018 - Tschuk Und Gek

August 27, 2017 | Author: gottesvieh | Category: Nature
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Die kleinen Trompeterbücher

Band 18

Arkadi Gaidar

Illustrationen von Kurt Zimmermann



Der Kinderbuchverlag Berlin

Aus dem Russischen von Max Hummeltenberg Originaltitel: LlYK 111 reK

ISBN 3-358-01068-6

Einst arbeitete in den Wäldern hinter den Blauen Bergen ein Geologe, der so viel zu tun hatte, daß er nicht ein­ mal die Zeit fand, auf Urlaub nach Hause zu fahren. Als dann der Winter hereinbrach, hielt er es nicht länger aus und schrieb seiner Frau, sie sollte mit den Kindern herkommen und ihn besu­ chen. Zwei Jungen hatte er: Tschuk und Gek. Sie wohnten mit ihrer Mutter in einer fernen, riesengroßen Stadt, wie es keine schönere auf der Welt gibt. Rote Sterne leuchteten Tag und Nacht über ihren Türmen. Moskau hieß diese Stadt - wie konnte es auch anders sein! Eines Tages kam es zwischen Tschuk und Gek zu einem Streit, sie prügel­ ten sich und heulten vor Zorn. Als 5

der Streit im besten Gange war, kam der Postbote die Treppe herauf und brachte einen Brief. Warum sich die Brüder zankten, habe ich vergessen. Aber ich weiß noch, entweder hatte Tschuk dem Gek eine leere Streichholzschachtel oder Gek dem Tschuk eine alte Schuhkremdose weggenommen. Gleich waren da die beiden mit den Fäusten aufeinander losgegangen. Gerade wollten sie von neuem an­ fangen, da klingelte es an der Woh­ nungstür. Erschreckt schauten sie sich an, glaubten sie doch, ihre Mut­ ter wäre zurückgekommen, und Mut­ ter konnte manchmal so . .. eigen­ artig sein. Sie schimpfte nicht, wenn sie sich geprügelt hatten, zankte auch nicht lange mit ihnen herum, sondern sperrte die beiden Streit­ hähne einfach in verschiedene Zim6

mer ein. Dann durften sie eine ganze Stunde lang, manchmal auch zwei, nicht miteinander spielen. Und so eine Stunde zieht sich hin, sechzig lange ,Minuten. Bei zwei Stunden ist's noch viel schlimmer. Rasch wischten sich die beiden Brü­ der die Tränen aus den Augen und stürzten an die Tür, um aufzuma­ chen. Doch draußen stand nur der Post­ bote mit einem Brief in der Hand. ))Vom Vater! Der ist vom Vater! Der kommt jetzt bestimmt nach Haus!« jubelten sie. Sie tobten durch das Zimmer und ku­ gelten sich auf dem Sofa. War auch Moskau die herrlichste Stadt von al­ len, so konnte es doch auch in Mos­ kau langweilig werden, wenn der Va­ ter ein ganzes Jahr lang nicht zu Hause war. 7

In ihrer Begeisterung merkten sie nicht, daß die Mutter hereintrat. Die wunderte sich sehr, als sie ihre beiden Rangen erblickte. Auf dem Rücken lagen sie, brüllten vor Ver­ gnügen und trampelten mit den Ab­ sätzen gegen dieWand, daß dieBilder über dem Sofa nurso zitterten und die Feder derWanduhr mitsummte. Doch als Mutter erfuhr, warum ihre Jungen so ausgelassen waren, konnte sie ihnen nicht böse sein. Nurvom Sofa mußten sie herunter. Schnell warf sie den Pelzmantel ab und griff. nach dem Brief. Nicht ein­ mal die Schneeflocken schüttelte sie aus dem Haar. Sie schmolzen in der Wärme des Zimmers und blieben glitzernde Sternchen -in ihren dunk­ len Brauen hängen. Es gibt heitere und es gibt traurige Briefe. Das weiß jedermann. Des8

halb hingen die Augen von Tschuk und Gek an Mutters Gesicht, wäh­ rend sie den Brief las. Zuerst runzelte sie die Stirn. Die bei­ den taten es ihr nach. Aber als sie dann lächelte, wußten sie, es war ein heiterer Brief. ))Unser Vater kann nicht kommen«, sagte Mutter und legte den Brief zur Seite. ))Er hat immer noch soviel Ar­ beit, sie lassen ihn nicht weg.« Wie 9



betrogen kamen Tschuk und Gek sich vor. Sie schauten einander an-konn­ ten es nicht fassen. Trauriger hätte der Brief gar nicht sein können. Sie machten ein beleidigtes Gesicht, seufzten und schauten empört zu ih­ rer Mutter hinüber, die - weiß der Kuckuck, warum! - immer noch lä­ chelte. »Ja, er kommt nicht«, fuhr sie fort, »aber . . . er hat uns alle zu sich einge­ laden.« Mit einem Satz sprangen Tschuk und Gek auf. »Wie der sich das so denkt«, meinte sie. »Leicht gesagt: ihn besuchen. Als ob wir uns bloß in die Straßen­ bahn zu setzen und abzufahren brauchten . ..« »Ja, stimmt«, unterbrach sie Tschuk, »wenn er uns einlädt, dann setzen wir uns in die Bahn und fahren hin. 10

