab. Andere Kinder stehen fröstelnd im trüben Tag. Sie zögern mit der Antwort. „Brigitte hat uns doch versprochen, aus dem neuen Buch vorzulesen, vom Hund auf der Eisscholle, und denkt euch, der Hund heißt Bootsmann…“ „Das Buch läuft uns nicht weg“, sagt Eckart, „aber Ballspielen können wir nicht mehr oft. Bald gibt es Schnee.“ Er steht still und wendet sein Gesicht nach
oben. Edith fragt: „Du kannst wohl den Schnee riechen?“ „Ja“, sagt er, „aber nur bis Schwerin.“ Sie lachen und laufen jetzt auch um den Ball. „Wir spielen! Wir spielen Völkerball!“ Jochen hört das Geschrei. Er steht in der Tür und steigt langsam die Treppen hinab. Vorsichtig steigt er, Schritt für Schritt. Endlich ist er auf dem Schulhof. Nun humpelt er schnell zu den anderen. Das rechte Bein will nicht so wie das linke. Als er zwischen den Jungpionieren steht, kullern ihm Schweißtropfen von der Stirn. „Wo mag nur Brigitte stecken?“ fragt Eckart. Klaas aus Upahl ruft vom Zaun her: „He, Jochen, hast du Brigitte gesehen?“ „Sie muß sich noch den Trainingsanzug anziehen“, sagt Jochen.
Walter wendet sich Anke zu: „Das solltest du auch, Püppi. Wenn dein Kleid schmutzig wird, schimpft Mutter. Sie muß es doch waschen.“ Da geht Anke in den Umkleideraum. Die anderen warten auf Brigitte. „Warum stehen wir herum?“ fragt Klaas. „Wir könnten doch schon einteilen.“ „Ja. Wählen wir schon.“ „Die beiden Stärksten!“ „Klaas!“ „Robbi!“ Die zwei Jungen gehen ein paar Schritte zur Seite. Robbi wühlt in den Taschen seiner langen Hose. Ein zerknäultes Taschentuch zieht er heraus, ein Taschenmesser, eine Blechschachtel, ein Stück Strippe, und da, da ist ja auch der Groschen. „Zahl“, sagt Klaas.
„Ich nehme das Wappen.“ Robbi wirft das Geldstück in die Luft. „Halt, halt!“ ruft Klaas. „Ungültig. Eckart soll werfen.“ Der Kleine tritt zu beiden. Er wischt sich schnell die Hände am Pullover ab, bückt sich nach dem Geldstück und läßt es plötzlich hochschnellen. Die Kinder verfolgen, wie es in die Höhe steigt, einen Augenblick stillsteht und dann abwärts fällt. Da liegt es auf dem sandigen Boden. Hastig bücken sich beide Jungen. „Zahl!“ ruft Klaas. „Ich fange an. Rolf!“ schreit er, ohne zu zögern. Aus der Schar der Wartenden tritt der Junge. Stolz stellt er sich zu Klaas. Sie gehören jetzt zusammen. Sie werden gewinnen. Das ist klar. Was soll ihnen geschehen? Sie zusammen sind die Stärksten. Robbis Blick geht über die anderen.
Robbi überlegt. Eckart kann gut fangen, aber Rainer wirft besser. Wen soll er wählen? Endlich winkt er Rainer zu. „Eckart!“ ruft sofort Klaas. Jetzt wird es schon schwieriger für Robbi. Sein Blick fällt auf Ilse. Werfen kann sie nicht, aber fangen. Jeden Ball fängt sie. „Ilse, komm!“ Immer größer werden die beiden Parteien, immer kleiner wird die Schar der Wartenden. Jochen steht ganz still. Wann werden sie dich wählen? denkt er. Wann kommst du an die Reihe? Er tritt zwei Schritte vor. Vielleicht sehen sie ihn nicht? Klaas und Robbi prüfen und wählen. Jetzt sind schon die Mädchen an der Reihe. Sehen sie ihn denn nicht? Hier bin ich, nehmt mich! möchte er rufen. Aber er bringt kein Wort hervor. Verlegen kratzt
er mit dem klobigen Schuh die Erde auf. „Astrid, zu uns!“ rufen die von Robbis Partei. „Karin!“ Und er? Zwei Kinder stehen noch neben dem Fahnenmast, Anke, das Püppchen, und er. Jetzt geschieht, was er nicht begreifen will. „Püppi“, ruft Robbi, „Anke, komm zu uns!“ Jochen hat sich nicht verhört, denn das Mädchen läuft hinüber. Er steht allein und verloren da. Robbi hat gewählt. Acht sind jetzt in jeder Mannschaft. Er ist übriggeblieben. Sie brauchen mich nicht, denkt der Junge, und sie wollen mich nicht. Er steht allein. Die anderen lärmen, denn jetzt muß das Feld gewählt werden. Sie bemerken gar nicht, daß der Junge langsam zu dem Berg von Schultaschen geht und seine Tasche
herauszieht. Jochen denkt nicht an Brigitte. Er überlegt: Sie glauben sogar, daß Püppi besser spielen kann als ich. Er huckt seine Schultasche auf, langsam, ganz langsam geht er über den Schulhof, zum Tor hinaus, auf den Feldweg. „Jochen!“ hört er. Das war Ilses Stimme. „Jochen, bleib hier!“ Er will es nicht hören. Sie brauchen ihn nicht. Immer schneller humpelt er. Schon ist er über die Brücke, jetzt im Wald. Klaas ruft: „Laßt ihn doch laufen. Wir fangen an.“ Er wirft den Ball hoch über die Köpfe der Gegner seinem Mann zu. „Nanu, ihr seid schon dabei?“ Brigitte ist gekommen. Sie trägt den dunklen Trainingsanzug. Ihr langes blondes Haar endet in einem glatten Knoten. Die Kinder haben sie immer nur mit frohem Gesicht gesehen. Sie
sind stolz auf ihre Gruppenleiterin. Jeden Mittwoch kommt sie mit dem Fahrrad aus der Stadt. Dort studiert sie an einem Institut. Sie will Lehrerin werden. Die Kinder möchten sie aber lieber als Gruppenleiterin behalten. „Und wenn ich später zu euch als Lehrerin komme?“ hatte sie gefragt. „Darüber ließe sich reden“, hatte Eckart gemeint. Rolf hatte nur „Klasse!“ gesagt, und das will bei ihm viel heißen. Jetzt steht Brigitte unter den Kindern. „Ihr seid schon dabei?“ fragt sie. „Alles eingeteilt“, sagt Klaas. „Dann spielt weiter!“ Klaas fängt sicher den Ball. Er täuscht geschickt und wirft. Ein Mädchen springt unbeholfen hoch. „Getroffen. Dagmar raus!“ Sie fangen und werfen und ducken sich vor dem Ball. Eifer, Anstrengung und Freude am Spiel machen ihre Gesichter rot.
Drei Wege treffen dort zusammen, wo vor Jahren die neue Schule gebaut wurde. Daneben nur ein mit Rohr gedecktes Gehöft am Wald und Büsche auf den Feldrainen bis zum Schilfrand am See. In Gruppen, paarweise oder auch allein schlendern die Kinder am Nachmittag in ihre Dörfer zurück. Wenn der Frühlingswind die Pfützen trocknet und wenn der Weizen blüht, vergeht die Zeit schnell, aber wenn es stürmt und wenn Schneewehen die Straßen sperren, wenn es früh noch lange dunkelt und sich schon bald nach Mittag die Dämmerung über das Land legt, dann scheint der Schulweg noch einmal so lang zu sein, und manchmal muß auch ein Bauer anspannen, oder ein Wagen der Genossenschaft muß die Kinder über morastige Wege zur Schule bringen. Jochen geht den einen Weg, der hinter
der Brücke über die Höhen in den Wald hinaufführt. Schnell ist der Junge davongehumpelt. Nur nichts mehr hören von den anderen. Sogar Püppi haben sie ihm vorgezogen. Je mehr er sich von der Schule und von den Kameraden entfernt, um so einsamer fühlt er sich. Jetzt wird sein Schritt langsamer. Der schmale Fuhrweg ist sandig und steil. Müde geworden, bleibt Jochen stehen. Er rührt sich nicht. Ganz still ist es. So still, daß man die Tropfen hört, die sich aus dem Geäst der Bäume lösen und auf den Boden klatschen. Aus den niedrigen Fichten am Hang ragt eine Birke. In ihrem feinen Geäst hängen dunkle Klumpen. Es sieht aus, als ob der Baum schwarze Früchte trüge. Jochen blickt noch einmal hin. Natürlich, es sind Krähen. Sie zanken sich nicht. Kein Axtschlag, kein brechendes Unterholz.