»Du Dummerchen«, meinte die Mut­ ter. »Da müssen wir doch tausend und noch mal tausend Kilometer mit der Eisenbahn fahren. Und dann noch mit dem Pferdeschlitten durch die Taiga. Und in der Taiga läuft uns am Ende noch ein Wolf oder ein Bär übern Weg. Was ist das nur für eine verrückte Idee! Überlegt doch mal!« Tschuk und Gek aber überlegten nicht, nicht mal eine halbe Sekunde lang, sondern erklärten wie aus ei­ nem Munde, sie seien entschlossen, nicht nur tausend, sondern auch hunderttausend Kilometer zu fahren, wenn's sein müßte. Und Angst hät­ ten sie überhaupt nicht. Sie wären sehr mutig, hätten doch erst gestern einen fremden Hund mit Steinen vom Hof gejagt. So redeten sie noch eine Weile fort, 11

fuchtelten mit den Händen, stampf­ ten mit den Füßen und wirbelten im Zimmer herum. Ihre Mutter aber saß da, hörte ihnen zu und schwieg. Schließlich lachte sie auf, packte die beiden an den Händen, schwenkte sie durch die Luft und ließ sie auf das Sofa niederfallen. Lange schon hatte sie so einen Brief erwartet und wollte Tschuk und Gek bloß ein bißcher:l ärgern. So war sie nun mal. Noch eine ganze Woche sollte verge­ hen, ehe sich Mutter reisefertig machte. Aber auch Tschuk und Gek waren inzwischen nicht untätig ge­ wesen. Tschuk hatte sich aus einem Küchenmesser einen Dolch geba­ stelt. Gek hatte einen glatten Stock gefunden, oben einen Nagel hinein­ geschlagen und auf diese Weise ei12

nen Spieß daraus gemacrt. Würde man einem Bären ein Loch in sein Bä­ renfell schneiden und dann mit die­ sem Spieß durch das Loch hindurch­ stoßen bis tief in sein Bärenherz hin­ ein - dann wär's aus mit dem Bären. So fest und stark war der Spieß. Schließlich war es soweit. Ihre Koffer standen gepackt. An der Wohnungs­ tür hatten sie ein Vorhängeschloß angebracht, damit nicht Spitzbuben kämen und ihre Wohnung ausplün­ derten. Aus dem Küchenschrank hat­ ten sie die letzten Restchen Brot und Mehl und Graupen herausgefegt, da­ mit die Mäuse nicht hineinkämen. Und nun war Mutter zum Bahnhof gefahren, um für morgen abend die Fahrkarten zu holen. Kaum waren Tschuk und Gek allein, als sie sich schon wieder stritten. Hätten sie aber geahnt, was daraus 13

noch alles entstehen sollte, dann hätten sie sich diesmal nicht gezankt, nicht um alles in der Welt. Tschuk war ein sehr bedächtiger und vorsichtiger Junge. In einer flachen Blechschachtel bewahrte er alle möglichen Dinge auf: Silberpapier von alten Teepackungen, Bonbon­ hüllen - aber nur, wenn darauf ein Panzer, ein Flugzeug oder ein Rot­ armist zu sehen war -, Dohlenfe­ dern, aus denen er Pfeile machte, Pferdehaare, die er für irgendwelche Kunststücke brauchte, und noch viele andere wertvolle Sachen. Eine solche Schachtel besaß Gek nicht. Er war überhaupt ein bißchen unordentlich. Dafür hatte er eine schöne Stimme. Gerade als Tschuk seine kostbare Blechschachtel aus ihrem Versteck holen ging, kam der Postbote und 14

gab ihm ein Telegramm für die Mut­ ter. Gek saß derweilen in der Stube und sang. Tschuk steckte das Telegramm in die Schachtel. Da fiel ihm auf, daß Gek auf einmal nicht mehr sang, sondern immer nur laut »hurra! « schrie und »haut ihn!« und noch einmal »hurra! « Neugierig öffnete Tschuk einen Spalt breit die Tür und blickte ins Zimmer. Was er dort sehen mußte, machte ihn so wütend, daß ihm vor Zorn die Hände zitterten. Mitten im Zimmer stand ein Stuhl. Über der Lehne hing eine Zeitung, die Gek mit seinem Spieß völlig zer­ fetzt hatte. Doch das war noch nicht alles. Dieser verrückte Kerl stieß wut­ entbrannt mit seinem Spieß immer wieder in eine braune Pappschachtel hinein, in der einmal Mutters Schuhe 15

gewesen waren. Er bildete sich ein, er habe einen Bären vor sich. Doch eben in dieser Schachtel bewahrte Tschuk eine Signalpfeife auf, 'drei schöne bunte Plaketten und sein er­ spartes Geld. Sechsundvierzig Kope­ ken, die er nicht, wie Gek, für unnüt­ zes Zeug verschwendet, sondern für die weite Reise aufgehoben hatte. Als er nun sah, daß die Schachtel zerknautscht und durchlöchert war, da schlug er Gek den Spieß aus der Hand, zerbrach ihn über dem Knie und warf die Reste zu Boden. Wie ein Habicht stürzte sich Gek auf Tschuk und entriß ihm seine Blech­ schachtel. Und - hast du nicht gese­ hen - warf er die Schachtel durch das offenstehende Fenster hinaus. Das war zuviel für Tschuk. Mit dem Schrei: »Das Telegramm! Unser Te­ legramm!« rannte er zur Tür hinaus, 16

ohne Schuhe an den Füßen, keine Mütze auf dem Kopf. Nur den Mantel hatte er übergeworfen. Gek schwante nichts Gutes. Er raste hinter Tschuk her.