Noch immer steht Jochen, als möchte er nicht die Stille stören. Er kann geduldig warten. Wenn man Rehe beobachten oder einen Blick auf eine Wildsau mit ihren Frischlingen erhaschen will, muß man warten können, beharrlich, stundenlang. Jochen bemerkt zwischen den glatten dunklen Stämmen ein mattes Grau. Das ist der See. Plötzlich plärrt etwas. Noch einmal. Das kam aus der Schonung. Der Junge blickt zum bepflanzten Hang hinüber. Da sieht er sie davonschwirren. Eichelhäher. Warum sie nur plärren? Ihr Geschrei meldet immer Bewegung im Wald. Haben sie Rehe entdeckt? Oder ihn? Jochen lauscht. Nichts. Da stapft er weiter, die Höhe hinauf. Sein Schuh knarrt. Jochen geht immer langsamer, immer zögernder, denn er sieht schon die Lichtung, die er am liebsten meiden möchte. Dort ist es geschehen, damals.
Er war im Walde herumgestromert. Dort hatten sie Holz geladen, mächtige Stämme. Dort stampften ungeduldig Pferde, dort wurde gearbeitet, dort mußte er sein. Sukows Braunen kannte er schon. Das Pferd hatte gewiehert, als er es getätschelt hatte. Dieses Wiehern war immer noch in seinem Ohr. Auch heute. Sukows und die Forstleute hatten Langholz geladen, gerade den letzten Stamm. Wie sich die Muskeln spannten, wie die Männer schwitzten, wie sie mit Kraft und List den ungefügen Stamm hinaufzwangen. Jochen hatte in der Nähe gestanden. Gleich war das Fuhrwerk beladen, dann mußten die Braunen ziehen. Da hörte er einen Schrei. Er hörte Krachen und Splittern. Ein Stamm hatte sich gelöst und rutschte polternd zur Erde zurück. Jochen wollte weglaufen, aber da war schon der Schlag, und es wurde dunkel um ihn. Als er wieder erwachte, spürte er die
Hand des Vaters auf der Stirn. „Jungchen“, sagte der Vater zu ihm. „Jungchen“, und seine Stimme klang so anders. Es war schon alles vorbei. Die Ärzte hatten ihm sein Bein gerettet, aber er würde niemals mehr so laufen können wie zuvor. Auf Bäume klettern? Wie andere Kinder herumtoben? Das war vorbei. Jochen hatte das Gehen wieder lernen müssen wie ein Baby. Vater hatte ihn aus der Klinik abgeholt. „Förster wirst du nun nicht werden können“, hatte er unterwegs gesagt, „die brauchen gesunde Beine.“ Da waren Angst und Ratlosigkeit in Jochen hochgestiegen, und der Vater hatte ihm die Tränen aus den Augen gewischt. Sie waren damals zur See hinübergefahren. Dort stand die Werft, in der Vater arbeitete. Hoch ragten die Kräne. Im Lärmen der Hämmer hatte Jochen kaum ein Wort verstehen können. Aber er sah
den Vater, der ihm die Schiffe zeigte, die Männer, die hämmerten, nieteten, schweißten, die Frauen, die Rost klopften, und er sah Freude in Vaters Augen. Wolken trieben landein, von der See her wehte ein kühler Wind. Große Möwen ließen sich von ihm tragen. Ein Schiff tutete schrill. Hoch über ihnen saß eine Frau in einem Glaskasten und bewegte tonnenschwere Stahlteile, aus denen sie die Schiffe bauten. „Das kannst du auch“, hatte Vater gesagt, „oder etwas anderes. Du mußt nur tüchtig lernen.“ Da war Jochen wieder ruhig geworden. Auf der Werft brauchen sie ihn. Aber Klaas und Robbi brauchen ihn nicht? Wenn er nur mit Vater sprechen könnte. Nun hat er auch die schreckliche Lichtung hinter sich. Er ist immer froh, wenn sie hinter ihm liegt.
Der Fuhrweg quält sich noch durch einige Hänge, dann ist er beim Papendiek. Jochen geht schneller. Er wird Klaas und Robbi schon zeigen, was er kann. Freilich, im Wettlauf gewinnt er nicht, aber lesen und rechnen kann er besser, und im Wald weiß er Bescheid wie kein anderer aus ihrer Klasse. Als sie im Vorjahr den Kamp mit aufgeforstet haben, war er allen voran. Die Forstleute nennen ihn seitdem nur den „Bestarbeiter“, und der Direktor hat ihn beim Appell gelobt. Vor allen Klassen. Er mußte vortreten, und der Direktor gab ihm die Hand. Alle konnten es sehen. Es tut gut, daran zu denken. Die Bitterkeit weicht, und Jochen fängt an zu singen. Er versucht sogar zu laufen, aber da spürt er wieder das hindernde Bein. Der Wald lichtet sich. Der See liegt ganz nah, matt und trüb. Ein Rauschen in der Luft. Jochen sieht Vögel mit langem, vorgestrecktem Hals und mächtigen Schwin-
gen. Trotz ihrer Schwere gleiten sie wunderbar ruhig durch die Luft. Es sind Höckerschwäne. Gäste aus dem Norden. Nun wird es bald Winter. Der Weg hat Jochen in die Niederung geführt, ein paar Schritte hat er sich durch Gebüsch gezwängt, und jetzt läuft er am Rande des Papendiek. Von Büschen umstanden, breitet sich die morastige Wiese aus bis hin zum Schilfgürtel am See. Braune Seggen und vergilbte Gräser, ein schmaler Graben. Storchenwiese müßte dieser einsame Platz heißen, denn jedes Jahr im späten Sommer treffen sich hier Störche, bevor sie nach Afrika fliegen. Jochen hat es schon einige Male beobachtet. Sie versammeln sich unauffällig. Zwei, drei Schwarzröcke staken immer im Graben am Papendiek und tauchen ihre Schnäbel in das verkrautete Wasser, um Frösche zu fassen. Auf einmal sind es
fünf, dann sieben Störche, die beieinanderstehen. Und wieder schwebt einer heran vom anderen Ufer des Sees. Eben noch unter den Wolken gleitend, stößt er mit steifem Hals und gestreckten Beinen hinunter, schwebt über das Wasser, krümmt die langen Beine etwas, flattert mit den Flügeln, landet und steht dann still neben den anderen. Schon schwebt wieder ein Storch heran. Sie gehören zusammen. Mit dem Schnabel kraulen sie einander am Hals, wie in der linden Frühlingszeit. Wieder ist eine Nacht vergangen. Eine ganze Schar von Schwarzröcken steht am Papendiek. Schlimme Zeiten für die Frösche. Kein Quaken ist mehr zu hören. Eines Morgens sind die Störche fort. Sie haben ihren großen Flug begonnen. Jochen hat beobachtet, wie sie sich sammeln. Ihren Abflug hat er nie gesehen. Jochen rechnet nach. Zwei, nein, drei Monate ist es her, da war die letzte Stor-
chenversammlung. Jetzt sind die Vögel schon längst am Nil. Schrille Schreie am grauen Himmel. Neue Gäste sind gekommen. Wildgänse fliegen über den See. Jochen läuft den Weg weiter. Bald ist er in Landow. Aufwärts geht es, und da sieht er schon die paar Häuser, Katen eigentlich, mit Rohr gedeckt, schief, die Dächer voll Moos und vom Sturme zerzaust. Jochen humpelt schneller. Da ist schon die Eiche, der Brunnen, und jetzt ist er zu Hause. Mutter wirtschaftet in der Küche. Sie sieht sich gar nicht um. „Schon da?“ fragt sie. „Ja“, sagt er. „Hast du gegessen?“ „Ja.“ Jochen läßt die schwere Tasche vom Rücken gleiten und stellt sie in die Ecke.
In der Stube steht ein Laufgitter. Die Kleinen hören auf, sich um den Teddy zu streiten. Sie ziehen sich am Gitter hoch. Blanke Augen verfolgen den Bruder. „Jochi da“, sagt Janni, die Größere. Sie streckt ihre Ärmchen aus. Der Kleine lallt nach. Odada oder so ähnlich klingt es. Auch er streckt die Arme aus. Da knicken die Beinchen ein. Bums, liegt er auf dem Rücken. Jochen geht auf die Kinder zu. „Ach, ihr beiden…“ „Setz dich nicht erst hin“, hört er die Mutter, „kannst mir im Stall helfen.“ Der Große hebt sie nicht hoch auf seine Arme, er nimmt sie nicht heraus aus dem Gitter. Er geht zur Tür. Jannis Mund verzieht sich zum Weinen. Die Tür schließt sich. Die Kleinen schluchzen auf und heulen zusammen los. Jochen hört es noch, als er den schweren Eimer in den Stall hinüberschleppt. Wär-
me schlägt ihm entgegen. Susi meckert sofort und zerrt unruhig an der Kette. Ihren haarigen Hals streckt sie nach ihm aus. Sie sucht mit dem Maul schnuppernd nach seiner Hosentasche. „Heute habe ich nichts“, sagt Jochen. Er schrapt der Ziege das Fell. Das hat sie gern. Jochen füttert alle Tiere, auch seine Kaninchen. Er streichelt das dichte Fell der grauen Häsin. Sie läßt sich nicht stören. „Knabber nur, Muckerchen“, sagt er. Jochen läuft im dämmergrauen Nachmittag hin und her. Das Vieh ist versorgt. Für Mutter muß er noch Torf in die Küche tragen. Ein Kuchenblech muß er bei Muschaks ausleihen. Vater kommt am Sonnabend. Er ißt gern frischen Streuselkuchen. „Brav“, sagt Mutter in der niedrigen Küche, als Jochen die Ärmel hochkrempelt und sich im Kübel die Hände wäscht. Er antwortet nicht.