Doch sie suchten vergeblich. Die Blechbüchse war verschwunden und mit ihr das Telegramm, das noch keiner gelesen hatte. Entweder lag sie im tiefen Schnee, oder sie war auf den Weg gefallen, und jemand hatte sie aufgehoben und mitgenommen. Doch wie dem auch sein mochte-die Schachtel mit all den schönen Dingen und dem noch ungeöffneten Telegramm war verloren. Ein für allemal verloren. Tschuk und Gek kehrten in die Woh­ nung zurück. Lange sprach keiner ein Wort. Sie hatten sich schon wieder vertragen, wußten sie doch, diesmal würden sie beide etwas abbekom­ men. Doch da Tschuk um ein ganzes Jahr älter war als Gek, fürchtete er, ihn möchte es am meisten treffen, und er begann auf einmal: »Du, 18

Gek . . . Und wenn wir nun überhaupt nichts von dem Telegramm erzäh­ len? Wir haben doch schon sowieso Freude genug, auch ohne das Telegramm. Was meinst du?« »Lügen darf man nicht«, antwortete Gek und seufzte. »Dann wird Mutter immer ganz böse.« »Aber wir brauchen doch nicht zu lü­ gen!« erklärte Tschuk erleichtert und froh. »Wenn sie uns fragt, wo das Te­ legramm ist, dann sagen wir's. Wenn sie aber nicht fragt, warum sollen wir dann damit anfangen?« »Ist gut.« Gek war einverstanden. »Können wir ja machen, wenn wir nicht zu lügen brauchen. Bist gar nicht dumm, Tschuk.« Bald darauf kam Mutter zurück. Sie hatte gute Plätze für den Zug bekom­ men und freute si(:h. Doch da sah sie die bekümmerten 2'

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und verweinten Gesichter ihrer bei­ den Jungen. »Warum habt ihr euch geprügelt? Antwortet!« begann sie und schüt­ telte den Schnee ab. »Wir haben uns nicht geprügelt«, er­ widerte Tschuk. »Diesmal nicht«, bestätigte Gek. »Wir wollten bloß, aber dann haben wir's doch nicht getan.« »50 was hör ich gern«, meinte Mut­ ' ter. Sie zog den Mantel aus, setzte sich auf das Sofa und zeigte ihnen die Fahrkarten - eine große und zwei kleine. Rasch aßen sie zu Abend. Dann verstummte das Fußgetrappel im Zimmer, das Licht erlosch, und alle schliefen sie ein. Von dem Telegramm ahnte die Mut­ ter nichts. Daher konnte sie auch nicht danach fragen. Am Tag darauf ging die Reise los. 20

Der Zug fuhr spat ab. Hinter den Fen­ ' sterscheiben war es dunkel, und so entdeckten Tschuk und Gek nichts, was sie interessiert hätte. In der Nacht wurde Gek wach und wollte trinken. Das Lämpchen an der Wagendecke war ausgeschaltet, und über allem lag nun ein blauer Schein - über dem zitternden Wasserglas auf dem Tischehen, auf der weißen Tischdecke und auf der Apfelsine, die jetzt richtig grün aussah, auch über Mutters Gesicht. Sie schlief fest und schaukelte beim Schüttern des Wagens hin und her. Eisblumen bedeckten das Fenster. Dahinter stand der Mond. Der war so riesen­ groß, wie ihn Gek nie zuvor in Mos­ kau gesehen hatte. Da glaubte er, nun jage der Zug schon über die ho­ hen Berggipfel dahin, und von da sei es zum Mond nicht mehr weit. 21

Er rüttelte seine Mutter wach und wollte etwas zu trinken haben. Doch sie gab ihm nichts und sagte, er solle ein Stück von der Apfelsine essen. Beleidigt nahm Gek eine Scheibe Ap­ felsine, aber schlafen mochte er nun nicht mehr. Er stieß Tschuk in die Seite, damit er aufwache. Der aber knurrte nur ärgerlich. Da zog sich Gek die Filzstiefel an, öffnete die Tür ein wenig und schlüpfte auf den Gang hinaus. Der Gang war schmal und lang. Die Klappsitze an der Außenwand schlu., gen immer von selbst mit einem Knall zurück, wenn man von ihnen aufstand. Zehn Türen hatte der Gang, Türen aus glänzendem Holz mit blankgeputzten Griffen. Gek setzte sich auf den ersten Klapp­ sitz, dann auf den nächsten, pro­ bierte auch den übernächsten, und 22

gelangte so fast bis ans Ende des Wagens. Da kam der Schaffner mit seiner Laterne herein. Er schimpfte, weil Gek mit den Sitzen klapperte, während die anderen schliefen. Der Schaffner verließ den Wagen, und Gek wollte schnell in sein Abteil zurück. Mühsam öffnete er die Tür. Ganz sacht, um Mutter nicht zu wek­ ken, machte er sie hinter sich wieder zu und legte sich auf das weiche Bett. Dort aber hatte sich der dicke Tschuk breitgemacht. Ohne viel Federlesens knuffte ihn Gek mit der Faust, damit er zur Seite rücke. Doch da geschah etwas ganz Schreckliches. Ein Kopf fuhr hoch. Aber es war nicht Tschuks runder Schädel mit dem weißblonden Haarschopf. Es war ein rremdes, erbostes Gesicht mit einem Schnur­ bart, und eine fremde Stimme frag23

te streng: »Was ist denn hier los?« Gek brüllte - aus Leibeskräften. Er­ schreckt fuhren die Mitreisenden hoch, das Licht flammte auf, und Gek merkte, daß er in ein falsches Abteil geraten war. Da brüllte er nur noch lauter. Doch sehr bald hatten die Leute heraus, was geschehen war, und lachten. Der Mann mit dem 24

Schnurbart zog die Hosen an, schlüpfte in seine Militärbluse und brachte Gek ins richtige Abteil zu­ rück. Gek kroch unter die Decke und muckste sich nicht mehr. Rüttelnd und schütteid fuhr der Wagen dahin. Draußen brauste der Wind. Wieder tauchte der riesengroße Mond alles in bläuliches Licht - das zitternde Glas auf dem Tischchen, die Apfelsine auf dem weißen Deckchen und Mutters Gesicht. Sie lächelte im Traum, ahnte ja nicht, was ihrem Sohn widerfahren war. Schließlich schlief auch Gek wieder ein. Da träumt ihm gar wunderlich kommt es ihm an -, die Wagen, sie fangen zu reden an, als wär'n sie mitten in finsterer Nacht samt Rädern und Achsen zum Leben erwacht. 25

Sie rumpeln und roll'n ohne Rast, ohne Ruh, laut rufen der Lokomotive sie zu: Stürm vorwärts und vorwärts, Der Weg ist nocht weit! Sei stärker als Nacht und Dunkelheit!

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Scheint heller, Laternen, und strahlender brennt, bis Frührot uns leuchtet am Firmament! Sirenen, heult laut euer Lied in den Wind, dreht schneller euch, Räder, nach Osten geschwind! Die Blauen Berge sind unser Ziel, dort ist zu Ende das rasende Spiel. Als Gek erwachte, schien die Sonne durch diegefrorenen Fenster. Die Bet­ ten waren gemacht. Tschuk hatte 26

sich schon gewaschen und knabberte an einem Apfel. Die Mutter aber und der Mann in der Militärbluse standen draußen vor der weit geöffneten Tür und schüttelten sich vor Lachen über Geks nächtliche Abenteuer. Tschuk zeigte Gek einen Bleistift mit einer blanken Patronenhülse an der Spitze, den ihm der Mann in der Sol­ datenbluse geschenkt hatte. Aber Gek neidete ihm solche Sachen nicht. Er war viel zu schusselig und träge. Jetzt wußte er nicht einmal mehr, wo er seine Hosen hingelegt hatte. Das war noch schlimmer als sein nächtlicher Einbruch in das fremde Abteil. Nachdem er sich gewaschen und sei­ ner Mutter guten Morgen gewünscht hatte, preßte er die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe und schaute hinaus, wollte wissen, was das für 27

eine Gegend wäre und wie dort die Leute lebten und arbeiteten. Inzwischen ging Tschuk von Tür zu Tür und machte sich mit den ande­ ren Fahrgästen bekannt. Die steckten ihm alle möglichen Kinkerlitzchen zu - der eine einen Gummipfropfen, der andere einen Nagel, ein dritter wie­ ' der ein Stückchen Zwirn. Gek aber schaute zum Fenster hinaus. Da gab's eine Menge zu sehen. Als der Zug an einem Forsthaus vorbeifuhr, sprang dort ein kleiner Junge aus der Tür heraus. Er war nur mit einem Hemd bekleidet und steckte in riesi­ gen Filzstiefeln. Auf dem Arm hielt er eine Katze. Plötzlich flog die Katze in hohem Bogen in eine Schneewehe. Unbeholfen kletterte sie auf dem lok­ keren Schnee herum. Gek hätte gern gewußt, warum der Junge die Katze in den Schnee geworfen hatte. Sie 28

mochte wohl etwas vom Tisch ge­ stohlen haben . . . Gleich darauf waren das Häuschen, der Junge und die Katze verschwun­ den. Eine Fabrik tauchte auf - mitten auf freiem Feld. Weiß war das Feld und rot der Schornstein. Schwarz der Rauch und gelb das Licht hinter den Fenstern. Was für eine Fabrik mochte das sein? Daneben stand ein Postenhäuschen mit einem Wachpo­ sten davor. Der Soldat in seinem Pelz war riesengroß und breit, sein Ge­ wehr aber schien wie ein Strohhalm so dünn. Doch es sollte nur mal einer wagen, da einzudringen! Dann ging's durch einen Wald hin­ durch, und dieserWaid fing richtig an zu tanzen. Die Bäume vorn an der Bahnlinie hüpften und sprangen rasch vorüber. Weiter hinten, die hat­ ten es nicht so eiIig und bewegten sich 29