Schularbeiten hat er für diesen Nachmittag nicht auf. Trotzdem setzt er sich an den Tisch. Im trüben Licht liest er eine Seite. Er schreibt auch ein paar Zeilen, aber er findet keine Ruhe. Die Kleinen im Laufgitter strecken ihre Ärmchen aus. Sie bitten: „Jochi, domm, Jochi, domm.“ Jochen steigt in das Laufgitter, legt sich auf die Decke. So ist es richtig. Als ob Vater zu Hause wäre. Sie krabbeln auf ihm herum. Der Kleine faßt mit ungeschickten Patschhändchen an Jochens Nase und greift in sein Haar. Sie spielen noch, als Mutter die Schüssel auf den Tisch stellt. Das Essen dampft. Die Mutter hat Mühe, die Kleinen satt zu kriegen. Bemerkt Jochen gar nicht, daß sie ihm besonders viel Wurst auf den Teller getan hat? Er ißt ohne Appetit. Dann liegt Jochen im Bett. Ganz still. Mutter bringt die Kleinen und deckt sie zu. „Du hast doch etwas, Junge?“ fragt sie
Jochen. Er schüttelt den Kopf. Da setzt sich Mutter auf das Bett des Großen und greift nach seinen Händen. „Ich merke es doch. Was ist geschehen?“ Er hat ihr breites Gesicht über sich, ihre warmen Augen. Er spürt die spröde Haut ihrer Hände. Jetzt möchte Jochen noch wie Janni sein. Am liebsten würde er weinen, wenigstens ein bißchen. Aber er ist doch der Große. Stockend beginnt der Junge. Er erzählt, was ihn bedrückt. Lange erzählt er, Mutter kann so gut zuhören. „Aber sie brauchen mich doch auf der Werft?“ fragt er unsicher. Mutter streichelt ihn. Das tut sie nicht oft. „Natürlich warten sie auf dich“, sagt sie. Eine Weile ist es still. „Du wirst sehen, wie schön es ist, wenn wir nach Warnemünde ziehen. Die Wohnung ist bald fertig.“
Sie geht behutsam aus der Kammer. Alles ist gut. Sie brauchen mich, denkt Jochen, und wir ziehen in die Stadt am Meer. Dann sehe ich die Schiffe fahren, an denen Vater mit baut, und ich sehe die Werft. Vaters Werft. Meine Werft. Vater ist dann nicht nur am Sonntag zu Hause. Wir sind dann wieder immer mit ihm zusammen. „Dann ist Schluß mit der Klöterei und Schinderei“, hat Vater gesagt. „Gemüse soll es zu Mittag geben? Bitte, der Laden ist um die Ecke. Im Herd brennt es nicht? Bitte, ein Streichholz genügt, und das Gas flammt auf. Ihr werdet ins Kino und ins Theater gehen können. Unser Kulturhaus steht am Strand. Mutter, du wirst Zeit haben, Bücher zu lesen. Manchmal wirst du dich auch schönmachen fürs Ausgehen. Wir sind doch noch nicht alt, Mutter.“ Das hat Vater gesagt. Es wird schön, denkt Jochen. Und Wald? Den gibt es dort auch. Ganz still ist es. Mutter wirtschaftet wie-
der in der Küche. Geschirr klappert. Janni schläft schon. Nur der Kleine will keine Ruhe geben. Nun fängt er an zu weinen. „Krümel“, ruft Jochen, „Krümel, sei still!“ Einen Augenblick setzt das Weinen aus, aber nur einen Augenblick. Dann plärrt der Kleine los, viel lauter als zuvor. Jochen steigt aus dem Bett, tappt zu der niedrigen Kommode an der Wand. Das Schubfach quietscht. Jochen greift hinein und zieht ein Gewirr von Drähten und Schnüren heraus. Das ist sein Radio. Vater hat ihm die Teile geschenkt. Zusammengesetzt hat er sich den Detektor selbst. Er stellt ihn ein und lauscht. Er hört leise Musik. Jochen tastet sich an das Körbchen. Der Bruder sieht ihn mit wachen Augen an. Jochen legt ihm den Kopfhörer zwischen Kissen und Ohr. Jetzt hat der Kleine Musik. Sofort ist er still. Na also, denkt Jochen und kriecht wieder ins knarrende Bett. Jetzt darf
er nicht einschlafen. Er muß Krümel den Hörer wieder wegnehmen. Auf einmal ist Lärm im Flur. Eine Tür wird zugeschlagen. Er hört eine laute klagende Stimme. Er weiß, wer gekommen ist. Die Nachbarin. Rieke Hasenpoot. Die Pottkiekersche, sagt Vater. „Allein um die loszuwerden, ziehe ich gerne in die Stadt“, hat Mutter einmal zu Vater gesagt. Aber jetzt sagt sie freundlich: „Du zitterst ja am ganzen Leibe. Was ist denn geschehen? So komm doch herein.“ Der Junge hört die Schritte und das Stühlerücken in der Stube. Er lauscht. „Also in Gerdshagen warst du drüben? Bestimmt wieder beim Spökenkieker, beim Schäfer?“ „Nu ja, beim ollen Benduhn. Mein Rheuma, du weißt doch! Ist wieder schlechter geworden. Ich spür halt den Winter, nu ja. Brauchte neue Salbe, Dachsfett. Dachsfett kriegst du von keinem Doktor.“
„Und unterwegs ist was passiert?“ „Nu ja, war schon schummrig, als ich losging, unten am See lang. Na ja, du weißt schon, ich habe keine Angst. Vor keinem nicht. Ich also schreite immer tüchtig aus. Auf‘m See macht sich Nebel breit, an den Weiden bin ich schon vorbei, die Lichter von Landow kann ich schon sehn, da passiert’s, plötzlich…“ „Was denn?“ „Ein Geist.“ „Ach.“ „Nu ja, wahr und wahrhaftig ein Geist. Ein Geist, sag ich. Unten am See. Auf einer Miete. Ich mach keinen Schritt mehr. Er steht ruhig und wartet. Ganz weiß steht er. Oben auf der Miete. Ganz weiß und groß. Im Nebel hab ich ihn gesehn. Leise will ich vorbei. Ich mache einen Schritt. Ich mache noch einen Schritt. Und noch einen. Da bewegt er
sich und fliegt los. Auf mich zu.“ „Und du?“ „Nu ja, ich denke, mich rührt der Schlag. So eiskalt ging mir das über die Haut. Meine Beine wie steif. Stocksteif. Ich aber los. Losgerannt bin ich, quer über die Wiese, auf das Licht zu. Nicht ein einziges Mal hab ich mich umgesehen. Quer durch den Modder. Quatschnaß die Schuhe. Nur weg. Da bin ich.“ Jochen hört Mutter lachen. „Rieke, da hast du dir was Schönes eingebildet.“ „Ich bin doch nicht mall“, sagt sie. „Ich hab ihn gesehen. Hier. Quatschnaß sind die Schuhe. Ganz weiß war er. Auf einer Miete stand er. Packen wollte er mich.“ „Na, beruhige dich nur, Rieke.“ „Keinen Schritt gehe ich mehr vors Haus.“ „Ich bring dich rüber.“ „Nu ja, aber nicht jetzt. Jetzt noch nicht.“
Jochen ist aufgeregt. Er überlegt. Geister gibt es nicht. Das weiß er. Alles kann erklärt werden. Der Lehrer hat es gesagt, und die Eltern sagen es auch. Aber wenn die Frau wirklich ein Gespenst gesehen hat? Er zieht das Deckbett bis über die Ohren. Lange dauert es, bis er wagt, die Nase wieder herauszustecken. Man müßte doch mal nachsehen, denkt er. Wenigstens aus dem Fenster gucken. Jochen steigt aus dem Bett. Er tappt durch die Kammer. Er stößt sich an Krümels Weidenkorb. Der Kleine schläft, einen Daumen im Mund. Jochen nimmt den Hörer und hält ihn ans Ohr. Er hört: „Die sibirische Kaltluft ist bis zur Oder vorgedrungen. Das Gebiet der DDR bleibt aber vorerst noch im Bereich der milden Meeresluft…“ Hm. Bald wird es kalt. Nun zum Fenster. Vorsichtig späht Jochen. Kein Gespenst zu sehen. Der Nebel
ist vom See her bis zu ihren Katen gekrochen. Nun hockt er vor dem Fenster. Eine Eiche reckt ihre knorrigen Äste vor dem weißen See. Kein Stern ist zu sehen. Jochen fröstelt. Am nächsten Morgen ist Mutter bis zur Tür mitgekommen. Dort hat sie ihn auf den Mund geküßt. Schnell wischte Jochen mit dem Ärmel darüber. Was sie nur hat? Er ist doch kein Baby mehr. Allein geht er durch das Dunkel zur Schule. Die paar Katen sind schon durch Büsche verdeckt. Es ist feuchtkalt. Jochen fühlt sich in seiner warmen Jacke wohl. Merkwürdig. Der Nebel ist auf einmal verschwunden. Wind weht vom Wasser her. Allmählich wird es Tag. Jochen bleibt stehen, um sich auszuruhen. Vor den dunklen Höhen des jenseitigen Ufers liegt der See wie eine große
helle Wiese. Das Rohr rauscht im Wind. Jochen sieht hohe spitze Schatten. Es sind Muschaks Mieten. Der Junge überlegt. Dort will Rieke Hasenpoot dem Geist begegnet sein? Dort unten? Man müßte einmal nachsehen. Er könnte dann den Pfad am Ufer entlanglaufen. Der führt bis nahe an die Schule. Ob man von einem Geist Spuren finden kann? Vielleicht angesengtes Rohr? Jochen hat sich schon entschlossen. Er rückt die schwere Schultasche zurecht. Dann läuft er den Weg zurück. Ein paar Schritte nur. Halt. Hier biegt der Pfad ab. Quer über die Wiese. Seitab liegt Landow. Näher kommen die dunklen Mieten. Langsamer wird Jochens Schritt. Sollte er umkehren? Noch ist es Zeit. Wie gewaltige Wächter stehen die Mieten in der Niederung. Nichts bewegt sich. Kann ja auch nicht, denkt Jochen. Geister bildet man sich ein.