langsamer, als drehten sie sich sacht in dem herrliche Schnee. In diesem AugenblickkamTschukmit seiner reichenBeute insAbteil zurück. Gek rief ihn zu sich ans Fenster, und sie schauten gemeinsam ins Land hinaus. Große und helle Bahnhöfe flogen vorbei, auf denen viele Lokomotiven zischten und schnauften.Andere Sta­ tionen waren winzig klein, nicht grö­ ßer als der Lebensmittelladen an der Ecke neben ihrem Hause in Moskau, wo es alles möglichezu kaufen gab. Züge kamen entgegen, beladen mit Erz, mit Kohle oder mit mächtigen Baumstämmen, von denen jeder so dick war wie ein halber Waggon. Sie überholten einen Transport Och­ sen und Kühe. Die Lokomotive die­ ses Zuges war klein und unansehn­ lich und der Ton der Pfeife schrill und 30

dünn. Da brüllte einer der Ochsen los, so laut, daß der Maschinist sich umdrehte, weil der glauben mochte, eine große Lokomotive sei hinter ihm her und hole ihn ein. An einer Haltestelle standen sie ei­ nem mächtigen Panzerzug gegen­ über. Drohend ragten seine mit Se­ geltuch verhüllten Geschütze em­ por. Rotarmisten stapften im Schnee auf und ab, lachten und schlugen ihre dicken Handschuhe aneinander, um sich die Hände zu wärmen. Bloß einer, in einer Lederjacke, stand schweigend und nachdenklich neben dem Zug. Das kann nur der Kommandant sein, glaubten Tschuk und Gek. Sicher steht er da und wartet auf einen Be­ fehl von Woroschilow, um den Kampf gegen den Feind zu eröffnen. Ja, viele schöne Dinge sahen sie auf 31

der Strecke. Draußen tobte der Sturm und wehte den Schnee gegen die Fen­ sterscheibe, daß sie oft über und über davon bedeckt wurde -schade! An einem Morgen rollte der Zug in eine kleine Station ein. Kaum fand Mutter Zeit, Tschuk und Gek aus dem Zug zu heben und sich von dem Mann in der Militärbluse ihre Sachen herausreichen zu lassen, da fuhr der Zug schon wieder wei­ ter. Ihre Koffer lagen umgekippt im Schnee. Der aus Holzbohlen errichtete Bahn­ steig leerte sich rasch, von Vater war nichts zu sehen. Da wurde die Mutter ärgerlich. Sie ließ die Kinder beim Gepäck zurück und ging hinaus vor das Stationsge­ bäude, wo die Fuhrleute standen. Sie wollte wissen, welchen Schlitten ih­ nen der Vater geschickt hatte. Bis zu 32

Vater waren es noch hundert Kilome­ ter Weg - immer quer durch die Taiga. Mutter blieb sehr lange weg. Plötzlich kam ein Ziegenbock angerannt, schrecklich anzuschauen. Zuerst nagte er an der Rinde der vereisten Baumstämme, dann aber meckerte er auf einmal ganz widerwärtig und stierte Tschuk und Gek unverwandt an. 3

Tschuk und Gek

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Die verkrochen sich rasch hinter den Koffern, denn wer konnte wissen, was hierzulande so ein Ziegenbock vorhatte. Aber da kam auch schon Mutter zu­ rück. Sie machte ein bekümmertes Gesicht und erzählte den beiden, wahrscheinlich habe Vater das Tele­ gramm von ihrer Abfahrt nicht be­ kommen und ihnen deswegen auch keine Pferde zur Station geschickt. Schließlich riefen sie einen Fuhr­ mann herbei. Der zog mit seiner lan­ gen Peitsche dem Ziegenbock eins über den Rücken, nahm die Sachen auf und trug sie in den Speiseraum des Bahnhofs. Der Raum war klein. Hinter dem Schanktisch summte ein dicker Sa­ mowar. Der war beinahe so groß wie Tschuk. Der Samowar bebte und zischte. In dicken Wolken stieg der 34

Dampf zur Bal kendecke hinauf. Dort oben lärmten die Spatzen, die von draußen bereingeflogen waren, um sich aufzuwärmen. Tschuk und Gek tranken ihren Tee, und Mutter ver­ handelte mit dem Fuhrmann. Sie wollte wissen, was es koste, wenn er sie hinausführe zu Vater in die Wälder. Der Mann verlangte sehr viel: ganze hundert Rubel. Aber bis zum Vater war es ja auch sehr weit. Schließlich wur­ den sie sich einig, und der Fuhrmann ging nach Hause, um Brotund Heu und warme Pelze zu holen. »Vater weiß bestimmt nicht, daß wir schon da sind«, meinte die Mutter. »Der wird Augen machen, und freuen wird er sich!« »Ja, der freut sich«, bestätigte Tschuk mit wichtiger Mieneundschlürfte sei­ nen Tee. ,> Und ich, ich freu mich auch.« 3*

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Ich aber auch«, rief Gek. ))Wir fahren ganz vorsichtig ran, und wenn Papa dann mal aus dem Haus rausgeht, dann verstecken wir unsere Koffer und kriechen unter sein Bett. Und dann, dann kommt er rein, dann setzt er sich hin, und dann sitzt er da und überlegt. Und wir sind ganz leise, ganz, ganz leise, und auf einmal brül­ len wir los!« )) Ich kriech aber nicht unters Beth, meinte Mutter, ))und brüllen tu ich auch nicht. Das könnt ihr allein machen .. . Aber sag mal, Tschuk, warum steckst du dirdenn den Zucker in die Tasche? Sind doch sowieso schon voll wie'n Müllkasten.« ))Ist doch für die Pferde«, erklärte Tschuk gelassen. ))Und du, Gek, du nimmst dir am besten ein Stück Ku­ chen mit. Nachher hast du wieder nichts, und dann kommst du zu mir 36

und willst was haben!« Bald kam der Fuhrmann zurück. Sie verstauten ihr Gepäck auf dem brei­ ten Schlitten, schüttelten das Heu auf und krochen zwischen die Decken und Schafpelze. Nun ade, ihr großen Städte! Ihr Fabriken, Bahnhöfe, Dör­ fer und Siedlungen, lebt wohl! Vor uns nichtsaisWaid und Bergeund im­ mer wieder dichter, dunkler Wald. Voller Staunen über die mächtigen Wälder glitten sie dahin. Die Zeit ver­ ging, sie merkten es kaum. Der Abend dämmerte. Tschuk saß hinter dem Rücken des Fuhrmanns und konnte wenig sehen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und bat Mutter, sie solle ihm doch ein Stück Kuchen oder ein Brötchen geben. Aber sie gab ihm nichts. Da machte er ein böses Gesicht, und weil ihm 37

nichts Besseres einfiel, knuffte er Gek in die Seite und drängte ihn bis an den Schlittenrand. Zuerst ließ sich Gek alles gefallen. Aber dann wurde es ihm zu bunt, und er spuckte seinen Bruder an. Der bekam die Wut und schlug auf Gek 105. Doch da ihre Hände in dicken Pelzhandschuhen steckten, konnten sie sich nicht viel anhaben. Schließ­ lich stießen sie wie die Ziegenböcke mit der Stirn aneinander, aber auch das war nicht weiter schlimm, da sie ihre dicken Kapuzen über den Kopf gezogen hatten. Mutter schaute zu und lachte. In diesem Augenblick holte der Fuhr­ mann mit der Peitsche aus, die Pferde stürmten 105. Da kamen zwei Schneehasen, mit weichem, weißen Pelz, aus dem Wald herausgesprun­ gen und tanzten auf dem Fahrweg 38

vor ihnen her. »Hallo! Weg da!« rief der Fuhrmann. » Sonst überfahren wir euch! « Und die Hasen hoppelten in den Wald zurück. Den Brüdern fuhr der schneidende Wind ins Gesicht, und sie kuschelten sich aneinander. Der Schlitten jagte an einem Berghang dahin, als wolle er zum Mond hinauf, der langsam hinter den Blauen Bergen empor­ stieg. Und bis dorthin war es schon nicht mehr weit. Neben einer niedrigen, tief einge­ schneiten Hütte blieben die Pferde plötzlich stehen -ganz von selbst. »Hier übernachten wir«, sagte der Fuhrmann und sprang vom Schlit­ ten. »Das ist unsere Station.« Die Hüttewar klein, aber fest gebaut. Bald brachte der Fuhrmann den Tee­ kessel zum Kochen, und vom Schlit40

ten holten sie eine Tasche mit Le­ bensmitteln herunter. Die Wurst war gefroren und so hart, daß man damit Nägel hätte einschla­ gen können. Sie legten sie in warmes Wasser, das Brot auf die heiße Herd­ platte. Tschuk hatte hinter dem Ofen eine alte, verbogene Sprungfeder ent­ deckt. Sie gehöre zu einem Fangei­ sen, mit dem man alle möglichen Tiere fangen könne, erklärte ihm der Fuhrmann. Die Feder war verrostet und lag jetzt unnütz herum. Tschuk hatte das sofort heraus. Sie tranken ihren Tee, aßen etwas und wollten sich dann schlafen legen. An derWand stand ein breites hölzer­ nes Bettgestell. Anstelle einer Ma­ tratze lag trockenes Laub darauf. Gek schlief nicht gern an der Wand, auch nicht in der Mitte. Am liebsten 41

lag er außen an der Bettkante. Und dabei blieb er, mochte es auch in dem Wiegenlied heißen: » Liebes kleines Kindelein, fall nicht aus dem Bette­ lein.« Steckte man ihn aber in die Mitte, dann zog er den anderen im Schlaf die Decke ab, fuhrwerkte mit den Ell­ bogen herum und stieß Tschuk mit dem Knie in den Bauch. Sie zogen sich nicht aus, sondern leg­ ten sich hin, so wie sie waren, und deckten sich mit ihren Schafpelzen zu. Tschuk kam an die Wand zu lie­ gen, Mutter in die Mitte und Gek an den Rand. Der Fuhrmann blies die Kerze aus und kletterte auf den Ofen. Bald waren sie alle eingeschlafen. Wie immer, so wachte Gek auch in dieser Nacht auf und hatte Durst. Im Halbschlaf zog er die Filzstiefel an 42

und tastete sich bis zum Tisch vor. Aus dem Teekessel trank er einen Schluck Wasser und setzte sich dann aufeinen Schemel vor das Fenster. Der Mond stand hinter den Wolken. In düsterem Blau lagen die Schneewe­ hen. »SO weit weg wohnt unser Papa!« sprach Gek verwundert vor sich hin und dachte: Noch weiter weg wohnt bestimmt niemand mehr. Er horchte auf. Vor dem Fenster hatte er ein Poltern gehört. Doch ein richti­ ges Poltern war es auch nicht, mehr so eine ArtKnirschen im Schnee-wie von schweren Tritten. Es schnaufte in der Dunkelheit, es bewegte und drehte sich. Was da draußen herum­ schleicht, kann nur ein Bär sein, sagte sich Gek. ))Du böser Bär, was hast du vor? Nun sind wir so lange unterwegs zu Papa, 43