Plötzlich erschrickt er. Da bewegt sich etwas, flattert. Angst packt den Jungen, will ihn zurücktreiben. Die Beine zittern ihm. Doch er steht und starrt. Jetzt erkennt er es deutlich. Das kann doch nicht möglich sein! Jochen läuft näher an die Miete heran. Doch. Auf der Miete oben steht ein Storch. Vor dem heller werdenden Himmel kann Jochen sein weißes Gefieder sehen. Der Vogel hat sich allmählich wieder beruhigt. Er steht auf einem Bein, Hals und Kopf und Schnabel an den Körper gelegt. Schläft er? Aufgeregt stapft der Junge um die Miete. Kein Zweifel. Es ist ein Storch. Jochen lacht. Das also ist Frau Hasenpoots Gespenst! Der Vogel hat die Flügel bewegt und ist von der Miete herabgeflogen. Im Nebel mag das gespenstisch wirken. Der Schreck hatte ja auch ihn gepackt vorhin, als er die unerwartete Bewegung wahr-
nahm. Immer weiter weg führt ihn der Weg, immer weiter weg. Aber Jochen hält ein paarmal an und blickt zurück. Immer noch steht der große Vogel auf der dunklen Miete. Der Junge hat viel zu überlegen auf seinem Schulweg: Warum ist der Storch noch hier? Vor Monaten schon sind die anderen abgeflogen. Keiner hat es ihnen gesagt, aber sie fanden sich alle rechtzeitig am Papendiek ein. Warum dieser eine nicht? Hat er sich verspätet? Oder – Jochen erinnert sich – oder haben die anderen Störche ihn nicht mitgenommen? Der Schäfer hat einmal erzählt, daß die Störche vor dem Abflug eine Versammlung abhalten. Die kranken Vögel werden ausgestoßen. Sie müssen zurückbleiben. Sie können nicht über das Meer fliegen nach Afrika. Vielleicht ist der Storch auf der Miete krank. Vielleicht kann er nicht
mehr richtig fliegen. Ich kann ja auch nicht mehr schnell laufen, denkt Jochen. Noch nie ist dem Jungen der Weg zur Schule so kurz erschienen wie an diesem Morgen. Schon kann er die Chaussee nach Stresow erkennen. Der Milchwagen zuckelt zur Molkerei. Jochen sieht keine Schulkinder mehr. Hat er sich verspätet? Er beeilt sich und ist froh, als er die langen Gebäude der Zentralschule sieht. Die Kinder sind schon in der Klasse. Höchste Zeit. Schnell Mütze und Jacke an den Haken, hinein in den Klassenraum, die Tasche unter die Bank. Da öffnet Herr Tiede die Tür. Sie stehen auf. Ach, das ist noch einmal gut gegangen. Sie singen ihr Morgenlied. Jochen denkt nur an den Storch. Sie holen die Lesebücher aus den Taschen, schlagen sie auf, lesen. Jochen sitzt wie ein Kranker unter den Lernenden. Was soll mit dem Storch geschehen?
Moni liest jetzt. Er sieht ihren Nacken, ihre Zöpfe. Sie liest das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot. Jochen hört nur:… sibirische Kaltluft… sibirische Kaltluft. Das Tier darf nicht erfrieren. Er muß es retten. Der Junge sieht sich heimlich um. Über Bücher gebeugte Köpfe. Soll er es der Klasse sagen? Da sieht er Klaas. Daneben Robbi. Die Erinnerung überkommt ihn. Püppi haben sie gewählt, ihn nicht. Sie wollen ihn nicht. Aber Herrn Tiede muß er erzählen, daß er einen Storch gefunden hat. Schon will er die Hand heben. „Lies weiter, Jochen!“ sagt da der Lehrer und nickt ihm zu. Bestürzt blickt Jochen ins Buch. Die Wörter tanzen vor seinen Augen. Wo hat Moni aufgehört? Wo nur? Da schiebt sich ein Finger auf seine Seite. Der zeigt ihm den Absatz. Das ist der Nachbar. Guntram hat ihm geholfen. Aufgeregt liest Jochen.
Er weiß, daß er besser lesen kann. Er verspricht sich, macht Fehler. Es wird immer schlimmer. „Du träumst heute“, sagt der Lehrer, „hast du zuwenig geschlafen?“ Jochen schämt sich. Klaas dreht sich um und grinst. „Klaas liest weiter!“ sagt Herr Tiede. Jochen will aufpassen, aber immer wieder irren seine Gedanken ab. Wie soll er den Storch fangen? Mit wem? Mit Guntram vielleicht? Der hat ihm auch vorhin geholfen. Jochen zieht das Lesezeichen aus dem Buch, ein weißes Blatt. Schützend legt er die Hand davor, dann schreibt er schnell: „KOMMST DU HEUTE MIT MIR NACH LANDOW? ICH HABE EINEN STORCH!“ Darunter malt er ein großes J. Geschickt schiebt er das Blatt seinem Nachbarn zu. Nun liest Guntram. Jochen
hört, wie seine Feder auf dem Papier kratzt. Nicht so laut, möchte er sagen. Hoffentlich hört es der Lehrer nicht. Der Zettel kommt zurück. Jochen liest: „EINEN STORCH? IM NOVEMBER? DU HAST EINEN VOGEL!“ Jochen denkt: Ich bin allein. Langsam schleicht die Stunde dahin. In der Pause sagt Herr Tiede im Vorbeigehen: „Wenn du wieder einmal während der Stunde Briefchen schreiben willst, mußt du es geschickter anstellen.“ Jochen wird rot. „Ich… ich…“, sagt er. Der Junge möchte alles erklären. „Ist schon gut, Junge!“ antwortet Herr Tiede. Der Direktor war aus dem Lehrerzimmer getreten. Herr Tiede geht auf ihn zu. In den folgenden Unterrichtsstunden nimmt sich Jochen zusammen. Er paßt auf. Er meldet sich. Herr Tiede nickt ihm
zu. Aber in den Pausen denkt Jochen an den Storch. „Hei drömt!“ sagen die Kinder und gehen ihm aus dem Weg. Vom Storch wissen sie nichts, und das Völkerballspiel haben sie längst vergessen. „Jochen träumt!“ sagen sie. Jochen ist froh, als er mit geschulterter Tasche die Schule verlassen darf. Er wendet sich gleich zum See. Den schmalen Pfad hinkt er entlang. Ob der Storch noch auf der Miete hockt? Ohne sich auszuruhen, hastet der Junge nach Landow. Jochen stürmt den Pfad am See entlang. Wenn ihn nur das Bein nicht so hinderte. Hoch über ihm schwankt das dürre Schilf. Durch Büsche drängt er sich. Er achtet nicht auf die Kratzer. Ist der Storch noch da? Am Erlenbruch ist er vorbei. Der Boden unter ihm ist weich. Er geht über die Nie-
derung. Die Dächer der Katen von Landow schimmern durch das Geäst. Da sieht er die hohen Rohrbündel. Unruhig gleitet sein Blick darüber. Jochen lächelt. Der Storch steht noch da. Der Junge erkennt seine stelzenhaften Beine und den langen spitzen Schnabel. Jochen geht nach Landow hinüber. Was ist zu tun? Wenn nur Vater zu Hause wäre. Vater weiß immer einen Rat. Die Kleinen freuen sich, als Jochen eintritt. Krümel lacht laut. Doch der Große hat keine Zeit für ihn. Er muß nachdenken. Der Storch darf nicht im Freien bleiben. Jochen muß ihn fangen. Der Junge stochert im Essen herum. „Was hast du denn?“ fragt Mutter. Jochen blickt sie an. „Mutti, ich möchte noch ein bißchen zum See.“ „Rumstromern?“ Er nickt.