und da willst du uns auffressen, daß wir ihn nie mehr wiedersehen? Nein, hau nur ab, sonst schießen die Leute auf dich mit einem Gewehr, oder sie schlagen dich tot - mit einem schar­ fen Säbel.« So flüsterte Gek vor sich hin. ' In seiner Angst, aber auch vor Neu­ gier, preßte er die Stirn fest an das eisbedeckte Glas des schmalen Fen­ sterchens. Plötzlich brach zwischen den rasch dahinjagenden Wolken ein Mond­ strahl durch. Auf die schwarzblauen Schneewehen fiel ein matter Schein. Da erkannte Gek, der Bärwarkein Bär. Ihr Pferd hatte sich losgerissen, stapfte um den Schlitten herum und fraß vondem Heu. Enttäuscht kletterte Gek wieder ins Bett und kroch unter den Pelz. Und weil er gerade noch an soviel Schlim44

mes gedacht hatte, erschien ihm ein böser Traum : Aus weiter Ferne stürmen inS

Land rasende Krieger, außer Rand und Band, Faschistenfahnen in blutiger Hand, geifernd vorWut, und aus Eisen die Faust. Wie Feuersturm über die Erde es braust. »Halt!« schrie ihnen Gek entgegen. »Hier kommt ihr nicht durch! Hier habt ihr nichts zu suchen!« Aber niemand hörte auf ihn. Wütend zog er die Signalpfeife aus der Tasche, die Tschuk sonst in seiner Pappschachtel aufbewahrte, und blies aus Leibeskräften hinein. 45

Da hob der Kommandant des Panzer­ zuges den Kopf, gab ein Zeichen mit der Hand, und schon donnerte eine Salve aus seinen schweren und furchtbaren Geschützen. »Gut!« lobt Gek. »Bloß, ihrmüßtnoch mal schießen! Einmal langt nicht für die.« Mutter wurde wach, weil sich ihre Jungen herumwälzten und sie von beiden Seiten heftig gestoßenwurde. Als sie sich zu Tschuk drehte, fuhr ihr etwas Hartes und Spitzes in die Seite. Sie tastete danach und hielt die Sprungfeder in der Hand, die Tschuk heimlich mit ins Bett genom­ men hatte. Mutter warf die Feder auf den Boden. Und als sie dann beim Mondlicht Gek ins Gesicht schaute, sah sie ihm an, daß ihn ein böser Traum quälte. 46

Nun ist so ein Traum keine Sprungfe­ der und läßt sich nicht einfach weg­ werfen. Doch man kann ihn auslöschen. Mut­ ter drehte Gek vom Rücken auf die Seite, rüttelte ihn ein bißchen und pu­ stete ihm sacht auf seine heiße Stirn. Bald schon seufzte er tief auf und lä­ chelte. Der böse Traum war vergan­ gen. Da stand Mutter auf und ging in Strümpfen zum Fenster. Noch war es nicht hell. Der Himmel hing voller Sterne. Einige funkelten ganz oben, andere standen niedrig über der schwarzen Taiga. Und seltsam - da empfand Mutter dasselbe wie ihr kleiner Gek : Sicher­ lich gab es hinter dem Fleck, wohin es den unruhigen Vater verschlagen hatte, nicht mehr viele Stellen auf der Welt, wo Menschen lebten. 47

Den ganzen folgenden Tag lang fuh­ ren sie durch Berg und Tal. Führte der Weg hinauf, sprang der Fuhrmann vom Schlitten und stapfte im Schnee nebenher. Ging es die steilen Hänge hinunter, raste der Schlitten nur so dahin, daß es Tschuk und Gek schien, als stürzten sie samt Pferden und Schlitten vom Himmel auf die Erde hinab. Gegen Abend schließlich, als die Pferde und Menschen schon recht­ schaffen müde waren, erklärte der Fuhrmann : »50, wir sind da. Hinter der Waidecke drüben macht derWeg eine Biegung. Dahinter, auf einer Lichtung, stehen die Häuser .. . Hüü! Weiter!« Tschuk und Gek jubelten und richte­ ten sich auf. Da ruckte der Schlitten wieder an, und beide versanken im Heu. Lachend warf Mutter das Woll48

tuch ab. Nur die Mütze behielt sie auf dem Kopf. Da war auch schon die Wegbiegung. In verwegenem Schwung flog der Schlitten herum und glitt auf die drei Häuschen zu, die an einer windge­ schützten Stelle über den Waldrand schauten. Aber was war das? Es bellten keine Hunde, und keine Menschenseele ließ sich blicken. Es stieg auch kein Rauch aus den Schornsteinen. Alle Wege tiefverschneit, und ringsum al­ les so still wie auf einem Friedhof im Winter. Nur die schwarzweißen El­ stern mit ihren Flügeln flatterten un­ bekümmert von einem Baum auf den anderen. »WO hast du UQS denn da hinge­ bracht?« fragte die Mutter angstvoll den Fuhrmann. »Ist das denn richtig hier?« 4 Tschuk und Gek