„Geh, Junge!“ sagt sie. Besorgt blickt sie ihm nach. An der Tür bleibt Jochen stehen und wendet sich zur Mutter. „Ich weiß, wer der Geist war“, sagt er. „Ein Bengel?“ „Nein, ein Storch. Ich will ihn fangen.“ Er läßt Mutter keine Zeit für eine Antwort. Susi muß seinen Hinkeschritt gehört haben, als er am Stall vorüberzog. Sie meckert laut. Er hat keine Zeit für sie. Schnell hinunter zur Niederung. Jetzt weiß er, was er tun muß. Vor Jahren, so las er einmal, hatte ein Bauer auf Mönchgut einen kranken Storch den Winter über bei sich behalten. Im Stall. Einfach im Stall. Ende April kam der andere, der Storchenvater oder die Storchenmutter, wer weiß, aus dem Süden zurück. Die beiden Störche bezo-
gen gemeinsam ein Nest. Im Herbst flog wieder nur der eine davon. Drei Jahre ging das so, dann starb der Storch. Jochen denkt: In der Bucht neben Susi hat er Platz. Ich muß ihn nur fangen. Aber das ist das schwierigste. Der Junge steht neben den zusammengestellten Rohrbündeln. Oben ist der Vogel. „Komm doch!“ ruft Jochen. Der Schwarzrock rührt sich nicht. Jochen versucht, die Miete zu erklimmen. Das Rohr ist glatt, die äußeren Halme sind feucht und schmierig. Er rutscht ab. Niemals gelangt er hinauf. Komm doch runter, denkt Jochen. Ist doch nur gut für dich. Ich will dir nur helfen. Der große Vogel wendet seinen Kopf dem Jungen zu, der um die Miete herumläuft. Drüben bei den Weiden hat Jochen im Sommer eine Hütte gebaut. Er hinkt zum Rohrsaum. Da liegen noch Knüppel und
Stöcke. Er greift nach einem langen und humpelt zurück. Der Storch hat seinen Weg verfolgt. Jochen stochert mit dem Stock nach dem Vogel. Der hüpft etwas zur Seite. Wenn er nur herunterflöge! Drüben bei den Weiden liegen Steine. Jochen holt sich zwei Hände voll. Jetzt tut er, was er noch nie getan hat. Er zielt und schleudert sie durch die Luft, einen Stein nach dem anderen. Er wirft auf ein Tier. Der Storch hüpft etwas. Dann flattert er erregt. Seinen Platz verläßt er nicht. Traurig geht der Junge zurück. Ist der Vogel so krank, daß er überhaupt nicht mehr fliegen kann? Schon liegen wieder Nebel überm See, da treibt die Unruhe Jochen noch einmal aus dem Haus. Die Rohrbündel ragen wie Inseln aus dem Nebel. Jochen erschrickt. Er humpelt
schneller. Er hat sich nicht getäuscht: Der Storch ist nicht mehr da. Der Junge läuft zwischen den Mieten hin und her. Nichts. Im Nebel sind die Weiden nur große Schatten. Plötzlich sieht er ihn. An der Weide. Zehn Schritte vor ihm steht der Rotschnabel. Jetzt muß ich ihn fangen, denkt der Junge, jetzt kriege ich ihn. Die Freude macht ihn aufgeregt. Er muß sich zur Ruhe zwingen. Langsam nähert er sich dem Storch. Ein Schritt. Er bleibt stehen. Noch ein Schritt. Er sieht deutlich die ovalen Augen des Vogels. Sie sind auf ihn gerichtet. Unmerklich noch ein Schritt. Jetzt, jetzt muß er ihn packen. Er springt los und will sich auf den Storch werfen. Der breitet seine Schwingen, bewegt sich schnell, schreckhaft zucken Hals und Schnabel. Da erhebt er sich und fliegt los, es ist mehr ein Flattern, auf den Jungen zu.
Jochen wirft sich ins Gras. Über ihn hinweg rauscht der Vogel. Er spürt den heftigen Flügelschlag. Als er wieder aufblickt, sieht er den Storch stehen, ein paar Schritte zu den Mieten hin, nur ein Schatten im Nebel. Ich muß ihn haben, denkt Jochen. Er stemmt sich hoch und läuft los, auf den Storch zu. Er will ihn greifen, stürzt aber, spürt nur den flatternden Flügel. Weg ist der Storch. Eine Feder hält Jochen in der Hand. Er hetzt dem Tier nach. Er fängt es nicht. Er hält ein, als er die Nässe in seinen Schuhen spürt. Richtig fliegen kann er nicht mehr, denkt Jochen, nur noch hüpfen und flattern. Aber warum bleibt er hier in der Niederung? Wie ein Schreck überfällt ihn die Erinnerung an das, was ihr Lehrer einmal erzähl-
te: Alte Elefanten, die ihren Tod nahen fühlen, trennen sich von der Herde und verkriechen sich in einem unzugänglichen Sumpf, um dort einsam zu sterben. Sterben soll er nicht. Darf er nicht. Ob er überhaupt noch Futter findet? Er muß aber etwas zu fressen haben. Im Nebel tappt der Junge zum See. Da ist der Graben. Hier könnte man Frösche fangen. Im Sommer ist es leicht. Da quaken sie laut. Nun ist keiner zu hören. Ob es noch Frösche gibt? Mit einem Stock stochert Jochen im modrigen Wasser. Nichts. Er wühlt den Schlamm auf. Nichts. Ob Störche außer Frösche auch etwas anderes fressen? Der Junge humpelt über die Wiese. Er sieht von Mäusen gegrabene Gänge, aber keine Maus. In seiner Not hastet der Junge nach Landow hinauf.
Susi zerrt an der Kette, als er in den Stall tritt. Er hat kein Wort für sie. Er hebt die Falle auf. Darin steckt eine Maus mit samtenem Fell. Er nimmt sie heraus. Er stopft sich die Taschen voll gekochter Kartoffeln. Wieder hastet er die Niederung hinab. Er legt die Kartoffeln vor eine Miete. Einige wirft er hinauf. Der Storch darf nicht verhungern. Die hellen Fenster der Katen zeigen ihm den Weg. Als Jochen in die Küche tritt, erschrickt die Mutter. Seine Schuhe sind naß, die Hosen beschmiert, das Gesicht ist gerötet und zerkratzt. Er nimmt die Mütze ab. Die Haare kleben vom Schweiß. Die Mutter sagt nichts. Sie gießt warmes Wasser ein. Sie zieht Jochen die Kleider vom Leib. Er wäscht sich prustend. So wie sein Va-
ter, denkt Mutter. Sie fährt ihm derb durchs Haar, aber es ist Zärtlichkeit. „Au“, sagt Jochen ärgerlich, wie sein Vater. Jochen wacht früher auf als der Kleine. Janni schläft noch. Jochen hat keine Ruhe mehr. Am liebsten möchte er noch vor dem Frühstück aus dem Haus. Er läuft vor die Tür und sieht nach dem Wetter. Gefroren hat es noch nicht. Noch nicht. Er geht in das Haus zurück, in die Kammer, legt den Hörer des Detektors ans Ohr und versucht den Wetterbericht zu erhaschen. In der Hörmuschel ist leise Musik. Kein Wetterbericht. Was wird mit der sibirischen Kaltluft? fragt sich Jochen. Er schultert die Schultasche. Unruhe treibt ihn aus dem Haus. „Laß dir Zeit“, sagt die Mutter, „im
Dunkeln kannst du doch nichts unternehmen.“ Jochen zögert. „Warte, bis Vater kommt. Der hilft dir. Der fängt ihn ein.“ Jochen antwortet: „Dann ist er vielleicht schon erfroren. Oder verhungert.“ Er muß wissen, ob der Storch gefressen hat. Er läuft aus dem Haus, den Hang hinunter zur Niederung am See. Auf der Spitze einer Rohrmiete steht der Storch. Hat er gefressen? Jochen hinkt heran. Er bückt sich, um besser sehen zu können. Die Maus liegt noch da. Die Kartoffeln sind unberührt. Vielleicht frißt der Storch keine Kartoffeln. Aber die Maus? Muß sie lebendig sein? Oder hat er noch Regenwürmer gefunden? Futter muß her für ihn, aber wie? grübelt der Junge. Er geht wieder den Pfad am See entlang.
Der kühle Morgenwind läßt ihn frieren. Jochen grübelt. Als er an den Kiefernkuscheln vorbei ist und die Schule sieht, hat er seinen Plan. Ein paar Kinder warten schon. Sie laufen über den Hof, um sich zu wärmen. Beim Fahrradschuppen hockt Moni. Sie schnürt sich einen Schuh fest. Ihr Vater ist Gärtner auf dem großen Gut in Stresow. Jochen geht auf sie zu. Sie richtet sich auf und will zu ihrer Freundin laufen. Jochen faßt sie an der Hand. „Hör mal!“ „Ja?“ „Du, Moni?“ „Ja?“ „In eurer Gärtnerei habt ihr doch Regenwürmer?“ „Ja“, sagt sie. „Kannst du mir ein paar mitbringen?“
Sie sieht ihn erstaunt an. „Du bist wohl nicht richtig in der Mütz’, was?“ Sie will zu Karin. „Eine Büchse voll, jeden Tag“, bittet Jochen. „Du bist mall!“ ruft Moni und läuft davon. Jochen folgt ihr langsam. Er sieht Klaas am Zaun lehnen. Er will nicht daran denken, daß er ihn gekränkt hat. Er braucht Futter für seinen Storch. Ja, für seinen Storch. Jochen geht hinüber zu Klaas. Sie begrüßen einander. „Klaas?“ fragt Jochen. „Hm.“ „Habt ihr in eurer Mühle Mäuse?“ „Klar.“ „Viel?“ „Massig“, prahlt der Große.
„Fangt ihr sie?“ „Klar. Mit Fallen und Katzen.“ „Kannst du mir Mäuse mitbringen?“ „Wozu?“ „Ich brauche sie.“ „Wozu?“ „Das sag ich nicht.“ „Dann kannst du auch keine kriegen.“ Traurig geht Jochen über den Hof. Er muß noch die anderen fragen. Robbi und Walter spielen bei der Fahnenstange Fangen. „Hört mal!“ ruft Jochen. „Was ist?“ „Könnt ihr mir Frösche besorgen?“ „Frösche?“ „Ja. Frösche.“ „Gibt doch keine mehr!“ antwortet Walter.
„Ich bezahle sie auch“, sagt Jochen schnell, „das Stück zehn Pfennig.“ „Man könnte es ja versuchen“, sagt Robbi. Er überlegt. Zehn Pfennig für das Stück? Allerhand. „Wieviel brauchst du?“ Wieviel Frösche frißt ein Storch, überlegt Jochen. Wieviel? „Zwanzig“, sagt er schnell. „Zwanzig?“ Robbi pfeift überrascht. Das wären zwei Mark. „Ja. Zwanzig Stück. Jeden Tag.“ Sie blicken ihn verwundert an. „Du bist verrückt. Zum Veräppeln such dir andere aus!“ Sie lassen ihn stehen. „Er spinnt“, flüstern die Kinder, als sie in das Klassenzimmer gehen. Sie haben ihr Lied gesungen, aber Herr Tiede fängt noch nicht mit dem Rechnen an. Er sagt: „Bevor ich es vergesse. Wer heute Zeit hat, kommt bitte zur Bastelstunde. Wir wollen das Spielzeug rechtzeitig fertigstellen. Und vergeßt nicht: Es
muß ein Geheimnis bleiben. Ein paar Tage noch.“ Dann muß Inge die Lösung ihrer Hausaufgaben vorlesen. Jochen aber hat zu denken. Beim Basteln darf er nicht fehlen. Auf keinen Fall. Er war es doch, der vor Wochen, als sie über Weihnachtsgeschenke sprachen, gesagt hatte, Spielzeug brauche man nicht zu kaufen, manches könne man selber bauen. So war alles in Gang gekommen. Holzabfälle hatte ihnen ihr Patenbetrieb geschenkt, und für die Kinder der Arbeiter sollte auch ein Teil des gebauten Spielzeuges sein. Seitdem war ihr großer Werkraum voller Leben. Die Mädel nähten aus Stoff Puppen und wunderbare Teddys mit dunklen Knopfaugen und flauschigem Fell. Karins Mutter half ihnen dabei. Die Jungen bauten Eisenbahnzüge, Kräne und Traktoren mit Anhänger. Herr Sachse, der im Möbelwerk gearbeitet hat, gibt den Werkunterricht an
der Schule. Er beriet sie auch beim Basteln. Er schnitt die Hölzer. Die großen Jungen bohrten und leimten. Die jüngeren konnten schmirgeln, anstreichen und polieren. Zu sehen, wie die fertigen Traktoren in Reih und Glied standen, das war schön. Und wie würden sich die Kleinen freuen! Nein, beim Basteln darf er nicht fehlen. Aber er darf auch den Storch nicht im Stich lassen. Während die Kinder rechnen, sitzt Jochen starr. Er begreift nicht die Aufgaben. Er sieht nur seinen Storch, den kranken Vogel, einsam und verlassen. Wenn die Kälte kommt, ist es für ihn zu spät. Erinnerungen bedrängen den Jungen. Die Federn eines Eichelhähers hat er im Wald gefunden, auch den Kadaver einer Krähe mit zerfledertem Gefieder, im vergangenen Winter ein verendetes Reh mit blutigen Fesseln und großen totenblassen Augen. Nein, der Storch darf nicht
zugrunde gehen. Sie müssen ihm helfen. Alle müssen ihn retten. Allein kann er es nicht. Jochens Hand fährt hoch. „Ja? Bitte, Jochen!“ Der Lehrer sieht ihn freundlich an. Die Kinder warten auf die Antwort. Sie haben mitgerechnet. Die Aufgabe war leicht. Der Patenbetrieb hat ihnen 250 Mark für das Winterlager geschenkt. Der Elternbeirat hat bisher 138 Mark gesammelt. Wieviel Geld haben sie bis jetzt? Das ist leicht. 388 Mark muß herauskommen. „Bitte, Jochen!“ Der Junge steht auf und sagt: „Wir müssen den Storch retten.“ Einige lachen. Jochen fährt empört auf. Dann besinnt er sich. Sie wissen es doch nicht. Und er berichtet vom Storch. Wie er ihn gefunden hat und daß man ihn retten muß.
So eine Aufregung. Auf einmal werden sie still, denn Herr Tiede will sprechen. „Du hättest uns das früher sagen müssen, Jochen. Aber noch ist es nicht zu spät.“ Der Lehrer weiß, was sie tun müssen. „Ich werde den Naturschutzbeauftragten des Kreises anrufen. Wir müssen auch wissen, ob der Tierpark den Storch aufnehmen kann. Am besten ist es, wenn einer von euch an den Direktor schreibt. Wer soll es tun? Es eilt.“ „Jochen!“ ruft Robbi, und „Jochen! Jochen!“ rufen auch die anderen. „Gut“, sagt der Lehrer. „Jochen schreibt an den Direktor. Und dann müssen wir den Storch einfangen. Noch heute.“ Stärkerer Wind ist aufgekommen. Die Äste der Eiche knarren. Fensterläden klappern. Der Sturm jagt dunkle Wolken. Jochen liegt wohlig im Bett. Er kann nicht einschlafen. Wie konnte er nur so dumm sein? Er hätte es den Kameraden früher
sagen müssen. Aber alles ist gut geworden. Die Pioniere waren dabei. Dazu der Lehrer. Herr Sachse hatte am Papendiek auf sie gewartet. Brigitte sollte auch nicht fehlen. Sie hatten mit ihr telefoniert, und sie war mit ihrem Rad aus der Stadt gekommen. Am frühen Nachmittag waren sie losgezogen, einer hinter dem anderen, am See entlang. Er hatte sie geführt. Beim Erlengebüsch hatten sie gehalten. Von dort aus hatte er auf den Storch gezeigt. Dann hatten sie sich trennen müssen. Ein paar nach links, ein paar geradeaus, bis der große Kreis um die Mieten geschlossen war. Dann gingen sie auf den Storch zu. Der war unruhig geworden. Er hüpfte hin und her. Den Schwanz hochgerichtet, hatte er mit dem Schnabel grimmig zu stoßen gesucht.