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»Wie wir es ausgemacht haben!« er­ wiederte der Fuhrmann. »Die Häuser hier heißen , Geologische Station, Stützpunktdrei'.-Drübenandem Pfo­ sten hängtein Schild. Da steht'sdrauf, kannstja lesen.Vielleichtwolltihrzum Stützpunkt vier? Bis dahin sind's aber nochzweihundertKilometerinderan­ deren Richtung.« »Nur das nicht, nein!« antwortete die Mutter mit einem Blick auf das Schild. »Das ist schon richtig hier. Aber guck dir das bloß an: Schlösser hängen an den Türen, die Haustreppen sind zu­ geschneit. Und die Menschen, wo sind die?« »Weiß ich auch nicht«, wunderte sich der Fuhrmann. »Vergangene Woche haben wir noch Verpflegung hierher gefahren: Mehl und Zwiebeln und Kartoffeln. Da waren sie alle hier, acht Mann hoch. Der Chef war der neunte. 50

Mit dem Wächter waren's zehn .. . Ja, das hat uns gerade noch gefehlt! Die Wölfe können sie doch nicht ge­ fressen haben. Aber bleib mal hier stehn, ich schau im Wächterhaus nach.« Der Fuhrmann legte seinen Schafpelz ab und stapfte durch den tiefen Schnee zu dem letzten Häuschen hin. Bald war er wieder da. »Die Bude ist leer, aber der Ofen warm. Dann ist der Wächter auch nicht weit. Wahr­ scheinlich auf die Jagd gegangen. Zur Nacht kommt er zurück, und dann kann er euch ja alles erzählen.« »Ja, was soll er mir schon erzählen! « meinte die Mutter seufzend. »Daß hier schon lange keine Menschen mehr gewesen sind, seh ich selbst.« »Weiß auch nicht, was der euch sagt«, meinte der Fuhrmann. »Aber 4'

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etwas wird er schon wissen, dafür ist er ja der Wächter.« Mit Mühe stiegen sie die Treppe zum Wächterhäuschen hinauf. Von dort führte ein schmaler Pfad in den Wald. Sie traten in den Flur und gingen in die' Stube - an Spaten, Besen, Äxten, Stöcken und einer steifge­ frorenen Bärenhaut vorbei, die an einem eisernen Haken hing. Hinter ihnen schleppte der Fuhrmann ihre Sachen ins Haus. In der Hütte war es warm. Der Fuhr­ mann ging und fütterte die Pferde, die Mutter aber zog schweigend ihren verblüfften Jungen die Mäntel aus. »Ja, da sind wir nun zum Vater gefah­ ren! « Sie setzte sich auf die Bank und überlegte. Was war hier geschehen? Warum war es so leer auf dem Stütz­ punkt, und was sollte sie jetzt anfan52

gen? Umkehren? Ihr Geld reichte ge­ rade noch, um den Fuhrmann zu be­ zahlen.Also mußte siewarten, bis der Wächter zurückkäme. Aber in drei Stunden würde der Fuhrmann abfah­ ren, und wenn nun der Wächter nicht bald wiederkäme, was dann? Bis zur nächsten Station undzum Telegrafen waren es beinahe hundert Kilometer! Der Fuhrmann kam zurück.Erschaute sich in der Hütte um, schnupperte, ging an den Ofen und öffnetedieOfen­ tür. »DerWächter ist bis zur Nacht wieder da«, beruhigte er sie. »Hier im Ofen hat er noch einen Topf mit Suppe ste- . hen. Wär er für länger weg, dann hätt er die Suppe ins Kalte gestellt . ..Aber wie ihr wollt«, fuhr er fort, »ihr habt Pech gehabt, und ich will nicht so sein. Ich bring euch umsonst wie­ der zur Station zurück.« 53

»Nein!« Das wollte Mutter doch nicht. »Auf der Station können wir erst recht nichts anfangen.« Sie stellten den Teekessel auf, mach­ ten die Wurst warm, aßen und tran­ ken. Während Mutter ihre Sachen auspackte, kletterten Tschuk und Gek auf den warmen Ofen.Hier oben roch es nach Birkenreisern, nach warmen Schaffellen und Kienholz. Mutter hatte all ihre gute Laune verloren und sprach kein Wort mehr. Da schwie­ gen auch Tschuk und Gek.Aber wenn einer lange schweigt und auch sonst nichts anzufangen weiß, wird er müde. So schliefen die beiden schnell und tief ein. Sie hörten nicht mehr, daß der Schlit­ ten wegfuhr, merkten auch nicht, wie die Mutter auf den Ofen klet­ terte und sich neben sie legte. Es war in der Hütte schon ganz dunkel, als 54

sie wieder wach wurden. Auf der Treppe zum Haus stampften schwere Schritte. Im Hausflur polterte es. Wahrscheinlich war ein Spaten um­ gefallen. Die Tür flog auf, und der Wächter trat ein. In der Hand trug er eine Laterne. Ihm folgte ein großer, struppiger Hund. Der Mann nahm seine Flinte von der Schulter, warf ei­ nen Hasen, den er erlegt hatte, auf die Bank und hielt seine Laterne gegen den Ofen. »Was habe ich denn da für Gäste be­ kommen?« entfuhr es ihm. »Ich bin die Frau vom Chef, von Serjo­ gin«, sagte die Mutter und rutschte vom Ofen herunter. »Und das da sind seine Jungen. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?« »Der Ausweis, der liegt ja hier auf dem Ofen«, brummte der Wächter und leuchtete mit seiner Laterne 55

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