Mit langen Knüppeln hatten sie ihn heruntergestochert. Den ersten war er entwischt, aber der Lehrer hatte ihm die Decke über den Kopf geworfen. Der Vogel schlug wild um sich, aber es half ihm nichts. Er war gefangen. Sie hatten ihn fest an den Flügeln gepackt und nach Landow hinaufgetragen. Das war eine Aufregung. Nun stand der Storch in der Bucht neben Susi. Die Ziege hatte an der Kette gezerrt und kläglich gemeckert. Auch der Storch hatte angstvoll geflattert. Erst gegen Abend waren beide ruhig geworden. Die Kinder aber wollten gar nicht nach Hause. Ein paar waren schließlich mit dem Lehrer zurückgegangen, die letzten erst nach dem Mahnen der Mutter. Susi wird vor Angst nicht schlafen können, denkt Jochen. Ganz gleich. Das muß sie schon aushalten. Wenn ihr der Storch mit dem Schnabel zu nahe rückt, meckert
sie bestimmt. Er horcht in das Dunkel. Nur das Brausen des Sturmes ist zu hören. Noch ist Jochen die Sorgen um das Tier nicht los, aber jetzt ist er nicht mehr allein. Der Storch muß in den Tierpark gebracht werden. Aber wie? Vielleicht weiß Herr Tiede einen Rat. Oder der Direktor des Tierparks. Ihm hat er einen Brief geschrieben, noch in der Schule: „Sehr geehrter Herr Direktor! Wir haben einen kranken Storch beobachtet. Wir wollen ihn fangen, damit er nicht erfriert. Haben Sie Platz für ihn?“ So hatte der Brief begonnen. Der Mann, der auf hundert Tiere achtgibt und gut zu ihnen ist, wird auch einen Storch nicht erfrieren lassen. Jochen lächelt. Er hört das Heulen des
Sturmes und, ganz nah, das Schmatzen des Bruders, der am Daumen nuckelt, ehe er einschläft. Auch der Sonnabend ist ein aufregender Tag. Trotz des Sturmes möchte Jochen vor Freude hüpfen. Wenn es nur sein Bein zuließe. Gleich früh hat er im Stall nachgesehen. Der Storch stand würdig in seiner Bucht. Susi bekam ihren Zucker. Alles in Ordnung. Jochen ist noch gar nicht bei der Schule, da winken die Kinder ihm schon zu. „Komm schnell!“ ruft Moni. Sie gehen zum Fahrradschuppen. Moni zeigt in die Ecke. „Guck mal!“ Eine Konservenbüchse. „Was soll ich damit?“ „Alles Regenwürmer“, sagt Moni stolz, „ganz voll.“
Da kommen die Kinder aus Upahl zur Schule. „Schnell, Jochen!“ Sie zeigen ihm die mitgebrachten Päckchen. Sie wickeln das Zeitungspapier auf. Mäuse. Achtzehn Stück. „Reicht das?“ fragt Klaas. Später haben sie große Pause. Sie tummeln sich an der frischen Luft. Da fährt der alte Karsten auf den Schulhof. Sein Fahrrad ist gelb gestrichen. Er ist der Landbriefträger. Nun steigt er ab, und er, der sonst gemächlich geht, eilt auf die Kinder zu. „Guck mal, wie Zatopek“, sagt Robbi. Aber keiner lacht, denn der alte Karsten fragt: „Wo ist die dritte Klasse?“ „Hier! Hier!“ schreien die Jungen und Mädchen. „Ein Telegramm!“ sagt der Briefträger und zeigt allen den Umschlag.
Herr Tiede kommt gerade aus der Tür. Er reißt den Umschlag auf und überfliegt den Text. Erwartungsvoll blicken die Kinder auf ihn. „Sie holen den Storch“, sagt der Lehrer. Einen Augenblick bleibt es ganz still. Dann fangen die Kinder an, aufgeregt zu erzählen. Einer spricht lauter als der andere. Der Lehrer lächelt. „Na, na“, sagt er, „jetzt geht es wieder ans Lernen.“ Guntram, Robbi und Jochen tragen das Storchenfutter. Als sie den Tannenberg hinaufgekeucht sind, tritt ein Mann hinter den Stämmen hervor. Er ist sehr hager, der Wettermantel hängt ihm lose um die Schultern. Jochen läuft auf ihn zu. „Vater!“ ruft er. Der Mann wundert sich über die Regen-
würmer. „Seid ihr auf Barsche aus? Die beißen doch jetzt nicht!“ Die Kinder lachen und fangen an, vom Storch zu erzählen. „Einzeln!“ bittet der Mann. „Nicht alle auf einmal.“ Da berichtet Jochen. Sein Vater lächelt. „Das habt ihr gut gemacht“, sagt er. Der Vater tritt nicht erst ins Haus. Er will den Storch sehen. Der Vogel steht ruhig an seinem Platz. Robbi wickelt ein Päckchen auf. Am Schwanz zieht er eine tote Maus heraus. Er hält sie dem Storch entgegen. Der wendet den Kopf. „Friß doch“, bittet Robbi. „Friß!“. Die Ziege meckert ängstlich und drängt sich in die Ecke. Robbi stellt die Büchse mit den Regenwürmern in die Bucht. „Die leben noch. Paßt auf, die frißt er!“ Der Storch rührt sich nicht.
„Laßt ihn in Ruhe“, sagt Vater, „er ist krank und scheu.“ Sie sitzen gerade bei Kaffee und Kuchen, da hören sie die Hupe. Sie laufen hinaus. Ein Auto schiebt sich aus dem Hohlweg. Es ist ein Lieferwagen. Das Auto vom Tierpark. Ganz Landow ist auf den Beinen. Rieke Hasenpoot ist da. Auch Muschaks kommen. Ein Auto hier in Landow? Das haben sie schon lange nicht mehr gesehen. Die zwei Männer packen den Storch ganz anders als die Kinder an. Er kann sich nicht wehren. Es geht alles schnell. Im Stall ist noch Unruhe unter den Tieren, da sitzt der Tierwächter mit dem Vogel schon im Gepäckraum. Der Motor heult auf. Das Auto rollt an und schiebt sich in den Hohlweg hinein. „Da fährt das Gespenst dahin“, sagt Jochens Mutter zu Rieke Hasenpoot.
Die Landower stehen und schauen dem Auto nach, das den Storch in Sicherheit bringt. „So’n Theater“, sagt Rieke Hasenpoot, „und alles bloß wegen ‘nem Vogel.“ Jochens Vater sieht sie finster an. „Bloß? Das sollte man niemals sagen.“ „Nu ja, ich meine ja man bloß.“ Verlegen geht sie in ihre Kate zurück. Als die Kinder danach Streuselkuchen essen, ein Stück nach dem anderen, fährt Vater seinem Großen mit der Hand durchs Haar. Jochen freut sich. Am nächsten Morgen denkt der Junge, er habe verschlafen. So hell ist es schon. Aber dann spürt er die Kälte, und er sieht, daß die dunklen Äste der Eiche Schneepolster tragen. Es ist Sonntag, und Vater ist zu Hause.
Nach dem Frühstück will Jochen mit dem Schlitten den Hang hinunterrutschen. Aber bevor er Janni in den Schlitten setzt und sie durch den Schnee zieht, geht er noch schnell zur Niederung. Die Rohrmieten haben hohe Schneemützen. Der See ist zugefroren, nur in der Mitte ist noch ein Streifen dunkles Wasser. Der körnige Schnee glitzert im ersten Licht des Tages. Der Storch aber ist in Sicherheit. Jochen ist froh. Auf diesen Tag haben sich die Kinder lange gefreut. Sie werden ihn nicht vergessen. „Wie mag es nur unserem Storch gehen?“ So fragten alle, wenn sie sich nach anstrengendem Marsch über verschneite Wege in der Schule trafen. So fragten sie, wenn sie in der Pause über den Hof tollten. So fragten sie, wenn sie nachmittags mit den Großen aus der siebenten Klasse
im Werkraum saßen und die Holzräder der Traktoren und Lastkraftwagen polierten. Schon reihte sich ein Spielzeug ans andere. Es glänzte hell und leuchtete in bunten Farben. Weihnachten rückte heran. Bald war die Arbeit getan. Nur vom Storch hörten die Kinder nichts. „Ob wir einmal an den Direktor schreiben?“ Klaas und Jochen hatten sich das zusammen ausgedacht. Brigitte sagte: „Laßt das nur. Der Direktor hat bestimmt viel Arbeit, und euer Brief stört ihn vielleicht.“ Karin fragte: „Aber können wir nicht jemand in die Stadt schicken, damit er nachsieht?“ Alle Vermutungen und Überlegungen hörten auf, als der Brief kam. Ein Brief vom Direktor. Er war an die Klasse gerichtet, und Jochen durfte ihn vorlesen. Der Storch war wirklich gerettet. Er hat-
te sich eingewöhnt. Nur zwei Tage hatte er das Fressen verweigert. Jetzt fühle er sich wohl. Er fange sogar an, mit seinen Nachbarn zu zanken. Die Kinder atmeten auf. Jochen stockte, und dann las er etwas Wunderschönes vor. Der Direktor schrieb:… „Deshalb lade ich Euch alle ein, unseren Tierpark zu besuchen. Ihr sollt meine Gäste sein. Kommt bald, und seht Euch Euren Schützling an.“ Das war eine Freude. Der Lehrer und Brigitte standen lachend inmitten der Kinder, die laut und voller Eifer durcheinanderschwatzten. Sie redeten aufgeregt, bis Edith fragte: „Und wer wird uns das Reisegeld geben?“ Da wurden sie still. Herr Tiede sagte: „Ich werde mit der Gemeindevertretung sprechen. Ihr habt mitgeholfen, das schöne Spielzeug für den
Patenbetrieb und für unseren Kindergarten zu bauen. Deshalb wird euch die Gemeinde bestimmt nicht im Stich lassen. Es sollen alle mitfahren.“ Wie schön Vorfreude sein kann. Noch dreimal schlafen gehen, noch zweimal, noch einmal. Endlich ist der ersehnte Tag gekommen. Der Reisetag. Jochen stapft durch den Neuschnee, bergauf, bergab, eine breite Spur hinter sich lassend. Endlich sieht er zwischen den Stämmen die hellen Fenster der Schule aufleuchten. Die anderen sind schon da. Aufgeregte, in warme Mäntel und wollene Tücher eingehüllte Kinder. Brigitte spricht mit dem Lehrer. Wird es nicht zu anstrengend? Bei diesem Wetter? Muß man die Kinder nicht nach Hause schicken? Karin hat ihre Mutti mitgebracht. Sie tritt zu den beiden. „Das können Sie nicht tun. Sehen Sie denn nicht,
wie sich die Kinder freuen?“ Brigitte sieht es. „Steigt auf, ihr Kücken!“ Die Kinder klettern auf den Wagen. Sie fangen an zu singen. Die Pferde stampfen unruhig. „Hü!“ Sie rucken an. Ruhig rollt der Wagen dahin. Die Pferdehufe sind im weichen Schnee kaum zu hören. Die Kinder sehen die weißen Wipfel vor dem dunklen Grau des Himmels. Fern die Lichter der Stadt. Es schneit noch immer. Die Kinder singen leise. Sie stecken in warmen Mänteln. Der Lehrer und Brigitte sind bei ihnen. Sie fühlen sich geborgen. Sie rumpeln durch die erwachende Stadt. Zur Fabrik und zum Bahnhof eilende Arbeiter blicken ihnen verwundert nach. Der Pfiff einer Lokomotive ist zu hören. „Gute Fahrt!“ ruft ihnen Herr Holm zu. Robbi bedankt sich für alle.
„Ich hole euch abends wieder ab“, sagt Herr Holm, dann klettert er wieder auf den Kutschbock. Im Waggon ist es warm. Draußen mag es schneien. Kaum sitzen sie, packt Eckart seine Stullen aus und fängt an zu kauen. Auf einmal scheinen alle Hunger zu haben. Einige wollen auch nur nachsehen, ob ihnen Mutter heute mehr Wurst als sonst auf die Brote gelegt hat. Die weiten weißen Wiesen gleiten vorüber. Verschneite Dörfer. Der Fluß, ein dunkles Band im Weiß. Bäume mit hageren Ästen. Eine Windmühle auf hohem Hügel. Eine Brücke. Dann die Stadt. „Sieh mal, die Stadt!“ Sie fassen einander an den Händen. Zu zweien gehen sie durch die Sperre und warten im Vorraum ruhig im Gedränge der Reisenden.
In der schuckernden Straßenbahn fahren sie durch die große Stadt. Sie haben keine Zeit, sich das alte Stadttor anzusehen, die mächtige Backsteinkirche, die gewaltige neue Straße, das große Kaufhaus. Nachher, nachher. Zuerst wollen sie ihren Storch sehen. Schnell rollt die Bahn durch die Stadt, immer weiter hinaus. Die Häuser bleiben zurück, Baumgruppen in Parks tauchen auf. Sie sind da. Vor dem Eingang warten sie. Jochen geht zum Pförtner. Mit steifen Fingern knöpft er den Mantel auf, dann die Jacke. Er zieht den Brief heraus und reicht ihn durch das Fensterchen. Der Mann liest aufmerksam und wendet den Brief hin und her. Dann nickt er und greift zum Telefon. Die Kinder warten. Sie sind doch eingeladen. Auf einmal stapft ein Mann auf sie zu. Ohne Hut, und so jung sieht er aus. „Willkommen bei uns!“
So jung. Das soll der Direktor sein? Nachdem er die Erwachsenen begrüßt hat, fragt er: „Wo ist Jochen?“ Der Junge wird rot. Die anderen machen Platz. Allein steht er vor dem Direktor. Der gibt ihm die Hand. „Das hast du gut gemacht“, sagt er. „Und wo ist Robbi, und wo Moni?“ Jedem gibt er die Hand. Er führt sie durch das Tor. Sie folgen ihm. Der Schnee knirscht unter ihren Schritten. Es ist kälter geworden. Felsen dunkeln aus dem Schnee. Und dort – ein Bär! Nein, zwei! „Guck mal!“ Sie stehen am Graben der Bärenburg. Sie stoßen einander an. Zwei Eisbären klettern behende auf die Spitze des Felsens. Wie possierlich die Tiere wirken. So wuschlig, wie zum Spielen. „Sie sind gefährlich“, sagt der Direktor. „Täuscht euch nicht. Sie sind unberechenbar. Dort drüben wird unser Elefantenhaus gebaut!“
Der Direktor weist hinüber. „Es ist noch nicht ganz fertig, aber den ersten Bewohner könnt ihr euch schon ansehen.“ Der Koloß wiegt sich hin und her, hin und her. Als die unruhige Schar der Kinder in den Raum quillt, ruckt er an den Ketten. Mit dem Rüssel versucht er, über die Barriere zu greifen. Erschreckt weicht Eckart zurück. Die anderen lachen. „Hab keine Angst“, sagt der Direktor. Moni fragt: „Der ist ja noch so klein. Ist es ein Elefantenbaby?“ Ilse fragt: „Stammt er aus Afrika oder aus Indien?“ „Langsam. Nacheinander“, sagt der Direktor. „Er ist wirklich noch jung, und er stammt aus Vietnam.“ „Aus Vietnam?“ „Ich weiß, ich weiß“, ruft Guntram, „ich habe es in der Zeitung gelesen. Der ist im Urwald gefangen worden. Ein Geschenk
von den Pionieren aus Vietnam, weil wir ihnen vor zwei Jahren Schulhefte und Bleistifte geschickt haben.“ „Ja“, sagt Herr Tiede, „er ist ein Geschenk von den fernen Freunden. Er hat eine lange Reise hinter sich. Denkt mal, im Käfig durch das große Land und danach einige Wochen auf dem schaukelnden Schiff. Jetzt fühlt er sich wohl“, sagt der Direktor. „Aber ihr könnt ihn euch nachher noch ansehen. Der Tag ist lang. Jetzt interessiert euch vielleicht etwas ganz anderes?“ „Ja! Ja!“ Der freundliche Direktor führt sie. Die Kinder laufen hinter ihm her. „Es wird überall noch gebaut“, sagt der Direktor. Er zeigt auf Gerüste und Ziegelhaufen. Sie gehen schneller. Plötzlich erblicken sie ihn! Ruhig steht der Storch auf einem Bein, den Hals an den Körper geschmiegt. Die Kinder sehen nicht die dünnbeinigen schmiegsamen Flamingos, nicht die bei-
den anderen Störche. Sie sehen nur den einen, ihren Storch. Er ist gerettet, denken die Kinder. Sie sind ganz still. „Er hat gebrochene Flügel. Der Bruch ist schlecht verheilt“, sagt der Direktor. Jochen denkt: Er müßte uns doch erkennen, mich wenigstens, ein bißchen nur. Aber der Storch bewegt sich nicht. Nun hast du’s gut, denkt Jochen. Einigen Kindern wird es kalt. Sie fangen an herumzutrampeln. „Geht schon weiter“, sagt Brigitte. Sie laufen ein Stück. „Seehunde!“ ruft Robbi aufgeregt. Er winkt. „Kommt her!“ „Seehunde!“ rufen auch andere. Sie laufen hin. Auch Jochen ist losgehumpelt. Er bleibt aber bald stehen, zögert etwas, dann geht er zum Storch zurück. „Kennst du mich nicht mehr?“ ruft er ihm zu.
Gerade in diesem Augenblick breitet der Vogel seine Flügel aus. Er reckt sich, flattert etwas und rückt sich gemächlich wieder zur Ruhe zurecht. Der Junge winkt ihm zu. Ganz verstohlen. Als sich Jochen umdreht, stehen Klaas und Edith bei ihm. „Wir haben auf dich gewartet!“ sagt Edith. „Die anderen sind schon bei den Seehunden.“ Sie will ihm die Hand zur Hilfe reichen. Jochen ist froh. „Lauft nur los, ihr beiden“, sagt er, „ich komme schon.“ Wie hatte er nur denken können, daß sie ihn nicht mögen. Während er den im Schnee dahinstiebenden Kindern nachblickt, packt ihn der Übermut. Er bückt sich, grabscht nach Schnee und wirft den losen Schneeball auf die beiden. Dann läuft er ihnen nach.
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